Im Rausch des Lebens - Askson Vargard - E-Book

Im Rausch des Lebens E-Book

Askson Vargard

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Beschreibung

Ein namenloser Protagonist flieht vor seinem Alltagstrott in eine Reise mit unbestimmtem Ausgang. Was er möchte? Ein untypisches Leben, eines, das niemand vor ihm lebte, aber genau dieses Vorhaben macht es letztendlich 'typisch'. Ein Wort mit Signalwirkung, welches ihn alarmiert die Umstände zu ändern, wenn er bloß wüsste wie. Mexiko koloriert das Geschehen um ihn, jedoch nicht jene lupenreine Version aus Reiseprospekten, sondern das (vermeintlich) unbekannte und echte, so echt wie diese Geschichte: "Klingt, als hätte ich es schon hundert Male gehört oder gesehen, bis ich es tatsächlich erlebte."

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Seitenzahl: 231

Veröffentlichungsjahr: 2023

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IM RAUSCH DES LEBENS

(Zu typisch! Titel ändern!)

Askson Vargard

I.

Da liege ich nun auf einer durchgelegenen Matratze eines Hotels mit Motel-Charakter. Glücklicherweise bestätigte mir der Übernachtungspreis im Voraus diese Ahnung, da er zwischen beiden Kategorien rangierte. Wer viel erwartet, kann viel enttäuscht werden, deshalb versuchte ich mir Erwartungen abzugewöhnen, aber es gelang - wenn überhaupt - nur mäßig. Überdrüssig gewöhne ich mir inzwischen das Abgewöhnen mit selbem Erfolg ab. Ich buchte und fand den übersichtlichen Raum vor, wie im Internet inseriert. Die Vergitterung des französischen Balkons zur Straßenseite hinaus lässt mich jedes Mal, wenn ich auf ihm stehe, fühlen, wie in einem Vogelkäfig. Nicht, dass ich bereits in einem hauste, aber so stelle ich mir die Umgebung als Ziervogel vor, während die ‚echten‘ Vögel, namentlich die Grackeln, vergnügt - und wie es mir vorkommt ein bisschen höhnend - von den Parkanlagen her singen.

Mir gefallen die abgeschmackten Landschaftsgemälde im Kleinformat an den in Pastell getünchten Wänden. Farmhäuser, Rosa und Lila von Bougainvillea überwuchert und hinter ihnen ein Feld von Agaven, die in regelmäßigen Abständen gepflanzt den Anschein erwecken, als sei hier ernstlich und exakt abgemessen worden. Sie führen über Hügel bis zu den Bergketten, auf denen die Morgenröte glüht. Vereinzelt erkennt man Arbeiter mit breitkrempigen Hüten, die mit langstieligem Werkzeug hantieren, während hinter ihnen das Ochsengespann wartet. Das ganze Sujet ist handwerklich ausgezeichnet und detailreich, aber bis ins Mark kitschig und stellt ein Verbindungsideal zwischen Menschen und Natur dar. Ich empfinde es nett hier, ausgesprochen nett sogar. Wirklich. Die Einrichtung mit dunklen Holzmöbeln ist spartanisch, immerhin gibt es einen Schreibtisch, der nicht zur Standardausstattung gehört. Bei der LED-Lichterkette, die über dem Bett als einzige indirekte Lichtquelle flimmert, bin ich mir hingegen unsicher, ob sie in anderen Zimmern dazugehört. Warum geht mir das ausgerechnet jetzt durch den Kopf, gibt es nichts interessanteres? Diese Zusammenfassung … als bereite ich den Entwurf für eine Bewertung vor, die ich ohnehin nie abschicken werde … Das Wesentliche ist: Die Matratze ist unbequem.

Ihr Handy spielt die zigste Live-Version von Jefferson Airplane‘s ‚White Rabbit‘ und ich bin völlig bekifft von dem Dübel, den sie vorhin am Schreibtisch (dafür ist er nützlich!) baute und wir gemeinsam auf dem Dach rauchten. Jetzt erkenne ich den Zusammenhang, warum ich so herumschwafle! Wir lernten uns erst am Morgen kennen, deswegen kann ich leider noch nicht viel über sie sagen. Schulter an Schulter liegen wir auf dem Rücken und starren an die Decke, aber … aber … was wollte ich sagen? Nun, da ich eine Berührung spüre, verflüchtigen sich meine Gedanken in einen konfusen Taumel, sie entweichen und pilgern in Richtung Körpermitte. Wie viel Zeit musste vergehen, bis ich begriff, dass sie meinen Penis streichelt?

