18,99 €
Die Debatte um Bürgerbeteiligung bei Großprojekten hat deutlich an Fahrt aufgenommen. Ob Brücke, Stromtrasse oder Flughafen: Seit den Protesten gegen Stuttgart 21 und der 2010 erfolgten Schlichtung gibt es kaum noch ein strittiges Bauvorhaben, das nicht von der Forderung nach einem Mehr an Bürgerbeteiligung begleitet wird. Der Handlungsdruck auf die Planungsverantwortlichen hat sich dadurch erhöht – mittlerweile ergreifen Politik und Wirtschaft die Flucht nach vorne. So entstehen vielerorts neue Formate des Dialogs. Doch wie reagieren die Bürgerinnen und Bürger auf das Angebot zum Gespräch? Welche Ansprüche machen sie geltend, welche Strategien verfolgen sie, und welche Erfahrungen nehmen sie mit? Nicht zuletzt: Wie verändert sich ihr Bild von Politik und Demokratie? Christoph Hermann geht diesen Fragen am Beispiel der Bürgerinitiativen gegen den geplanten Tunnelbau am Fehmarnbelt nach. Regelmäßig treffen die dortigen Initiativen in einem Dialogforum auf Vertreter der Landesregierung, der Kommunalpolitik, von Unternehmen, Verbänden und Kammern – ein Labor der Demokratie im Kleinen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 265
Veröffentlichungsjahr: 2016
ibidem-Verlag, Stuttgart
Robert Lorenz / Matthias Micus
Das Lamento über eine grassierende, sukzessive ausgreifende Politikverdrossenheit mischt sich seit einigen Jahren in auffälliger Weise mit der konträren Beobachtung zunehmender politischer Beteiligungswünsche und vermehrter Bürgerproteste. Die Chiffren „Wutbürger“ und „Stuttgart 21“, die (erfolgreichen) Bürgerentscheide gegen die Schulpolitik einer breiten Parteienmehrheit in Hamburg und die Nichtrauchergesetzgebung in Bayern symbolisieren das gewachsene Selbstvertrauen einer eigensinnigen Bürgerschaft, die Vorgaben von oben immer weniger widerspruchslos hinzunehmen bereit ist.
In ihrer Ausgabe vom 28. Januar 2015 bemängelte dieSüddeutsche Zeitungunter dem Titel „Stresstest für Deutschland“ kürzlich von der deutschen Seite ausgehende Verzögerungen bei dem Infrastrukturprojekt Feste Fehmarnbeltquerung.[1]Mit diesem Namen wird ein knapp 18 Kilometer langer Eisenbahn- und Autobahntunnel durch die Ostsee bezeichnet, der zukünftig das deutsche Fehmarn mit der dänischen Insel Lolland verbinden soll. Statt nun aber dieses milliardenschwere Verkehrsprojekt pünktlich wie vereinbart im Jahr 2021 abzuschließen, wird die Hinterlandanbindung des Tunnels an das deutsche Festland, Autostraßen und eine Eisenbahntrasse, erst drei Jahre später, also 2024, fertig sein.
Diese Verzögerung hängt freilich ganz wesentlich mit Lehren zusammen, welche die deutsche Politik aus jüngeren Aufwallungen zivilgesellschaftlichen Unmuts und Partizipationsbegehrens gezogen hat. Um späteren Bürgerprotesten, die jenen gegen den Bahnhofneubau „Stuttgart 21“ ähneln, vorzubeugen, entschied sich die Politik für Transparenz und eine umfassende Beteiligung der Bürger an den Planungen. So lancierte das Bundesverkehrsministerium diesmal entgegen einer zuvor gängigen Praxis – nach außen möglichst und das heißt regelmäßig unrealistisch geringe Kosten zu verkünden und kritische Stimmen unter den Teppich zu kehren – frühzeitig noch vor Baubeginn eine vergleichsweise hohe Summe. Darüber hinaus wurden zahlreiche Bürgermeinungen eingeholt und – dies insbesondere – ein ständiges, regelmäßig tagendes Dialogforum eingerichtet, in dem sich Kritiker und Befürworter des Projektes unter Anleitung eines Moderators kennenlernen und austauschen konnten.
Insofern bestanden Mitbestimmungsangebote nicht bloß auf dem Papier. Die Internetseite des Dialogforums zeugt vielmehr von einem regen Austausch. Dort finden sich Videos, Räume für eigene Beiträge und informative Dokumente. Und die Einwände werden durchaus auch berücksichtigt, sie zeitigten sogar bereits Folgen: So wurde der Verlauf der Bahntrasse nachträglich angepasst – und an den als Urlaubszielen beliebten Badeorten in der Lübecker Bucht vorbeigelenkt.
Die Crux dieser Offenheit des Planungsverfahrens für Dialog und bürgerschaftlichen Widerspruch besteht allerdings darin, dass eben durch die daraus folgende Verzögerung die Güterzüge aus und nach Dänemark entgegen der ursprünglichen Planung zumindest zwischen 2021 und 2024 nun doch durch die besagten Ferienziele hindurchruckeln müssen und der Schienenverkehr statt über eine moderne, elektrifizierte Strecke für eine ausgedehnte Anfangszeit zunächst weiter über die bestehenden alten, einspurigen, besonders lärmbelastenden Gleise gelenkt wird. Mithin könnte die Ruhe von Einheimischen und Touristen geradewegender erweiterten Bürgerbeteiligung über mehrere Ferienphasen hinweg besonders empfindlich gestört werden.
