Leise rieselt der Schnee - Askson Vargard - E-Book

Leise rieselt der Schnee E-Book

Askson Vargard

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Beschreibung

"Leise rieselt der Schnee" ist ein Theaterstück, ein Monolog, ein Versuch, aber mannigfache Einsichten. Der Protagonist sieht sich erstmals in seinem Leben mit dem Tod konfrontiert. Im ersten Akt dominieren bei der Zugfahrt zu seinem im Sterben liegenden Großvater die Eindrücke, die er versucht vorauszuahnen, während er diese im zweiten Akt verarbeitet. Wie ein roter Faden webt er Erinnerungen in seine Reden, die ihm helfen sollen zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. Das Theaterstück ist ein gefühlvolles, aber deswegen nicht vor Sentimentalität triefendes Werk. Es behandelt ein Thema, welchem sich jeder bereits gestellt hat oder noch stellen muss und bildet somit, wie jedes Abschiednehmen, die Schwelle zwischen Lachen und Weinen.

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Seitenzahl: 93

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Leise rieselt der Schnee

TITELPERSONENORTAKT IAKT II

LEISE RIESELT DER SCHNEE

Versuch

einer Aufarbeitung

in 2 Akten

von

Askson Vargard

für einen

Dagewesenen

PERSONEN

Ich

Seine Frau

Lautsprecher

Chor

ORT

Regionalbahnlinie 13. Dem Bahnfahren ist seit Jahrzehnten der Luxus, der Komfort, kurz nahezu alle Annehmlichkeiten abhandengekommen, die die Fahrt bereits zum Bestandteil einer besonderen Reise erhebt, falls es diesen Überschwang überhaupt jemals gegeben hat. Höchstens die historischen Waggons der Transdev Regio Ost mit ihren wieder eingesetzten und aufgehübschten DDR-Wagons, die zwischen Leipzig und Chemnitz verkehren, vermitteln dieses Gefühl, aber ehrlich gesprochen: Sind wir noch die Menschen von 1980?

Der Mensch von heute begnügt sich mit weitaus weniger. So auch in der Elster-Saale-Bahn, einem Ableger der Erfurter Bahn. Breite barrierefreie Türen, Panoramafenster, offenes Abteil usw. Im vorderen, bzw. hinteren Bereich befindet sich die erste Klasse, die sich im Wesentlichen mit ihren warnenden rot gepolsterten Sitzen von den übrigen unterscheidet, ansonsten aber erstaunlicherweise ebenso abgesessen wirkt.

Der Blick ist auf die Vierersitzgruppe gerichtet, die vor der ersten Klasse auf einer Erhebung, nennen wir es Podium, befindet. Der Hintergrund variiert durch die vorbeirauschenden Stadt- später Dorf- und Naturlandschaften, je nachdem. Die Sicht ist klar, wenn sie nicht durch einen mausgrauen Diagonalbalken des Fensters durchbrochen wäre - ein Factum, dramatischer sind nur die Erlebnisse, die uns an solchen Orten ereilen.

AKT I

Das Ich, eine hagere schlaksige Person, betritt apathisch mit offener Regenjacke und gelockertem Schal die Fläche, nimmt jedoch zielgerichtet Kurs auf die erwähnte Vierersitzgruppe, in der er sich zurücksinken lässt, als wolle er an der nächsten Haltestelle aussteigen. Neben ihm nimmt seine Frau Platz, sie drückt ihm liebevoll die Hand, während er suchend die Gleisbetten des Bahnhofs überschaut. 

LAUTSPRECHER mit dessen Ansage, der Hintergrund in Bewegung gesetzt wird. Sehr geehrte Damen und Herren, wir begrüßen Sie in der Erfurter Bahn von Leipzig Hauptbahnhof nach Hof. Wir wünschen eine angenehme Fahrt.

