Burma Sahib - Paul Theroux - E-Book

Burma Sahib E-Book

Paul Theroux

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Beschreibung

Die faszinierende Lebensgeschichte des jungen George Orwell: Die Verwandlung des Eton-Absolventen und Kolonialpolizisten im Burma der 1920er Jahre in den schärfsten Kritiker unserer Zeit. Erzählt von Paul Theroux, Wegbegleiter von Bruce Chatwin und einer der großen Chronisten der Gegenwart. »Ein phänomenales Porträt des jungen George Orwell und eine schonungslose Darstellung des britischen Kolonialismus.« Publishers Weekly

»Es gibt einen kurzen Zeitraum im Leben eines jeden Menschen, in dem sein Charakter für immer festgeschrieben wird.« George Orwell Im Alter von neunzehn Jahren schifft sich der Eton-Absolvent Eric Blair im Herbst 1922 nach Rangun ein. In Burma soll er als Beamter der britischen Kolonialpolizei ausgebildet werden. Doch schon kurz nach seiner Ankunft kommen dem hochgewachsenen, scheuen jungen Mann Zweifel an seiner bevorstehenden Aufgabe. Er, der feingeistige Offiziersanwärter, verabscheut die Überheblichkeit und skrupellose Willkür der Briten, ihren unverhohlenen Rassismus. Blair wird unweigerlich zum Außenseiter, macht sich damit zum Gespött seiner Landsleute. Als er ins schwülheiße Schwemmland des Irawadi-Deltas versetzt wird, um Nachforschungen über den Tod eines Mannes anzustellen, überwältigt ihn das Gefühl, für seine Aufgabe als Kolonialpolizist nicht geschaffen zu sein. Und zugleich erschreckt und beschämt ihn, wie er beginnt, sich in die von ihm erwartete Rolle zu fügen. Die Erkenntnis, am Ende selbst zu den Unterdrückern zu gehören, schockiert ihn. Und er trifft eine folgenreiche Entscheidung.

Mitreißend taucht der große amerikanische Schriftsteller Paul Theroux ein in die Kolonialwelt Burmas. Und führt vor Augen, wie aktuell Orwells Bedenken über Kolonialismus und autoritäre Macht bis heute bleiben.

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Seitenzahl: 816

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Die faszinierende Lebensgeschichte des jungen George Orwell: Die Verwandlung des Eton-Absolventen und Kolonialpolizisten im Burma der 1920er-Jahre in den schärfsten Kritiker unserer Zeit.

Im Alter von neunzehn Jahren schifft sich der Eton-Absolvent Eric Blair im Herbst 1922 nach Rangun ein. In Burma soll er als Beamter der britischen Kolonialpolizei ausgebildet werden. Doch schon kurz nach seiner Ankunft kommen dem hochgewachsenen, scheuen jungen Mann Zweifel an seiner bevorstehenden Aufgabe. Er, der feingeistige Offiziersanwärter, verabscheut die Überheblichkeit und skrupellose Willkür der Briten, ihren unverhohlenen Rassismus. Blair wird unweigerlich zum Außenseiter, macht sich damit zum Gespött seiner Landsleute. Als er ins schwülheiße Schwemmland des Irawaddy-Deltas versetzt wird, um Nachforschungen über den Tod eines Mannes anzustellen, überwältigt ihn das Gefühl, für seine Aufgabe als Kolonialpolizist nicht geschaffen zu sein. Und zugleich erschreckt und beschämt ihn, wie er beginnt, sich in die von ihm erwartete Rolle zu fügen. Die Erkenntnis, am Ende selbst zu den Unterdrückern zu gehören, schockiert ihn. Und er trifft eine folgenreiche Entscheidung.

Mitreißend taucht der große amerikanische Schriftsteller Paul Theroux ein in die Kolonialwelt Burmas. Und führt vor Augen, wie aktuell Orwells Bedenken über Kolonialismus und autoritäre Macht bis heute bleiben. »›Burma Sahib‹ ist ein Werk von großer Relevanz für die Gegenwart, weil es zeigt, wie Menschen von Systemen, Institutionen und sozialen Codes versklavt werden.« Times Literary Supplement

Zum Autor

Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts, ist mit mehr als vierzig Büchern einer der bekanntesten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart. Berühmt wurde er für seine Reiseberichte Der alte Patagonien-Express und Basar auf Schienen: Eine Reise um die Welt. In den 1960er-Jahren arbeitete er als Lehrer für das American Peace Corps in Malawi und Uganda, später bereiste er Südostasien und unterrichtete drei Jahre an der Universität in Singapur. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt auf Cape Cod und Hawaii.

Zum Übersetzer

Cornelius Reiber übersetzt Literatur aus dem Englischen, u. a. von Maggie Nelson, James Baldwin und Hanif Kureishi.

PAUL THEROUX

BURMA SAHIB

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelius Reiber

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Burma Sahib« bei Mariner Books, einem Imprint von HarperCollins Publishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

George Orwell-Zitate entstammen folgenden Werken: Tage in Burma. Aus dem Englischen von Susanna Brenner-Rademacher.

Der Weg nach Wigan Pier. Aus dem Englischen von Manfred Papst. Abdruck mit frdl. Genehmigung des Diogenes Verlag Zürich.

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Copyright © 2024 Paul Theroux

All rights reserved

Copyright © der deutschen Ausgabe 2025 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung: LNT Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln, unter Verwendung von Motiven von ©pingebat/Depositphotos, istock/duncan1890, ©unorobus.gmail.com/Depositphotos, ©Freepik, ©Morphart/Depositphotos

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32601-2V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

»Es gibt einen kurzen Zeitraum im Leben eines jeden Menschen, in dem sein Charakter für immer festgeschrieben wird.«

George Orwell, Tage in Burma

ERSTER TEIL

DER WEG NACH MANDALAY

1

DIE HEREFORDSHIRE

Östlich von Suez

»Der schicke schlaksige Bursche da«, sagte die Frau im Salon der ersten Klasse auf dem Oberdeck, während sie die Augen zusammenkniff und sich auf ihrem Liegestuhl nach vorn beugte, um bessere Sicht zu haben.

Der Saum des weißen Sommerkleides umspielte ihre Knöchel, und auf dem Kopf trug sie jetzt, da die Sonne schräg durchs Fenster fiel, einen hellen breitkrempigen Hut, der wie ein Lampenschirm geformt war und nach unten hin weiter wurde.

Als sie ihr Fernglas vor die Augen hob und zum Bug blickte, glitten ihre weiten Ärmel bis in die Ellenbeugen hinab, wobei das Weiß des Kleides ihre Haut gelblich erscheinen ließ. Sie verzog, geblendet von der Sonne, das Gesicht, verzerrte den Mund so, dass man ihre Zähne sah, und fingerte am Fokussierrad des Fernglases herum, um scharf zu stellen auf den jungen Mann. Er stand dem Heck zugewandt, blickte also in ihre Richtung.

»Da ist er wieder, Alec«, sagte die Frau.

Er trug ein beiges, neu aussehendes Leinenjackett, eine weite graue Hose und abgewetzte Segeltuchturnschuhe. Er schaute zu, wie sich das Ufer entfernte, und lehnte sich in den Wind, wobei seine Krawatte zur Seite flatterte und ihm gegen die Schulter schlug. Nach und nach verschwand das Ufer im Wasser, ein flacher brauner Hügel, auf dem er wenige Minuten zuvor noch Männer in biblischen Gewändern gesehen hatte, einen, der ein mit Ballen beladenes Kamel führte, andere, die mit Hacken Erdklumpen lockerten und in der Sonne der ersten Novembertage unter wolkenlosem Himmel ihrer Arbeit nachgingen. Das Letzte, was er von Ägypten sah.

»Wieder an der gleichen Stelle. In dieser brütenden Hitze.«

Sie musterte ihn sehr genau; er rauchte eine Zigarette, mit mürrischem Gesichtsausdruck und gerunzelter Stirn, während er zur flacher werdenden Uferlinie hinüberblickte und die Nachmittagssonne ihm ins junge, ernste Gesicht schien.

»Ek aur«, sagte der Mann mit dem Schnurrbart neben ihr zu einem vorbeischwebenden Kellner. Anders als sie, die aufmerksam, fasziniert, halb aufgerichtet dasaß, lagerte er entspannt auf seiner Liege, die Füße auf dem Fußteil, mit hochgereckten Zehen. Er tippte mit dem Finger gegen sein leeres Glas. »Burra peg.«

»Immer allein«, sagte die Frau. »Und recht oft mit einem Buch unterm Arm.«

Der Mann antwortete nicht. Er hielt seine goldene Armbanduhr in der Hand und zog sie auf, nachdem der Kapitän verkündet hatte, dass man in eine neue Zeitzone komme, und er die Uhr neu gestellt hatte. Dann legte er sie wieder an und bewunderte, wie das geschliffene Kristallglas das Sonnenlicht einfing. Während er lächelnd das funkelnde Glas betrachtete, kam der Kellner, verneigte sich, senkte das Tablett mit dem Whiskey und murmelte leise: »Sahib.«

»Er hat auf Französisch losgelegt, als wir an Land gingen. In Marseille. Und dann noch mal mit Straßenhändlern in Port Said französisch gesprochen.«

»Verdammter Froschfresser also, Edith«, sagte der Mann, hob sein Glas, nahm einen Schluck und leckte sich die Tropfen aus dem Schnurrbart. »Rätsel gelöst.«

»Keineswegs«, sagte die Frau mit einem wissenden Lächeln. »Er ist Engländer.«

»Mit gelegentlichen fronsösischen Anfällen.«

»Sei nicht so böse, Alec.«

Der Mann schmatzte mit den Lippen und sagte mit einem Anflug von Ungeduld: »Ich verstehe nicht, warum dich das so brennend interessiert.«

Die Frau richtete das Fernglas neu aus und hielt den Atem an, wie jemand, der einen Vogel auf einem Zweig zu erkennen versucht. »Er ist kultiviert.«

»Wie bitte?«, sagte der Mann schroff.