In diesem Spannungsfeld aus so selbstbewusst wie offensiv vorgetragenen Beteiligungsansprüchen, uneinheitlichen, bisweilen dezidiert widersprüchlichen Regelungserwartungen und dem durch vorherige Verfahrensoffenheit erfahrungsgemäß kaum verminderten Empörungspotenzial nicht-intendierter Entscheidungsfolgen bewegt sich das vorliegende Buch. Vor dem Hintergrund verstärkter Bemühungen um neue oder wie es gerne genannt wird: direktdemokratische Beteiligungsformen beschäftigt sich Christoph Hermann mit dem Handeln von Bürgerinitiativen inDialogverfahren am Beispiel des Dialogforums für das Projekt Feste Fehmarnbeltquerung. Sein Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf die Fragen nach den Motiven und Erwartungen innerhalb der Bürgerinitiativen im Vorfeld derBeteiligungsverfahren, nach ihren Handlungsstrategien während der Dialogprozesse und den über die Sitzungen selbst und den konkreten Fall hinausweisenden, fortwirkenden Folgen der diskursiven Einbindung für ihre grundsätzlichen Einstellungen zu Demokratie und Politik. Dem Autor geht es also um Motivationen, Prozessverläufe und Wirkungsweisen vonDialogverfahren mit Blick auf einen der beteiligten Kollektivakteure, nämlich die Bürgerinitiativen.
Durch seine Untersuchung erhofft sich Hermann Einsichten darüber, „wie aus der Handlungslogik der zu beteiligenden Bürger [also der Bürgerinitiativen, Anm. d. Verf.] heraus mit den Instrumenten umgegangen wird und wie bestimmte Abläufe auf ihre Einstellungen zurückwirken können“. Das Ziel seiner Arbeit ist folglich, „ein möglichst breites Bild über das Handeln und die Erfahrungen von Bürgerinitiativen im Dialogforum einzufangen“. Methodisch geht der Verfasser explorativ vor. Quellentechnisch stützt er sich neben einer durchaus umfangreichen Sekundärliteratur auf qualitative Interviews sowie auf teilnehmende Beobachtungen von Sitzungen des Dialogforums.
Der Aufbau des Buches ergibt sich schlüssig aus Fragestellung und Untersuchungsziel. Auf eine Schilderung des gesellschaftlichen Wandels mit Blick auf Partizipationsbedürfnisse folgt die Darstellung bisheriger theoretischer und praktischer Erkenntnisse zum Nutzen sowie zu Schwierigkeiten und Folgen von Mediations- bzw. Dialogverfahren. Darauf aufbauend bilanziert Hermann den Forschungsstand, entwickelt seine Forschungsfragen und leitet daraus seine Methodik ab. In der zweiten Hälfte der Arbeit analysiert er sodann aus verschiedenen Blickwinkeln die Abläufe rund um das Dialogforum Feste Fehmarnbeltquerung und fasst seine Ergebnisse schließlich in einem Fazit zusammen.
Die Analyse von Hermann ist ausgesprochen klug und gedankenreich. Der Autor verallgemeinert nicht vorschnell, wägt vielmehr seine Argumentation gründlich und weitsichtig ab, ohne sich freilich durch diese interpretatorische Vorsicht in seinen Schlussfolgerungen lähmen zu lassen. Im Anschluss an eine luzide Aufschlüsselung der Forschungslücke vermag seine Studie überzeugend den Phasencharakter (Vorbereitung, Konfliktbearbeitung, Ergebnisübermittlung) vonDialogverfahren nachzuzeichnen. Deutlich wird dabei der Einfluss von subjektiven Faktoren und Charaktereigenschaften auf Beurteilung und Nutzung des Instruments „Dialogverfahren“, ebenso wie neben den Chancen, die durch die Teilnahme an Verhandlungen bzw. die Berücksichtigung bei Anhörungen entstehen, auch die Probleme und Belastungen in das Blickfeld gerückt werden.
Kurzum: Das vorliegende Buch kann die Diskussion um das Für und Wider forcierter Bürgerpartizipation um eine ganze Reihe von Gedanken, Anregungen und Einsichten bereichern.
„Göttinger Junge Forschung“, unter diesem Titel firmiert eine Publikationsreihe desInstitutes für Demokratieforschung, das am 1. März 2010 an derGeorg-August-Universität Göttingengegründet worden ist. Göttinger Junge Forschung verfolgt drei Anliegen: Erstens ist sie ein Versuch, jungen Nachwuchswissenschaftlern ein Forum zu geben, auf dem diese sich meinungsfreudig und ausdrucksstark der wissenschaftlichen wie auch außeruniversitären Öffentlichkeit präsentieren können. Damit soll erreicht werden, dass sie sich in einem vergleichsweise frühen Stadium ihrer Laufbahn der Kritik der Forschungsgemeinde stellen und dabei im Mut zu pointierten Formulierungen und Thesen bestärkt werden.
Zweitens liegt ein weiterer Schwerpunkt auf der Sprache. Die Klagen über die mangelndeFähigkeitder Sozialwissenschaften, sich verständlich und originell auszudrücken, sind Legion. So sei der alleinige Fokus auf Forschungsstandards „problematisch“ im Hinblick auf eine „potentiell einhergehende Geringschätzung der Lehr- und der Öffentlichkeitsfunktion der Politikwissenschaft“, durch die „Forschungserkenntnisse der Politikwissenschaft zu einem Arkanwissen werden, das von den Experten in den Nachbarfächern und den Adressaten der Politikberatung, aber kaum mehr vom Publikum der Staatsbürgergesellschaft wahrgenommen wird, geschweige denn verstanden werden kann“.[2]Viel zu häufig schotte sich die Wissenschaft durch „die Kunst des unverständlichen Schreibens“[3]vom Laienpublikum ab.