„Ey du, das können wir nicht machen. Uns erst einen durchziehen und dann Sex zu dieser Musik in einer billigen Absteige haben und das in Mexiko.“

„Wie meinst‘n das?“

„Das ist so typisch, als erlebten wir es schon hunderte Male, bis wir es jetzt wirklich tun.“

Sie gibt mir einen zarten verheißungsvollen Kuss auf die Lippen, nimmt ihre Unterkieferschiene raus, legt sie neben sich aufs Bett und bläst mir einen. Ist sie bei mir eingezogen? In dem Moment fühle ich, wie mein erigiertes Glied eine Art Klappe in ihrem hinteren Rachenbereich durchstößt, rhythmisch immer und immer wieder. Was mich bei diesem intensiven Gefühl davon abhält direkt in ihren Mund zu ejakulieren, sind die Unterbrechungen, in denen sie kichert. Sie bricht ab und sagt, sie sieht unzählige Spongebob-Versionen. Eine hat eine Cowboy-Hose an, aber sie weiß nicht, wer von ihnen der Echte ist. Da bricht sie vollends in Lachen aus und meint, sie kann unmöglich jeden ansprechen und fragen. Eigentlich müsste ich beleidigt sein, aber ich frage mich eher, wie viele Konzerte Jefferson Airplane gespielt haben muss, demnach zu urteilen, wie oft ‚White Rabbit‘ von vorn beginnt, seitdem wir hier liegen.

Meine Kehle ist ausgetrocknet, die Zunge rau wie die einer Katze. Sie kratzt mir die komplette Mundhöhle auf, weshalb ich um Wasser winsle, da reicht sie mir ein Glas und ich setze es so behutsam wie möglich an, aber vergebens. Ich erreiche das sehnliche Wasser nicht oder erreicht das Wasser mich nicht? Ich muss verdursten! Mit der Verzweiflung eines Sterbenden kippe ich das Glas, jedoch unvorteilhaft steil und sein Inhalt strömt über mich und ich schreie auf: Hilfe! Ich muss ertrinken!

Touristen, denken sie an Mexiko, sehen sie die weißen Puderzuckerstrände der Rivera Maya vor ihren geistigen Augen. Wobei so vergeistigt sind sie gar nicht, wenn ihnen die reiche Bebilderung der Reisekataloge untergeschoben wird. Dazu archäologische Stätte wie Tulum und Chichén Itzá, ergänzt um Insidertipps, wie die Maya-Ruinen von Cobá oder Ek Balam. Dazu eventuell ein Schnorchel-Ausflug vor Cozumel und der Traumurlaub ist perfekt. Typisch. Zu typisch und damit typisch genug, dass ich es ablehnte, sobald ich es selbst erlebte. Was ich von da an suchte, war das unverfälschte Mexiko. Natürlich wollte ich nicht zwischen die Fronten eines Drogenkrieges der Kartelle geraten, denn aus Gewalt und Kriminalität besteht das Land, gemäß den übertrieben besorgten Reaktionen meiner Freunde und Familie nach zu urteilen, ausschließlich. Als ich ihnen mitteilte auf unbestimmte Zeit nach Mexiko zu reisen, wurden ihre Mienen finster. Hast du dir das gut überlegt? Natürlich überlegte ich mir dieses Vorhaben nicht gut, hätte ich das getan und mir am besten noch die Informationen des Auswärtigen Amtes aufmerksam durchgelesen, wäre ich nicht nur nicht aufgebrochen, ich hätte wahrscheinlich meine Wohnung nie mehr verlassen, was ich ohnehin zu oft nicht tat, aber jetzt auch schlecht funktionieren würde, da ich sie kündigte wie meinen Job.

Noch nie hatte ich den Pazifik gesehen. Ein zu vernachlässigendes Defizit vielleicht, aber mich trieb der fromme Wunsch zu diesem Meer, das den amerikanischen Doppelkontinent mit Asien und weiter südlich mit Australien verbindet, um darin zu baden. Nach einer zehrenden Nachtfahrt mit dem Bus, stand ich früh auf und lief unerwartet fidel durch Salina Cruz. Bald wäre es soweit! Die doppelspurigen Straßen schienen verlassen, die Rollläden schliefen zugezogen, als hätte der Tagesanbruch für sie keinerlei Bedeutung. Die vereinzelten Leute, die mir entgegenkamen, musterten mich mild, denn ich war offenbar eine Rarität. Im Vorbeigehen bot mir ein fliegender (oder heißt es fliehender?) Händler eine Sonnenbrille an. Als er mich sah, bellte er mir sein Spanisch unverständlich, dafür unverhältnismäßig laut entgegen. Deutlicher und langsamer hätte ich es wohl genauso wenig verstanden, aber dass er Sonnenbrillen anbot, das begriff ich. In einer besonderen Technik hielt er schätzungsweise zwanzig Exemplare am Bügel in seiner schwieligen Pranke. Diese Händler mit monistischen Angeboten eignen sich nicht nur spezielle Trage-Fähigkeiten an, sondern auch einen Spruch, den sie pistolenschussartig abfeuern, manchmal auch, wenn sie niemanden sehen. Mich sah der Brillenverkäufer jedenfalls. Er war wie viele seiner Zunft in einer Parallelwelt versunken - wie ich vermutete, um den trögen Alltag, der geprägt von Ablehnung ist, besser zu ertragen. Als er mich längst passierte, drehte er sich plötzlich mit einem Ruck um, als hätte er eine Sagengestalt in mir erkannt, winkte fröhlich und wünschte mir noch lauter, als er zuvor seine Werbesprüchlein aufsagte, einen schönen Tag und ging weiter.

