Abschluss eines Nonsenslebens - Askson Vargard - E-Book

Abschluss eines Nonsenslebens E-Book

Askson Vargard

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Beschreibung

Abschluss eines Nonsenslebens ist Autofiktion … ist ein Abschiedsbrief ohne Selbstmord und damit ein Leben ohne Leben, ein Tod ohne Tod, niedergeschrieben als loses Tagebuch ohne Tage, essayistisch ohne ein einziges Essay will es eine Lebenshilfe sein ohne zur Hilfe zu schreiten, eher Anleitung aus dem Irrgarten 'Alltag', der weiter in ihn hineinführt, aber dafür das Wesentliche aufzeigt ohne es explizit zu benennen, es ist was es ist, mehr oder weniger braucht es nie.

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Seitenzahl: 275

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ich öffne die Schublade meines Schreibtischfaches. Ich ziehe einmal dafür kräftig an dem mattsilbernen Halbmondgriff. Die Plastikverkleidung in Anthrazit folgt meiner Hand, einer wutentbrannten Schlange gleich, aber sie ist gefangen, bzw. nicht frei – ist das überhaupt das Gleiche? Ihr platter Kopf prallt gegen eine Glasscheibe oder etwas, das da sein muss. Irgendetwas, da sie ihren von mir provozierten Angriff ruckartig abbricht. Gekrümmt ihrer eigenen Unfähigkeit wegen, tritt sie den Rückzug an, ein Spalt bleibt mir jedoch, gerade weit genug, um meine Hand durch die Öffnung zu fädeln. Ich streiche mit der flachen Handfläche im Dunkel und fühle Papier. Ich bewege Zeige- und Mittelfingen zum Ballen, fasse die wölbende Möglichkeit, entführe sie ihrem Loch und lege es vor mich. Ich weiß, ich weiß. Wozu diese detaillierte Ausführung? Schließlich hätte ich auch schreiben können: In nahm mir ein leeres Blatt Papier aus der Schublade. 10 Wörter gegenüber 115, die im Prinzip das gleiche aussagen, wobei ich mich sicherlich noch kürzer hätte fassen können, aber ich wollte nicht und das ist das Entscheidende. Was will ich? Würde ich diesen Punkt übergehen, wäre das schöne weiße DIN-A4-Blatt unzureichend gewürdigt, denn für die 10 Worte benötigt ein durchschnittlicher Vorleser knapp drei Sekunden, von Stummlesern oder gar von modernen Speed Readern ganz zu schweigen, für die der Satz höchstens ein Pistolenschuss darstellt, aber gliche es wirklich einem Pistolenschuss, wer würde diesen Amoklauf überleben? Durch die Variation der Textlänge wird das Bewusstsein gezielt gesteuert, diesmal eben auf ein Stück Papier. Der Grund liegt auf der Hand, also nicht mehr bei mir, sondern vor mir, denn es ist das wohl schönste DIN-A4-Blatt, das ich jemals sah und ich setze wohlwollend hinzu, dass ich bereits aufwendig geschöpfte Bütten mit wellenförmiger Umrandung sah, während es sich hier um ein stinknormales auf Standardmaße genormtes Papier handelt, aber es ist leer, reinweiß, nichts woran mein Augenfokus Halt findet. Eigentlich ist es zu schade, um es zu beschmieren mit Zeichen, von denen ich nicht weiß, ob sie verstanden werden.