Mitnichten soll an dieser Stelle behauptet werden, dass die Texte der Reihe den Anspruch auf verständliche und zugleich genussreiche Sprache mit Leichtigkeit erfüllen. Vielmehr soll es an dieser Stelle um das Bewusstsein für Sprache gehen, den Willen, die Forschungsergebnisse auch mit einer angemessenen literarischen Ausdrucksweise zu würdigen und ihre Reichweite – und damit Nützlichkeit – soweit zu erhöhen, wie dies ohne Abstriche für den wissenschaftlichen Gehalt möglich erscheint. Anstatt darunter zu leiden, kann sich die Erkenntniskraft sogar erhöhen, wenn sich die Autoren über die Niederschrift eingehende Gedanken machen, dabei womöglich den einen oder anderen Aspekt noch einmal gründlich reflektieren, die Argumentation glätten, auf abschreckende Wortungetüme, unnötig komplizierte Satzkonstruktionen und langweilige Passagen aufmerksam werden[4]– insgesamt auf einen Wissenschaftsjargon verzichten, wo dies zur Klarheit nicht erforderlich ist. Denn es besteht durchaus die Möglichkeit, einen wissenschaftlichen Text weder zu simplifizieren noch zu verkomplizieren, selbst unter der Berücksichtigung, dass die schwere Verständlichkeit von Wissenschaft aufgrund unvermeidlicher Fachbegriffe vermutlich unausbleiblich ist.[5]
Dies sollte jedoch nicht die Bereitschaft mindern, den Erkenntnistransfer via Sprache zumindest zu versuchen. In der allgemeinverständlichen Expertise sah der österreichische Universalgelehrte Otto Neurath sogar eine unentbehrliche Voraussetzung für die Demokratie, für die Kontrolle von Experten und Politik. Neurath nannte das die „Kooperation zwischen dem Mann von der Straße und dem wissenschaftlichen Experten“[6], aus der sich die Fähigkeit des demokratisch mündigen Bürgers ergebe, sich ein eigenes, wohlinformiertes Urteil über die Geschehnisse der Politik zu bilden. Dass in diesem Bereich ein Defizit der Politikwissenschaft besteht, lässt sich, wie gezeigt, immer häufiger und dringlicher vernehmen. Ein Konsens der Kritiker besteht in dem Plädoyer für eine verstärkte Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine interessierte Öffentlichkeit. Hierzu müsse man „Laien dafür interessieren und faszinieren können, was die Wissenschaftler umtreibt und welche Ergebnisse diese Umtriebigkeit hervorbringt“, weshalb „komplexe wissenschaftliche Verfahren und Sachverhalte für Fachfremde und Laien anschaulich und verständlich“ dargestellt werden sollten.[7]
Der Sprache einen ähnlichen Stellenwert für die Qualität einer Studie einzuräumen wie den Forschungsresultaten, mag sich auf den ersten Blick übertrieben anhören. Und wie die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman zu berichten weiß, ist dies zumeist „mühselig, langsam, oft schmerzlich und manchmal eine Qual“, denn es „bedeutet ändern, überarbeiten, erweitern, kürzen, umschreiben“.[8]Doch eröffnet dieser Schritt die Chance, über die engen Grenzen des Campus hinaus Aufmerksamkeit für die Arbeit zu erregen und zudem auch die Qualität und Überzeugungskraft der Argumentation zu verbessern. Kurzum: Abwechslungsreiche und farbige Formulierungen, sorgsam gestreute Metaphern und Anekdoten oder raffiniert herbeigeführte Spannungsbögen müssen nicht gleich die Ernsthaftigkeit und den Erkenntniswert einer wissenschaftlichen Studie schmälern, sondern können sich für die Leserschaft wie auch für die Wissenschaft als Gewinn erweisen.
In den Bänden der Göttingen Jungen Forschung versuchen die Autoren deshalb sowohl nachzuweisen, dass sie die Standards und Techniken wissenschaftlichen Arbeitens beherrschen, als auch eine anregende Lektüre zu bieten. Wie gesagt, mag dies nicht auf Anhieb gelingen. Doch Schreiben, davon sind wir überzeugt, lernt man nur durch die Praxis des Schreibens, somit durch frühzeitiges Publizieren. Insofern strebt die Reihe keineswegs perfektionistisch, sondern perspektivisch die Förderung von Schreib- und Vermittlungstalenten noch während der wissenschaftlichen Ausbildungsphase an.
Freilich soll bei alldem keinesfalls der inhaltliche Gehalt der Studien vernachlässigt werden. Es soll hier nicht ausschließlich um die zuletzt von immer mehr Verlagen praktizierte Maxime gehen, demnach Examensarbeiten nahezu unterschiedslos zu schade sind, um in der sprichwörtlichen Schublade des Gutachters zu verstauben. Die Studien der Reihe sollen vielmehr, drittens, bislang unterbelichtete Themen aufgreifen oder bei hinlänglich bekannten Untersuchungsobjekten neue Akzente setzen, sodass sie nicht nur für die Publikationsliste des Autors, sondern auch für die Forschung eine Bereicherung darstellen. Das thematische Spektrum ist dabei weit gesteckt: von Verschiebungen in der Gesellschaftstektonik über Anatomien von Parteien oder Bewegungen bis hin zu politischen Biografien.
