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Seit der Grundschule kennen die drei Freunde Green, Pink und White einander und leben nach den jugendlichen Jahren der Trennung und des Aufbruchs, die von zahlreichen Bruchlandungen gezeichnet sind, nun in unmittelbarer Umgebung in Leipzig Gohlis - desillusioniert, aber nicht hoffnungslos auf der Schwelle zu einem neuen Flug, aber in welche Richtung? Die kennen sie nämlich genauso wenig, wie sie einander kennen, geschweige denn sich selbst, weswegen der einzige feste Bezugspunkt, ihre Leidenschaft für Filme, am liebsten die von Tarantino, eine Flucht darstellt, die ihnen gemeinsam mit Alkohol die Realität ersetzt.
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Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2022
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GESCHEITERTE
EXISTENZEN
Ein Roman
von Askson Vargard
Das Grauen und der moralische Terror ... zugegeben es wirkt einfallslos mit einem Zitat aus Apocalypse Now ein Gespräch zu beginnen, aber man kann nicht immer originell sein. Streng genommen ist es fehlerhaft überhaupt von einem Gespräch zu reden, da dies Interagieren zwischen mir und mir ein Monolog ist. Wortklauberei! Einen Monolog halte ich einstimmig, aber jetzt, während ich auf der durchgesessenen Couch (der Zusatz 'durchgesessen' ist wichtig, da ich mir selbst dadurch vergegenwärtige, wie abgenutzt ich mir vorkomme, als sei ich das Sofa) sitze, wie viele Stimmen bin ich da? In jedem Fall herrscht eine Mehrstimmigkeit wie in einem Dialog, aber wer weiß! Was ich weiß, ist, dass heute Mittwoch ist und diese Feststellung gleicht einer banalen Erkenntnis, sodass ich mir unsicher bin, ob sie überhaupt der Erwähnung wert ist, weshalb ich unnötigerweise auf die übliche fortführende Datumsangabe verzichten möchte. Mittwoch ist Mittwoch und damit basta, aber ich will nicht, dass Mittwoch ist!
Ich spüre Widerstand, Widerstand davor mein Sitzfleisch von der Polsterung zu lösen und zu wissen, was passieren wird: Ich nehme den letzten Schluck aus meinem Kaffeebecher und weil ich gierig bin und keinen Schluck verschwenden möchte, bekomme ich bald einen ordentlichen Schluck Kaffeesatz zu kauen. Diese türkische Trinkvariante bevorzuge ich ausschließlich an Wochentagen zu Spätschichten. Zuvor hatte ich den Kaffee durch die Mühle gemahlen, das heißt circa ein Drittel von dem, was ich mahlen würde, wenn Samstag oder Sonntag wäre, dafür habe ich logischerweise auch bloß ein Drittel der Arbeit, was genug ist, denn die Bohnen von Hoppenworth & Ploch unterlagen einem kurzen Röstverfahren, weshalb sie meine mickrigen Kräfte und das Keramikmahlwerk der Mühle stets auf eine empfindliche Probe stellen. Warum ich hierbei ins Detail gehe? Ich bin der Meinung, Genuss verdient keine Kürzung, er muss ungefiltert fortbestehen. Vor allem, wenn das Geschmacksprofil Weingummi heißt. Ja, Weingummi - reichlich außergewöhnlich für einen Kaffee, aber es stimmt. Jeder, der die englischen Weingummimischungen aus den Snackautomaten der Bahnhöfe kennt, wird dies bestätigen können, aber sollte ein Gourmetkaffee nach einem Automatensnack schmecken? Ich bin mir unsicher, doch ich kann die Gedanken nicht hindern, in mich einzudringen vor diesem letzten Schluck. Jedenfalls stelle ich wahrscheinlich gleich den Becher, an dessen Boden beim Gang in die Küche die feinkörnige Moormasse zähflüssig in Wallung gerät, in die Spüle, ich werde auf die Uhrzeit starren und mich fragen, ob ich noch Zeit habe weiter Zeit zu verschwenden. Verneinend streife ich die Jacke über, schlüpfe in die ausgetretenen Schuhe und hoffe, dass