Bitte missverstehe mich richtig liebe Leserin oder lieber Leser, denn es liegt kein Anschlag auf den Intellekt vor, höchstens auf den guten Geschmack, aber lassen wir das. Seit einer Weile ist es ruhig um mich geworden und das ist auch gar nicht schlimm, aber gestern Abend im Bett juckte es mich unerhört zu Schreiben und vorhin in der Arbeitspause stellte ich ein Gleichnis auf, dessen Durchführung es notwendig macht ein Geschwisterchen aus dem dunklen Spalt meiner Schublade zu entführen. Erstaunlich! Beide besitzen exakt dieselbe Größe, das kommt vor. Schiebe ich sie übereinander, muss ich mit äußerster Genauigkeit agieren, wenn jede der vier Ecken übereinanderliegend eine Einheit ergeben soll, die lediglich ein Blatt Papier vermuten lässt. Gehe ich hingegen schlampig vor, überschneiden sie einander grob, der Großteil ist miteinander verbunden, außer die Ecken, denn dieses Gebilde weißt mehr als die typischen vier auf. Ob eine von ihnen Einsamkeit verspürt? Würde eine Ecke sich erhabener fühlen, wenn ich ihr den Vorzug gebe, sie zentral unter dem Lichtkegel des Deckenspots auszurichten? Falls ja, würde im Gegenzug eine Ecke, die abgeschieden im Dunkel liegt an Depression erkranken, der Abgrund der Tischkante wäre zudem näher und wie bekannt ist, blickt der Abgrund, schaut man zu lange in ihn hinein, auch in einen selbst. Genug der tunichtguten Kinderspielchen, aber eine Kleinigkeit gehört erwähnt und zwar, dass ich der Gott dieser DIN-A4 Seiten bin. Immerhin habe ich sie aus der Dunkelheit befreit, ihnen Licht und damit Perspektiven gebracht, ich teile sie auf und füge sie zusammen, wie es mir beliebt, ungeachtet der Gerechtigkeit. Zweifellos, so muss es sein, denn das Pferd stellt sich seinen Gott als Reiter vor, also muss es für das Papier der Schriftsteller sein. Es ist schön sich als Gott zu wissen, wenngleich das Universum, in dem ich als Gott gelte, überschaubar auf die Seiten begrenzt ist, ich kann sie verschieben, aber wirklich Macht außerhalb von ihnen, bekomme ich nur von dir, Leserin oder Leser. Auf die Gendersternchen verzichte ich. Seine Daseinsberechtigung erkenne ich an, aber gerade jetzt will ich schreiben, wie ich will, vielleicht beim nächsten Mal. Als Gott stehen mir nämlich gewisse Freiheiten zu, wie die, meine nichtswürdigen Untertanen zu beschmutzen. Ich zücke den Kugelschreiber und drücke auf das weiche Gummiende, nichts passiert, es ist eine Drehmiene, so ein Pech, aber ein Gott muss manchmal lernen. Nun da mein Volk vor mir liegt, nehme ich mir das Recht heraus weitere Seiten herzunehmen und sie einander beliebig oft zuzuführen, dass sie gegenseitig von der Liebe kosten mögen, um mir unzählige neue Papierbögen zu gebären. Mit meinem Zauberstab erfülle ich ihnen ihren sehnlichsten Traum: den der Individualität.

Was aber schreibe ich? … Neulich, die Nacht legte bereits ihre Kobaltdecke übers Land, da kam mir plötzlich eine verworrene Idee und zwar, dass ich schreibe, ganz so als wäre ich tot, bzw. stände kurz davor. Mehr nicht? Mehr nicht. Die meisten Bücher, die ich bisher las, hatten Lebende geschrieben, wobei zu dem Zeitpunkt als ich sie las, waren sie schon tot, also für mich - einen Menschen der Gegenwart - lebte der Schriftsteller nicht mehr, von daher besteht streng genommen gar kein allzu großer Unterschied, davon abgesehen: lebe ich, ich muss leben, denn schließlich sehe ich es an den blauen Flecken, die mein Knie wie einen Heiligenschein umwölken. Ganz so sakral hatte sich der Moment, als ich sie mir wahrscheinlich