ICH zaghaft singend. Leise rieselt der Schnee ... (abbrechend) an den offenen Stellen des Daches vom Hauptbahnhof auf die gefrorenen Gleise. (Erneut singend) Still und starr ruht der See ...  (erneut abbrechend) damit meint das Lied den See in mir, der jeglicher Bewegung entbehrt - eine winterliche Paralyse. (Lacht bitter) Welch pathetischer Anfang mit diesem Weihnachtslied. Es trieft förmlich vor dem, was ich verabscheue. Am liebsten wäre mir, ich würde es ausmerzen, mir aus dem Kopf reißen ... aber die Stimmen blieben, der Chor, der dieses ganze Theaterstück gänzlich zu einer überdramatischen Seifenoper empor hebt ... aber ... ja was aber? ... vielleicht brauchen wir genau das manchmal (nachdenkliche Pause). Wie dem auch sei, irgendwie muss ich dennoch in dieses Zugabteil geraten sein. Meine Schritte waren dabei eher mechanischer Natur, sie trugen mich ohne dass ich Einfluss auf sie nehmen konnte. Eigentlich sah die Planung für den heutigen Montag, den 18. Januar, einen anderen Ablauf vor, aber was ist schon planbar? Weihnachten liegt knapp dreieinhalb Wochen zurück, der turnusmäßige Jahreswechsel wurde vollzogen, aber für mich gab es weder Weihnachten, noch Silvester, denn ich lag mit Hustenkrämpfen und Fieber getränkten Nächten krank zuhause. Zu Heiligabend packten wir die Geschenke ein, nichts besonderes. Einen Jahreskalender mit Motiven, die ich das Jahr 2020 über hinweg fotografierte, selbstgebackene Lebkuchen, sowie Stollenkonfekt, dazu eine Weihnachtskarte, die aufbauende Worte für das kommende Jahr versprachen, aber dann ... dann kam der positive Schnelltest am ersten Weihnachtsfeiertag und meine erste Handlung war, die Familienbesuche abzusagen. Im Restaurant hatte meine Oma vier Portionen Rehbraten und einmal Gans vorbestellt, weil sie wusste, dass meine Frau und ich jedes Essen teilen, aber den Festtagsschmaus bestellen? Das gab es nie zuvor, aber eine persönliche Einkehr war ohnehin undenkbar. Einerseits wegen den landesweiten Pandemiebestimmungen, anderseits wegen des verschlechterten Gesundheitszustandes ihres Mannes. Dreieinhalb Wochen lang stand nun die gepackte Tasche mit den Geschenken im Flur, dann stellte ich sie in den Keller, hoffend, dass ich sie beim nächsten Besuch in der alten Heimat nicht vergessen werde. Die Krankheit nahm einen erfreulichen Verlauf und ich erlangte meine Gesundheit schrittweise zurück, war darüber hinaus nicht mehr infektiös, zurückblieb ein latentes Schwächegefühl, welches selbst kleine Spaziergänge in Strapazen verwandelte. Wohlan, ich fühlte mich genesen. Heute am Montag des 18. Januars sollte planmäßig mein erster Arbeitstag des Jahres sein, aber dieser Zug soll mich woanders hinführen.

LAUTSPRECHER. Nächster Halt Leipzig-Plagwitz.

ICH fährt erschrocken hoch. Wahnhaft scheint er unter den Sitzen nach irgendwas zu suchen. Mist! Die Schwäche meines Körpers scheint Auswirkungen auf mein Gedächtnis zu nehmen, die Geschenktasche! Sie steht nach wie vor im Keller ... Wir könnten aussteigen und zurückfahren, was ist dabei, wenn wir eine Bahn später nehmen und zwei Stunden später eintreffen? Es rechnet sowieso niemand mit uns ...

LAUTSPRECHER. Nächster Halt Leipzig-Knauthain. Die Schienentritte können witterungsbedingt nicht genutzt werden. Bitte beachten Sie dies beim Ein- und Aussteigen.

ICH hat wieder Platz genommen und ballt wütend die rechte Hand zu einer Faust und presst sie gegen seinen Oberschenkel. Die letzte Haltestelle im Leipziger Raum und ich schaffe es nicht auszusteigen. Wenn ich's recht überdenke ... wozu auch? Weihnachten ist vorbei und unwiederbringlich, abgelaufen wie eine sauer gewordene Milch. Die Feiertage waren für meine Familie ein Festival der Tristesse, daran können auch nachträgliche Geschenke kaum etwas ändern. Wer weiß, ob die Fressalien mittlerweile nicht knochenhart in der Dose ein ungenießbares Dasein fristen. Es ist zu spät (atmet beruhigt auf und löst die Verspannung)! Der Rahmen für ein Fest ist zersprungen! 

LAUTSPRECHER. Nächster Halt Zwenkau-Großdalzig.