Eine Gemeinsamkeit findet sich dann allerdings doch: Die Studien sollen Momenten nachspüren, in denen politisches Führungsvermögen urplötzlich ungeahnte Gestaltungsmacht entfalten kann, in denen politische Akteure Gelegenheiten wittern, die sie vermittels Instinkt und Weitsicht, Chuzpe, Entschlusskraft und Verhandlungsgeschick zu nutzen verstehen, kurz: in denen der Machtwille und die politische Tatkraft einzelner Akteure den Geschichtsfluss umzuleiten und neue Realitäten zu schaffen vermögen. Anhand von Fallbeispielen sollen Möglichkeiten und Grenzen, biografische Hintergründe und Erfolgsindikatoren politischer Führung untersucht werden. Kulturelle Phänomene, wie bspw. die Formierung, Gestalt und Wirkung gesellschaftlicher Generationen, werden daher ebenso Thema sein, wie klassische Organisationsstudien aus dem Bereich der Parteien- und Verbändeforschung.
Was die Methodik anbelangt, so ist die Reihe offen für vielerlei Ansätze. Um das für komplexe Probleme charakteristische Zusammenspiel multipler Faktoren (Person, Institution und Umfeld) zu analysieren und die internen Prozesse eines Systems zu verstehen, darüber hinaus der Unberechenbarkeit menschlichen, zumal politischen Handelns und der Macht des Zufalls gerecht zu werden,[9]erlaubt sie ihren Autoren forschungspragmatische Offenheit. Jedenfalls: Am Ende soll die Göttinger Junge Forschung mit Gewinn und – im Idealfall – auch mit Freude gelesen werden.
Das Vorhaben ist gigantisch. Von den Planern wird die Feste Fehmarnbeltquerung samt Hinterlandanbindung stolz als das „größte nordeuropäische Verkehrsinfrastrukturprojekt des kommenden Jahrzehnts“[10]mit dem „bislang längste(n) kombinierte(n) Straßen- und Eisenbahntunnel“[11]der Welt beworben. Ab 2021[12]soll die feste Querung unter der Ostsee die bisherige Fährverbindung zwischen dem schleswig-holsteinischen Fehmarn und der dänischen Insel Lolland ablösen und damit für eine Fahrzeitverkürzung zwischen den Metropolen Hamburg und Kopenhagen sowie – größer gedacht – zwischen Zentraleuropa und Skandinavien sorgen. Doch was bei Verkehrsplanern, Bauingenieuren und Architekten für Faszination sorgt, schürt bei Teilen der in der betroffenen Region lebenden Bevölkerung gleichzeitig Ängste und Unmut. Nicht nur die Beeinträchtigung der Natur, sondern auch der eigenen Lebensqualität spielt dabei eine herausragende Rolle. Denn im Zuge des Tunnelbaus sollen auch die Straßen- und Schienenanbindungen auf dem Festland weitläufig ausgebaut werden und der seit vielen Jahren einer anderen Route folgende Schienengüterverkehr würde nach Ostholstein zurückkehren. Besonders als die Planungen für die Verlaufsstrecken konkretere Gestalt annahmen, gründete sich eine Vielzahl von Bürgerinitiativen innerhalb verschiedener Ortschaften, die fortan lautstark gegen das Projekt protestierten.
Im Spätsommer 2010 erreichten die Proteste bei einem anderen Großvorhaben mit ähnlich langer Planungshistorie ihren Höhepunkt: Stuttgart 21. Der Druck auf die baden-württembergische Landesregierung hatte sich infolge der anhaltenden Großdemonstrationen, die bundesweit zum medialen Dauerthema gerieten, sowie aufgrund der eskalierten Auseinandersetzung zwischen Polizei und Protestierenden im Stuttgarter Schlossgarten drastisch erhöht. Es wurde ein Weg gesucht, um den Konflikt zu entschärfen. Dafür sah man sich gezwungen, auf die Projektgegner zuzugehen, ihnen Gespräche anzubieten. Das Resultat war die im Herbst des Jahres von Heiner Geißler moderierte Schlichtung zwischen Projektbefürwortern und-gegnern. Das von Geißler als „Demokratie-Experiment“[13]bezeichnete Verfahren führte jedoch nicht nur die konkrete Auseinandersetzung zwischen S21-Verteidigern und Stuttgarter Tiefbahnhofs-Opposition auf ein neues Terrain, sondern entfachte auch eine neue öffentliche und wissenschaftliche Debatte um Kommunikation und Bürgerbeteiligung bei Großprojekten und inBauplanungskontexten generell.