es nicht regnet. Das nämlich würden sie nicht überleben. Überleben schon, ich könnte sie trotzdem tragen, aber meine Füße wären durch die Risse zwischen Sohle und Leder nass. Die gesamten Stunden bis ich in meine Dachgeschoss Wohnung zurückkehre, müsste ich mit dem modrigen Gestank klarkommen und erstaunlicherweise braucht es dafür nicht einmal Regen, eine flache Pfütze, in die ich unbeabsichtigt mein Spiegelbild zertrete, wäre ausreichend. Das Schuhpaar ist eben ausgetreten, besser als das zweite mir zur Verfügung stehende, denn bei dem habe ich durch exzessives Tragen, den Absatz soweit abgeschliffen, dass er bloß in der Vorstellung existiert. Man merkt, dass da etwas fehlt. Das Hauptproblem ist die glatte Sohle, die in Verbindung mit glattem Untergrund, wie beispielsweise den Steinplatten vor dem Mehrfamilienhaus, in dem ich wohne, eine Rutschpartie garantiert. Deswegen habe ich mir einen übervorsichtigen Gang zugelegt, der für Außenstehende aussieht, als müsse ich Schmerzen leiden, aber in Wirklichkeit halte ich lediglich die Balance bevor ich aus dem Gleichgewicht gerate. Mein sechster Sinn spürt die grimmigen Gesichter meiner Nebenleute an der Haltestelle. Wahrscheinlich stellen wir uns dieselbe Frage, aber bevor wir einer Beantwortung fähig sind, finden wir uns bereits von diesem mechanischen Lindwurm auf Gleisen davon getragen und laufen fremdbestimmt zu einem festen Ziel - meiner Arbeitsstätte oder das Grauen ... es mag haltlos erscheinen, den Vietnamkrieg, in dem das Individuum, wie im Film von Francis Coppola gezeigt, psychisch, wenn nicht zuvor physisch, zugrunde geht, mit meiner stupiden Sachbearbeiterposition auf eine Stufe zu stellen, aber genau das tue ich. Ich habe es mir so ausgesucht? Das hat die Mehrzahl an Soldaten auch, für sie war es eine Notwendigkeit den Feind zu besiegen, wie für mich Geld zu verdienen. Der monetäre Ertrag spielt in unserem Lebenstheater die Rolle, die wir ihm zuweisen, obschon ich ihn als Statisten einteile, ist er trotzdem nie komplett verzichtbar.
Ich bin seit annähernd zwei Jahrzehnten im Finanzgeschäft und dachte, das große Los gezogen zu haben, als ich die Sachbearbeiterposition bei der Fondsgesellschaft annahm. Nervende Kundengespräche - Fehlanzeige. Ich bekomme einen Stapel von Papierbögen zugeteilt, die ich beflissen abarbeite und bevor ich mich versehe bin ich wieder raus. Natürlich sind die Papierstapel meiner Einbildung digitalen Varianten gewichen, aber im Großen und Ganzen kam es wie erwartet und das war das Problem. Ich wollte mir die Energie bewahren, die die vorherigen Arbeitgeber mir während meiner Dienstzeiten entzogen, sodass ich mich zuhause angekommen auf die wichtigste Tätigkeit konzentrieren konnte: Der Regeneration meiner Kräfte. Merkwürdigerweise konnte ich den Akku zwar aufladen, aber er war nie voll, sondern gerade ausreichend, um den kommenden Arbeitstag zu begehen. Ließ mir der Job in regelmäßigen Abständen eine längere Leine, Wochenende genannt, drehte ich durch und betrank mich schrecklich, wobei dieses schrecklich erst zu dem Zeitpunkt einsetzte, als ich aufhörte zu trinken, was mich jedoch - und das möchte ich betonen - nicht zu einem traurigen Zecher macht, denn ich trinke mit Vorliebe in Gesellschaft meiner zwei Kumpanen aus der Schulzeit, was mich zu einem fröhlichen Zecher erhebt. Letztendlich waren diese Ausflüchte gerade genug, um die Sinnlosigkeit meiner Existenz zeitweilig zu vergessen. Es ist aussichtlos, egal, wie ich es zu erklären versuche: Zecher bleibt Zecher - Mittwoch bleibt Mittwoch - Arbeit bleibt Arbeit - Krieg bleibt Krieg - Grauen bleibt Grauen.