»Ich denke an Muriel«, flüsterte die Frau, als könnte der junge Mann sie hören, obwohl er vierzig Meter entfernt stand, immer noch an der Bugreling, den Blick zum Ufer gerichtet.

Der Mann seufzte und hob sein Glas zum Mund, trank und schien, als er schluckte, auch die Worte zu verschlucken, die er eigentlich sagen wollte.

Noch immer halb flüsternd fuhr die Frau fort: »Er könnte genau richtig sein für sie.«

»Ach, wirklich«, sagte er in einem ungläubigen Tonfall. »Wird der Sohn eines Plantagenbesitzers sein und in Colombo von Bord gehen, hoch zu den Teeplantagen.«

»Er fährt ganz bis Rangun mit.«

»Du hast mit dem Burschen schon geredet?«

»Ich habe mit dem Zahlmeister gesprochen«, sagte die Frau, legte das Fernglas im Schoß ab und sah den Mann mit einem trotzigen Lächeln an.

»Das halbe Schiff fährt nach Rangun.«

»Er logiert in der ersten Klasse.«

»Zusammen mit Massen von anderen Leuten.«

»Er ist alleinstehend.«

»Das will ich aber auch stark hoffen, er ist, wenn’s hochkommt, zweiundzwanzig.«

»Neunzehn«, sagte die Frau.

»Nicht geeignet.«

»Aber seine Krawatte«, sagte die Frau und reichte ihm das Fernglas. »Lug mal durch.«

Der Mann grummelte genervt »lug«, gab ein Brummen von sich, während er durch das Fernglas sah, und sagte: »Blaue Streifen.«

»Eton«, erwiderte die Frau mit aufeinandergepressten Zähnen.

Der Mann drückte sich das Fernglas fester in die Augenhöhlen und studierte die Krawatte, die über der Schulter des jungen Mannes lag und im Wind flatterte. Dann reichte er das Fernglas wieder der Frau, die sich gerade eine Zigarette anzündete. Mit triumphierend gespitzten Lippen blies sie eine Rauchwolke zu ihm hinüber.

Er wedelte den Rauch weg und sagte: »Ich werde dafür sorgen, dass der Kapitän ihn zum Abendessen einlädt.«

Auf diesen Moment – als der Lotse, der die Herefordshire durch den Kanal gesteuert hatte und jetzt wieder an Bord des nebenherfahrenden Begleitbootes gegangen war, das Schiff freigab – hatte der große junge Mann – Eric Blair – gewartet. Der Kapitän der Herefordshire umfasste die Griffe des Steuerrads, was durch die geneigten Fenster der Brücke von unten gut zu sehen war, und die Motoren begannen zu dröhnen und zu stöhnen, immer lauter mit der zunehmenden Geschwindigkeit, und auch unter Blairs Turnschuhen wummerte es. Der Flecken einer kleinen Küstenstadt versank hinterm Horizont.

»Somewhere east of Suez«, murmelte Blair gerührt. In Port Suez war er noch nicht so von seinen Gefühlen übermannt worden, zwischen Souvenirverkäufern und dem zaubernden Gully-Gully Man, der einem erschrockenen Kind ein lebendes Küken aus dem Ohr zog; auch nicht auf dem überfüllten Basar, wo er seinen Tropenhelm gekauft hatte; und ebenso wenig, als er sah, wie einige Mitglieder der Schiffsbesatzung kleine, dünne Teppiche auf dem Deck ausrollten und zum Gebet niederknieten. Das alles war erst der Auftakt gewesen. Er behielt die folgenden Worte des Gedichts für sich und genoss sie äußerlich ungerührt – er wollte nicht, dass man ihn lächeln sah.

Das war der Moment, in dem er sich umdrehte und der Wind ihm die Krawatte über die Schulter wehte, während er hinaus auf das blaue Wasser des Golfs sah und die Sonne ihm von hinten auf den Kopf brannte; während das Ufer mit seinen flachen braunen Erhebungen zu beiden Seiten so schnell zurückwich, dass er sich leicht vorstellen konnte, auf dem weiten offenen Meer zu sein – obwohl er von der Karte in der Lounge wusste, dass jetzt erst einmal das Rote Meer vor ihnen lag und später der Indische Ozean.

Where the best is like the worst – deklamierte er im Geiste. Where there aren’t no Ten Commandments …

Und jetzt konnte er sich ein Lächeln nicht mehr verkneifen – niemand sah ihn, weil er nach vorn blickte, beglückt vom hochfahrenden Motor, der spürbaren Geschwindigkeit, der Gischt nach der dümpelnden Fahrt durch den Kanal. Die Bugwelle teilte das Meer wie eine grünlich blaue Speerspitze.

An’ a man can raise a thirst.

Er verbrachte auch den Rest des glühend heißen Nachmittags auf dem Bugdeck, den Blick stets nach vorn gerichtet. Ich bin auf dem Weg, dachte er, und seine Entscheidung erschien ihm irgendwie ernster und seltsamer angesichts der glühenden Hitze, die ihm vor Augen führte, dass er sich in eine neue Zeitzone begab, in ein neues Klima, auf einem Schiff, das ihn in den hintersten Winkel des Britischen Empires brachte, wo es vermutlich genauso heiß sein würde wie hier, wenn nicht heißer.

Vor allem gefiel ihm, dass Eton der Vergangenheit angehörte – er war kein Schuljunge mehr. Vor seinem geistigen Auge sah er sich in der Schuluniform, mit Zylinder und Frack, und schüttelte den Kopf – bei der Erinnerung daran und an seine Freunde, den dicken kleinen Connolly, den pickligen Hollis, den gedrungenen Runciman, und daran, wie er ernst zur Kapelle oder zu den Prüfungen gegangen oder in das Mannschaftstrikot für den Kampf beim Wall Game geschlüpft war. Ums Lernen ging es dort eigentlich kaum, eher um eine großspurige Version jugendlichen Leichtsinns; es war ein Haufen abscheulicher kleiner Snobs, die noch nichts von der Welt wussten. Vorbei war damit auch das Elend, am Besuchstag mit seinen Eltern auf dem Agar’s Plough herumzustapfen und Tee zu trinken. Er dachte an seinen Lehrer Gow, wie er griechische Buchstaben an die Tafel schrieb, und gestand sich ein, dass er ohne Gows Unterricht bei den Aufnahmeprüfungen für den Dienst in Indien schlechter abgeschnitten hätte – vielleicht hätte er gar nicht bestanden.

Er sah sich über das Griechischbuch gebeugt dasitzen, bei der abendlichen Vorbereitung, sah sich seinem Hausvater, dem herrischen John Crace, Streiche spielen, sah sich im Prüfungssaal, und er sah sich jetzt, ganz so, als stünde er wie ein Zuschauer etwas abseits auf dem Deck – ein zweites Ich, sich sehr wohl dessen bewusst, dass er hier eine Rolle spielte, ein namenloses Alter Ego, klarsichtig, ruhig, rational und mitunter auch abgestoßen von dem, was Blair tat oder sagte –, mit einer eigentümlichen selbstbewussten Distanz, die er gerade jetzt sehr intensiv empfand, als er, umgeben von der ölig schimmernden Wasseroberfläche des Roten Meeres, einem Schicksal entgegenfuhr, das er nicht absehen konnte, das aber bereits begonnen hatte und unumkehrbar war. Er hatte sich für fünf Jahre verpflichtet, und während das Schiff weiter durch die See pflügte und die dröhnend vibrierenden Motoren seine Füße taub werden ließen, wurde ihm klar, dass an eine vorzeitige Rückkehr nicht zu denken war. Er spürte die Erwartungen seiner Eltern auf sich lasten – ihre Hoffnungen, wie ernst es ihnen damit war, ihren dringenden Wunsch, dass er in seinem Beruf erfolgreich sein möge. Und es ärgerte ihn, dass er es ihnen unbedingt recht machen wollte – vor allem seinem Vater, alt und mürrisch und von sich selbst enttäuscht, Kolonialbeamter vierter Klasse im Opium Department (a. D.), der ihn eindringlich angesehen und gesagt hatte: »Enttäusch uns nicht, Eric.«

Das ging ihm nach. In Port Said hatte er einen Brief an sie abgeschickt, in dem er das Schiff, das Essen, die Passagiere, das Mittelmeerwetter und den ersten Anblick Ägyptens beschrieb. Er werde sich bald wieder melden, hatte er hinzugefügt, Colombo sei eine Woche entfernt, und von dort werde er ihnen über die Kamele und Kipling berichten, den Kanal und seine Lektüre, den Roman von H. G. Wells, und viele Grüße bitte auch an seine Schwestern Avril und Marjorie. Auch Jacintha Buddicom hatte er geschrieben, eine kurze Nachricht nur mit einem Gedicht, das er hinter Gibraltar verfasst hatte, unter anderem über den Bug des Schiffes, der »majestätisch zwischen den Säulen des Herkules hindurchstieß«, wobei er sich im Nachhinein für diesen Kitsch schämte.

Sein Blick von außen auf sich selbst blieb, das stets anwesende, aufmerksame Ich, das den jungen Mann mit Jackett und Krawatte auf dem Deck wie eine Figur in einer Geschichte beobachtete und wusste, was dieser sich nicht ohne Weiteres eingestehen wollte: dass er unsicher war, dass er im Grunde keine Ahnung hatte, dass er Polizeibeamter werden würde.

