Cacatum non est pictum - Askson Vargard - E-Book

Cacatum non est pictum E-Book

Askson Vargard

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Beschreibung

Wer kam noch nie mit ihm in Kontakt? Ihm - die Rede ist vom Bankkaufmann. Ohne Zweifel eine interessante Spezies im fragwürdigen Umfeld. Sprichwörtlich heißt es bekanntlich "Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken", was niemand in Abrede stellt - im Gegenteil - doch was ist mit dem Schwanz? In diesem Buch erwartet den geneigten Leser eine satirische Wiedergabe über den Alltag in einer Bankfiliale, im speziellen wird der Werdegang des Herrn Perfekt unter die Lupe genommen, der als eines der kleinsten Puzzlestücke zu einem Ganzen beiträgt.

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Seitenzahl: 127

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Cacatum non est pictum

EntschuldigungsbriefI.II. SonntagIII. MontagIV. DienstagV. MittwochVI. DonnerstagVII. FreitagNachwort

Entschuldigungsbrief

Samstag, den 22. November Werter Freund, zuerst möchte ich mich aufrichtig entschuldigen, dass Sie solange nichts von mir gesehen, gehört oder gelesen haben. Wenigstens komme ich hiermit dem Letztgenannten nach.   Als Grund für meine Säumigkeit möchte ich meinen Drachen nennen. Schmunzeln Sie darüber nicht! Er entschuldigt weder mein Handeln, noch soll er mir als Ausrede dienen, meine sozialen Verpflichtungen zu erfüllen, aber verraten Sie mir: Ist Schweigen Verteidigung oder Eingeständnis? Warum ich ausgerechnet jetzt begonnen habe zu Schreiben, liegt darin begründet, dass ich seit gestern erwachende Lebenskräfte in mir emporsteigen fühle. Ein innerlicher Frühlingsanfang. Knospen treiben in mir und Krokusse fassen einander mit Schneeglöckchen die Hand. Alles wird leichter und ist leichter. Doch ich prophezeie, dass morgen schon um diese Stunde, die Waage zu meinen Ungunsten aus dem Gleichgewicht fällt. Schuld daran trägt dieses fürchterliche Biest, der Drache. Wenn ich Ihnen dieses Wesen unbeschrieben lasse, dann weil es kein Aussehen mit Umrissen besitzt, trotzdem benenne ich es namentlich, obwohl ich um die Gefahr weiß, in die in mich begebe, wenn ich offen vom Reich der Fantasie berichte. Diese Fantasie, so unglaublich es klingen mag, ist real! Verleugnen Sie den Wind nur, wenn Sie seine Auswirkungen ebenso leugnen! Mir für meinen Teil stockt der Atem, sobald ich mich seiner Krallen erinnere. Es müssen seine Krallen sein, da sie meinen Hals umschließen und würgen. Stark genug, dass ich den festen Griff deutlich spüre, zu schwach jedoch, um nicht an ihm zu sterben. Zurück bleiben rote Striemen, die mich zeichnen. Im nahen Schlossgarten von Bergedorf verbringe ich mittlerweile keinen Augenblick mehr. Bis der Winter hereinbrach, fand ich in dieser pittoresken Parkanlage etwas Zerstreuung. Oft spendete er mir Trost mit seinen mächtigen Blutbuchen und mit den Kastanien, die ich auflas und auf einem schmalen Brückengeländer übereinanderstapelte. Mit kindlicher Begeisterung verfolgte ich die Amseln beim Hopsen und die Karpfen beim Schwimmen, liebend gerne habe ich mich am Duft der Lilien berauscht und meine Augen an den Seerosen geweidet. Mittlerweile ist der Park kahl und es riecht dort nach nassem Laub. Kaum, dass ich dieser Zufluchtsstätte noch einen verstohlenen Blick zuwerfe, wenn ich durch die Straßenzüge gehe und sein skelettartiges Antlitz mir durch den Nebel entgegen stiert. Ja, ich spüre die Seitenblicke, sie stechen in mich wie Dornen, es sind meine Gewissensbisse. Ich muss mir eingestehen, dass mein Hang zur Ästhetik ihn zeitweise für meine Zwecke, mein ausgemergeltes Wohlbefinden, misshandelte. In Anmut hat er mich bedingungslos aufgenommen, heuchlerisch nahm ich die Einladung an, solange sie mir angenehm war. Tartüfferie. Verstoßen habe ich den Garten Eden - bin ich Adam oder bin ich gar der Garten? Sicher scheint, dass ich der Drache für den Bergedorfer Schlosspark bin, nur anders. Er sieht mich, kann mich beschreiben und weiß, woher sein Leid rührt, ich hingegen bin unwissend. Verzeiht mir meine Oberflächlichkeit, verzeiht mir ferner mein ganzes Geschreibsel, dient es mir wie der Park ausschließlich einer Ablenkung, in der ich Befreiung suche. Feuer und Flamme sitz ich hier und gelobe Ihnen Besserung. Die Wahrhaftigkeit dessen wäre Ihnen gewiss, würden Sie meine entschlossenen Augen sehen, an denen Sie verbrennen müssten, wie an der Flamme eines feuerspeienden Drachen. Irrsinn lass ab von mir. In tiefer Verbundenheit Euer einziger Freund