ICH. Gestern Abend erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter. Sie schien aufgelöst, wie eine Toastscheibe in Milch, vollgesogen und zerfallen bis sie weder Toast, noch Milch ist. (Richtet die Stimme gegen sich) Warum diese nichtsnutzigen Milchvergleiche? (besinnend) Sie stellte den Telefonapparat auf Lautsprecher, meine Oma und mein Vater begrüßten mich in einem ähnlich kläglichen Tonfall, der meine Lippen zum Bibbern brachte. Der Anruf war erwartbar. Die gesamten letzten Tage behielt ich mein Telefon im Auge in dieser Vorerwartung, dass es mich trotzdem mit seinem Klingeln erschrecken würde und dann kam er ... Mein Opa hatte letzte Woche am Dienstag, also den 12. Januar, Geburtstag. Durch meine Krankheit konnte ich kein Geschenk besorgen, was an sich nicht weiter schlimm ist, denn er wollte sowieso nie etwas geschenkt haben, er schenkte lieber, deswegen ist es zum Brauchtum geworden etwas Verzehrbares, meist Schokolade der Marke Besonders zu besorgen, die selten im allwöchentlichen Einkaufskorb landet, und eine Glückwunschkarte beizulegen. Bis vor einigen Jahren machte ich mir die Mühe anlassbezogene Kurzgeschichten zu schreiben. Da mein Opa dem Sternkreiszeichen des Steinbocks angehört, worauf er seit je ziemlich stolz war, schrieb ich beispielsweise über einen eigenwilligen Steinbock in den Bergen. Der Inhalt wurde gelesen und honoriert, aber das war mir offenbar zu lauwarm, ich weiß nicht, was ich mehr wollte. Er lobte mich, dass ich ein junger Goethe sei und das war in Wirklichkeit dann der ausschlaggebende Grund, warum ich keine Geschichten mehr schrieb, weder zu Geburtstagen, noch Ostern, noch Weihnachten, denn ich wollte nie ein junger Goethe sein ... Ein Vergleich, der stilistisch äußerst ungeschickt wirkte und darüber hinaus seine magere Literaturkenntnis verriet, kränkte mich. Ganz konnte ich es aber schließlich nicht bleiben lassen, warum auf einmal? Also verfasste ich fortan Gedichte, das kostete mich ein Bruchteil der Zeit. „Wie ein junger Goethe“, pflegte er wieder zu sagen. Von da an schrieb ich eine gewöhnliche Karteninschrift und war einzig darauf bedacht keinen Standarttext zu verfassen, aber ein Gedicht auf der Karteninnenseite, geschweige denn eine lose Blattsammlung mit einer Geschichte, fehlten.

LAUTSPRECHER. Nächster Halt Pegau.