Allmählich müsste mein letzter Kaffeeschluck, vor dem ich gluckenhaft hocke, kalt geworden sein. Ein enormer Vorteil an gutem Kaffee ist, dass er selbst kalt eine Gaumenfreude darstellt. Ich bin unschlüssig. An diesen Punkt des Zweifelns kommt jeder Hauptprotagonist in einem Film, er bezeigt die Wende, zum positiven oder negativen hin. Leider bin ich keiner dieser hochdotierten Hollywoodstars, die zynisch behaupten können, dass das Fernsehen uns in dem Glauben großgezogen hat, dass wir eines Tages Millionäre, Rockmusiker oder Filmstars werden, was wir natürlich nicht werden. Solch einen Drehbuchsatz aus dem Mund von Brad Pitt wirkt zynisch, aber so war seine Rolle und der Beifügung: ... und das wird uns langsam aber sicher klar und wir stehen ganz kurz davor durchzudrehen ... verliert dadurch nichts an Wahrheit ... Wir sind die Zweitgeborenen ... Männer ohne Sinn und ohne Ziel ... Wie würde eine Revolution aussehen, wenn ich sie planen müsste? Nein, das ist zu übertrieben und genau das, was Brad Pitt als Tyler Durden sagen wollte, wir können nicht alle an der Spitze von irgendetwas stehen. Abgesehen davon, dass sich Spitzen in unerhörter Anzahl wahnsinnig ungesund anhören, habe ich verstanden und werde meine Lehren daraus ziehen: Ich prokrastiniere! Im Internet habe ich dazu zahlreiche Videos gefunden, eine Gruppe von Franzosen erheben das schlichte Verschieben von Aufgaben zu einer Philosophie, ja zu einer Religion, für sie kommt es einer Befreiung gleich und ich denke, dass es auch mir helfen kann aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Von oben betrachtet wird eine Schraube lediglich gedreht, aber seitlich besehen gräbt sie sich durch ihre Spiralform weiter in das Holz ein, bis sie am Kopf angekommen ist und ihren Zweck erfüllt, sie hält etwas zusammen. Ich kann womöglich nicht ändern, dass ich eine Schraube bin, aber mein Blick auf mich ist steuerbar, ich muss wissen, was ich zusammenhalte, brauche einen eigenbestimmten Zweck, deshalb verschiebe ich meinen Arbeitsbeginn.
Der Begriff Freiheit ist so volatil, wie gern genutzt. Wer möchte gerne eingesperrt sein? Die Filmindustrie weiß mannigfach Nutzen aus diesem Wunsch zu ziehen und gibt uns Paradebeispiele, um das diffuse Bild klarer zu erkennen, aber mittlerweile wirkt dieses Thema hoffnungslos abgenutzt. Nach wie vor denke ich bei Freiheit an eine verregnete schottische Landschaft und William Wallace alias Mel Gibson, geschunden auf der Schlachtbank, jegliche Muskelpartie ist angespannt, das entschlossene Gesicht fixiert den Himmel über sich und wirft ein lang gezogenes Freeeeiiiiheeeeiiittt voraus mit einer Stimme, die einer tödlichen Waffe gleicht, sie ist ein Weckruf. Schottland strebt Autonomie gegen die englischen Unterdrücker an, die Frau von William Wallace wurde vergewaltigt und gemeuchelt, also keine Freiheit kein Leben - Lieber Tod als zurückweichen, wenn ich das Credo so richtig verstehe. Meinen ausgetrunkenen Becher halte ich vor meine Brust und stelle ihn, ohne weitere Aufschübe, in die Spüle. Ich vergegenwärtige mir die Problematik meiner Schlacht, ich bin William Wallace und schreie der Wohnungstür Freeeeiiiiheeeeiiittt entgegen! Ein Poltern in einer anderen Wohnung verunsichert mich, ob dies eine Reaktion auf meine rücksichtlose Artikulation sei oder ob jemand einfach etwas fallen lassen hat. Die Tür leistet mir keinen Widerstand, zumindest keinen sichtbaren. Ich spüre den Drang, die Jacke überzustreifen, meine gepackte Tasche unter den Arm zu klemmen und durch den Türrahmen, der mich mir selbst entführt, hindurch zu schreiten. Dieser Drang ist ein unbestimmtes Gefühl, dessen Ursprung