zufügte freilich nicht angefühlt. Ich stürzte völlig besoffen auf der Bowlingbahn Nummer eins von drei, nachdem ich mir nicht eingestehen wollte, dass der Weg dorthin ohne einen 0,4 Liter White Russian To-Go sinnlos vertan wäre. Im Zweifel mache ich für den brutalen Ausrutscher auf dem glatten Untergrund jedoch das widerwärtige Ur-Krostitzer - Leipzig wo bleibt dein Patriotismus? Merke dir, Sternburg Bier - verantwortlich … und die Sangria-Karaffe … und die Schluckis in Pinform … Feigen-, Pfirsich und Kräuterlikör … ungewöhnlich schlecht. Am nächsten Morgen kuschelte ich mit dem Drachen, welchen meine Frau für das Neugeborene einer Arbeitskollegin häkelte. Man bin ich froh, dass ich mich nicht darauf erbrochen habe, denn das täte mir unheimlich leid. Beim Auftreten aufs Parkett schmerzten meine Beine, als wären sie amputiert, ja amputiert, denn da war nichts übrig von meiner Standfestigkeit. Ich hatte Mühe hinter den geschwollenen Ballen meines Knies zu blicken, am besten liegen bleiben, denn auch das Schienbein hatte einiges abbekommen. Mein rechtes Bein war gewissermaßen ein Spiegelbild, allerdings eines von der Sorte, die die Farben gegenüber dem Original marginal abflauen lassen. Das sind äußerliche Schmerzen, die in der Regel vergehen, wie kommen. Als wesentlich hartnäckiger erweisen sich Innere. Herz, Schmerz, Schmalz und Scheiße! Ihr habt doch keine Ahnung … oder habt ihr? Ich begreife mich als denkendes, nicht als handelndes Wesen, das heißt, könnte ich meinen Geist in einen Stein transzendieren, der stoisch immer auf demselben Fleck … aber lassen wir das. Die Zerrissenheit, nicht zu leben, wie ich denke, bringt mich um. Sie zerrt unsichtbar an meinen Extremitäten, am Kopf, an meinem Penis, an allem, was sie zu fassen bekommen, derer das Ziehen lohnt und trotzdem stehen hinter den ominösen Schattengeschöpfen weitere von ihnen, die in Ermangelung an weiteren Griffen an mir, warten müssen. Ich muss mein Doppel-Ich morden, aber wie gesagt, es sind mehr, doppelt, dreifach, vierfach usw. sie sind in ihrer Masse unzählbar, aber alle muss ich töten, um ich, die Einheit Ich, sein zu können, sein zu dürfen. Ein Genozid, aber das Volk lebt, einer soll überleben, aber wie kann ich sicherstellen, dass der Richtige übrigbleibt? Nur weil ich die Waffe der Entscheidung trage, werden die nicht dumm dastehen völlig ohne Gegenwehr, sie werden auf mich stürzen und … und mich töten. So ist das. Es läuft ohnehin auf dasselbe raus, dann kann ich auch gleich als Toter schreiben, oder als einer, der gefühlt so stark im Begriff steht zu sterben, dass er mindestens als halbtot zählt … aber wovon schreiben?

Ich bin werdende Einheit, bis meine Transformation abgeschlossen ist, muss ich warten, also warte ich am fiktiven Gleis meines Lebens auf den Zug nach Süden. Doch ich bin zu früh. Gähnende Leere, offenbar ein sehr unbeliebter Bahnhof. Auf der Anzeigetafel über mir leuchtet keine Uhrzeit, ein Datum stattdessen - 30. Juni 2022. Ich befinde mich im Jahr 2021, zum Glück bereits Mitte November, aber trotzdem zum Warten des EINEN Zuges, ist es eine unglaublich lange Zeitstrecke, in der viel passieren kann. Womöglich möchte ich am 29. Juni den Zug nicht nehmen, sondern umkehren nachhause? (Wo ist das?) Nun, zu viel Zeit zum Nachdenken ist der Entscheidung stets nicht förderlich, deswegen schreibe ich meine Entscheidungen auf, Patrone für Patrone, am besten füge ich das warum und wie hinzu, um mich später zu besinnen, falls ich mich umentscheide und umkehren möchte.