Das Klackern der Shuffleboard-Scheiben riss ihn aus seinen Tagträumen – zwei Männer hinter ihm, die mit ihren Cues die Scheiben über die Planken stießen und ihren Spaß hatten.

»Jetzt riskier mal was, Basil!«

»Mach ich, mach ich. Ich bräuchte nur erst mal ein Schlückchen. Kleinen Whiskey zur Stärkung, wenn du erlaubst. Steward!«

»Sahib!«

Es war die Tageszeit der Deckspiele und des Umherspazierens, wenn die Sonne tief stand und Backbord im Schatten lag, die Tageszeit, zu der Blair sich immer in seine Kabine zurückzog, um nicht angesprochen zu werden. Und auch, um David Jones aus dem Weg zu gehen, dem anderen Anwärter für den Polizeidienst, der ebenfalls auf dem Weg nach Rangun war und dessen Kabine unweit seiner lag.

»Vielleicht musst du der hässlichen Wahrheit ins Auge sehen, dass du es nicht mehr kannst.«

»Vielleicht« – und Blair sah, wie der Mann mit dem Schnurrbart mit seinem Cue zustieß – »nicht mit der gleichen Kraft. Aber du wirst dich vielleicht noch wundern.«

»Vergiss es. Sieh einer an, fast getroffen!«

»Das Deck müsste mal geschrubbt werden.«

Während die beiden Männer plauderten, kam ein Kellner mit Turban vorbei, in einer Hand ein Tablett mit einem Glas.

»Stopp!«, rief der Mann mit dem Schnurrbart.

»Sahib.«

»Hören Sie mal, wenn ich mit Stoßen dran bin, muss ich mich konzentrieren. Es geht nicht, dass Sie dann hier herumscharwenzeln. Ich will, dass Sie dann absolut stillstehen.«

»Jawohl, mein Herr.«

»Und bringen Sie uns doch gleich noch zwei halbe Jamesons.«

»Jawohl, mein Herr.«

Um nicht an den Männern vorbeigehen zu müssen und womöglich von ihnen begrüßt zu werden, hatte Blair sich zur Reling geschlichen, außer Sichtweite der beiden, aber noch in Hörweite.

»Unser Freund Alec.«

»Pudel-Wilmot. Ha!«

»Man hört, seine Frau hat die Schotten dicht gemacht.«

Sie flüsterten, aber doch so laut, dass er sie verstehen konnte.

»Wird hier auf dem Schiff nicht so eng gesehen mit Liebeleien.«

Blair hatte Sorge, hier bemerkt zu werden, als Mitwisser dieses Gesprächs, während die Shuffleboard-Scheiben klackerten. Er spürte, wie er errötete wegen des Geflüsters, der Andeutungen. Er ging weiter an der Reling entlang Richtung Rettungsboot und Tür zum Treppenhaus. Auf dem Kabinendeck liefen zwei Frauen grußlos an ihm vorbei, mit wehenden Röcken und versunken ins vertraute Gespräch.

»Rafe ist ein Lump …«

»Ach, mein Frank doch auch.«

Man kannte sich hier gut. Die Männer waren gesprächig und freundschaftlich im Umgang miteinander, die Frauen wie Schwestern; alle Passagiere schienen sich gut zu verstehen, auch wenn sie die Hälfte der Zeit übereinander lästerten. Es war eine Gemeinschaft von Anglo-Indern auf See, Beamten und Bürokraten und ihren Memsahibs, sie alle Brüder und Schwestern.

Das Raj, die britische Kolonialmacht in Indien, gab auf See ein trautes Bild ab, wobei Blair die Freimütigkeit im Umgang miteinander erstaunlich fand. Das Ganze erinnerte an die Vertrautheit von Clubmitgliedern, nur dass der Kreis hier nicht so exklusiv war, sondern eher einer Großfamilie von blasierten Oberherren und Banausen glich – nicht einen von ihnen hatte er je in seinem Liegestuhl ein Buch lesen sehen, wenngleich viele der Frauen oft in Zeitschriften vertieft waren.

Er hatte das unangenehme Gefühl, aufzufallen mit seinem Buch, Tono-Bungay, das er noch einmal lesen wollte. Ein Buch besagte so viel über die Person, die es las. Aber die Leute hier waren ausgelassene, gesellige Wesen, die plauderten, zusammen aßen, tanzten und die Partner wechselten. Und viele von ihnen sprachen mit dem eigentümlich affektierten Akzent von Engländern, die jahrelang im Ausland gelebt und an der Übertünchung ihrer kleinbürgerlichen Dialekte gearbeitet hatten, wodurch die Frauen vermeintlich vornehm klangen und die Männer rau, aber herzlich, laut und ruppig, »Ich muss schon sagen, mein Lieber …«.

Blair schämte sich auch bei dem Gedanken, dass er so harsch über sie urteilte, dass er die Schotten hier für besonders langweilig und hochnäsig hielt und sie ihn manchmal an die Schweinegesichter im Internat St. Cyprian’s erinnerten, die lautstark damit angaben, dass sie angeln oder jagen gingen, und zwar in Begleitung ihrer Jagdgehilfen, »unserer Gillies«. Was ihn am meisten entsetzte, was er in seinen Briefen nach Hause aber nicht schreiben konnte, war die Vorstellung, dass ihm eine Zukunft mit diesen Leuten bevorstand, dass sie seine Vorgesetzten sein würden. Ihm war schmerzlich bewusst, wie jung er war, und er konnte es kaum erwarten, im Juni endlich zwanzig zu werden.

Und noch etwas an den anderen Passagieren empfand er als unangenehm, bisweilen sogar als unerträglich. Wenn er ihnen zuhörte, wie sie in Erinnerungen an Indien schwelgten oder sich über Babus und Diener beklagten, sprachen sie im anglo-indischen Jargon seines Vaters und seiner Mutter, über den Chowkidar und die Amah, den Wächter und das Hausmädchen, den Chai-Wallah und den Syce, den Teekellner und den Pferdeknecht. Ihnen allen war die Sprache der britischen Kolonialmacht in Indien gemein, und Blair hasste es, daran erinnert zu werden. Sie kannten einander, aber er wollte sie nicht kennen. Und ich will nicht, dass sie mich kennen, dachte er.

Es war nicht schwer, sie zu meiden. Sie waren mit ihren Spielen beschäftigt, mit Drinks, mit Essen, mit Musik im Salon der ersten Klasse – er hörte sie, wie an jedem anderen Abend, die kleine Tanzkapelle des Schiffes, Reg Melly and his Mello-Tones, deren Klänge die Stahlplatten des Decks und die Wände seiner Kabine vibrieren ließen und durch die Luken drangen.

I found my love in Avalon

Beside the bay …

Er hasste es, dass er die Texte auswendig konnte, Wort für Wort ins Gehirn gebrannt, aber »Avalon« war immerhin besser als Reg Mellys schnarrende, augenzwinkernde Version von »Ain’t We Got Fun«:

Every morning, every evening

Ain’t we got fun …

Mittlerweile, da sie Suez hinter sich gelassen hatten, konnte er das gesamte Repertoire von Reg Melly auswendig und empfand Abscheu vor sich selbst, dass er die Lieder im Kopf hatte und sie seine Abende bestimmten, dass er Wells zum Liedtext von »Though April showers may come your way« las.

Das waren die Lieder, die durch die Wände drangen, aber an Deck war es noch schlimmer, und noch viel schlimmer war es im Speisesaal und im Salon, im Rauchsalon und in der Bibliothek, die grelle Musik von sieben bis elf und das betrunkene Gejohle danach, wenn die Krakeelenden in ihre Kabinen gingen.

Wie kann ich vermeiden, dass ich sie kennenlerne und sie mich? Vielleicht war es ganz einfach: in der Kabine bleiben. Das Bett hätte größer sein können – seine Beine waren viel zu lang für diese Koje –, aber es war ein Luxus, so viel Privatsphäre zu haben, ohne ständige Störungen wie in Eton, ohne die Dauerbeobachtung durch seine Eltern in ihrem kleinen Haus in Southwold. Blair war sehr wohl bewusst, dass er noch ein Junge war, aber es gab Momente an Bord der Herefordshire, da stellte er sich vor, man könnte ihn für einen erwachsenen Mann halten.

Die Band spielte schon wieder »Avalon«. Zum ersten Mal hatte er es in Southwold im Radio gehört, als er für die Abschlussprüfungen büffelte. Zum Glück dirigierte Reg Melly die Mello-Tones heute Abend nur, ohne dazu zu singen, und aus den Synkopen ließ sich schließen, dass die Passagiere tanzten – er hatte es auf dem Mittelmeer einmal gesehen, als er über das Deck spazierte, durchs Fenster der Lounge schaute, dachte: Das könnte ich nie, und froh war über seine Anonymität.

Es waren vor allem amerikanische Stücke, in die die Engländer völlig vernarrt schienen – sie liebten Al Jolson, der als »Blackface«-Sänger auftrat. Blair hätte sich gern darüber lustig gemacht, doch die Lieder stimmten ihn melancholisch und erinnerten ihn auf höhnische Weise daran, wie weit er von zu Hause entfernt war. Und auch wenn die anderen Passagiere die Musik hörten, um sich an ihr zu erfreuen, wirkte es auf ihn lächerlich und traurig, wie sie sich mit der Rührseligkeit dieser Lieder aufzuheitern versuchten und tanzten wie die Narren.

Als die Musik endlich verstummte, vertiefte er sich in Tono-Bungay und überlegte sich einen Vers für ein Gedicht, das er schreiben könnte: »Was von England geblieben war, versank im Meer, und – irgendwas, irgendwer – erinnerte sich an mich.« Es würde ein heillos trauriges Gedicht werden. Warum also die Mühe?