Die Anzahl der in den letzten Jahren aus dem Boden geschossenen Diskussionsveranstaltungen, Vortragsreihen und Seminare von Stiftungen, Universitäten oder Akademien rund um die Thematik ist unüberschaubar. Daneben arbeiten Unternehmen mit Hochdruck an der Erstellung neuer Strategien, um ihre Vorhaben mit mehr Akzeptanz bei den Bürgern und folglich weniger Widerstand umsetzen zu können. Nicht zuletzt sind es Politik und Verwaltung, die in diesem Diskussionsklima nicht umhin kommen, ernsthaft über neue Anstrengungen zur Ausweitung von Bürgerbeteiligung in Planungskontexten nachzudenken. Als Bundesverkehrsminister der schwarz-gelben Koalition gab Peter Ramsauer sich überzeugt: „[…] wir brauchen das Miteinander von betroffenen Bürgern und Planern sowie den eigentlichen Vorhabenträgern. Eine anhaltende Dauerkonfrontation über wichtige Verkehrsinfrastrukturprojekte können, dürfen und wollen wir uns nicht leisten.“[14]
In Schleswig-Holstein zeigte sich die Strahlkraft des Stuttgarter Anstoßes unmittelbar. Auch am Fehmarnbelt müsse geschlichtet werden und die Bürger seien in einem Mediationsverfahren zu beteiligen, hieß es um die Jahreswende 2010/2011 nicht nur vonseiten der Bürgerinitiativen, sondern gerade auch von unterschiedlichen prominenten Stimmen aus der Bundes- und Landespolitik.[15]Es dauerte einige Zeit, dann zeigten die Appelle schließlich Wirkung: Die damalige Landesregierung unter Ministerpräsident Peter Harry Carstensen begann mit der Ausarbeitung eines Beteiligungsverfahrens. Seit September 2011 sitzen die in Bürgerinitiativen organisierten Beltquerungsgegner nun im „Dialogforum Feste Fehmarnbeltquerung“, wo sie bis heute in Abständen mehrerer Wochen auf die befürwortende und planende Seite sowie andere betroffene Organisationen, Vereine sowie Kommunalvertreter treffen. In den mehrstündigen, live übertragenden Sitzungen wird umfangreiches Fachwissen zu unterschiedlichsten Gesichtspunkten des Gesamtprojektes aufgebaut und diskutiert. Unter dem Anspruch, Betroffene zu Beteiligten zu machen, soll hier mithilfe eines neutralen Moderators auf Augenhöhe debattiert und mit gefundenen Ergebnissen sowie ausgesprochenen Empfehlungen Einfluss auf die laufenden Planungen genommen werden können.
Doch wie sieht die Beteiligung von Bürgerinitiativen innerhalb eines solchen Verfahrens und fernab der Demonstrationen auf der Straße überhaupt aus? Wie reagieren sie und ihre Vertreter nach Jahren der Auseinandersetzung auf das Beteiligungsangebot einer Landesregierung? Und mit welchen Interessen und Erwartungen begeben sie sich an den Diskussionstisch? Wie nutzen die Initiativen das ihnen gebotene Forum und wie bewerkstelligen sie die an sie gestellten Anforderungen einer Teilnahme? Zudem: Welche Erfahrungen haben die Bürger mit dem Beteiligungsverfahren gemacht und wie interpretieren sie diese aus ihrem Engagementhintergrund und ihrer subjektiven Perspektive heraus? Nicht zuletzt: Welchen Einfluss nehmen die gesammelten Eindrücke und Erlebnisse auf ihr Bild von Demokratie und Politik?
Das sind die Fragen, denen diese Arbeit am Beispiel der Bürgerinitiativen im Dialogforum zur Fehmarnbeltquerung nachgehenwill. Denn wenn mit dem Aufkommen von Protest immer selbstverständlicher die Debatte um Dialogangebote einhergeht, lohnt sich,genauerauf diese mit hohen Erwartungen an eine Konfliktbefriedung versehenen Prozesse zublickenund sie aus der Sicht derjenigen zu beleuchten, aufgrund derer sie eingerichtet werden. Dies verspricht Einsichten darüber, wie aus der Handlungslogik der zu beteiligenden Bürger heraus mit den Instrumenten umgegangen wird und wie bestimmte Abläufe auf ihre Einstellungen zurückwirken können. Somit wird die Arbeit einen praxisnahen Eindruck von einem Beteiligungsprozess geben und dabei auf Prozesse, Potenziale, Schwierigkeiten und Wirkungsweisen stoßen, die möglicherweise zukünftig auch bei anderen, ähnlich eingesetzten Verfahren zu beobachten sein werden.
Die aufgeworfenen Untersuchungsfragen geben einen ersten einführenden Überblick über dieAspekte, dieim FokusdieserArbeitstehen. Weiter aufgefächert werden die Fragestellungen in Kapitel 5 dargestellt.DasZiel der Arbeit ist, ein möglichst breites Bild über das Handeln und die Erfahrungen von Bürgerinitiativen im Dialogforum einzufangen. Daher handelt es sich um eine explorativ angelegte Untersuchung, die sich vorab nicht auf einen eng zugeschnittenen Beobachtungsausschnitt festlegt. Um Antworten auf die vielfältigen Fragen zu finden, wurden qualitative Interviews mit am Verfahren beteiligten Vertretern unterschiedlicher Bürgerinitiativen geführt sowie Beobachtungen der Forums-Sitzungen durchgeführt.