Bestandsaufnahme. Ich bin 32 Jahre, ob jung oder alt, kann ich nicht beurteilen, aber ich weiß, dass ich mit 33 die Zahlen beliebig vertauschen kann, ohne dass das etwas ändert. Zahlen des Stillstands. Als Kind tauschte ich gerne die Zahlen aus. Mama? Vielleicht bin ich ja 31 … Papa? Ich bin 51, also älter als du, ist das nicht wundervoll? … Früher wusste ich nicht, was es bedeutet zu altern. Als Kind geht man davon aus, dass jedes Alter ein Level-Up an Erfahrungen bedeutet und zwangsläufig jeder Aufstieg mit einem Zuwachs dessen einhergeht. Erwachsensein, das wollte ich. Im stürmischen Lebensjahrzehnt der 20er gibt es erste Späßchen, mancher dreht die Zahlen noch immer 32, 42, 52, 62, aber dann ist Schluss, das hält ja kein Mensch aus, denn jeder weiß mittlerweile, dass der größte Schatz irgendwann gehortet ist, wann genau, keine Ahnung, aber bestimmt nicht am Anfang oder am Ende eines Lebens, irgendwo in der Mitte, vielleicht war ich ein Frühzünder und seit 10 Jahren geht es bereits rapide bergab mit mir oder das beste liegt noch vor mir, so die Hoffnung. Hoffentlich werde ich später keiner von der Gruppe sein, die melancholisch weiterhin die Zahlen tauschen und sagen 36, 26, 16 das war ein Alter! Was ich sagen möchte: Der 30. Juni 2022 ist aus der Sicht des Alters ein günstiger Zeitpunkt. Stillstand oder Aufbruch, je nachdem, was ich ihm zurechne. Wohlan, Bestandsaufnahme, keine Reihenfolge, aber Stichpunkte, die einen 32-Jährigen kennzeichnen. Kurzsichtigkeit, die mich zum Kontaktlinsentragen zwingt, denn auf Brillen setze ich mich ungewollt, mindestens aber sooft, wie ich mich überhaupt setze. Da scheint es eine bislang unerforscht magnetische Wirkung zu geben, welche mit meiner Ignoranz gekoppelt ist. Und weiter? Ellenbogenschmerz. Ohne Diagnose, wie das meiste, da Ärzte … Ärzte sind, sie vereinen die Vorzüge der Berufsbilder KFZ-Mechaniker und Fleischer, beide wollen leben, also will ein Arzt doppelt leben und das von mir, der biologisch nur ein Leben hat. Die Diskrepanz wird überdeutlich, sodass tiefergehende Ausführungen überflüssig werden. Trotzdem ist der Ellenbogenschmerz nicht unerheblich, er kommt plötzlich, dafür umso heftiger. Ich stütze mich auf dem Fenstervorsprung eines Autos (was soll das sein?) beispielsweise mit dem Ellenbogen auf, da fährt mir ein brennender Schmerz durch den Körper und ich fahre hoch und hab meine Not, das Lenkrad nicht auf die Gegenfahrbahn zu verreißen. Diese unschöne Begleiterscheinung hat mir das Autofahren vergällt, aber zurzeit – toi toi toi. Und weiter? Rückenschmerzen. Ich weiß nicht mehr wodurch, aber wie ein Krampf fuhr der Schmerz in mich und ließ nicht mehr ab von mir. Einmal ließ ich die Blockade von einem Arzt lösen und später ein zweites Mal, dann Physiotherapie. Was soll‘s. Präventivmaßnahmen wie die Bereitstellung eines höhenverstellbaren Tisches auf Arbeit waren selbstredend, wie gleichermaßen die Angst, das Prozedere trotz täglicher Morgensportübungen aufs Neue durchlaufen zu müssen. Jede unvorsichtigere Bewegung, mehr jedoch jede Nicht-Bewegung lassen mich an die Folgen einer Unbedachtsamkeit denken. Ein Tennisball, den ich dann zwischen Wand (wahlweise Fußboden) und der betroffenen Stelle kreisen lasse, ist die letzte Hoffnung auf Milderung vor dem Gefühl, ich sei ein Pferd, welches versucht seinen unliebsamen Reiter abzuschütteln. Und weiter? Zahnschmerzen, aber wer hat die nicht? Einmal überspringt man diesen nervigen Routineprozess des