Am Morgen klopfte wie üblich Ramasamy, der indische Steward, sanft an seine Tür, wie immer mit einer Tasse Tee auf einem Tablett, heute aber mit einem zweiten kleinen Tablett, auf dem ein Umschlag lag mit der aufgedruckten roten Flagge der Bibby Line und einem Schriftzug in blauer Tinte: EA Blair Esq.

»Was ist das?«

»Eine Nachricht, Sahib. Vom Kapitän, Sahib.«

Blair wartete, bis der Steward gegangen war, riss den Umschlag auf und las: Kapitän Robertson bittet um das Vergnügen Ihrer Anwesenheit beim Abendessen am Captain’s Table am 10. November 1922 um 19 Uhr.

2

DER CAPTAIN’S TABLE

Blairs Methode, über die unwillkommene Einladung zu sinnieren, bestand darin, sein Gesicht im Rasierspiegel zu betrachten, als könnte er irgendeine Wahrheit darin entdecken. Er war unglücklich über das blasse Schuljungengesicht, die wenig ausdrucksstarken Augen, den ausweichenden Blick, die leichten Pausbacken, vor allem aber über den zu weichen Mund, der vielleicht von einem Schnurrbart profitieren würde. Zudem sah er sich nur aus einem schiefen Winkel, da er sich bücken musste, um in den Spiegel zu blicken – so wie er zu groß für sein Bett war, überragte er auch den Spiegel. Jedes Mal, wenn er ins Bad trat, schlug er sich den Kopf an. Ihm war bewusst, dass er wegen seiner Körpergröße am Tisch des Kapitäns auffallen würde, auch wegen seines jugendlichen Alters und weil er zum Tischgespräch nichts beizutragen haben würde. Die Einladung war eine Herausforderung, sie bereitete ihm Unbehagen, und in dem Gesicht im Spiegel erblickte er hilflose Besorgnis und Unentschlossenheit.

»Auf dem Weg, Polizeioffizier zu werden, Sir«, hörte er sich sagen und dachte: Gottogott.

Außer kurz mit Jones oder dem Steward hatte Blair auf dem Schiff noch mit niemandem gesprochen. Er hatte die meiste Zeit allein in seiner Kabine verbracht, mit seinen Büchern; auch die Mahlzeiten hatte er allein eingenommen, etwas verstört angesichts der Unmengen an Essen. An Deck hatte er sich verborgen gehalten, war mit gesenktem Kopf umherspaziert oder hatte sich ganz vorn an der Bugreling aufgehalten, vor den Kränen und der Zitadelle mit den übereinanderliegenden Lounges, stets den Fenstern und den Passagieren den Rücken zugewandt. Was Small Talk betraf, war er seit jeher ein Totalausfall, und zudem hasste er es, über sich selbst zu reden.

Aber die Einladung war ein Befehl.

Den ganzen nächsten Tag war er am Grübeln, stellte sich eine Verhörsituation vor und improvisierte Antworten und Erklärungen. Sorge bereiteten ihm nicht etwa Zudringlichkeiten, sondern lediglich, dass er seine Anonymität einbüßte und einfallsreich sein musste, um glaubwürdige Antworten zu geben. Er hatte keine Angst, dass ihm jemand zu nahekommen könnte – er wusste aus Eton, von den reichen Jungs, von den Paukern, wie man sich keine Blöße gab. Sein Widerwille gegen den Captain’s Table war vor allem der Unmut bei der Aussicht, in erzwungener Intimität, Ellbogen an Ellbogen, mit Passagieren zu speisen, die sich untereinander gut kannten. Das und das Bedauern darüber, dass es ihm verwehrt bleiben würde, beim Abendessen allein in seiner Kabine H. G. Wells zu lesen.

Alle Abendessen an Bord waren formell, und er war es nicht gewohnt, hier Abendgarderobe anzulegen, aber im Grunde kannte er es ja alles von der Kleiderordnung in Eton. Trotzdem band er sich die Krawatte nur widerwillig und betrachtete gerade skeptisch sein Gesicht im Spiegel, als die Klingel seiner Kabine ertönte. Er öffnete die Tür, und vor ihm stand ein Inder in weißer Uniform, mit rotem Kummerbund und rotem Turban.

»Mein Name ist Ranjit Singh, Sahib«, sagte der Mann. »Man schickt mich, um Sie zum Tisch des Kapitäns zu führen.«

»Dann nach Ihnen, Sardarji«, sagte Blair. »Ohne Sie würde ich es nicht finden.«

Doch der Mann hielt kurz inne, lächelte, strich sich über den Bart und sagte in einem wärmeren Ton »Sie kennen das Wort Sardar, Sahib?«

»Ich habe es bei Kipling gelesen, der kannte sich mit Sikhs aus.«

»Danke, Sahib«, sagte der Mann, verneigte sich und machte auf dem Absatz kehrt. »Das Essen findet in der Kapitänsmesse statt, Sahib. Direkt neben dem Salon der ersten Klasse.«

Die Körperhaltung des Stewards mit dem gestutzten, bereits leicht ergrauten Bart und dem fest gewickelten Dastar auf dem Kopf hatte etwas Militärisches, der aufrechte Gang, die durchgedrückten Schultern, und obwohl er offensichtlich nur ein paar Jahre älter war als Blair selbst, hatte er eine Ausstrahlung, die auf erlebtes Leid hindeutete, das Weiß im Bart, die Falten im Gesicht, der Schmerz in den Augen, dazu humpelte er leicht, zog das linke Bein nach, wobei er die Außenkante seines blank polierten Schuhs strapazierte, dabei aber einen gleichmäßigen Rhythmus beibehielt.

»Werden dort außer dem Kapitän viele Leute sein?«

»Immer ein voll besetzter Tisch, Sahib«, sagte Ranjit Singh, ohne sich umzudrehen.

Blair stöhnte innerlich auf und versuchte, die Information zu verarbeiten. Ein voll besetzter Tisch, dachte er, aber vielleicht ja besser, wenn dort viele sind als wenige, dann falle ich nicht so auf.

Wie er so dem humpelnden Inder durch den Kabinengang folgte, am Schott vorbei zu der Treppe, die hoch in den Salon der ersten Klasse führte, und dabei immer wieder Paaren Platz machte, die auf dem Weg zum Abendessen waren, fühlte sich Blair unangenehm exponiert. Er beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen, aus Sorge, jemand könnte ihnen zuhören. Wie immer unter Leuten war er sich seiner Körpergröße bewusst und senkte instinktiv den Kopf, verbeugte sich fast, wenn sie an anderen Passagieren vorbeikamen, wie zum Beispiel dem rotgesichtigen Mann im Frack am Eingang des Salons, der gerade das Ende einer Zigarre abbiss und ihn mit neugieriger Fratze musterte, sich sogar umdrehte, um dem hochgewachsenen jungen Mann, der da mit schlenderndem Gang einem bärtigen, humpelnden Inder folgte, hinterherzustarren.

Durch eine Nische gelangten sie zu einer lackierten Teakholztür mit einem ovalen Fenster, in dessen Glas ein florales Motiv und das Wort Privat graviert waren.

»Herein!« Die Stimme klang selbstsicher und eine Spur schroff, aber als Blair eintrat, kam ihm der Sprecher – in einer dunklen Uniform mit goldenen Streifen – mit einem einladenden Lächeln und blauen, freundlichen Augen entgegen.

»Wen darf ich begrüßen?«

»Blair, Sir.«

»Was darf es für Sie zu trinken sein, Blair?«

»Sherry, Sir.«

»Wir haben ein paar sehr ordentliche Whiskeys«, sagte der Kapitän. »Aber wie Sie wünschen. Singh, einen Sherry für unseren Freund Blair.« Er drehte sich zur Seite. »Diese Leute« – dabei wies er auf eine Gruppe, die nur ein paar Schritte entfernt stand – »werden heute Abend ebenfalls mit uns speisen.«

Als er sie namentlich vorstellte, lächelten die Leute zu ihm herüber und murmelten »Guten Abend«, während Blair im Geiste die Namen wiederholte, um sie sich einzuprägen: Alec und Edith Peddy-Wilmot, Hamish und Rebecca Christie – »Jamie und Becca«, korrigierte Hamish –, Reverend MacIntosh. Und noch während der Kapitän sie alle vorstellte, führte Singh eine alte Frau ins Zimmer. Sie trug ein schwarzes gerafftes Kleid, das ihr um die Knöchel flatterte, und hatte etwas Gespensterhaftes mit ihrer pergamentenen Gesichtshaut, durch die die Knochen durchschienen, eher ein Schädel als ein Gesicht.

»Unsere liebe Mrs. Hargreaves«, sagte der Kapitän. »Die meisten hier kennen Sie vermutlich, aber Mr. Blair vielleicht noch nicht.«

»Guten Abend«, sagte die Frau gleichgültig und wie zu sich selbst, während sie ihre Handtasche mit beiden Händen umklammerte und halb erhoben vor sich hielt wie einen Schutzschild.

Hinter Blair sagte ein Mann zu Singh: »Muje pyaar lagi hai«, worauf Blair sich umdrehte und lächeln musste.

Der gesprochen hatte, war Hamish Christie. »Ich habe Durst«, sagte er nun.

»Trrrink einen Wein, Jamie!«, rief eine Frau.