Im Folgenden soll der Aufbau der Arbeit dargestellt und der Zweck der einzelnen Kapitel erläutert werden. Zunächst ist der Hintergrund zu beleuchten, vor dem neue dialogorientierte Beteiligungsverfahren Einzug in die deutsche Planungspraxis erhielten,und ist nachzuvollziehen, welche Entwicklungen und Trends sich bis heute abzeichnen (Kapitel 2). Dabei stehen besonders das sich wandelnde Verhältnis zwischen Bürgern und Planungsverantwortlichen sowie Reformdiskussionen, die in der Wissenschaft, Politik oder in Unternehmen geführt wurden, im Zentrum. Dieses Kapitel dient dazu, wichtiges Hintergrundwissen zu erarbeiten, die Relevanz des Arbeitsthemas zu verdeutlichen sowie ein Verständnis für die Ausgangskonstellationen zu schaffen, aus denen Beteiligungsverfahren hervorgehen und von denen auch ihr Ablauf nicht unwesentlich geprägt ist. Im Anschlusskapitel (Kapitel3) wird das Funktionieren von dialogorientierten Beteiligungsverfahren in theoretischer und praktischer Perspektive betrachtet. Wie solche Verfahren in der Regel ausgestaltet sind und ablaufen, welche Kriterien an eine „gute“ Beteiligungspraxis gestellt und welche theoretischen Erwartungen, Wirkungen und Ziele der Verfahren daraus abgeleitet werden, ist Inhalt von Kapitel 3.1. Damit lässt sich eine Kontrastfolie für die später am Fallbeispiel gemachten eigenen Beobachtungen aufbauen. Ein erstes Spektrumdessen, was sich möglicherweise in einer empirischen Untersuchung von beteiligten Akteuren beobachten lässt, wird durch die Darstellung von Erkenntnissen aus anderen vorliegenden, praxisnahen Forschungsarbeiten aufgeworfen (Kapitel 3.2).
In denbislanggenannten Kapiteln wird gleichzeitig auch der Forschungsstand implizit beschrieben, der in Kapitel 4 dann noch einmal zusammengefasst rekapituliert und systematisiert dargestellt wird, um daraus folgend den weiteren Forschungsbedarf aufzuzeigen, dem diese Untersuchung nachzukommensucht. Im Anschluss (Kapitel 5) soll das Erkenntnisinteresse formuliert und mit detaillierten Forschungsfragen verbunden werden. Bevor die Auswertung des empirisch erhobenen Materials erfolgt, liefert die Arbeit eine Erklärung des methodischen Vorgehens (Kapitel 6). In den Unterkapiteln sind die Fallauswahl sowohl des Beteiligungsverfahrens als auch der Interviewpartner, die gewählten Mittel und Durchführungsweisen der Erhebungen (Interviews und Beobachtungen) sowie die Auswertungsmethodik dargestellt.
Daraufhin konzentriert sich die Arbeit auf das gewählte Fallbeispiel. Zunächst wird der Hintergrund veranschaulicht, vor dem das Dialogforum stattfindet und der in der Einleitung bereits angerissen wurde. An dieser Stelle soll das Verkehrsinfrastrukturprojekt anhand der damit verbundenen Zielsetzungen sowie der bisherigen politischen, verwaltungstechnischen und bauplanerischen Schritte vorgestellt werden (Kapitel 7.1). Im Anschluss wendet sich die Arbeit dem gegen das Projekt gerichteten Protest zu und gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Bürgerinitiativen mitsamt ihrer Argumente, Motive und Ziele (Kapitel 7.2). Der Weg zur Einrichtung des Beteiligungsverfahrens sowie dessen Ausgestaltung ist dann Gegenstand des diesen einführenden Teil abschließenden Unterkapitels (Kapitel 7.3). Nachdem somit die Grundlage für den Leser geschaffen ist, um nachvollziehen zu können, worum es sich bei dem Projekt der Beltquerung handelt, welche Akteure dagegen aktiv sind und auf welche Art schließlich versucht wird, den Protest zu kanalisieren, kann mit der Kernanalyse der Arbeit begonnen werden (Kapitel 8). Auf den folgenden Seiten findet die Auswertung der Interviews und Beobachtungen statt, mithilfe derer Antworten auf die Fragestellungen gegeben werden. Im Zentrum der Analyse stehen das Auftreten und Handeln der Bürgerinitiativen, ihre organisatorischen Leistungen, ihre strategischen Optionen und Erwartungen, die im Beteiligungsprozess gesammelten Erfahrungen und Einschätzungen sowie ihr Demokratie- und Politikbild. In einem abschließenden Kapitel (Kapitel 9) wird noch einmal der Bogen von der heutigengesellschaftlich-politischen Relevanz des Themas zum beobachteten Fallbeispiel gespannt und eine Zusammenführung der Ergebnisse vorgenommen.
Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, wie und warum sich neue dialogorientierte Beteiligungsverfahren etabliert haben und vor welchem Hintergrund sie bis heute an Bedeutung gewinnen. Aus welchem gesellschaftlich-politischen Spannungsverhältnis gehen die Verfahren hervor und in welche Richtung oder mit welchen Tendenzen hat sich dieses im Laufe der Jahre verändert? Mit welchen Ansprüchen treten engagierte Bürger auf und wie verarbeiten Politik, Verwaltung und Wirtschaft diese? Wie hat sich – allgemeiner formuliert – der Rahmen entwickelt, in dem sich die später am Fallbeispiel beobachteten Akteure – die Bürgerinitiativen – bewegen?