Zähneputzens und schon glaubt man, eine erste Schmerzentwicklung beim herzhaften Biss in die vom Vorabend übriggebliebene Vollmilchschokolade wahrzunehmen. Ganz nebenbei: Einmal war ich beim Zahnarzt, der wollte sich ein Komplettbild meiner Zähne verschaffen, ließ mich röntgen und fand ein Loch, dass mir Probleme bereiten wird. Ich ließ die Monate bis zur nächsten Routineuntersuchung verstreichen, das gleiche Prozedere, wieder Röntgen, aber diesmal kein Loch! Ach diese Ärzte! Egal, aber einer der Backenzähne, rechts oben … mich würde nicht wundern, wenn … Und weiter? Kopfschmerzen hat auch jeder zeitweise, aber mich penetrierten sie wochenlang, eine Untersuchung (!) ergab etwas chronisches, verengte Atemwege oder so ein Quatsch, mir wurde eine Nasenspülung verschrieben, jetzt hat meine Frau jedes Mal ein belustigendes Kino, wenn ich ihr den Zaubertrick demonstriere, wie das Wasser zum einen Nasenloch reinläuft und zum anderen raus. Und weiter? Nagelpilz. Der ist außerordentlich hartnäckig. Witzigerweise las ich vor Jahren ein schamanisches Selbstheilerbuch, worin der Protagonist mittels weißen Lichts, das er auf den bestimmten Zeh, denn er hatte ebenfalls Nagelpilz, richtete und ihm Besserung bescherte. Bei mir klappte das leider nicht, so wenig wie abfeilen und mit Tinkturen behandeln. Hokuspokus. Erst betraf es lediglich den rechten großen Onkel, mittlerweile sind die kranken Zehennägel in der Überzahl, was das Schneiden zur Skulpturenmodifizierung erhebt. Oft blutet es, weil ich die Haut dank einer autodidaktisch beigebrachten Technik einreiße, ungewollt, aber oft, wie bei der Brille. Und weiter? Da ich Blut erwähnte … entweder stimmt mit meinem Magen oder mit meiner Verdauung etwas nicht, oder beides, denn regelmäßig habe ich tagelang Probleme nach Vollrauschnächten nicht zu glauben, dass unter mir in der Toilette ein Schwein abgeschlachtet wurde. Wenigstens verschlimmert sich dieser Zustand so langsam, dass ich mir einreden kann, dass es immer schon so war. War es aber nicht! Damals zur Berufseignungsuntersuchung zog ich blank, lag auf der Praxisliege und die Ärztin mit rassischem Damenbart rammte mir ein Metallrohr in meinen Arsch, wozu keine Ahnung – es geschah lediglich. Irgendwann später saß ich wahrscheinlich noch zu lange auf einem kalten Stein und seitdem ist die Kacke am Dampfen, so wie ich beim Stuhlgang zu einem nach unten gerichteten Vulkan mutiere. Wenn ich danach zurück ins Bett schleiche, sehe ich meine Frau, die das Kopfkissen dicht über ihren Kopf gezogen hat, um die Ohren zuzuhalten, was die lautstarken Eruptionen dämpfen soll und ich denke mir: Hören ist nur eine Facette des Schauspiels. Tabletten und Salben halfen nichts, weshalb ich mehrere Untersuchungen über mich ergehen ließ auf dringendes Anraten meiner Frau … Resultat: Tabletten und Salben … Ärzte schaffen es nicht einmal das Übel zu beseitigen, dass sie selbst anrichten. Und weiter? Meine Beine sind unterschiedlich lang. Das wusste ich aber erst zur Musterung, ich hatte sämtliche Tricks versucht, um dieser Hölle zu entgehen, zur Not hätte ich Zivildienst geleistet, aber das hätte das latente Geldproblem ebenso wenig gelöst, ich musste arbeiten! Schieße ich gerne auf Menschen oder bin ich Pazifist? Was hilft? Nein, ich schieße lediglich mit Entscheidungen und die reichen weiter als der Horizont, weiter als der des Bundeswehrarztes ohnehin … unterschiedlich lange Bein, so ein Quatsch – Ausgemustert! Und weiter? Knieschmerzen, aber