ich in meiner Magengrube ausfindig mache. Als hätte ich mir gestern Abend eine Portion zuviel von dem Kassler mit Gnocchi in Käse-Senf-Sahne-Soße einverleibt (was ich habe), ist ein Druck vorhanden, der merklich steigt. Ein Toilettengang scheint ratsam und irgendwie bin ich dankbar, dass mir die Entscheidung biologisch abgenommen wird, aber leider passiert das erwartete. Ich höre es tropfen, als hätte ich ein Leck an meinem Allerwertesten, aber jegliches Pressen ist zwecklos. Die Tropfen zerschellen auf der weißen Keramik, ich höre sie in Einzelteile zerspringen und wie sie darauf die Wasserbefüllte Oberfläche des Toilettenknies erreichen. Anscheinend befinde ich mich in der nächsten ausweglosen Situation, ebenso nicht zum ersten Mal, weswegen ich weiß, dass ein Blick auf die Uhr lediglich für Verschlimmerung sorgen würde, ich würde denken, dass ich zu spät dran bin für die Arbeit und würde hemmungslos pressen, soviel wie es meine Kopfschmerzen erlauben. Welch ein Dilemma. Aus meinem Arsch kriecht eine verängstigte Nacktschnecke. Je mehr ich sie antreibe, desto lahmarschiger kommt sie vorwärts. Los noch einmal pressen, alles oder nichts, entweder platzt mir der Schädel und ich gebe einen lächerlichen Toten ab oder ich kann endlich dieses Geschäft zum Abschluss bringen! Aufs Ganze gehend spann ich meine Muskeln an, ich kämpfe und weiß, dass ich den restlichen Tag einen latenten Muskelkater in der Bauchregion haben werde und da bricht ein Donner aus, ein zweiter und ein dritter! Unwetterwarnung unter mir, Knall folgt auf Knall, vorwiegend trockene Luft, dann ein Laut, der die vorangegangenen mühelos übertönt, der Musketenschuss Gottes würde ich schätzen. Befreiung füllt den freigewordenen Raum in meinem After, ich atme beglückt auf, als hätte ich ein Kind geboren, vielleicht fehlt der Schweißausbruch. Natürlich kann ich unmöglich aus Erfahrung berichten, aber ich bin mir dennoch sicher, dass es genauso, wenn nicht weniger qualvoll ist. Ich zupfe hastig ein Stück von der Toilettenpapierrolle und ... die nächste Betrübnis. Mit Aufsetzen zum Abwischen reißt das Papier, es ist durchgeweicht, das Papier lasse ich fallen, aber an meinem Mittelfinger klebt Blut. Doppelt und dreifach nehme ich das Toilettenpapier, was folgt, ist bekannt, ich berge einen ekligen tiefroten Klumpen, der zum Rand hin ausläuft und an einen zu ambitionierten Griff mit dem Messer ins Marmeladenglas erinnert. Extrem stückige Marmelade, also keine feine Konfitüre, in der selbst Erdbeerkerne nicht mehr als solche wahrnehmbar sind, sondern Marmelade mit einem gehörigen Fruchtanteil, farblich vergleichbar mit einer Waldbeerenmischung. Als ich die Hose hochziehe und den Gürtel ins letzte Loch einfädle, scheue ich mich, mich umzudrehen. Der Toilettenrand ist mit roten Sprenkeln übersät, als sei eine Bombe explodiert, das Papier schwimmt unterdes von Flüssigkeiten vollgesogen in dieser Blutlache. Das Wasser rauscht von den Keramikwänden herab, als ich die Spülung bestätige und färbt das Wasser erst rosa bis es wieder neutral durchsichtig ist - Goodbye. Das war eine Geburt, eine Totgeburt möchte ich meinen und um weiter im Kontext zu bleiben, so war dies die Totgeburt meiner Freiheit, die ich die Abwasserrohre gen Klärwerk Rosental schickte. Wie unrealistisch kacken ist, denke ich, während ich mit der Bürste den hartnäckigen Rand sauber schrubbe. Wer würde nicht leugnen, was dort im stillen Örtchen geschieht? Vor sich selber, vor jeden. Obwohl jeder muss, obliegt diese Natürlichkeit sozusagen einer strengen Schweigepflicht als müsse niemand. Ich nehme mich davon nicht aus, denn der einzige, der davon weiß, bin ich.