I.

Die Großmutter sagte „Junge, mach’ etwas aus deinem Leben!“ Nach vielen wirren Fragezeichen über dem Haupt des Jünglings löst sie das Rätsel endlich auf: „Du bist ein braver Bursch! Du solltest eine Lehre bei der Bank machen. Diese tüchtigen Frauen und Männer sind stets allerorts wohl gesehen. Du hilfst anderen und verhungern tust du dabei ebenso wenig. Du machst dich nicht schmutzig und trägst immer einen feinen Zwirn auf der Haut“.  Derart viele verlockende Dinge weiß die Großmutter zu berichten, dabei war sie früher Floristin. Aus dem gesamten Bekanntenkreis war niemand Bankkaufmann. Somit keimte der Gedanke in dem Jungen, dass das Beste an dieser Berufung eventuell noch im Verborgenen blieb. Ja das ist sogar sehr wahrscheinlich. Ruckzuck war der Entschluss letztlich vollbracht und die Bewerbungsmappe fein säuberlich zusammengetragen. Eine Alternative gab es nicht mehr, obwohl er, bevor diese Gedanken in ihm Verfestigung fanden, Tierarzt werden wollte, aber nach dem neusten Entschluss, schien ihm das allzu naiv. Der Postbeamte klebte das Porto auf den Bewerbungsumschlag, der an die hiesige Bank adressiert war – eigentlich ziemlich wenig Geld für eine Menge Zukunft. Das Kind freute sich bis über beide Ohren, als damals der Vater unter dem Weihnachtsteller die Zusage für die Ausbildung versteckte und einer Erlösung gleich hervorzauberte. Die Euphorie war ungemindert, denn schließlich ist der erste Stein gelegt auf dem Weg zum Bankkaufmann. Eine Person, die Achtung und noch mehr Geld verdient, deren Kontakt man gerne pflegt, gleichwohl man es nie mit ihr verscherzen sollte, denn sonst wird irgendwann guter Rat teuer!  Nun aber werter Leser spielen wir ein göttliches Wesen und drehen am Rad der Zeit, bis aus dem Jungen ein junger Mann geschlüpft ist. Wie sieht eine normale Woche als Bankkaufmann aus und vor allem: Sind die Prophezeiungen der Großmutter wahr geworden?