die sind schon normal. Ich spiele damit nicht auf das Bowlingspiel von neulich an, die Knieschmerzen sind ein echtes Problem. Der Amtsarzt befreite mich deswegen sogar in der Berufsschule vom Sportunterricht, stattdessen zog ich mir im nächst gelegenen Burger King (Nächst heißt 33 Kilometer entfernt) das Familienmenü rein, bestehend aus zwei Whoppern, zwei Cheeseburgern, zwei Mal großer Pommes, zwei Mal kleine Pommes, zwei große und schließlich zwei kleine Coca-Colas, bis es nachweispflichtig wurde und da ich kein Familienfoto vorweisen konnte, ließ ich die Völlerei-Ausfahrten, aber die Knieschmerzen blieben mir treu. Wenn ich das linke Bein durchstrecke, sieht es aus, als wäre mir ein Provisorium, falsch an den Oberschenkel geleimt, aber der Amtsarzt gab mir eine Bandage. Und weiter? Ich bin am Ende. Und weiter? Ich bin am Ende!!! Das glaube ich nicht. Ich bin am Ende… Und weiter? Ich bin manisch-depressiv, das heißt grundlos vom Himalaya in den Mariannengraben fallen und raketenhaft aufsteigen. Als ich einst ganz unten aufprallte, wachte ich in der Klapsmühle mit getapeten Handgelenken. Und weiter? Ich überzeugte die Ärzte, dass ich mich innerhalb von einer Woche selbst rehabilitierte, obwohl ich bloß blöd dasaß, Camel filterlos rauchte und den Geschichten von Manfred lauschte, währenddessen stieß eine Patientin immer wieder jäh ins Zimmer und fragte, ob sie schön sei. Kompliment, ernsthaft wie erlogen zwecklos, es verblühte mit dem ersten Kontakt an der Luft. Und weiter? Ansonsten kann ich nicht klagen.

Prometheus brachte das Feuer der Erkenntnis – sein Lohn: Strafe. Ich bringe das Wasser der Auslöschung – meine Strafe: Lohn. Freilich drastisch, aber wieso sollte diese eine Wahrheit, die obeliskenhaft vor mir steht einer Abmilderung bedürfen? Ist mein eigener Magen derartig empfindlich, dass er die ständige Wiederholung meines Nonsenslebens nicht erträgt, sobald ich dieses enttarnt weiß? Nonsensleben. Mir steigen die Tränen in die Augen, ich möchte mich beweinen, wie einen Jesus Christus, ja einen, denn ich bin überzeugt, dass diese heroische Heldenfigur so real war, dass sie mehr als einmal existierte. Wir bedürfen ihrer, dass sie an uns leidet, wie wir an ihr leiden. Aber zurück zum Eingangsbild: Prometheus. Der Adler zerfetzt seine Bauchdecke, sein Kopf ist schon rot, als hätte er eine invasive Vorliebe im Kirschsaft nach Kernen zu picken, aber sein steinharter Schnabel trifft auf keinen Widerstand, die Gedärme sind zu weich, also wühlt er, aber findet nicht. Zieht er enttäuscht von dannen? Ist er zufrieden mit seinem Tagwerk? Glaubt er Gottes Auftrag tunlich zu verrichten? Welch irrsinnige Eingebung … wo ist der Bundesadler von der deutschen Flagge? Stellt das Volk Prometheus dar und der Adler die Erinnerung an die Strafe? Natürlich, ein Adler ist ein imposantes Tierchen, aber wo bleibt da die kreative Raffinesse? Ein Reiher beispielsweise ist graziös, elegant, fast bin ich geneigt ihm Höflichkeit und Anstand zu attestieren dank seiner Erscheinung. Welche Nation will diese Eigenschaften wegwischen und stattdessen die des kriegerischen Adlers annehmen? Wahrscheinlich der König der Lüfte wegen, doch ist ein Zaunkönig mehr ein König, denn er trägt den Titel im Namen. Wahrscheinlich wurde der Adler deswegen so stark gebaut, um dem Winzling diesen Rang gemäß seinem menschengegebenen Namen streitig zu machen. Luftschlösser. Wir benötigen starke Vorbilder, unbesiegbare, aber trotzdem … alle Dagewesenen