Blair ging etwas zur Seite, stellte sich neben den Serviertisch und fühlte sich, wie am Vortag – und an den meisten Tagen –, ausgeschlossen, da sich alle auf dem Schiff gut zu verstehen schienen. Er lächelte vor sich hin, nippte an seinem Sherry und hatte keine Ahnung, wie er sich mit den anderen bekannt machen sollte – ihre laute gute Laune erinnerte an Leute in einem Club, wirkte herablassend, raumgreifend. Er wünschte sich in seine Kabine zurück, in den Schatten am Bug des Schiffes, in eine Ecke des Rauchsalons – irgendwohin, Hauptsache weg von hier.

»Guten Abend, mein Junge. Sie sind Blair.«

Das war Reverend MacIntosh, der milde lächelte und sich ein kleines Glas Sherry vors Kinn hielt, ohne daraus zu trinken.

»Ja, Sir«, sagte Blair, und da ihm nichts weiter einfiel, fragte er: »Ist Ihre Kirche in Rangun?«

»Grundgütiger, nein«, sagte Reverend MacIntosh missbilligend. »Ich bin im gesegneten Moulmein, der ganze Staat Mon ist mir als Pfarrbezirk zugeordnet.«

Blair stammelte einfach irgendwas, denn er wollte auf keinen Fall erwähnen, dass er dort Familie hatte, Verwandte seiner Mutter, die ursprünglich aus Frankreich stammenden Limouzins, die er bei sich immer »die Limonen« nannte, seine Großmutter und seinen Onkel und seine Cousins, eine alte Kolonialfamilie. Geh sie mal besuchen, hatte seine Mutter ihn gedrängt. Sie hatten aber das Undenkbare getan – zwei der Männer hatten einheimische Frauen geheiratet und Mischlingskinder in die Welt gesetzt, und so versuchten sie, irgendwie durchzukommen, wahrscheinlich gesellschaftlich geächtet. Schon der Gedanke an sie in Moulmein trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht und machte einen Besuch für ihn völlig undenkbar – außer vielleicht mal heimlich, im Schutz der Nacht.

»Moulmein will ich auch unbedingt einmal besuchen«, sagte er, nippte an seinem Sherry und hoffte, dass es aufrichtig klang.

»Sie werden in St. Matthew’s immer willkommen sein.«

Jemand tippte ihm eindringlich auf den Arm. Es war die eine Frau, Edith Irgendwas, ihr Grinsen hatte etwas Clowneskes, da der glänzende Lippenstift ihren Mund so vergrößerte. »Ich sitze neben Ihnen, junger Mann. Na, wenn Sie mal kein Glückspilz sind!«

Die anderen Gäste umrundeten den Tisch und lasen die Tischkarten, die hinter den Tellern aufgestellt waren. Nachdem Blair seinen Namen gefunden hatte, warf er einen Blick auf die Karte der Frau – Mrs. A. Peddy-Wilmot.

Als der Kapitän am Kopfende des Tisches Platz nahm, zog die skelettartige Mrs. Hargreaves ein Taschentuch aus dem Ärmel, drückte es sich an den Mund und hustete hinein, dass ihre Schultern bebten.

Sie würgte ein wenig und fragte: »Wo werden wir morgen sein, Herr Kapitän?«

»Im Morgengrauen passieren wir Jeddah.«

»Und Aden?«

»Noch gut einen Tag. Dort nehmen wir weitere Passagiere und neuen Treibstoff auf. Ich werde Reginald Melly bitten, seine Männer zu wecken und wie üblich »The Barren Rocks of Aden« zu spielen. Von da geht es direkt nach Colombo. Ich werde dafür sorgen, dass wir schönes Wetter haben.«

Niemand sprach, während ein indischer Kellner Suppe aus einer großen Terrine schöpfte und servierte. Dann sagte Reverend MacIntosh: »Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.«

»Amen«, murmelten die anderen unter allgemeinem Geräusper.

»Danke«, sagte Mrs. Hargreaves. »Ich freue mich schon sehr, mal wieder nach Colombo zu kommen.«

»Die liebe Mrs. Hargreaves war in Colombo«, erläuterte Hamish Christie Blair, »als die Worcestershire versenkt wurde.«

»Bibby-Liner«, sagte der Kapitän. »Neunzehnhundertsiebzehn.«

»Also eines Ihrer Schiffe«, sagte Blair und sah, dass alle ihn anschauten, während er nichts weiter zu sagen wusste.

»Postdampfer«, erklärte der Kapitän, um die Stille zu beenden. »Fuhr auf eine Mine, die eins der Hunnenschiffe gelegt hatte, die gefürchtete Wolf.«

»Ein Kriegsschiff der Hunnen?«

»Ein Handelsschiff, voll mit Kanonen und Torpedorohren. Die Kriegsschiffe waren alle im Ärmelkanal.«

»Scheint dem Jungen neu zu sein«, warf Alec Peddy-Wilmot ein.

»Es war ein furchtbarer Schock«, sagte Mrs. Hargreaves.

»Aber warum um alles in der Welt Ceylon?«, fragte Blair.

»Um die Wogs mit deutscher Stärke zu beeindrucken«, sagte Hamish. »Ganz bewusst.«

»Sie sprachen über nichts anderes mehr, die Eingeborenen«, sagte Mrs. Hargreaves. »Vom Hafen aus sahen sie das gesamte Spektakel, wie das große Schiff unterging und die Deutschen sich davonmachten. Sie haben meinen Garten zertrampelt und waren ganz außer sich vor Freude.«

»Die dreckigen Mönche in Burma auch«, sagte Hamish. »So ein kleiner Sack auf dem Basar besaß doch tatsächlich die Frechheit«, fügte er leise murmelnd hinzu, »mir davon vorzuschwärmen.«

»Der Deutsche hat danach bekommen, was er verdient hat«, sagte Edith Peddy-Wilmot.

»Mein Enkel hat in Flandern gedient«, sagte Mrs. Hargreaves. »Wurde schwer verwundet.«

»Unser Singh hier kann Ihnen über diesen Teil des Krieges auch ein bisschen was erzählen«, warf der Kapitän ein.

»Sie haben gedient?«, fragte Hamish.

»Oh ja, Sir«, sagte Singh, während er mit einem silbernen Brotkorb voller Brötchen zur Anrichte humpelte.

»Dieses Schiff, unsere liebe Herefordshire, hätte es ein Jahr später fast in einem Schiffskonvoi im Mittelmeer erwischt«, sagte der Kapitän. »Ich kannte den Skipper. Erfahrener Mann. Er war auf der Brücke und sah zwei Torpedos direkt auf sich zukommen. Er befahl, das Ruder hart herumzureißen, und volle Fahrt zurück.« Dazu hob der Kapitän seinen Suppenlöffel und drehte ihn langsam. »Einer der beiden Torpedos verfehlte sein Heck um einen halben Meter, der andere traf die Sardinia direkt hinter ihm.«

»Und hat sie versenkt?«, fragte Blair.

»Keine Sorge. Der Kapitän der Sardinia namens Millson war ein cleverer Bursche. Er verfrachtete seine Passagiere auf ein Kriegsschiff, und als er sah, dass sein Steuerbordbug durch den Treffer dem Druck nicht mehr standhielt, befahl er, das Schiff rückwärts – ich wiederhole, rückwärts – sechzig Meilen bis zum Hafen von Oran in Algerien zu fahren. Hat sein Schiff gerettet.«

»Die Bibby-Reederei hat in der Geschichte des Empires eine große Vergangenheit, mein Junge«, sagte Hamish.

»Wir sind so stolz auf sie«, sagte Edith. Sie legte Blair die Hand auf den Arm und fügte hinzu: »Unser Kapitän ist zu bescheiden, um zu sagen, dass er für seine Verdienste ausgezeichnet wurde. Aye, Dougal Robertson, ehrenvolle Erwähnung für Tapferkeit.«

Der Kapitän schüttelte den Kopf und lächelte bitter. »Wir haben alle unseren Beitrag geleistet.«

»Alle an einem Strang gezogen«, warf Alec ein.

»Die Oxfordshire diente als Truppenschiff, mit dem Tausende von Soldaten transportiert wurden, und auch die gute alte Herefordshire war ein Truppenschiff, dann ein Lazarettschiff, danach wieder ein Handelsschiff und so weiter – und jetzt ist sie für einige Wochen Ihr Zuhause.«

Während der Kapitän sprach, wurden von beflissenen, sich tief verbeugenden Kellnern unter Singhs Aufsicht die Suppenschüsseln abgetragen.

»Und was haben Sie damals so getrieben, Junge?«, wandte Alec sich an Blair. »Geben Sie uns einen Tipp.«

»Ich war in der Schule«, sagte Blair, und als er merkte, dass er an seiner Krawatte herumspielte, verstaute er seine Hände unter dem Tisch.

Dabei dachte er allerdings an die Prep School, nicht an Eton. Als er das verhasste rollende R am Tisch hörte, das kieferausrenkende »Haw!«, das gespreizte Gekiekse, erinnerte er sich an den seltsamen Kult um das Schottentum an St. Cyprian’s, an die sadistische Frau des Schulleiters, »Flip« Wilkes, die die schottischen Jungen dauernd damit behelligte, dass sie unbedingt Schottenröcke mit traditionellem Karomuster anstatt der Schuluniform tragen sollten, die die Schotten dafür liebte, dass sie grimmig und mürrisch und stolz waren, und von den Chieftains schottischer Clans schwärmte. Sie hatte behauptet, schottischer Abstammung zu sein, und Schottland als ihr privates Paradies betrachtet, das sie mit den reichen englischen Jungs teilte, die dort ihre Ferien verbrachten und sich mit »unseren Gillies« brüsteten. Blair blickte in die Runde, in die plappernden Gesichter, und hatte das Gefühl, erneut in ein Glottisschlag-Ghetto von Schotten geraten zu sein.