Ähnlich wie die Stuttgarter Schlichtung als neuer Prototyp der Bürgerbeteiligung in den Medien und der Politik verhandelt wurde, kommen auch aktuellere, nachfolgende Projekte nicht ohne den Nimbus der Neulandbetretung aus. Als Schleswig-HolsteinsdamaligerMinisterpräsident Peter Harry Carstensen am 25. Juni 2011 die Einrichtung des Dialogforums zur Festen Fehmarnbeltquerung öffentlich bekannt gab, pries er das Verfahren als „eine neue Form der Bürgerbeteiligung“[16]und unterstrich damit die Fortschrittlichkeit seiner Regierung. Sicher, für den Konflikt um den gigantischen Querungsbau über die Ostsee wurde ein neuer Austragungsmodus gewählt. Der Einsatz von Beteiligungsinstrumenten, in denen versucht wird, den Protest organisierter Bürgergruppen in einem strukturierten Austauschprozess mit unterschiedlichen Organisationen, Interessengruppen sowie den planungsleitenden Behörden und Unternehmen unter Leitung einer neutralen Person zu kanalisieren, ist jedoch für sich genommen nicht neu.
Eine Diskussion um alternative Ansätze der Konfliktbearbeitung bei Großprojekten entfachtesichbereits in den 1970er Jahren in den USA. Führende Juristen begannen, sich für die Anwendung neuer Verfahren einzusetzen, die betroffenen Gruppen – welche in den formellen Verfahren nur spärliche Beteiligungsrechte genossen – ermöglichen sollten, in einen fairen Austausch mit den Planungsverantwortlichen einzutreten. DasdahinterliegendeMotiv war, einen Ausweg aus der Situation zu finden, dass die zunehmende Zahl von Umweltkonflikten im Land immer häufiger in teuren und langwierigen Gerichtsverfahren mündete.[17]Während das bisherige Prozedere die Konfliktparteien in der Regel in verhärteten Fronten zurückließ, sollten eine Reihe neuer Ansätze – darunter vor allem das Mediationsverfahren – zu gemeinsam erarbeiteten Lösungen führen, diesowohlfür Projektbefürworter als auch -gegner vertretbarwaren.[18]Die neuen Methoden sollten den Verwaltungseinheiten fortan als ergänzende Instrumente der verbesserten Entscheidungsvorbereitung zur Verfügung stehen, ohne dabei die bestehenden formalen Planungs- und Genehmigungsschritte zu ersetzen. Staatliche und unternehmerische Planer versprachen sich von der Beteiligung der Betroffenen eine effiziente Umsetzung ihrer Vorhaben, wenn die örtliche Bevölkerung durch eine selbst mitgetragene und in ihren Augen verträglichere Lösungsvariante den Widerstand gegen Akzeptanz eintauschen würde. Hinter der eher praktisch orientierten Reformdiskussion schwang in den 1970er Jahren aber auch eine breitere demokratietheoretische Debatte darüber mit, welcher Stellenwert dem Bürger im politischen System zukommen sollte. Die in Reaktion auf die Partizipationsbestrebungen und sozialen Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre entstandene partizipative Demokratietheorie richtete sich in ihrem normativen Anspruch gegen ein Demokratieverständnis, demzufolge „sich die Partizipation der Bürger an der Politik überwiegend auf den Wahlakt“[19]beschränkteund pochte – ganz generell – auf mehr sowie umfassendere Beteiligungsrechte.[20]
Den Startschuss für die neuen dialogorientierten Beteiligungsverfahren in den Vereinigten Staaten setzte das Mediationsverfahren zu einem geplanten Dammbau am Snoqualmie River im Jahr 1974. Im darauffolgenden Jahrzehnt fanden die Verfahren, häufig eingesetzt bei schwierigen Standortentscheidungen, dann vermehrte Anwendung.[21]In Deutschland erhielten neue dialogorientierte Bürgerbeteiligungsmodelle bei Planungsvorhaben – inspiriert durch die US-amerikanischen Erfahrungen – zu Beginn der 1990er Jahre sowohl verstärkten Einzug in die juristische und sozialwissenschaftliche Diskussion als auch in die praktische Anwendung.[22]Als Anstoßgeber zur Etablierung erweiterter Beteiligungsmöglichkeiten diente auch die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro, die unter dem Begriff der Lokalen Agenda 21 die Kommunen der Unterzeichnerstaaten aufforderte, neue, an Nachhaltigkeit orientierte Umweltkonzepte zu entwickeln.[23]Dazu sollten explizit auch die Bürger in dafür einzurichtendenGremien integriert werden. Hier wurde zwar primär an der Entwicklung von Leitbildern und weniger an der Umsetzung konkreter Bauvorhaben gearbeitet;dennoch markierten die Prozesse einen wichtigen generellen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Politik, Verwaltung und Bürgern.[24]Zudem kreisten auch die ersten planungsbezogenen Dialogverfahren thematisch vorwiegend um Anlagen mit direktem umweltpolitischen Bezug.So war die Anfang der1990er Jahre vielerorts virulente Frage der Mülldeponierung Auslöser für eine ganze Reihe erster Dialogangebote: darunter das Mediationsverfahren zum Abfallwirtschaftskonzept Neuss, der Münchehagen-Ausschuss zur Ansiedelung einer Sonderabfalldeponie sowie das Bürgerforum Deponie Dortmund-Nordost.[25]
