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"Die Lust zu reisen war geweckt und jeder Reisende weiß: Diese Leidenschaft ist unstillbar" - so heißt es im Buch. Mich ergriff sie und innerhalb meiner ersten 12 Monate auf Reise lernte ich Menschen kennen, deren Begegnungen mir vorkamen wie das Abtauchen in Realitäten, mit denen ich zwar Überschneidungen teile, die aber darüber hinaus 'mehr' für mich waren. Dieses 'mehr' sammelte ich von Juli 2022 bis in denselben Monat des Folgejahres. Dabei entstanden sind exemplarische Fragment-Miniaturen – nein, die Geschichten sind mehr, sie sind Denkmäler und Urgrund der Reiselust: das in Kontakttreten mit anderen Menschen.
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Seitenzahl: 108
Veröffentlichungsjahr: 2023
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FRAGMENTARISCH EXEMPLARISCH
Askson Vargard
Inhalt
EINLEITUNG ÜBER JEMAND
ALEX VERSUCHT EINE FRAGE ZU BEANTWORTEN
ARMIN DENKT AN DEUTSCHLAND
CASTOR ERLEBT DAS NEUE EL SALVADOR
EKAJATI UND DIE WEIBLICHKEIT
ELLI, DIE HALBFRAU
GUS, EINE PERSONAJE
DAS SCHWEIGEN UND HELDER
LA REINA, DIE MEZCAL-KÖNIGIN
FALSCHE VERDÄCHTIGUNGEN BELASTEN LUIS
MARIA HAT ETWAS ZU SAGEN
MAXIM MUSS EINE ENTSCHEIDUNG TREFFEN
ORLANDO FÜHRT SELBSTGESPRÄCHE
ZUGVÖGEL WIE LEO UND ESTEBAN
Jemand bricht auf. Jemand bricht dann auf, wenn er der Meinung ist, woanders glücklicher zu sein als an dem Ort, wo er sich gerade befindet. Glücklicher, wo gibt es das? Entweder ist jemand glücklich oder nicht! Womöglich sieht jemand aber voraus, dass die Chance auf mehr Glück für ihn besser stünde, wenn der Ort gewechselt würde. Vielleicht ist es das. Also bricht jemand auf.
Nach München bricht jemand auf, sitzt an der Isar, taucht die Füße in die kalte Strömung und denkt, dass es südlich der Alpen für ihn und sein Glück besser bestellt wäre. Er bricht auf. Er verläuft sich gedankenverloren in den Gassen Venedigs, erreicht endlich den Markusplatz und wünscht sich Ruhe. Jemand zieht weiter in die Hügel Umbriens nach Trevi, spaziert durch Olivenhaine und Ideallandschaften und vermisst Kultur. Rom - wie kam jemand auf die Idee? Kultur ja, ältere ist in Europa kaum aufzufinden, aber die Touristenwellen spülen ihn davon ans Meer. Genua, Marseille und Barcelona, Hafenstädte und ihre Kontraste, dabei war das Meer seine Kernidee, die unergründliche Weite, sich in und an ihr verlieren. Die Nordküste Spaniens, Bilbao, Santander und Gijón allesamt schön, schön genug, um glücklich zu sein. Aber soll es das gewesen sein? In Portugal widerfährt ihm ähnliches. Egal, ob klangvolle Namen wie Porto oder Kleinstädte wie Peniche - alles dasselbe. Er muss weiter und bricht abermals auf. In Lissabon hat er eigentlich schon mit Europa abgeschlossen und schifft sich auf ein Frachtschiff ein, um in die Karibik zu gelangen. Kuba - insbesondere Havanna - ist nicht mehr, was es unter Fidel Castro war, er muss ans Festland und gelangt auf die Yucatán-Halbinsel. Cancún? Wie soll da jemand glücklich werden, wenn er zwischen den Hochhäusern der Hotels oder mexikanischer Armut wählen muss? Von hier gen Süden muss jemand, Naturparadiese wie Costa Rica warten, die Andenstaaten in Südamerika oder das Amazonasgebiet. Gleich welches, sie gipfeln im Süden von Chile und Argentinien in Patagonien. Antarktis? Übersiedeln nach Neuseeland oder Australien? Oder jemand wendet sich gen Norden, USA und Kanada, um über die Beringstraße in die Einsamkeit Kamtschatkas zu gelangen. Asien mitsamt seiner mannigfachen Vielfalt läge vor ihm! Und was ist mit Afrika? Nie denkt jemand an Afrika! Jemand denkt nach und bricht auf woanders hin … und wird glücklich … vielleicht.