II. Sonntag

Es ist Sonntag. Ja richtig gelesen – es ist Sonntag. Auch wenn der liebe Herrgott diesen Tag der geistigen und körperlichen Regeneration gewidmet hat, so gibt es doch jenes Individuum, welches ihn nicht so recht gehorchen mag. Die Türen der Bankfiliale bleiben heute zwar geschlossen und ebenso klingelt der Wecker nicht um 6:30 Uhr mit einem penetranten Ton, der krächzt als ob ein Vogel stirbt, doch gedanklich trägt er im Kopfe die Wortgruppe mit sich herum, die ihm den ganzen Tag versalzt und welche er nicht müde wird, immer und immer wieder kund zu tun: „Ich habe keine Lust auf morgen!“ Es ist nicht so zu verstehen, dass unser junger dynamischer Freund ein Alleinstellungsmerkmal in Anspruch nehmen möchte, allerdings ist er mental sehr auf die bevorstehende Arbeitswoche geeicht mit seinen Terminen und unerwarteten Kundengesprächen, sodass er vor seinem geistigen Auge am Frühstückstisch nicht einmal seine Frau wahrnimmt, sondern statt ihr seine Kollegen, die allesamt Macken vorweisen, die der Beruf per se mit sich bringt. Da wäre zum Beispiel der Jüngste im Bunde. Er ist Praktikant und soll in absehbarer Zeit die Hierarchieleiter zum Auszubildenden erklimmen. Zu allem Überfluss ist unser Hauptcharakter sein späterer Ausbilder. Anstatt das Leben zu genießen, hebt der Praktikant sein Ego lieber mit 45 Stunden Arbeit zuzüglich einer fast zu vernachlässigenden Arbeitsstrecke von anderthalb Stunden pro Weg. Neben dem Stolz, den er von seiner Familie mit morgenländischem Immigrationshintergrund erhofft, bleibt als zusätzlicher Anreiz die Vergütung von 600 Euro pro Monat im ersten Lehrjahr. Ohne Zweifel sein bester Verdienst bis hierhin, wenn es soweit ist. Im Moment ist er, wie erwähnt, jedoch Praktikant und bekommt daher eine Aufwandsentschädigung von 100 Euro Fahrtkosten pro Monat gezahlt.  Der nächste Mitarbeiter kann eher als Gegenarbeiter bezeichnet werden. Ein Quereinsteiger, der alle Hoffnung auf ein glückliches Berufsleben seit seiner Geburt in den Wind geschrieben hat. Er ist das schwarze Schaf dieser berufsbedingten Familie. Kleine und große Herausforderungen meistert er mit dem Können den Anschein zu erwecken, dass die Arbeit getan ist, was zum Teil sogar stimmt, solange die Hälfte als Ganzes gilt. In Wirklichkeit schlummert sie und tritt zu einem späteren Zeitpunkt mächtiger zu Tage, als sie es täte, wenn die Aufgaben von Beginn an ignoriert würden. Er hat den Traum, mit der geringstmöglichen Verantwortung das meiste Geld zu erhalten. Nebenbei erzählt er gerne von seinem Wunsch des künstlerischen Musikerlebens als Freigeist, kurz als jemand, der die Fäden des Lebens als Einziger im Licht schimmern sieht, um sie zu deuten.  