Spätestens beim Mercado und dem direkt daneben befindlichen Hauptplatz, den Zócalo, belebte sich Salina Cruz, aber vom Pazifik fehlte jede Vorahnung. Keine salzige Prise, kein Blau, das durch die langgezogenen Straßen erkennbar wurde. Ich fragte nicht nach dem Weg, sondern konsultierte die digitale Karte meines Handys, demnach lag noch eine weite Strecke vor mir. Am Gestank des Fischerviertels und an den hohen Betonmauern des Hafens vorbei, setzte ich meinen Spaziergang die Straße weiter folgend fort zu einem Hügel, auf dem ein Leuchtturm thronte, als erwarte er mich bereits. Wäre ich seinem stummen Anruf gefolgt, hätten mich die Militärsoldaten, die ihn besetzten, sicherlich zurückgehalten, aber wenigstens hatte ich vom Vorplatz einen Überblick gewonnen und mit ihm Sicht auf den Strand, der wie eine Mondsichel gebogen den Teppich zu meinem Ziel bildete: Den Pazifik! Der Strand war breit und bot der Hitze eine prächtige Angriffsfläche, die mich gleichmäßig briet. Eine Abkühlung im Meer? Keine Menschenseele badete. Und überhaupt waren unerwartet wenig Menschen zugegen. Ich zweifelte, ob der Halt in Salina Cruz eine gute Idee war. Touristische Gegenden werden genau deswegen frequentiert, weil sie keine Enttäuschung bereithalten. Kein Fischgestank, sondern ein komplexer und undefinierter Geruch drang in meine Nase. Ich dachte an die Hafenbecken, an denen ich vorbeilief und die ich von der Erhebung des Leuchtturms in Stadtrichtung deutlich sah. Sind sie der Grund, dass es keine Badegäste gibt, weil jedes Schiff ein Leck hat und Gift verströmt? Ist die Unterströmung zu tückisch und ich würde sofort absaufen? Gibt es überhaupt einen triftigen Grund?

Mit einem Mal kippte meine fröhliche Entdeckerstimmung über zu einem bitteren Verdruss und ich musste ächzen, wenn ich an den Rückweg dachte. Warum machte ich das? Da sah ich ein Fischerboot, welches die letzte Berührung mit dem Meerwasser gänzlich vergessen hatte und machte mit dem Handy ein beiläufiges Foto, ließ mir danach noch schnell die Zehen von den kühlen Wellen überspülen und ging schnurstracks zur Straße, hielt den Daumen wegweisend raus und übertünchte meine üble Stimmung mit einem umso heiteren Lächeln.

Wie der Händler am Morgen war ich in meiner widersprüchlichen Welt gefangen und achtete nicht auf Augenkontakt mit den Fahrern der Autos, die mir entgegenkamen. Ohne echte Überzeugung wartete ich auf das, was tatsächlich geschah: Ich wurde mitgenommen. Eine Karre, die gerne einem Drogenbaron hätte gehören können. Metallisch glänzte das Schwarz des bulligen GMC-Vehikels und ging über in die ebenso dunkel getönten Scheiben. Statt einem fiesen Verbrechergesicht, lächelte mich die mexikanische Version von Harley Quinn an. Zwei schrill gefärbte Zöpfe, aufdringliches Make-Up und Fingernägel, die ihre kleinen Wurstfinger verdoppelten, weshalb sie trotzdem dick blieben. Sie schwieg, fragte mich zu meiner Überraschung nicht die typischen Phrasen ab. Aus welchem Land ich käme, wie lange ich durch Mexiko reise, ob ich das Essen mag usw. Umsonst legte ich mir die eingetrichterten spanischen Sätze zurecht und stieg, bevor ich mich versah, beim Zócalo aus. Wenn ich wenigstens eine lustige Geschichte zu erzählen hätte … wie dem auch sei, mir war alles egal, ich wollte bloß zurück zur Unterkunft und mein geschossenes Foto mit etwas Sättigung aufmotzen und bei Instagram online stellen mit der Beschriftung: ‚Ich habe mir heute den Pazifik geschenkt!‘ Es würde Herzen regnen und Kommentare wie: ‚Send this pic to Blablabla‘ oder ‚das ist sooo schön!‘ Das besänftigte mein Gemüt und nachträglich empfand ich, dass der Tag in Salina Cruz gar nicht übel gewesen war und sich sogar gelohnt hatte.