Wieder stehe ich vor der Wohnungstür, dieses materiell gewordene Portal meiner Entscheidung. Es ist verrückt, mit welchem Einfluss sie auf mich wirkt, als ginge von ihr eine ungeahnte Strahlung oder Schwingung aus, die meinen Bauchdruck mehrt. Jacke, Tasche, jetzt! Nein, ich will nicht, was hat mir diese minimale Verschiebung des Arbeitsbeginns schon gebracht? Ich stelle die Tasche zur Seite, die Jacke behalte ich an und gehe zurück in die Küche. In der Spüle steht mein Becher, wenn ich ihn jetzt nicht abspüle, wird er wie ein Hündchen bis heute Abend auf mich hier warten. An seinem Rand kleben meine Speichelfäden gemischt mit den Kaffeeresten, die Spur des letzten Schluckes ist deutlich. Unwichtige Details aus denen ich Erinnerungen forme. Je nachdem, wie ich mit der Tasse verfahre, erinnert sie mich heute Abend, an den vergangenen Morgen, also an jetzt. Sie ist ein Anker der Vergangenheit, der mich unweigerlich mit ihr verbindet und ob ich will oder nicht, sie ist bereits dieser Anker, denn was ist passiert, seit ich sie zur Vorbereitung für den Abwasch direkt unter den Wasserhahn abgestellt habe? Eine Menge und zugleich nichts. Reine Betrachtungssache, aber gemessen an den Qualen, die ich durchstehen musste, kann ich nicht von Nichts sprechen, soviel ist klar. Potenziert auf die kommenden Stunden liegt vor mir ein Ozean ohne zu wissen, dass es ein Ozean ist, weil meine Sichtweite endlich ist. Dieser ausgetrunkene Kaffeebecher wird mir bei meiner Rückkehr in Erinnerung rufen, was ich für ein klägliches Subjekt war, welche Überwindung es mich kostete, mich endlich zur Arbeit aufzuraffen, welche Hölle ich bei meinem Toilettengang durchkreuzte, wie billig ich eine Metapher aus Soul für meine ausgab und egal, was mir in der Zeit noch widerfahren wird, die Tasse ist mein Anker. Wenn ich sie abwasche, wird sie zu dem Ding, wozu sie hergestellt wurde. Sie wird bereit sein, einen Rotbusch-Tee, einen weiteren Kaffee oder, wie mein Kumpel Pink hinzufügen würde, eine goldene Milch zu umschließen, wie sie es etliche Male zuvor tat, aber die Rückstände des körnigen Kaffeesatzes, die offensichtlichen Spuren von mir setzen mich in eine persönliche Beziehung. Sie helfen mir einen Vergleich anzustellen zwischen dem Jetzt-Ich und dem Zukunfts-Ich, beziehungsweise als Zukunfts-Ich mit dem Vergangenheits-Ich. Im Grunde ist das in einem übergeordneten Sinn transzendentale Meditation. Wenn ich meine Selbstgespräche laut führen würde, könnte ich meinen, dass ich mich wie Pink selbst anhöre. Sicherlich befinde ich mich aber auf dem Holzweg und ich interpretiere meine Faulheit schlichtweg um.