Der älteste Mitarbeiter ist gleichzeitig der entspannteste Vertreter. Diese Aussage wird nicht ausschließlich auf seine dauergebräunte Haut bezogen, sondern auch auf sein Gemüt, welches im Kopfkino täglich den Film der Altersruhe ablaufen lässt. Sein Ruhepol ist der jährliche Urlaub in einschlägig bekannten asiatischen Ländereien, die einzig für den Typus des alleinstehenden Mannes geschaffen sind. Sein Charme der vergangenen Jahrzehnte ist nicht nur ungebrochen, sondern hochkonzentriert und jederzeit bereit, einen neuen Angriff auf das junge Fleisch zu wagen. Oft dreht er sich dabei im Kreis, wie bei seinen Erzählungen, die bei jedermann hinlänglich bekannt sind.   Jede Raupe braucht ihren Kopf. Drei Glieder haben wir bereits kennen gelernt, doch wie ist es um das Gehirn, die Schaltzentrale, bestellt? Um einen treffenden Vergleich in der Natur zu finden, muss nicht lange gesucht werden, denn er ist der personifizierte Vulkan mit Schlafstörung. Im Gegensatz zu den meisten seiner Verwandten ist er noch aktiv und lehnt sich gegen Stürme, Sonnenschein und Frauen am Steuer auf. Gemäß der überholten Viersäftelehre wäre er quittegelb überzogen von seiner eigenen Gallenflüssigkeit. Freilich ist dies eine übertriebene Darstellung, aber wer die feurig starren Augen hinter der Klatschpresse des heutigen Sportteils herausfunkeln sieht, behauptet, es sei maßlose Untertreibung. Natürlich sieht unser Protagonist sich in Vorerwartung auch selbst in diesem Farbmosaik der Charaktere. Er hat knapp die Ausbildung zum Bankkaufmann bestanden und wechselte im Zuge eines Wohnwechsels die Bank gleich mit. Er ist einer der wenigen Menschen, die keinerlei Schwächen erkennen lassen. Sein Blick ist unermüdlich gen Feierabend gerichtet, während er sanfte Unebenheiten gekonnt ignoriert. Wir können hier, ohne großartige Umschweife vorzunehmen, von dem perfekten Menschen sprechen. Minute um Minute vergehen, in denen er in Gedanken bei diesen bekannten Übeln verweilt und wesentlich länger noch bei den unbekannten. Optimismus scheint hier fehl am Platz zu sein, denn dieser wurde ihm in einem langwierigen Prozess während der Ausbildung abtrainiert. Der junge Mann versinkt in tiefschwarze Melancholie, während er die untergehende Sonne des sterbenden Wochenendes bedauert und seine Partnerin die immer selbe, schon dutzend Male verdaute, Wortgruppe zu hören bekommt: „Ich habe keine Lust“. Jeder von uns hat diesen Satz in zig Variationen bereits ausgesprochen. Wahrscheinlich müssen wir davon ausgehen, dass er als einleitender Zauberspruch des Hexeneinmaleins fungiert, um die baldige Arbeit zu bannen. Diese Tätigkeit ist beständig wie die damit einhergehende Erfolgslosigkeit, leider. Wissenschaftlich gilt es als erwiesen, dass bei derlei Aussprüchen einzig der kognitive Bereich des Wesens arbeitet, der aufbegehrende Revoluzzer liegt ohnehin seit ewigen Zeiten begraben. Im Traum fühlt unser junger Bankkaufmann letztmalig die Illusion der Freiheit, bevor die Fesseln um Glieder und Hals geschnürt werden, die er unglaublicherweise sogar eigens anlegt und Arbeitskleidung nennt.