„Wovon hast du geträumt?“

„Von gar nichts, denn ich konnte nicht einschlafen, aber das ist nicht so schlimm.“

„Nicht schlimm? Kann ich nicht schlafen, bin ich den ganzen Folgetag mies drauf.“

„Geht mir ähnlich … normalerweise, aber diesmal war es anders. Ich lag wach und es störte mich nicht im Geringsten.“

„Hast du an oder über etwas Bestimmtes nachgedacht?“

„Und ob! Ich habe ein Buch geschrieben mit den schönsten Sätzen, die mir je einfielen.“

„Ach, du bist Schriftsteller?“

„Nicht im klassischen Sinn, dazu müsste man schreiben. Ich hingegen liebe es Formulierungen zu finden, gedanklich auszufeilen und dann wieder zu vergessen.“

„Aber wieso das? Wieso willst du sie nicht festhalten, dass jemand – ich zum Beispiel – sie lesen kann?“

Merkwürdig, daran hatte ich nie gedacht. Was für eine Selbstlüge! Jeder will ein Buch schreiben, ein Werk als Ausdruck eigener Erlebnisse und intellektuellen Sachverstandes. Meine Sprache kam und kommt (und das ist der Grund) mir gegenüber Fremden unvollkommen vor. Schriebe ich ein Buch, würde die Perfektion ein unüberwindbares Hindernis darstellen. Die fertig geschriebenen Seiten würden in einer Schublade altern, allerdings ohne die Veredelung eines natürliches Reifeprozesses. Irgendwann würden sie mir wieder in die Hände fallen und ich würde sie lesen. Scham würde über mich einbrechen, weil ich die ungefilterte Gefühlsoffenlegung nicht ertragen könnte. Gekreuzigt auf dem Papier, diverse Wortkombinationen des ABC als Nägel! Metaphern wären die filigranen Farnblätter, die den morastigen Boden nicht gänzlich verstecken; Bildhafte Umschreibungen der Primärwald, der nie höher wächst als der hinter ihm befindliche Berggipfel. Das Tatsächliche, das ist die Wunde. Sie bin ich und keine Maske ist täuschend genug, um mich nicht hinter ihr zu erkennen!

Welches Thema wäre meins? Wenn ich nichts Eigenes finde, warum sollte ich dann beginnen? Die Welt ist reich an Bibliotheken. Heutzutage sind sie platzsparend auf Servern oder in Clouds gespeichert. Der Zugriff an Möglichkeiten ist enorm. Die Welt braucht keinen neuen Krimiautor, keinen, der Komödien oder Liebesschnulzen schreibt. Für Sci-Fi oder Fantasy fehlt mir die Fantasie. Intelligente Querdenker gab es auch schon ohne Ende. Geisteswissenschaften oder Sachbücher, dafür kenne ich kein Fachgebiet in dem Ausmaß, dass es lohnen würde, davon ein Buch anzufertigen. Was ich schreiben könnte, wäre etwas Echtes, jawohl. Etwas, das in seiner Bipolarität trotzdem Authentizität verströmt. Menschen lesen doch am liebsten über Menschen. Biographien machen selbst den Enthobensten unserer Spezies wieder menschlich, aber das meine ich nicht. Ich denke an unbekannte Menschen, die ein Wagnis eingingen, welches außerhalb der gewöhnlichen Sphäre des Normalbürgers steht … Jemand freundet sich mit Wölfen an … jemand studiert als Berufung Schimpansen … jemand wandert in den afrikanischen Busch aus und gründet dort eine Familie mit einem Massai … jemand umsegelt die Welt oder umfährt sie mit dem Fahrrad - kurzgesagt: jemand macht Extremes, natürlich nicht aus deren Sicht, die es tun, denn sie folgen einem inneren Drang. Ihm nachzukommen fällt leichter als die Alternative des Stillstandes. Diese Alternative kam auch mir abhanden. Unmöglich mein bürgerliches Leben fortzuführen, aber nicht aus dem Antrieb heraus ein Abenteuer mit bestimmtem Ausgang oder Ziel zu verfolgen. War der Aufbruch meiner Reise dadurch automatisch ziellos? Kann sein. Sie ist nichts. Positiv formuliert bin ich das, was man einen Generalisten nennen würde, einer der in Gesprächen unterschiedlichster Art einen Satz beisteuert, aber in der Tiefe sofort an Atemnot leidet – so jemand braucht das Medium Buch als Selbstverwirklichung nicht. Ich bin lieber einer weniger als einer mehr. Die schönsten Sätze sind die Vergessenen. Kein Bewertungsmaßstab ist daran anlegbar, versteht sie das? Wir kennen uns zu wenig, bestimmt denkt sie, ich sei feige, weil ich jemand sein könnte - jemand der schreibt.