Hattest du Angst?
Wovor?
Na so völlig alleine diese Reise zu beginnen. Ich meine, die Vorstellung wirkt einschüchternd auf mich vor diesem gigantischen Berg der Ungewissheit zu stehen und dann noch allein als blonde und weiße Frau in Mexiko.
Ich wollte immer schon nach Lateinamerika. Schon damals mit meinem ersten Freund, aber der wollte lieber nach Thailand, Hauptsache Südostasien, das war sein Ding. Und ich bin eben mitgereist. Das war übrigens die letzte Fernreise und die ist nun auch über ein Jahrzehnt her. Da war noch ein anderer Freund, wir standen kurz davor nach Mexiko zu reisen, aber dann wollte er doch nicht. Also ich kann für mich entscheiden, auch wenn das jetzt nicht so den Eindruck macht. Aber sorry, wie war noch gleich die Frage?
Hattest du Angst?
Ich hatte schon oft Angst. Ich habe mich eine zeitlang zurückgezogen und bin so ein bisschen schrullig geworden, verstehst du? Deswegen suche ich mir auch Unterkünfte aus, in denen ich mit Leuten in Kontakt komme. Weißt du, was ich damit meine? Ich kann mich heute einfach nicht ausdrücken. Schrecklich. Wo war ich? Ach ja, ich brauche die Einsamkeit, aber nur für absehbare Zeit. Zum Beispiel hatte ich mal einen Pflegedackel, der hieß Nancy. Keine Ahnung, was die durchmachte, aber die fiel sogar einen Pitbull an, sodass ich die Veterinärrechnung für den Besitzer bezahlte. Danach trainierte ich mit ihr jeden Tag und nun ist sie so lieb. Willst du ein Foto sehen? Sie heißt jetzt Finnie, läuft ohne Leine und manchmal, aber wirklich nur manchmal, läuft sie weg, dann finde ich sie im Späti wieder. Worauf wolltest du hinaus?
Warum du alleine nach Mexiko reist und ob das nicht Angst im Vorfeld bei dir ausgelöst hat?
Also im Vorfeld wollte ich Spanisch lernen, belegte einen Kurs an der Volkshochschule, allerdings glaube ich mittlerweile weniger die Sprache sprechen zu können. Dabei startete ich von Null! Einzelunterricht wurde eine Option für mich. Also ich wollte, aber die Person, mit der sich ein Kontakt aufbaute, zog nach Mexiko. Als klar war, dass ich herkomme, schrieb ich ihn an, es gibt ja genug Möglichkeiten durchs Internet. Es entspann sich ein angenehmer Dialog. Kann ich das sagen? Ich besuchte ihn in Tampico an der Golfküste. Die Taxifahrerin in Mexiko-Stadt sagte mir, es sei gefährlich dort. Ich sagte, sie solle anhalten, aber da lachte sie. Die folgende Busfahrt wurde zum Horror. Die Toilette roch eklig und nach jeder weiteren Person wurde dies noch gesteigert. Der warme aufsteigende Dunst... Warum erzähl ich das? ... Mich juckte es am ganzen Körper, aber es passierte nichts. Ich trank eine ganze Wasserflasche, um mich dazu zu zwingen, aber weiterhin nichts - dafür Schmerzen. So etwas drückt auf die Laune und ich wollte ihn nicht mit einem Miesepetergesicht begrüßen. Es ging nicht anders. Aber als ich die Geschichte erzählte, begann er zu lachen, da war ich beruhigt. Kann ich das ausplaudern? Egal. Es lief etwas zwischen uns, nicht bis zum Schluss, aber es lief etwas, naja ich bekam einen Magen-Darm-Infekt und das Schlafzimmer hatte zum Bad zwar eine räumliche Trennung, jedoch nicht komplett und es war mir mega unangenehm.
Und wie ging es weiter? Wir gerieten irgendwann in Streit und ich reiste ab, das gehört allerdings nicht hierher.
Und dann kommst du nach San Cristóbal. Wieso hierher, wo gerade Ausnahmezustand herrscht?