ICH. Worauf wollte ich hinaus? Es fällt mir schwer meine Gedanken zu sortieren, was ich zu entschuldigen bitte, aber es ist nicht ganz einfach für mich in diesen Stunden (Seufzen begleitet von einer Pause). Ich gratulierte via Telefonat, welches meine Oma entgegennahm. Ein übles Vorzeichen, denn dieser 12. Januar eines jeden Jahres war der einzige Tag, an dem mein Opa für gewöhnlich Anrufe entgegennahm. Er hob ab mit einem lang gezogenen „Jaaaaaa?“, welches Unklarheit vortäuschen sollte, als wisse er selbst nicht, welcher Tag ist, aber flugs gewann seine Stimmfarbe an Wärme, sobald man ihm Gesundheit, Glück und persönliches Wohlergehen für das kommende Lebensjahr wünschte. Es waren kurze Telefonate, aber dieses Jahr gab es einen neuen Minusrekord. Meine Oma reichte den Apparat weiter und ich hörte von weiten ein mühevolles Krächzen, was ich mit höchster Anstrengung als Danke identifizierte. Ich entschuldigte die hinderlichen Umstände des ausgebliebenen Geschenks mitsamt der Karte und versprach, es dafür am kommenden Wochenende persönlich abzugeben. Meine Oma ging zu meiner Verblüffung vehement gegen diesen Vorschlag an „Bitte nimm es nicht übel, aber es geht nicht.“ Erstmalig blieb mir die Tür, die für mich von Kindesbeinen an offen stand und sozusagen eine verklärte Pforte unbeschwerter Glückseligkeit darstellte, verschlossen. Auch die Alternative, dass ich das Geschenk nachschicke, wurde abgelehnt. Er isst seit zwei Wochen keinen Happen mehr, das Trinken fällt ihm schwer und auf die Karte soll ich auch verzichten ... Das war ein tiefgehender Schlag für mich, der mich die Zeichen der Zeit deutlich erkennen ließ. Wir wollten bald wieder telefonieren und einen neuen besseren Zeitpunkt wählen, aber da kam der erwähnte Anruf meiner Mutter zuvor. „Opa geht es nicht gut, er wird die Nacht wahrscheinlich nicht überstehen.“ Mein Vater, der aufgrund eines Nicht-Streites den Hausstand meiner Großeltern, wie im Übrigen auch mich, seit anderthalb Jahren mied, schluchzte deutlich im Hintergrund. Er hatte seinen Schatten offensichtlich überwunden, allerdings zu einem traurigen Anlass. Der Kopf meines Opas lag dabei im Schosse meiner Oma, er, der beständig eine Aversion gegen körperliche Wärme durch Nähe hegte, wurde plötzlich zum Schmusetiger. Jeder wurde herzlich gedrückt, auch der Schwiegersohn, der ihn liebevoll die letzten Stunden pflegte. Mit einer Stimme voller Zittern redete meine Mutter auf ihren Vater ein und schürte damit seinen entschwindenden Geist, um die Stimme seines Enkels eventuell ein letztes Mal wahrzunehmen. „Er hört dich!“, sprach meine Oma aufgeregt aus dem Hintergrund, da sie eine Regung vernahm. „Er hört dich“, wiederholte darauf meine Mutter und so redete ich und meine Frau auf ihn ein, um ihm ein Wort des Abschieds zu entlocken, bis es schwach an unser Ohr durch den Hörer drang: „Schöne Grüße und danke.“

LAUTSPRECHER. Nächster Halt Profen. Die Schienentritte können witterungsbedingt nicht genutzt werden. Bitte beachten Sie dies beim Ein- und Aussteigen.

ICH versucht den Arm auf die widersinnige Diagonalstrebe zu lehnen, was auch nach mehrmaligen Versuchen misslingt. Meine Konstitution gleicht einem Haferflockenbrei. Dank dieses unbestimmt aufkommenden Vergleiches, stelle ich mir den Geruch vor, wenn meine Oma damals Haferflocken zubereitete. Jeden Donnerstag kam ich nach der Schule zu meinen Großeltern, die keine zweihundert Meter entfernt von der Mittelschule wohnten. Es ist ein Neubau, ein Block ohne architektonische Kunst, ein bloßer Funktionsklotz in zweifacher Ausführung. Von ihrem Balkon aus konnten die beiden den Schotterplatz sehen, auf dem ich im Sportunterricht Fußball spielte, wodurch ich mich als einziger durch eine treue Zweimann-Fangemeinde unterstützt sah. Als Kleiner durfte ich mich groß fühlen, wie ein echter Star. Nach der letzten Stunde konnte ich es daher nie erwarten und ging schnurstracks die Friedensstraße entlang, klingelte bei Hausnummer 9 und wurde eingelassen. In der Stube roch es nach brauner Butter und dem dicken Brei. Der Sportplatz war leergefegt, nur meine unsichtbaren Ruhmestaten verweilten auf ihm, eine Schwelgerei, die abgelöst wurde, sobald ich den Zimtzucker roch, der über die Haferflocken gestreut wurde - eine unglaubliche Belohnung nach all den Anstrengungen des Schulalltags. Es gab beim Verzehr ein festes Ritual und zwar löffelte ich vom Rand der Mitte zu und bildete einen Fjord, den die braune Butter flutete und den ich genüsslich trockenlegte. Im Laufe der Jahre versuchte mein Vater mir auch zuhause diese Freude zu bereiten, was zum Missmut aller Beteiligten beitrug, denn Haferflockenbrei stand wie kein zweites Gericht für meine Kindheit bei den Großeltern!

LAUTSPRECHER. Nächster Halt Zeitz. Übergang zum Plusbus und anderen Regionalzügen. Bitte beachten Sie die Lautsprecheransagen.

CHOR. Weihnachtlich glänzet der Wald/ Freue dich Christkind kommt bald.

LAUTSPRECHER. Nächster Halt Wetterzeube. Bedarfshalt. Bitte drücken Sie jetzt den Haltewunschknopf.