„Hey du? Wo bist du gerade?“

„Ich dachte daran, was du sagtest.“

„Ist doch egal, was ich sagte, lass uns raus gehen, Oaxaca ist sooo schön, sonst brütest du die ganzen Stunden vor dich hin. Tu mir einen Gefallen und sei nicht wie du jetzt bist. Die Nacht sollte nie über den Tag bestimmen.“

Ich legte mich fest: Salina Cruz ist ein Kaff! Was hatte mich bloß dazu bewogen dort einen Halt einzulegen? So oder so kam ich mitten in der Nacht an, da hätten zwei weitere Busstunden nur einen zu vernachlässigenden Unterschied bedeutet. Als Fortführung der gestrigen Odyssee auf der Suche nach dem Pazifik zog ich ein Busticket und wartete … und wartete. Geduld ist in Mexiko keine Fähigkeit, sondern eine Grundvoraussetzung. Zeitnot oder ein fester Plan wären wahre Lustkiller beim Reisen. Trotzdem: Keine Durchsage oder der geringste Hinweis auf eine Verspätung.

Obwohl ich eine halbe Stunde zu früh am Terminal stand, beschlich mich ein eigenartiges Gefühl meinen Bus verpasst zu haben. Konnte das angehen? Das hätte ich gemerkt! Stets, wenn ein einfahrender Bus vor dem Metalltor stand, rannte ein Mann durch die Sonne und öffnete es per Hand, danach wurde das Tor geschlossen, aber der Bus parkte lediglich. Der nächste Bus fuhr ohne Passagiere davon. Erneute manuelle Öffnung des Tores … eine Prozedur unendlicher Wiederholungen. Ich beobachtete genau die Leute und schätzte ab, wer im Terminal saß, seit ich ankam, da ich vermutete, dass auch sie in dieselbe Richtung unterwegs sein könnten wie ich, aber Fehlanzeige. Von den Wartenden machte niemand Anstalten, schlimmer, sie standen irgendwann auf und gingen einfach, als hätten sie es sich anders überlegt mit der Busfahrt. Da trat ein Mann mit einem Tablett voller Becher in den Wartesaal ein, gefüllt mit einer wabbligen Masse, wahrscheinlich Wackelpudding in verschiedenen Geschmäckern, was sich mir sogleich bestätigte, denn als einziger Weißer unter den Wartenden, hielt er mich für einen geeigneten Kunden mit Trinkgeldpotential. Er zählte auf, was er hatte. Vanille – Nein. Schokolade – Nein. Manches verstand ich nicht, was nichts an meinem Nein änderte. Eins davon sah wie Cola aus, in dem Fruchtstückchen konserviert waren, wie ein tausendjähriger Fund in Harz oder so etwas (ich kenne mich da nicht aus). Mein Nein wurde schärfer, was ihn nicht störte, er betete weiter sein Angebot runter, während jede Bewegung die Puddings synchron wie eine Ballettvorstellung in Bewegung hielt. Da war auch eine grünliche Masse dabei, die mich an Kotze erinnerte. Mir wurde übel, weshalb ich die Stimme hob, um ihm eindeutig zu signalisieren, dass ich nichts kaufen will.

Mich diesem Problem entledigt und einmal in Rage, fühlte ich den Zeitpunkt günstig, die Dame am Ticketschalter auszufragen, was mit meiner Busverbindung geschehen sei. Verspätung sagte sie lakonisch - mindestens zwei Stunden. Offenbar erkannte sie in meinem Gesichtsausdruck die ausbleibende Freundlichkeit und fügte hinzu: So ist das in Mexiko. Sie gönnte sich eine erneute Pause und schlug mir die Umbuchung auf eine bessere Verbindung vor, die planmäßig in fünf Minuten abfahren würde. Den Aufpreis bezahlte ich ohne einen Streit anzuzetteln, obwohl die Verspätung unmöglich meine Schuld war, aber ich war nicht in Stimmung und selbst wenn, gab es da das Hindernis der spanischen Sprache - ich wollte weg. Nach der Bezahlung und der Ausstellung des Tickets sagte sie mir ohne Veränderung der Stimmlage, dass mein Bus eine Verspätung hätte … 40 Minuten … nach weiteren eineinhalb Stunden Warten verließ ich Salina Cruz in Richtung La Crucecita in der Nähe der Buchten von Huatulco.