Ach deswegen das Militär auf dem Plaza de la Paz? Und ich wunderte mich. Gelegentlich knallen Böller oder sowas, ich bin zu unbewandert, vielleicht sind es ja auch Schüsse.
Und das macht dir keine Angst?
Ich habe keine Wahl, denn ich muss Interviews in Zinacantán durchführen, das ist mein Grund in Mexiko zu sein. Zuerst wollte ich reisen, nun muss ich aber an meiner Bachelor-Arbeit weiterkommen, die schiebe ich Ewigkeiten vor mir her. Nachdem mich Finnie wieder aus meinem Tief rausholte und Fotokunst meine Begeisterung weckte, wieder öfter rauszugehen, wollte ich etwas machen, hinter dem ich stehe, daher ein Studium. Meine Freunde sagten, Interviews kann ich auch von Berlin aus führen, aber das ist nicht das gleiche und der Wunsch Lateinamerika zu bereisen, bestand schließlich immer noch. Die Einleitung hab ich! Nun brauch ich einen Dolmetscher für die Interviews. Seit Tagen will ich einen Aushang in der Uni machen, aber ich prokrastiniere ... meine eigene Deadline ist dieses Jahr, jedoch geht's nicht voran. Ich schreibe über Mikrokredite. Weißt du, was das ist? Die Regierung bewilligt solche Finanzspritzen, meist nur 50 Dollar, um den Leuten den Schritt in die Selbstständigkeit zu erleichtern. In Asien ist das gängige Praxis, Indien etwa, aber auch hier. Die meisten schaffen es nicht, hier gibt es jedoch eine Gruppe von Weberinnen, die damit erfolgreich wurden. Unabhängig davon, wie man es definiert, stehen sie ohne Hilfen auf eigenen Beinen. Das ist klasse! Leider kann ich mich nur vorstellen und das auch nur auf Spanisch, das ist nach ihrer indigenen Muttersprache die erste Fremdsprache, wir besitzen also dieselben Ausgangsvoraussetzungen. Ich verrenne mich … das wolltest du nicht wissen ...
Hat es dir keine Angst gemacht, dich in den Flieger zu setzen und für Monate - gibt es überhaupt ein Ende? - über den Atlantik in ein unbekanntes Land zu kommen?
Zurück muss ich, denn ich habe noch eine Wohnung in Berlin. Die habe ich nun untervermietet. Ich habe ein gutes Gefühl dabei, nicht wie bei der Vormieterin. Oh Gott, wenn das die Verwaltung rausbekommt, werde ich fristlos gekündigt... Naja in sechs Jahren müssen wir eh alle das Gebäude räumen. Dann läuft der Denkmalschutz aus. Das geht, mich hats auch gewundert, aber als die den Innenhof, der übrigens der Ruhepol der Nachbarschaft war, nieder machten für neue Gebäude, bekamen die innenliegende Wohnungen dieselbe bestehende Hausnummer wie wir und da es bald mehr moderne Baumasse als Altbau gab, hob das den Denkmalschutz auf und eine Frist zur restlosen Räumung wurde gesetzt. Jeder soll ausziehen, weil die Gebäude abgerissen werden. Dabei war es so schön bei mir in Treptow! Wer kauft für eine halbe Million eine Eigentumswohnung, die auf einer Seite zu den Mülltonnen zeigt und auf der anderen zum Spielplatz? Ich habe nichts gegen Kinder, aber die quietschenden Schaukeln können benutzt werden und wenn ich mir vorstelle auf die Art geweckt zu werden ... schönen Dank. Entschuldigung, ich verlor den Faden. Ach stimmt ... Die neue Mieterin, bzw. ihre Vorgängerin trieb mich in den Wahnsinn. Natürlich herrscht Wohnungsnot in Berlin, das kann ich verstehen, dass man bei der WG-Vorstellung flunkert, aber was ich mir da angelacht habe! Wenn sie, Olga hieß sie, nicht am Wochenende zu ihrem Freund gegangen wäre, hätte ich ihr gekündigt. Trotz Absprache, putzte sie nie, das machte ich, weil ich mich sonst aufgeregt hätte. Einmal gewitterte es und sämtliche Fenster standen offen und sie saß auf dem Sofa als ich zur Haustür reinkam. Seit wann bist du da? Die ganze Zeit. Das Fenster? Ja, das hätte ich gleich geschlossen. Oder als sie mein Küchenhandtuch benutzte, ja es gibt diesbezüglich Trennungen bei mir, und als ich sie dabei erwischte, antwortete sie frech, dass sie das sonst nie machen würde - als ob! Als ich eine beträchtliche Mieterhöhung bekam, sollte sie ihren Anteil, der ohnehin nur ein Drittel der Gesamtmiete betrug, erhöhen, da meinte sie, sie zahlt genug. Wäre der Zeitraum unseres Zusammenseins nicht absehbar gewesen, hätte ich ihr gekündigt, wirklich. Bei der Wohnungsübergabe dasselbe Theater. Sie räumte nicht auf und verschwand einfach, es sei mein hoher Anspruch, schrieb sie mir. Da lagen Wollmäuse im Schrank und tote Käfer auf der Fensterablage! Ich reinigte und zog ihr meine Arbeitszeit von der Kaution ab. Dann wollte sie eine Rechnung, doch ich dachte: Du blöde Kuh! Wieviel Zeit soll ich noch für dich verschwenden? Egal, jetzt habe ich ein gutes Gefühl.