waren sterblich – Adler, Zaunkönig, Reiher, Jesus und schließlich Prometheus. Ich reiste gern, ich reiste viel, bis in den Kaukasus trieb es mich jedoch nie, um dies zu verifizieren oder um festzustellen, ob das Gebirge ausreichend Platz bietet, um das gesamte Menschenvolk an seine Felsenmauern zu schmieden. Für mich reicht es. Über der linken Handfessel steht „Zeit“, über der Rechten „Lohn“. Ich frage mich, ob ich ohne diese beiden Faktoren existiere? Natürlich können wir, wird man mir entgegenhalten und ich bohre nach: können wir wirklich? Scheinheilig erfolgt abermaliger Einspruch: Der Mensch braucht wenig … und da setze ich an, denn wenn er wirklich wenig braucht, wieso nimmt er so viel? Das Übel sind nicht die Ausnahmeerscheinungen, die das Geschehen diktieren, das Üble sind die, die diktieren wollen, der Nachahmungstrieb als Ausrede zur Vermeidung der eigenen Selbstfindung. Schluss! Ich hasse belehrende Schriften, noch zumal von einem Federführer, der keinen Deut besser ist, aber glaubt, die Wahrheit gefunden zu haben (Persönliche Notiz an mich: Bitte glaube mir … Ich versuche es, wirklich, ich suche mich zu bessern). Eigentlich dachte ich, dass ich mir vor geraumer Zeit den Zeigefinger abschnitt, um gefreit davor zu sein ihn zu erheben, aber manchmal brechen alte Gewohnheiten eben durch, manchmal wächst der Zeigefinger nach, ein Stumpf aber oho, manchmal passiert das Unwahrscheinliche, das Wunder, dass selbst Organe auf mystische Weise nachwachsen und demselben Trott zum Opfer fallen lässt. Ich muss einsehen, dass nicht der überanstrengte Adler, der übrigens leider keine Möglichkeit zur Gründung einer Gewerkschaft hat, das Problem ist, sondern die verdammten Fesseln. Sprenge ich sie nicht auf, wird jedes Wunder vom Trott zerfleischt.

Hier sitz‘ ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!

(J.W. v. Goethe)

Eine Patrone. Ein Schuss und die Vergangenheit fällt in mein rabenschwarzes Unterbewusstsein. Die Vergangenheit gibt es ohnehin nicht, sondern Vergangenheiten, plural, jede ein Raum übervoll mit Kleinoden des Erinnerungsmessies bestückt und abgeschlossen, eine Welt für sich. Ein bedeutungsloser Gegenstand oder bloß die oberflächliche Ähnlichkeit zu einem bedeutungslosen Gegenstand wird zur Reminiszenz, nehme ich ihn, mit einen meiner Sinnesorgane wahr und werde ich in den Raum der Vergangenheit zurückgezogen - vor mir sehend, was ich hinter mir glaubte. Heiter Raum um Raum durchschreiten … Stirb! … An keinem wie an einer Heimat hängen … Verreck! … Ich möchte nichts mehr von dir wissen, warum bist du so anhänglich? Ich töte ungern. Meine Einstellung kann als pazifistisch gelten, spätestens seitdem ich Remarque las. Recht betrachtet: Töten kann ich nur Lebendiges, ansonsten zerstöre ich. Ich träume von einem leeren Zimmer, ordnungsgemäß und wie im Mietvertrag festgesetzt zur Übergabe bereit, besenrein. Nichts worüber ich stolpre, nichts, was meine Aufmerksamkeit erregt, nichts was mich berührt – das ist Utopie. Ist da ein Raum, welcher eine gewisse Zeitperiode des Daseins zusammenfasst, sind da Erinnerungen konserviert.Angekommen am Hamburger Hauptbahnhof steige ich aus dem Wagon. Die Kühnheit ist mir dabei gemeinsam mit meiner Mission abhandengekommen. Spätestens ab Uelzen, am Hundertwasserbahnhof, hüpfte mein Herzchen im Dreieck in Anbetracht des nahenden Wiedersehens. Der Flixtrain hielt, als wollte er mir einen Moment des Wachwerdens gönnen. Etliche Male stolperte ich beim Umstieg