Ähnlichwie inden USA schuf auch in Deutschland die Zuspitzung umweltpolitischer Konflikte den Nährboden für das Aufkommen neuer Bürgerbeteiligungsformate. Durch das Zusammenspiel einer immer ausdifferenzierteren und weitreichenderen Umweltgesetzgebung, einer wachsenden Anzahl schwer kalkulierbarer Folgeprobleme im Zuge neuer Technologien und gleichzeitig weiter angestiegener Umweltschutzansprüche in der Bevölkerung beklagten im Verlauf der 1980er Jahre immer mehr Umweltbehörden und Wirtschaftsunternehmenbei der Umsetzung ihrer Planungsvorhabenein kostentreibendes Vollzugsdefizit.[26]Die Ansiedelung neuer Kraftwerke, Müllverbrennungsanlagen oder Autobahnabschnitte ging regelmäßig mit heftigen Protesten und Klagewellen betroffener Bürger einher und verfing sich in langen Schleifen komplexer Genehmigungsverfahren, endete nach Jahren mitunter sogar mit der kompletten Einstellung der Projekte.[27]
Ökologische Fragen hatten in der Bevölkerung im Verlauf der 1970er Jahre zunehmend an Relevanz gewonnen und verschärften den Handlungsdruck. Die Anti-Atomkraft-Bewegung mobilisierte bereits Zehntausende zu Großdemonstrationen. Bis zur Mitte des Jahrzehnts hatte sich die Bewegung der umweltpolitisch orientierten Bürgerinitiativen stark vergrößert und avancierte „zu einem maßgeblichen Faktor der deutschen Politik“[28]. Mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 erreichte die politische Interessenvertretung ökologischer Themen dann eine ganz neue Stufe, die für einen weiteren Zuwachs an Aufmerksamkeit in der Politik und für eine höhere Sensibilisierung in der Gesellschaft sorgte.[29]Die Besorgnis umernsthafte Natur- und Gesundheitsschäden in bestimmten Teilbereichen verdichtete sich bis zum Ende der 1980er Jahre zu einem umfassenderen Krisenbewusstsein für die selbstzerstörerische Gefahr menschlicher Umwelteingriffe. In vielen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Veröffentlichungen schlug sich eine recht finstere Diagnose nieder. So konstatiertebeispielsweise Habermas: „Der Horizont der Zukunft hat sich zusammengezogen und den Zeitgeist […] gründlich verändert. Die Zukunft ist negativ besetzt; an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zeichnet sich das Schreckenspanorama der weltweiten Gefährdung allgemeiner Lebensinteressen ab: die Spirale des Wettrüstens, die unkontrollierte Verbreitung von Kernwaffen, […]Probleme der Umweltbelastung, katastrophennah operierende Großtechnologien geben die Stichworte, die über Massenmedien ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen sind.“[30]
Auch die Katastrophe von Tschernobyl 1986, die den Glauben an technische Sicherheitsgarantien in breiten Teilen der deutschen Gesellschaft – zumindest vorläufig – erodieren ließ, trug maßgeblich zu derlei drastischem Empfinden bei.[31]Von der Entwicklung des gesellschaftlichen Problembewusstseins und der zunehmenden Normalität umweltfreundlichen Denkens profitierten in dieser Zeit vor allem die großen Umweltorganisationen wie der BUND oder Greenpeace, die über die 1980er Jahrehinwegeinen kontinuierlichen, zeitweise sprunghaften Zuwachs an Mitgliedern verzeichnen konnten und sich verstärkt an der Organisation von Protesten beteiligten.[32]
Auf den Demonstrationen und in der Bewegung etablierten sich neben neuen Akteuren aber auch neue Zielsetzungen. Zusätzlich zu der Ablehnung konkreter Eingriffe in das eigene Lebensumfeld und die damit einhergehende Bedrohung der Lebensqualität wuchs die Kritik an den dahinter stehenden Entscheidungsmechanismen. Einige Beobachtersahen die unbestreitbaren demokratischen Defizite in der Verwaltungspraxis sogar als Grund dafür, dass die BI-Bewegung überhaupt eine solche Mobilisierungskraft entwickeln und Aufmerksamkeit erhalten konnte.[33]
Das Kernstück der gesetzlich verankerten Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten bei Planungsvorhaben ist der Erörterungstermin im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens. Hier sollen die Auswirkungen des jeweiligen Vorhabens diskutiert und Interessenunterschiede ausgeglichen werden. ZurArtikulationihrer Interessen können Bürger vorab sogenannte Einwendungen abgeben, die die Gesprächsgrundlage für den Termin bilden sollen. Allerdings hat sich bei Erörterungen zu Großprojekten immer wieder gezeigt, dass das Instrument von seiner Anlage her nur selten dazu in der Lage ist, Konflikte zu beheben oder zumindest abzuschwächen. Kritiker des traditionellen Verfahrens heben hervor, es diene mehr der Auslotung letzter Schwachpunkte im Planungskonzept der Vorhabenträger, um die rechtliche Anfechtbarkeit des anschließenden Planfeststellungsbeschlusses weiter zu reduzieren, als dem offenen Austausch mit tatsächlichem Einflusspotenzial für die Interessen der Bürger.[34]
Dafür wird vor allem der späte Zeitpunkt des Erörterungstermins verantwortlich gemacht. Erst am Ende des Genehmigungsprozesses die zentrale Anhörung durchzuführen, bringt fast zwangsläufig mit sich, dass die Bereitschaft bei den Behörden und Vorhabenträgern abnimmt, die in den wesentlichen Fragen eigentlich abgeschlossenen Planungen nun kurz vor dem erwarteten Baubeginn noch einmal neu aufzurollen.[35]Hinzukommt, dass die Termine in der Regel nicht für jedermann zugänglich sind.[36]NurPersonen und Organisationen, diein ihren Rechten direkt betroffensind undzu einer Einwendung befugt waren, sind als Teilnehmer zugelassen. Auch heben Kritiker hervor, dass die Ausgestal