Ich bewundere sie. In ihren schlechtesten Augenblicken, will heißen, in denen sie ihren fast animalischen Gelüsten nachgeht und Süchten keinen Widerstand leistet, ähnelt sie mir wie eine Schwester, die ich nie hatte; In ihren Besten hingegen, ist sie mein komplettes Gegenteil: Sie ist neugierig, interessiert und lebensfroh. Sie macht zumindest diesen Eindruck auf mich, immerhin kenne ich sie - wie gesagt - erst seit Kurzem. Ich fühle mich gezwungen zu dieser Wiederholung, denn ansonsten müsste ich glauben, dass wir seit Jahren zusammen wären. Leider sind die Momente, die ich als ihre schlechtesten bezeichne, meine besten, da sie mich mir selbst entheben und unter dem Einfluss berauschender Substanzen mir die Möglichkeit geben, in eine beliebige Rolle zu schlüpfen, die mir gerade gefällt. Natürlich werde ich nicht vom Jekyll zum Hyde oder umgedreht, aber ich werde merklich geselliger und aufgeschlossener, eine Person, von der ich mir vorstelle, dass man gerne Zeit mit ihr verbringt. Ich mag mich am meisten, wenn ich nicht ich bin. Streng genommen kennt sie mich nicht, aber kenne ich sie denn überhaupt?

Anscheinend versteht sie, wann ich fremder Hilfe bedarf, weil ich lieber in mir versacken würde als einen Schritt auf die Gebirgsketten der mexikanischen Fußgängerwege zu setzen. Bevor ich mich versehe, hecheln wir wer weiß wohin. Ich stupse sie an und weise auf das babyblaue Eckgebäude hin und setze ihr auseinander, dass da drin die Santísima-Brauerei sei, aber sie versteht meinen eindeutigen Hinweis und meint, wir können später trinken, jetzt ist Tag und der muss genutzt werden in Lateinamerika. Wohin zerrt sie mich? Die einspurigen Straßen fallen zum Zentrum hin ab. Kunst ist überall. Lebensgroße Figuren, Indigene, Bauerndarstellungen und historische Figuren wie Zapata kleben im Hochdruckverfahren an Fassaden und warten ruhig in Kriegsbemalung mit Heugabeln und Flinte auf den Bus, in den sie nie einsteigen werden. Ihre Gesichtsausdrücke bestehen aus heroischen Substantiven wie Stolz und Mut, so werden sie gesehen und in Erinnerungen konserviert, nicht wie sie tatsächlich waren (wer soll das auch wissen?), aber wie die Leute sie gerne sehen wollen. Wie sieht sie mich, bin ich mehr als eine oberflächliche Reisebekanntschaft, mit der sie in der Nacht kifft und fickt und tagsüber Ausflüge plant?

Wir steigen in ein Geschäft über eine vierstufige Metalltreppe, die aufgestellt wurde, um überhaupt die Auslagen zu erreichen. Ohne diese Steighilfe würden die Kunden nicht das Risiko eingehen, sich den Fuß zu brechen beim Versuch die hohe Kante zu überwinden. Der Raum ist erfüllt von einem Duft, den ich mich ungewollt entwöhnte: Frisches Brot! Aus einer spontanen Reaktion der Freude heraus, küsse ich sie und zeige wie ein kleines Kind mit dem Zeigefinger auf das Sauerteigbrot mit Walnüssen. Dazu kaufen wir ein Stück Möhrenkuchen mit saurer Sahnehaube, ganz und gar nicht mexikanisch, aber darauf hat es diese Bäckerei auch nicht abgesehen, sie weiß um die Schwäche der geschmacklosen Weißbrote (keine Rede von Schwarzbrot etc.) und den landestypischen Zuckerklumpen in unterschiedlichen Variationen, die sie als Sortiment bezeichnen. Im Prinzip ist das Concha die Ausgangsform aller gebackenen Übel in Mexiko!