»Mein Enkel verließ die Schule, um sich als Freiwilliger zu melden«, sagte Mrs. Hargreaves ernst. »Erlitt eine Gasvergiftung. Dritte Schlacht von Wipers.«

»Schwer verwundet?«, fragte Edith. »Armer Kerl.«

»Ich kann darüber nicht sprechen«, sagte die alte Frau und schloss fest die Augen.

»Welche Schule, mein Junge?«, setzte Alec mit vorgerecktem Kopf nach.

»Eton«, sagte Blair, die feuchten Hände unterm Tisch fest zusammengepresst.

»Dann wissen wir ja, was er damals getrieben hat«, sagte Hamish mit einem Nicken zu Alec. »Bei den Gelagen nach Bootsrennen die Hose runtergezogen bekommen.«

»Sie waren bestimmt ein richtiger kleiner Streber«, sagte Alec.

Blair versuchte zu lächeln. »Stinkfaul. Wenn ich überhaupt was gelernt habe, dann unbewusst.«

»Und was, wenn ich fragen darf, haben Sie in Burma vor?«, fragte Alec.

»Polizeidienst«, sagte Blair. »Erst mal Ausbildung in Mandalay.«

»Alec versucht, sich ein Bild zu machen«, sagte Hamish. »Wissen Sie, worauf Sie sich da einlassen, Junge?«

»Sicher nicht so ganz. Ich habe ein paar vage Vorstellungen, was der Job so mit sich bringt.«

»Keine Sorge!«, sagte Alec. »Ich bin auch bei der Polizei – als Leiter des Insein-Gefängnisses –, und ich kann Ihnen versichern, dass der Job drei Dinge mit sich bringt. Erstens: Aufsicht führen. Zweitens: Aufsicht führen. Und drittens: Aufsicht führen.«

»Verstanden«, sagte Blair. »Sehr hilfreich, Sir. Ich danke Ihnen, Sir.«

»Ich hatte darüber schon heftigen Streit mit meinem Stellvertreter im Gefängnis.«

»Eher verabredete Schlägereien«, sagte Edith kichernd.

Bevor Blair etwas erwidern konnte, tauchte Singh neben ihm auf, mit einer Platte voller Gemüse, das er ihm auf eine Ecke seines Tellers auftat. Blair lehnte sich zurück, um Singh Platz zum Servieren zu machen, während zwei weitere indische Kellner damit beschäftigt waren, Gläser nachzufüllen. Hamish neigte den Kopf zu Edith und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Bandar.«

»Ja?«, sagte Edith.

»Affen«, sagte Hamish etwas lauter.

Doch die allgemeine Aufmerksamkeit galt jetzt einem Mann in Uniform, der die Kapitänsmesse betreten hatte und sich in einer anscheinend dringenden Angelegenheit mit dem Kapitän beriet.

»Unser Steuermann«, sagte Alec zu Blair. »Er ist schrecklich großartig. Unser Leben liegt in seinen Händen.«

Der Mann war jung, blond, sportlich, hatte ein frisches Gesicht und strahlte auch dann noch Würde aus, als er den Kopf senkte, um mit dem Kapitän zu sprechen, und dabei ein Blatt Papier entfaltete, auf dem ein Diagramm zu sehen war.

Der Kapitän betrachtete es eingehend und tippte dann mit dem Finger darauf. »Sie haben meinen Segen«, sagte er.

Beim Verlassen des Raums trat der Steuermann kurz zur Seite, um einen Kellner vorbeizulassen, der ein Tablett mit Pudding in dicken Schalen auf der Schulter trug.

»Das legendäre Wall Game in Eton«, sagte Edith. »Waren Sie gut?«

»Ich glaube, ich war ganz ordentlich«, sagte Blair.

»Ihre erste Reise in diese Gegend?«, fragte Alec.

Blair war jetzt vorsichtig – im Gespräch mit einem Mann, der sich als Polizeioffizier vorstellte und ihm das Gefühl vermittelte, dass er ihn einem Verhör unterzog.

»Ich bin in Bengalen geboren«, sagte er, »wurde aber noch als Kleinkind nach England gebracht.«

»Unsere Muriel ist in Poona geboren«, sagte Edith. »So ein hübsches Ding. War Ihr Vater auch im Civil Service wie Alec?«

»Beamter bei der Opiumbehörde«, sagte Blair, unglücklich, etwas von sich preiszugeben, was aber angesichts der direkten Fragen unvermeidlich war. Allerdings verschwieg er geflissentlich, dass sein Vater lediglich ein untergeordneter Stellvertreter im abgelegenen Motihari gewesen war.

»Meine Kirche ist in Moulmein«, sagte Reverend MacIntosh zu Mrs. Hargreaves. »Die örtlichen Karen sind ziemlich fromm geworden. Ein nettes Völkchen.«

Blair ermahnte sich noch einmal, der Tischgesellschaft nicht mitzuteilen, dass seine Mutter in Moulmein geboren war und seine Großmutter noch dort lebte. Und so hörte er zu, beugte sich über seinen Pudding, in dem er aber nur herumstocherte, weil er viel zu satt war, um noch etwas zu essen. Als Reverend MacIntosh sagte, er werde eine Gemeinde auf der anderen Seite des Flusses in Martaban besuchen, kam Blair wieder Kipling in den Sinn: »The wildest dreams of Kew, are the facts of Khatmandhu, and the crimes of Clapham chaste in Martaban.«

»Sie haben gar nicht aufgegessen«, sagte Edith.

»Ich bin satt. Ich bin solche Portionen Pudding gar nicht gewohnt.«

»Tatsächlich eine sehr ordentliche Schüssel«, sagte Hamish.

Dann verkündete der Kapitän: »Lassen Sie sich bitte nicht stören. Ich wurde auf die Brücke beordert, aber Sie können Ihren Kaffee gern in der Lounge genießen, wenn Sie möchten. Und es gibt natürlich Brandy und Portwein und eine Auswahl an Cheroot-Zigarren für die Herren.«

»Unsere Wäscherin liebt ihre Cheroots«, sagte Edith.

»Whacking great cheroot«, dachte Blair und hätte es fast laut gesagt. Doch kaum war der Kapitän gegangen, schien auch jedes Leben aus dem Raum gewichen – das Gespräch wurde zäher und kam schließlich ganz zum Erliegen. Die Gäste falteten ihre Servietten zusammen, warfen sie auf den Tisch und verließen paarweise den Raum, zuerst die alte Mrs. Hargreaves und der Reverend, dann Hamish und Rebecca und zuletzt die Peddy-Wilmots, wobei Edith noch über die Schulter zu Blair sagte: »Es wäre ausgesprochen nett, wenn Sie uns mal zum Tee besuchen würden, sobald wir wieder in Rangun sind – meine Tochter und mich. Insein ist zwar nicht weit entfernt, aber Alec hat furchtbar viel zu tun mit seinem Gefängnis.«

»Aufsicht führen«, sagte Alec. »Verzweifelte kleine Babus und böse Dacoits und ein paar politische Mönche. Mein Stellvertreter ist neu und naiv. Seien sie nicht neu und naiv, mein Junge.«

»Ich werde mich bemühen«, sagte Blair.

»Unser Junge scheint ein bisschen nervös«, sagte Edith mit einem boshaften Lächeln.

»Und meinen stellvertretenden Aufseher – ein anderer neuer Kerl bei uns, nicht der mürrische, über den ich gerade sprach – kann man noch so sehr verspotten, er lässt sich von seinen lächerlichen Ideen nicht abbringen.«

Als er schließlich allein dasaß, dachte Blair darüber nach, wie er sich geschlagen hatte, und kam zu dem Ergebnis: schlecht. Er hatte zu viel gesagt. Er hatte sich als Schuljunge verspottet gefühlt, er wusste nichts vom Untergang der Worcestershire, der den anderen offenbar so viel bedeutete, und Wipers war für ihn nur ein Wort, mit dem er Blutvergießen verband.

»Kann ich Ihnen irgendetwas bringen, Sahib?«, fragte Ranjit Singh, der auf ihn zugehumpelt kam.

»Danke, nein, aber ich würde von Ihnen gern etwas wissen, Sardarji. Sie haben im Krieg gekämpft?«

»Dreiundneunzigste Burma-Infanterie, aber wir waren in Barrackpore stationiert. Unsere Einheit hat an vielen Orten gekämpft.«

»Frankreich?«

»Und Ägypten und Mesopotamien.«

»Und Wipers?«

»Passchendaele, 1914. Gleiche Gegend wie der Enkel von Madam Hargreaves.«

»Da haben Sie aber ganz schön Pech gehabt.«

»Nein, Sahib. Ich hatte Glück. Ich wurde als Kriegsinvalide entlassen. Viele meiner Kameraden hatten weniger Glück. Im Lazarett in Kent habe ich Captain Robertson kennengelernt, und er hat mich als Steward eingestellt. Großes Glück also, Sahib.«

Als er davonhumpelte – aha, eine Kriegsverletzung –, verließ auch Blair den Raum und wollte durch die Lounge der ersten Klasse davonschleichen. Als er aber die Peddy-Wilmots und die Christies lachend und trinkend an einem Tisch sitzen sah, zögerte er und machte kehrt, denn er wollte vermeiden, dass sie ihn sahen und zu sich heranwinkten (»Mein Junge!«) und er sich mit ihnen unterhalten müsste und weiter befragt würde. Also ging er zurück in den Flur, der zur Kapitänsmesse führte, und suchte nach einem anderen Ausgang.