III. Montag

Es ist Montag. Aber es ist kein Tag wie jeder andere, denn es ist schließlich Montag. Montag. Einer von sieben Wochentagen und doch sticht er von den restlichen Wochentagen deutlich hervor. Nicht wegen seines Namens, sondern weil Montag der Beginn einer neuen Woche gleichkommt. Nichts ist gegen Anfänge einzuwenden, da das ganze Leben ein ständiges Erneuern und Neudefinieren beinhaltet, aber warum ausgerechnet Montag? Das Aufschlagen der traumverklebten Augen wird von einem unweigerlichen Seufzen begleitet. Die Vögel, die ihr Liedchen auf dem Balkon trällern, singen scheinbar aus einer Parallelwelt in jene, die wir real nennen. Die Empfindung Schönheit wahrzunehmen, ist abhandengekommen. Nur das dumpfe Lärmen ihrer kleinen Kehlen vernimmt er, unser Herr Perfekt. Montags ist alles schwer, als sei er neu geboren, nur nicht ins Leben, sondern ins Gegenteil – Nein, der Tod ist es ebenso wenig, es muss folglich etwas dazwischen geben.   Mit bedächtiger Langsamkeit, als könne er dadurch die Zeit einschläfern, knöpft er sein blütenweißes Hemd zu – eines von dreien. Seine Frau hatte übrigens einiges auszustehen gehabt, als sie ihm die Freude des dritten Hemdes bereitete. Dazu streift er die dunkle Anzughose, welche vor gut einem Jahr die letzte Wäscherei von Innen gesehen hatte, über die Beine. Im Schrittbereich gibt es einige unschöne Verfärbungen von einem Harnwegsinfekt aus dem vergangenen Jahr. Die kleinen braunen, ehemals roten Tropfen, erinnern ihn an die Schmerzen. Ein sauberer Bruch war maximal noch kurz nach dem Kauf erkennbar. Die Schuhe sind derart abgeschrammt, dass sie bequem dem nächstbesten Landstreicher ins Repertoire passen würden. Sobald er seinen großen Zeh anhebt, kann er fast vollständig das Kunstleder vom Absatz trennen. Herr Perfekt freut es stets, wenn es in Strömen regnet, dann können die Schuhe etwas von ihrer alten Farbe zurückgewinnen, indes er den Preis nasse Socken an den Füßen zu tragen zahlt. All das, was manchen unwürdig wäre als Outfit zu gelten, ist sein Überrest der Revolution, sein Widerstand gegen das System. Niemals würde ihn darauf einer der Mitarbeiter ansprechen, obwohl er es offenkundig provoziert. Am liebsten möchte er es in die Welt hinausschreien, dass er gegen seinen Willen die neue Woche beginnt. Was bleibt, ist die finale Wahl der Krawatte. Mal zu kurz, mal zu lang, aber immer im stillen Gedenken an seine Großmutter, die es ihm einst beibrachte. Die Verabschiedung von seiner Liebsten ist wie für gewöhnlich zärtlich und innig. Wenn wir es nicht besser wüssten, könnte der Gedanken keimen, dass er in den kommenden zehn Stunden sein Todesurteil erwartet, welches nach Verkündung direkt zur Vollstreckung kommt. Wobei diese Worte seiner Meinung nach bestimmt Schmeicheleien vor dem Herrn glichen. Schweren Herzens schließt er die Türe und weiß, dass in ihm bald die Frage auftauchen wird, ob er sie tatsächlich geschlossen hat. Heute ist seine Partnerin noch zu Hause, sonst würde er zurückeilen zum rettenden Ufer, wenigstens für ein paar Sekunden, aber nie stand sie offen, stets ist die Türe geschlossen und öffnet ihm erst dann, wenn die Qualen durchgestanden sind. Das einzige, was ihm heute das Gemüt erhellt, ist das Wissen, dass der Filialleiter, namentlich Herr Äthna, nicht vor Ort sein wird. Eine Besprechung in Düsseldorf verlangt nämlich nach ihm. „Die kleinen Freuden“, denkt er und schmunzelt und wird deswegen von einem Kind angefeixt, welches unüberhörbar zu seiner Mutter spricht „Mutti, Mutti sieh doch! Der Mann da sieht ganz komisch aus!“ Unauffällig zieht die peinlich berührte Frau ihr Kind an der Hand und verschwindet in der Menschenmasse am Gleis der S-Bahn-Station. An den freien Platz tritt ein Mann mittleren Alters. Er weist keine besonderen Merkmale auf. Höchstens, dass er sein Ego in einen teuren Markenanzug hüllt, den er wahrscheinlich von der Anzugboutique Anson’s aus der Mönckebergstraße frisch am Wochenende erstand. Die Versuchung ist gigantisch nach dem Preisschild zu suchen, wovor jedoch der penetrante Geruch des Rasierwassers eindringlich warnt. Halb angeschaut, halb weggeschaut blickt er auf Umwegen zu unserem Herrn Perfekt. Sein Blick sagt „Ich bin besser als du!“ Das mag wohl stimmen, denn schließlich sieht er ja komisch aus, wie das Kind eben feststellte. Einer Wohltat kommt die Bahnfahrt keineswegs gleich. Vieler solcher eben erwähnten Momente warten hier in einer einstündigen Fahrt, welche von einem Umstieg am überfüllten Hamburger Hauptbahnhof kurzzeitig unterbrochen wird. Die elektrischen Türen öffnen an der Zielstation und speien eine bunte missmutige Mischung an Bevölkerung aus. Zum Beispiel weitere Anzugträger, graue Mäuse, Paradiesvögel, Frauen mit zu kurzen Röcken und allerhand merkwürdiger Leute, die eigentlich ausschlafen sollten. Zwischen dem Bankkaufmann und der Filiale liegt ein kurzer Marsch durch die Fußgängerzone oder die letzten Meter zwischen Freiheit und gefangen sein. Jedes Gesicht, in welches er blickt, weicht schleunig aus. Die geplagten Menschlein scheinen innerlich einen Fußbreit vor ihrem eigenen Abgrund zu stehen. Lieber wollen sie in die entgegengesetzte Richtung fliehen, das ist unverkennbar, hin zu jenem Ort, von dem sie ursprünglich aufbrachen. Kein Lachen, sondern ein unterschwelliges Brummen begleitet die Flut, die allmählich auseinanderläuft. Natürlich gibt es auch die lustvoll pfeifenden Exemplare, die der Umwelt demonstrieren müssen, dass es durchaus anders geht. Der Grund, warum sie so vergnügt in der Luft umherschauen ist, dass sie insgeheim nach einem geeigneten Vorsprung Ausschau halten, von dem sie sich zu geeigneter Zeit herunterstürzen. Mittlerweile steckt der Schlüssel im Schloss, Eisen in Eisen öffnet die Pforte zur Unterwelt.



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