Auf einer schattigen Bank, von der aus wir den prächtigen Pavillon und die Kathedrale von Oaxaca gleichzeitig beschauen, essen wir mit einer unstillbaren Herzensfreude. Eine Kraft formt im Inneren des Bauchs eine Faust, ein Anzeichen, dass dieser nicht mehr verträgt und, ignoriere ich ihn beflissen weiter, zum Schlag ausholt - aber die Gier ist stärker. Ein junger Mann, vielleicht in meinem Alter fegt den Vorplatz mit einem Stiel, an dem er nachlässig ein Bündel Gestrüpp als Besenersatz zusammenband. Meter für Meter rückt er vor. Ungefragt machen die Sitzenden Platz für den Kehrer, doch als ein Windzug von den zackigen Bergkuppen herkommt, verweht sein Arbeitsnachweis. Er hält zögernd inne, schluckt und beginnt von neuem. Haben wir noch ein Stück? frage ich sie schelmenhaft, obwohl ich genau weiß, dass noch der halbe Brotlaib in der braunen Tüte steckt. Sie lächelt, weil sie weiß, dass sie meinen Nerv richtig getroffen hat, aber das war nicht schwer. Jeder Europäer, der aus einem Land kommt, welches es mit Brot genauer nimmt … Deutschland, Frankreich, vielleicht noch Spanien … hätte so empfunden wie ich. Ich bin sogar bereits ein paar Mal an diesem Bäckergeschäft vorbeigelaufen, sah die Schlange an Bleichgesichtern und entschloss mich dazu, sie nicht künstlich zu verlängern, weil es mir so typisch vorkam. So billig wollte ich mich nicht als Touristen abstempeln lassen.

Eine fliegende Verkäuferin bietet uns eine Schar geschnitzter Kolibris in Neonfarben und mit reicher Verzierung an. Sie zeigt mit dem Finger auf einen und meint, dass der herrlich bemalt sei, so detailreich. Jetzt bekommen wir die Alte nicht mehr von der Hacke, denke ich und spreche den Gedanken in derselben Sekunde aus, immerhin wird sie kein Deutsch verstehen. Jedes Nein, egal wie inbrünstig, heißt für sie: Nein, diesen nicht, weswegen ich mit Nachdruck und weil das Brot ohnehin verputzt ist, meine Begleitung etwas roh von der Bank reiße. Die fliehende Verkäuferin bleibt zurück. Ich weiß noch immer nicht, wie es korrekt heißt. Die Zurückgebliebene gibt sich aber trotz meiner Aktion, die leichthin auch überempfindlich genannt werden könnte, nicht überrascht.

„Schade, dabei dachte ich gerade, dass du besser drauf bist.“

„Bin ich auch.“

„Dann machen wir jetzt einen Ausflug?“

„Wenn du unbedingt magst. Ich kenne eine Pulqueria ganz in der Nähe des Zócalo.“

„Nein, später! Jetzt wandern wir nach Monte Alban!“

Neue Stadt, neues Glück oder so ähnlich … Salina Cruz war die letzte Destination in einer Reihe von Orten, an die ich nie wieder zurückkehren mochte – Ciudad de Carmen, Villahermosa, Tuxtla Gutiérrez. Hätte ich ihnen mehr Zeit gespendet, hätte ich mich wohl an sie gewöhnt, wie jeder Mensch die äußeren Umstände irgendwann, sind sie unabwendbar, als gegeben hinnimmt, aber ich spürte, wie mir dieser Wille abging. Für mich gesprochen, war ich nicht auf reisen, um hässliche Destinationen irgendwann lieb zu gewinnen, ich war auf reisen, um … um … zu reisen? Nein … um … ich denke, ich wusste schon, warum ich wirklich reiste, konnte es mir aber noch nicht eingestehen, dafür war das Neue noch zu neu, deswegen verließ ich einen Ort auch, sobald dieser mir missfiel. Hätte ich nichts, woran ich mich klammern könnte, bliebe letztlich nur ICH übrig und nie war dieses NUR so relevant wie in Bezug auf meine Person. Ich lehnte touristisch Bekanntes, wie das hässlich Unbekannte ab. Meine Suche entpuppte sich als eine, die den goldenen Mittelweg als Ziel offenbarte.

Und La Crucecita? Meine Vermieterin gab mir ein geräumiges Zimmer mit einem großen halbkreisförmigen Fenster, fast wie in einer Kirche. Den Innenhof dekorierten Graffitis. Das größte von ihnen stellte drei übereinandergestapelte Köpfe dar, von denen ein Jaguar und der Teufel (letzterer jedoch nur im Ansatz) auf Höhe meines Zimmers ausharrten, gerade genug, um mich auszuspionieren, das unterste Abbild – ein Mensch – grinste derweil abgefeimt unter seiner Last und verabschiedete mich, als ich durchs Gartentor verschwand.