Genau in diesem Moment wurde eine Tür geöffnet, und ein Mann trat auf den Flur heraus und blockierte den schmalen Gang – der blonde Steuermann in seiner schicken Uniform, der sich mit dem Kapitän in der offenbar so wichtigen Angelegenheit beraten hatte. Der Mann erschrak und riss die Hände hoch, in denen er die Schale mit Blairs zerstochertem Pudding hielt; durch den Ruck schwappte die Masse über den Rand und lief ihm über die Finger. Er ächzte, wie zur Beschwerde, wandte sich brüskiert ab und drängte sich, die Schüssel immer noch fest umklammert, seitlich an Blair vorbei.

3

AUF SEE

Blair hielt sich danach im Verborgenen. Bislang war er nur vorsichtig gewesen, jetzt aber versteckte er sich: Er hielt sich von der Lounge der ersten Klasse fern, er mied den Rauchsalon, beim Mittagessen im Speisesalon machte er sich möglichst klein und versuchte, schnell zu essen, während des Abendessens blieb er gleich ganz in seiner Kabine – es gab ohnehin zu viel zu essen, und so hatte er auch nie so viel Hunger, dass er das Risiko eingehen musste, diesen Leuten zu begegnen. Und er hasste sie für richtiger kleiner Streber und Der Junge scheint ein bisschen nervös und Wir sind so stolz und Alle an einem Strang gezogen. Wenn ihn doch mal Hunger überkam, riskierte er es nicht, durch die Lounge zu gehen, sondern bat seinen Steward, Ramasamy, ihm Tee und Sandwiches zu bringen. Ramasamy war ein dunkler, spindeldürrer Dravide mit schwarzen, nah beieinanderstehenden Augen und unterwürfigem Gebaren, aber als Blair ihn über seine Sprache ausfragte, Tamilisch, entspannte sich der Mann, lachte und sagte: »Nanri aiya«, was, wie er erklärte, »Danke, Sir« hieß.

»Bringen Sie mir Hindi bei.«

»Acha. Ich weiß Hindi, Sahib.«

Blair lernte kya haal hai? – Wie geht es Ihnen? Und tumara naam ke hai? – Wie heißen Sie? Sowie Mujhe den –bitte geben Sie mir, jildy karo – bitte so schnell wie möglich, und Bahut dhanyavaad –vielen Dank. Manchmal brachte ihm Ramasamy zum Tee auch tamilische Reiskuchen aus der Mannschaftsmesse mit.

»Was ist das?«

»Idli, Sahib. Wie meine Mutter macht. Madras Idli.«

Sie waren weich, rundlich und würzig, wie kleine weiße Nadelkissen, und wurden immer zusammen mit einer Schüssel ockerfarbenem Linseneintopf gebracht, den Ramasamy Sambar nannte, wobei er erklärte, dass es im Englischen kein Wort für Sambar gäbe.

Ramasamy war zu einem Verbündeten geworden, der Blairs Bedürfnis nach Privatsphäre verstand und für ihn wachsam war. Offenbar nahm er an, dass Blair kostbare Geheimnisse hütete, die er zu schützen versuchte – als Beweis dienten ihm die verstreuten Manuskriptseiten auf Blairs Schreibtisch, vollgeschrieben mit Notizen, die priesterlich oder biblisch anmuteten, heilige Texte, worauf auch Blairs Bitte »Mat chhuo« – bitte nicht berühren – hindeutete.

»Main nahin choonga«, sagte Ramasamy. »Ich werde sie nicht berühren, Sahib.«

In seiner Nische ganz vorn am Bug, zwischen den Nestern der aufgerollten Ankerleinen, fühlte Blair sich sicher, und er saß dort oft bei Sonnenuntergang, starr vor Spannung. Die Abendluft war warm, das Schiff brummte durchs Rote Meer und trug ihn immer weiter ins Erstaunen.

Als sie in Aden anlegten, klopfte jemand an seine Kabinentür, aber es war nicht das sanfte Klopfen von Ramasamy, sondern ein unwillkommenes Gehämmer. Er zögerte, überhaupt zu reagieren, und blieb in seiner Koje liegen, aber als es noch einmal hämmerte, und sogar lauter, stand er auf und schlich zur Tür.

»Wer ist da?«

»Jones – nur ganz kurz.«

Blair schob den Riegel zur Seite und öffnete die Tür. Er sah ins grelle Tageslicht und in das Gesicht von David Jones – blass, das schwarze Haar durch Pomade oder Schweiß eng an den ovalen Kopf gepresst. Er hatte ein sehr vorspringendes Kinn, seine Mundwinkel waren besorgt nach unten gezogen.

»Blair. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil Sie sich so selten zeigen. Seit Gibraltar habe ich Sie fast nicht mehr gesehen. Ich dachte, vielleicht geht es Ihnen nicht gut.«

»Mir geht’s gut. Ich lese und halte mich von den Leuten fern.«

»Als ich erwähnte, dass ich auch zur Polizei gehe, haben sich einige Passagiere nach Ihnen erkundigt.«

»Und was haben Sie ihnen gesagt?«

»Dass ich nach Ihnen sehen würde.«

»Eher die Sorte neugierige Leute?«

»Schienen eigentlich ganz nett zu sein. Sie fragten sich, ob sie Sie vergrault hätten. Zwei Paare, um genau zu sein. Sind meist in der Bibliothek.«

»Bücherwürmer?«

»Kartenspieler, Bridge oder Bézique, zu viert. Der mit dem Bart bechert ganz gern.«

»Seine Frau hat mir erzählt, dass er der Direktor des Gefängnisses von Insein ist.«

»Wer weiß, vielleicht landen wir da auch irgendwann.«

Diese Vorstellung ließ Blair verstummen, und er wollte die Tür wieder schließen.

»Wo haben Sie die denn kennengelernt?«, fragte Jones dann aber.

»Beim Captain’s Table. Ich wurde aus irgendeinem Grund eingeladen. Der Kapitän ist ein bisschen eigenwillig – Dougal Robertson, Mentioned in Dispatches. Danach ist aber etwas sehr Merkwürdiges passiert – oder zwei merkwürdige Dinge, um genau zu sein.«

Vielleicht in der Annahme, dass eine längere Geschichte folgen würde, und weil er es als seltsam empfand, vor der offenen Tür zu stehen, sagte Jones: »Kann ich kurz reinkommen? Ich würde es gerne hören.«

Blair zögerte. Wenn sie draußen auf dem Deck redeten, würde man ihn beobachten können, und das wollte er um jeden Preis vermeiden. In der Kabine wiederum, zwischen seinen Büchern und Blättern, den Fragmenten eines Gedichts, einem begonnenen Brief, alles verstreut auf dem Tisch, würde er Jones notgedrungen Einblick in sein Privatleben gewähren.

»Ich fasse mich kurz«, sagte er, trat auf das Deck hinaus und schloss die Tür hinter sich. Er ging vor zu den Rettungsbooten und schlüpfte zwischen das hängende Boot und die Reling. Jones folgte ihm, irritiert von der Wahl des Weges und vor Verwirrung ein wenig schnaufend.

»Es gab Pudding zum Nachtisch«, sagte Blair leise, als teile er ihm ein streng gehütetes Geheimnis mit. Dann erzählte er, wie er nach der mächtigen Mahlzeit kein Dessert mehr hatte essen können. Dass er nach dem Essen die anderen meiden wollte und sich deshalb dagegen entschieden hatte, durch den Salon der ersten Klasse zu gehen, ließ er aus. Er erzählte, wie er durch den Gang bei der Kapitänsmesse zurückgekehrt und Zeuge geworden war, wie der Steuermann mit dem Pudding herauskam, den er sich dort gesichert hatte.

»Klingt lustig«, sagte Jones.

»Oder bitter«, erwiderte Blair. »Er wusste, dass ich annahm, dass er den Pudding hatte mitgehen lassen oder dass er ihn von einem Kellner zugesteckt bekommen hatte. Auf jeden Fall – ein Mann, in dessen Händen unser Leben liegt, der Steuermann, und er schleicht sich mit unseren Essensresten weg!«

»Was ist daran so seltsam?«, fragte Jones.

»Sehen Sie nicht, wie erbärmlich das ist?«

»Der Kerl wird halt ordentlich Kohldampf gehabt haben«, sagte Jones. »Was war die andere Merkwürdigkeit?«

»Der Steward, ein Sikh, sagte, er habe in Passchendaele gekämpft. Als Kriegsinvalide entlassen.«

»Mein Vater war Pionier bei den Royal Welsh. Er erzählte, dass es überall an der Westfront indische Divisionen gab und überall Farbige in Uniform – hat man Ihnen das in Eton nicht beigebracht?«

»Wahrscheinlich schon. Aber ich bin noch nie einem begegnet.«

»Morgen dann Aden«, sagte Jones zum Abschied. »Lust, mit an Land zu gehen? Wir könnten uns ein bisschen die Stadt anschauen oder, besser gesagt: den Krater. Der Zahlmeister hat mir gesagt, dass es am Steamer Point Geschäfte gibt. Und eine Kirche.«

»Ich bleibe auf dem Schiff. Ich muss noch ein paar liegen gebliebene Sachen abarbeiten.«

Jones zuckte mit den Schultern, und als er weg war, dachte Blair: Was für scheußliche Lügengeschichten muss man erzählen, um in Ruhe gelassen zu werden. Und am nächsten Tag, im Hafen, als die gewaltigen Maschinen des Schiffes verstummt waren, lag er da und lauschte dem Orchester von Reginald Melly – irgendwo hatte Melly Dudelsäcke und Marschtrommeln für »The Barren Rocks of Aden« aufgetrieben. Blair war abgestoßen vom Kreischen und Poltern der martialischen Melodie und den schottischen Rufen nach einer Zugabe, die an der Reling erschollen. Er bedeckte sein Gesicht mit dem aufgeklappten Buch und stöhnte. Es war, als führe man ihn nicht auf einem Schiff hinaus ins Empire, sondern ließe ihn zum Klang von Trompeten und Trommeln hinmarschieren.