Hattest du das auch vor der Reise?
Ich war aufgeregt. Meine Freunde versuchten mir bis zuletzt die Sache auszureden, aber als mit der Wohnung alles geklärt war, ich wusste wohin mit Finnie und sogar eine erste Anlaufstation hatte, weinte ich vor Freude: Bald würde ich in Mexiko sein! Zu Beginn liefs auch gut, aber nach der abrupten Trennung in Tampico fühlte ich mich verloren. Überall ging ich ihm bislang nach, zum Beispiel wenn wir essen gingen und so ein Kram. Erst als ich auf mich gestellt war, spürte ich Druck.
So muss es dir wahrscheinlich im Vorfeld auch ergangen sein. Ein bisschen Angst ist ja immer dabei, oder?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, worauf du hinauswillst. Bisher habe ich deine Frage wohl nicht zufriedenstellend beantwortet, bin ihr unbeabsichtigt ausgewichen, oder bin ich nicht? Falls ja, tut es mir leid, aber ob ich Angst hatte, diese Frage stellte sich mir einfach nicht.
Ein junger Armin mit Zottelmähne, Schlaghosen und latentem Hang zur Hippiebewegung, hatte es schwer im Unterfranken der 70er Jahre. Voreingenommen ist das Volk seit je gegenüber Andersartigkeit, was für diese Leute mit Merkwürdigkeit gleichgesetzt ist. Armin beendete die Schule und wusste nicht wie weiter. Eines Tages kurz vor Einbruch der Dunkelheit nahm er einen trampenden Landstreicher mit, doch wie sich herausstellte, war dieser ein Student - internationales Agraringenieurwesen. Das klang interessant, deswegen fuhr ihn Armin bis zur Uni und schrieb sich selber ein. Als erstes musste er für ein Praktikum auf dem Bauernhof seine Matte auf Normalmaß zurechtstutzen. Froh, der heimatlichen Enge zu entkommen, absolvierte er seine Auslandssemester in Kanada und Mexiko. In letzterem kam er an mit einem Wortschatz, welcher Cerveza, Tequila und Muchacha beinhaltete, aber er lernte schnell und autodidaktisch. Was seine Augen sahen, fragte der Mund. Nun kannte er die korrekte Bezeichnung und ihre Aussprache, dann trug er die Vokabel in sein Notizbüchlein ein, so wie er es hörte und schlug es abends in einem Langenscheidtbuch nach und übertrug es in sein Lernheft. Ein Schalter legte sich um und er verstand die Ähnlichkeiten zwischen seinem vergessen geglaubten Latein aus der Schule und Spanisch. In zwei Monaten beherrschte er eine Sprache.
Zurück Zuhause brauchte man ihn nicht. War sein Wissen unnütz? Halb verzweifelt, halb hoffnungsvoll - der Stoff, aus dem Träume gemacht sind - stellte er sich als Helfer für die Entwicklungshilfe zur Verfügung.
„Zurzeit brauchen wir keine Ärzte. Eher in Richtung Landwirt.“
„Das bin ich!“
„Aber das Einsatzland ist Mexiko.“
„Ich kann spanisch und kenne das Land mit seinen Leuten von meinem Auslandssemester!“
„Wie ich sehe, verlangt man Kenntnisse über Schafe.“
„Darüber schrieb ich meine Diplomarbeit.“