in Uelzen in permanenter Hast umher, bestrebt die Folgeverbindung zu erreichen. Einmal, erinnerte ich mich, war es ohne Übertreibung so kalt, dass jede Minute des Wartens den Tod bedeuten konnte, denn diesmal rückte die Folgeverbindung mit Verspätung ein. Der ebenfalls verdrießte Schaffner schaute schief, konnte aber verstehen, als ich ein Lagerfeuer im Mülleimer entfachte. Vorhin schaute ich derweil aus dem Rückfenster des letzten Wagons, gelbe und braune Laubblätter wirbelten durch die Lüfte als der Zug um die Ecke bog und mich der Szenerie enthob. Nordzucker, eine unübersehbare Fabrik an Uelzens Ortsausgang – Norden, bald würde ich wieder da sein. Ich ging zurück zu meinem Sitzplatz, denn für weiteres Lesen im Stehen fehlte mir die Geduld. Gierig suchte ich mit den Blicken nach Erinnerungen zum wiederzukäuen. Bahnsteig Buchholz in der Nordheide … einmal stieg ich aus, um bei einem Umzug zu helfen - weder Freundin noch Bekannte, sondern potentielle Neukundin, einer meiner Sargnägel, der zum Scheitern der Selbstständigkeit als Finanzmakler führte … ein zweites Mal, aber später, ein Bewerbungsgespräch bei einem Bestattungsdienst, denn nunmehr hatte ich Nägel genug für eine Veränderung der Lebensumstände gesammelt. Der Inhaber zeigte Interesse, aber skeptisch vor zu raschem Erfolg, lehnte ich vorsichtshalber ab, außerdem gestand ich mir Scheu vor Veränderung ein. Bahnsteig Lüneburg … oft, sehr oft stieg ich hier aus mit dem festen Ziel beim Feinkosthändler „Vom Fass“ mir ein bis zwei Flaschen Honigwein abzapfen zu lassen, manchmal nahm ich auch ein Fünf-Literfass zusätzlich, je nachdem. Was danach kam, war mir egal, ob beim Bäcker einen Mohnkuchen kaufen, im Antiquariat nach Büchern stöbern oder im Imbiss Bodrum einen Gyrosteller bestellen. Im April führte jedoch der erste Weg (also eigentlich der zweite, denn der erste führte mich schließlich zum Honigwein) in den Hinterhof des Rathauses zu den zwei alten Magnolienbäumen. Wenn ich an diese unschuldige weißrosafarbene Blütenpracht denke, muss ich weinen, denn während ich in der Wiese saß und die Windungen der Äste verfolgte, die immer in einer anderen, aber immer gleich wunderschönen fleischigen Blüte endete, dachte ich für diesen einen Moment an Unsterblichkeit, was mitsamt dem Honigwein verging – Schluck für Schluck. Bahnsteig Winsen/ Luhe … hier suchte ich nach Mietwohnungen, digital im Internet versteht sich, ich wollte das Kulturangebot der Metropole in der Nähe wissen, aber in einem ländlichen Idyll wohnen, doch diesen halbgaren Wunsch erstreben zu viele Halbgare, ich war damit durch und stieg letztlich nie dort aus. Im Gegensatz zum Bahnhof Hamburg-Harburg … dieses heruntergekommene Moloch, über welchem die Fabrikmauern inklusive rauchenden Schloten der Phoenix Firma sich beugen. Bis zum Ende folgte ich den Bahnsteigen, wenn ich meine zukünftige Frau in einen Zug nach Leipzig verabschiedete oder auf den Zug von Leipzig wartete, der sie zu mir führte. Die ersten Elbbrücken … einen Tag vor meiner Ausbilderprüfung spazierte ich an den Ufern der Elbe und fotografierte im Nebel die zentimeterdicken Eisschollen, die der Fluss auf die gefrorenen Sandbänke trieb. Station Hamburg-Wilhelmsburg … Hamburg-Veddel … Hamburg-Elbbrücke? … was soll das sein? Die gab es damals nicht. Die Physiognomie der Stadtansicht ist im selben Maße verändert, wie gleichgeblieben, die Kräne sind gewandert, bauen weiter an Hamburg-Mitte. Wo sie ehemals standen, stehen nun Gebäude.