Wieder auf See, blieb Blair zur heißen Tageszeit in seiner Kabine, in die das blendende Geglitzer der Meeresoberfläche drang, während draußen die gute Laune der Passagiere zu hören war, die umherspazierten, planten, in Colombo zusammen an Land zu gehen, den Markt zu besuchen, sich zu Drinks und Spielen verabredeten und einander mit schlechten Witzen aufzogen, die Frauen oft im Flüsterton, die Männer mit dröhnendem Organ.

Meist stand er früh auf und eilte zum Frühstück, bevor die anderen eintrafen – wobei sie zuletzt immer später kamen und viele erst zum zweiten Frühstück um elf erschienen. Wenn er wieder in seiner Kabine war, las er, übersprang lesend auch das Mittagessen und ließ sich zum Nachmittagstee von Ramasamy Tee, Sandwiches und Kuchen bringen. »Und das hier nennen wir Gulab Jamun, Sahib – es ist eine indische Süßigkeit« – kleine, frittierte und in Zuckersirup getauchte Milchbällchen, vor allem aber ein neues Wort für seine Liste mit Hindi-Vokabeln.

Kurz vor Sonnenuntergang setzte die Musik ein, immer wieder »Avalon« und »April Showers«, worauf es die Umherspazierenden in die Lounge zog und es für ihn sicher war, raus an Deck zu gehen. Stets mit gesenktem Kopf, wobei er sich auch dann noch unangenehm groß fühlte und den Blick abwandte, wenn er an jemandem vorbeiging, auch aus Furcht, Alec oder Edith Peddy-Wilmot zu begegnen, die ihn drängen würden, sich zu ihnen zu gesellen.

Sein Platz am Bug bot ihm Sicherheit, dort hielt er sich verborgen, atmete die Nachtluft und dachte über Jones nach, dessen Vater ein Kriegsveteran und Bergmann aus den Valleys in Wales war – und über seine eigene Familiengeschichte, die er als Last empfand, im Grunde sogar beschämend, mit einem Vater, der zu alt gewesen war, im Krieg zu kämpfen, und jetzt pensioniert und untätig in einem kleinen Haus in Southwold lebte. In einem Brief an seine Eltern aus Aden hatte er berichtet: Gutes Wetter, ausgezeichneter Tee, Rangun in zwei Wochen.

Auf der Fahrt über den Indischen Ozean war sein Versteck sicher genug, um dort, wenn ihm danach war, große Teile des Tages zu verbringen, und während der Nachmittagsstunden angenehm schattig. Das Fernglas, das er zur Vogelbeobachtung mitgenommen hatte, benutzte er, um das Meer nach vorbeiziehenden Schiffen abzusuchen und nach Meereslebewesen – so sah er an einem Tag Delfine, während ihnen nahe der Insel Sokotra (vom Kapitän über Lautsprecher vermeldet) ein anderes großes Schiff der Bibby Line begegnete, das zum Gruß das Schiffshorn ertönen ließ und von dessen Deck Passagiere herüberwinkten – auf dem Weg in die Heimat, was Blair mit Wehmut erfüllte, da er in die entgegengesetzte Richtung fuhr und sich fragte, ob er nicht eigentlich auf dem anderen Schiff besser aufgehoben wäre.

Die Staffelei mit der Landkarte stand morgens beim Frühstück immer am Eingang zum Speisesaal der ersten Klasse, und eine Linie aus roten Stecknadelköpfen zeigte das Vorankommen des Schiffes an. Als er eines Morgens an ihr vorbeiging, hörte er einen Mann hinter sich sagen: »Sieht so aus, als wären wir morgen zur Teestunde in Colombo. Wenn die ganzen Teepflanzer von Bord gehen, haben wir endlich ein bisschen Luft zum Atmen.«

Blair aß mit dem Rücken zu den anderen Gästen und überlegte, wie er sich dem geselligen Jones entziehen könnte, der ihn, so befürchtete er, womöglich wieder fragte, ob sie zusammen an Land gehen wollten; welche Ausrede – welche glaubwürdige Lüge – er diesmal erfinden könnte, da er doch weiterhin einfach nur in seiner Kabine lesen oder sich, wenn es in der Kabine zu heiß wurde, zum Bug zurückziehen und Vögel beobachten wollte – Möwen, Sturmvögel, träge dahingleitende Fregattvögel: eine weitere Liste, die er führte.

Er hasste das kindische Gekreische der Passagiere, die Land erblickten, und blieb an Deck, als sie in den Hafen von Colombo einliefen, als das Horn tutete und das gewaltige Schiff sich, mit knirschenden Schrauben und leichter Schräglage, langsam seitwärts auf die Anlegestelle zubewegte, die Matrosen die Taue am Kai herumspringenden Männern zuwarfen, damit sie sie um Poller schlangen, das Reginald-Melly-Orchester dazu »Rule Britannia« spielte und die am Ufer wartende Menge von Europäern in weißen Leinenanzügen und seidenen Kleidern, einige mit Sonnenschirm, zur Begrüßung winkte.

Blair bezog einen Platz an der Reling, direkt über der Gangway, um die Schlange der Passagiere zu beobachten, die an Bord kamen, die Überprüfung von Papieren durch die Offiziere, Besatzungsmitglieder, die den älteren Männern und Frauen behilflich waren und wie Kindermädchen in ihrer Nähe blieben, die Hände fortwährend halb erhoben, um bei Missgeschicken jederzeit eingreifen zu können. Ein Polizist – ein Europäer mit rotem Gesicht, der keuchend über das Gepäck der Passagiere wachte – fiel Blair ins Auge, weil er Polizist war und weiß und weil er »Jildyi karo!« rief, was, wie Blair gelernt hatte, »Macht schnell!« hieß.

Neben ihm war ein bärtiger Mann am Geländer aufgetaucht, woraufhin er kurz erschrak und in die andere Richtung blickte.

Als der Mann sah, wie angespannt Blair auf einmal dastand, nahm er seine Pfeife aus dem Mund und sagte: »Sie sind doch Blair, der Junge aus Eton.« Und bevor Blair antworten konnte, fuhr er fort: »Alec – wir haben mit dem Kapitän zu Abend gegessen. Meine Frau hat Sie hier oben gesehen. Sie hat ein ungeheures Interesse an Ihnen, keine Ahnung, warum.«

»Natürlich«, sagte Blair. »Ich schaue mir gerade die Einschiffung an.«

»Slapstick, als wär’s die verdammte Fred-Karno-Truppe.«

Was konnte man darauf antworten? Blair sagte: »Ganz schön enge Stelle.«

»Schauen Sie sich nur den Affen an.«

»Den Mann da?«

»Den Kuli.«

Ein hagerer brauner Träger mit weißem Turban und blauem, knielangem Rock kämpfte mit einer langen Uniformkiste aus Metall, versuchte, sie sich auf die Schulter zu hieven, während die Passagiere, die das Schiff verließen, sich auf der Gangway an ihm vorbeischoben und ihn zur Seite drängten. Als er sogar ins Stolpern geriet, ließ ein englisches Paar ihn schließlich passieren.

»Pass auf!«, rief Alec und riss sich wieder die Pfeife aus dem Mund. »Der schlägt noch jemandem den Kopf ein mit dieser verdammten Kiste.«

Der Gepäckträger wankte, während die Blechkiste auf seiner Schulter ausschwenkte und er verzweifelt versuchte, irgendwie am unteren Ende der Gangway Halt zu finden, worauf der weiße Polizist vom Kai angehastet kam und etwas auf Hindi schrie. Dann griff der Polizist das Geländer der Gangway, lehnte sich schwer nach hinten wie ein Rugbyspieler und trat dem Träger mit Wucht in den Hintern. Der taumelte vorwärts und schlug hart auf dem Kai auf, wobei sich sein Turban löste und die Blechkiste scheppernd zu Boden fiel.

Die Passagiere auf der Gangway und an der Reling johlten und pfiffen begeistert; auch Alec, die Pfeife wieder im Mund, klatschte langsam. Dann wandte er sich Blair zu und sagte durch die Zähne: »Nette Vorstellung, was?«

»Vermutlich neu in dem Job. Diese Kisten sind die Hölle.«

»Verdammter Affe«, sagte Alec. »Und wissen Sie, warum?«

»Keine Ahnung, Sir.«

»Sie haben ihn vorbeigelassen – die jungen Leute da.« Alec stach wütend mit seiner Pfeife in die Luft. »Man macht Eingeborenen nicht Platz. Nie. Eingeborene sind Abschaum.«

Die einzig angemessene Antwort, dachte Blair, wäre: Der Steward des Kapitäns, Ranjit Singh, hat in Passchendaele tapfer für König und Vaterland gekämpft. Und wurde verwundet.

Doch er sagte nur milde: »Aber wenn es an der Stelle zu eng ist?«

»Dann schubst man den Dreckskerl auf die Straße«, sagte Alec. »Oder in diesem Fall ins Meer.« Er kaute wieder auf seinem Pfeifenmundstück herum. »Dieser Polizist verdient einen Orden für den Tritt. Sie werden Polizist, Blair – sagten Sie. So macht man das, Junge.«

Er fletschte die Zähne und starrte Blair mit eisblauen Augen an, streng wie ein Schulmeister, als verlange er eine Antwort.

»Eine wertvolle Lektion, Sir.«

»Ich bin aus einem bestimmten Grund hier oben bei Ihnen, Blair.«

»Sir?«

»Meine gute Frau wünscht Sie zum Tee einzuladen.«

»Danke, sehr nett von Ihnen, Sir«, sagte Blair. »Fabelhaft.«