Der Park, der mir von ihr empfohlen wurde, war ein verlottertes Stückchen Land. Was will ich von einer Person auch erwarten, die ihr Kaninchen, das überall im Treppenhaus seine TicTac kleinen Kötelchen verteilt, El Conejito, also Kaninchen nennt? Mit gesteigerter Anspannung erwartete ich das Zentrum von La Crucecita und fand eine Straße, die meine Vermieterin wohl die Werkstattstraße taufen würde. Mexikaner lagen unter schrottreifen Autos und versuchten sie in Frankensteinmanier wieder in Gang zu bringen. Bei manchen fehlten die Verkleidung, Motorhaube oder Heckklappe … ganz einerlei, Hauptsache war, dass das Ding gangbar gemacht wurde. Eine Querstraße weiter gab es Restaurants, Bars, Eisstände und Läden, die vor Doughnut-Schwimmreifen und Luftmatratzen in Pizzastückform schier platzten – mir schwante: Hier bin ich goldrichtig.

Über eine recht neu wirkende Verbindungspromenade lief ich zum Hauptanlegeplatz Santa Cruz. Drehte ich mich um, sah ich die Berge des Bundesstaates Oaxaca, eine lebhaft zuckende Linie über der nächsten. Vor mir sah ich das Meer, den Pazifik, von dem ich ja noch immer nicht mehr kosten durfte, als dass ich meine Fußspitzen in ihn tauchte. Bevor ich losging, setzte ich mir ein festgelegtes Ziel. Die Gegend besitzt eine Anzahl von acht Buchten, da ist Planung wichtig, um auf Anhieb die Richtige zu finden, doch auf meinem Weg durch das Naturschutzgebiet, beschlich mich zunächst nur eine Vermutung, die wenig später Bestätigung fand, nämlich, dass das Gros der Strände ausschließlich über die Meereszufahrten erreichbar war. Desillusioniert gab ich erst auf, als ich einen Trampelpfad ins Dickicht folgte, bis ich auf einen Felsvorsprung gelangte, der malerisch anzusehen, aber ungeeignet zum Baden schien, weil er hoch über der Brandung endete. Wahrscheinlich nutzten ihn Fischer, so lautete meine schlüssige Begründung. Eine Yacht mit lauter und betont basslastiger Elektromusik zog vorbei. Entweder lachten die Snobs oder die Möwen über meine Einfalt.

Als ich mich zum typischsten Strand aufmachte, in der Hoffnung auf nicht allzu viele Menschen zu treffen, sah ich von einem Mirador aus, dass ein Kreuzfahrtschiff mittlerweile in Santa Cruz Anker setzte. Das Foto, das sich mir bot, war so abstrus, dass ich unweigerlich den Vergleich zog, als schwimme ein Schiff in einer Suppenterrine. Nicht originell eventuell, allerdings sah die Bucht von dieser Position wirklich wie in sich geschlossen aus, wie ein See oder eben die Öffnung einer Tasse und das überdimensionale Schiff füllte sie aus und schwamm in ihr. Wohin die Gäste ausschwärmen würden, war klar wie Kloßbrühe, deswegen versuchte ich erneut einen Trampelpfad aus und diesmal mit Erfolg!

Ich gelangte an einen Abschnitt, der, bis auf eine Modelobier-Verkäuferin, die mich direkt ansprach, völlig leergefegt war. Sie ignorierend zog ich mich aus, vielleicht beklemmte sie das ungewisse Gefühl, was als Nächstes kommen würde, wenn ich bei der Unterhose angelangt sei, weswegen sie sich dezent zurückzog. Endlich geschafft! Ich sprang den Wellen entgegen und tauchte in die türkise Meereswelt ab, sah das Riff und kleine gestreifte Fische. Bei einer Pause bemerkte ich Kugelfische, die an Land gespült wurden und einen Nasenbären, der die Stacheln inspizierte, aber anstatt von diesem tierischen Foto einen Schnappschuss für Instagram zu schießen, entschloss ich mich die Handylinse geradewegs auf die Bucht zu richten. Da würde ich drunter schreiben: Eine Bucht ganz für mich allein. Bemannt von einer Euphorie, ging ich zurück ins Wasser. Unglaublich, wie schnell mein Körper erhitzte und wie kalt das Wasser dadurch wirkte. Ich suchte nach den Fischen, fand aber keine. Die Oberfläche wirkte merklich dreckiger und auf einmal kratzte mein Arm. Was war das? Qualen lautete die einhellige Antwort, denn das als unsauber geglaubte Wasser, war plötzlich voll von ihnen. Obwohl ich schnell ins Wasser kam, steigerte ich die Geschwindigkeit beim Entsteigen. Die Verkäuferin warf mir ein wissendes Lachen zu und winkte mit einer Bierdose, aber ich blickte entschlossen, als sei nichts geschehen, aufs Meer hinaus. Das Foto poste ich trotzdem, dachte ich und verließ die (fast) geheime Bucht.