PINK. Tief ist die Verderbnis in unserer Zeit. Darum will ich lieber alle Menschen meiden. Was denn, gegen meinen Widerpart entscheiden? Gesetz und Recht und Charme und Ehrbarkeit. Es sind die Menschen, die die wahren Wölfe sind. Darum sage ich mich auf ewig los von euch ... Ich muss aufhören, daran zu denken, was mich in einer Meinung bestärkt, die ich ablegen wollte. Wo du auch hingehst, siehst du Menschen. Einmal reiste ich durch Marokko ums Atlasgebirge und selbst im Landstrich, der entlegener kaum hätte sein können, der Wüste, steigst du aus, atmest befriedigt die Sandkörnchen ein, kneifst die Augen vor der glühenden Mittagssonne zu und siehst durch den schmalen Schlitz einen Esel und auf dem Esel sitzt schwach umrissen etwas, dass in einem Zipfel mündet. Wer geduldig wartet, erkennt bald schärfer die vermuteten Konturen, es ist ein Mensch, ja Menschen sind allgegenwärtig, ich habe einige Exemplare kennenlernen dürfen in meinem Leben. Manche waren mir wohl und manche waren mir feindlich gesinnt, aber dem Gros war ich scheißegal und das ist in Ordnung, beruht diese grobe Kategorisierung auf Gegenseitigkeit. Ob ich überhaupt damit umgehen könnte, wenn mich jeder liebt und mir durch die Huldigung keinen Grund zum hassen geben würde, ja wenn ich einfach verlernen könnte zu hassen, weil ich dieses starke Gefühl nicht erfahre? Wenn es regnet, weiß ich mit Bestimmtheit, dass es irgendwann aufhören wird, so wie ein Winter vergeht, aber in dem Moment, in dem es regnet oder die Winterkälte meine Zahnreihen wie ein Musikinstrument aufeinander klappern lässt, da gibt's ausnahmslos Regen und Kälte. Wissen ändert kein Gefühl. Früher als Berufstätiger sagten mir oft meine Kollegen, wie sehr sie andere Menschen hassen. Zugegeben eine schlechte Voraussetzung zur intakten und vertrauensvollen Zusammenarbeit, aber sie glaubten mit ihren misanthropischen Tendenzen an die richtige Adresse zu geraten. Kurz nach ihrer Offenbarung klopften sie mir verschwörerisch auf die Schulter, ganz so als sei es überflüssig, dass ich bestätige, einer von ihnen zu sein. In meinem Freundeskreis und ja, sogar in meiner Familie hörte ich Ausdrücke dieser Kragenweite oft, zu oft, auf jeden Fall oft genug, um an die Normalität des Hasses - Mensch gegen Mensch - zu glauben. Diese Annahme beschwor meinen Widerwillen und aus Trotz lehnte ich mich dagegen auf und beschloss nie mehr einen Menschen zu hassen, na das ist doch was, oder? Allzu leicht, wie es klingen mag, ist es aber leider nicht, wie eben beim Wetter, wenn es regnet. Und dann Filme, die mir abstrahiert aufzeigen, was ich schon weiß, wie verkommen das Subjekt ist, wie bei dem Zitat von Moliere auf dem Fahrrad ... es sind die Menschen die wahren Wölfe. Ich müsste den Film wieder schauen, das letzte Mal ist lange her. Serge schaut in die Runde von Schauspielern, Agenten und anderen Gesindel, denen es nie um ihn als Mensch ging, sondern als Schauspieler, sie wollten ihn als Theaterschauspieler für den Menschenfeind gewinnen. Eine Einigung mit Gauthier aber, der ihn ursprünglich von dem Vorhaben überzeugte, wer die Hauptrolle des Alceste übernimmt, blieb aus. Nach einem rabiaten Bruch mit der Branche saß er am Meer und schaut in die Ferne, alleine zwar, aber eben nicht als Schauspieler, sondern als Mensch. Ah, wie mir das Gänsehaut verursacht - Allem den Rücken kehren, jawohl!
FREUNDIN. Ah, du bist noch zuhause?
PINK. Nein! (Zu sich) Schnell, wo ist meine Kameraausrüstung? Ach da ist sie glücklicherweise ...
FREUNDIN. Du dämliches Rindvieh, es ist deine Pflicht! Immerhin ist es dein Sohn!
PINK verlässt die Wohnung. Ui, das war knapper als man meinen möge. Jetzt muss ich mir bloß die Zeit vertreiben bis zu dem Treffen mit White ... aber natürlich das Fahrrad!
FREUNDIN schreit durchs Treppenhaus hintendrein. Bleib gefälligst hier, wenn ich mit dir rede!
Ich muss etwas für mich tun! Hinten unterhalb der Fensterbank finde ich in einer der Wühlkisten noch Tip, Paper und American Spirit Tabak. Für gewöhnlich rauche ich in Gesellschaft, aber in den Wochen der Spätschicht, die in einem vierwöchentlichen Zyklus wiederkehren, genehmige ich mir gelegentlich eine Selbstgedrehte am Morgen. Mein Magen ist vom schwarzen Kaffee gereizt, da tut eine Zigarette obendrauf kaum weh. Wenn ich Spätschicht sage, meine ich übrigens eine Arbeitszeit bis maximal 18 Uhr. Nicht wenige Arbeitgeber, bei denen ich vorher angestellt war, würden 18 Uhr als normale Zeit ansehen, aber als Sachbearbeiter gilt sie als außergewöhnlich. Zu Beginn meiner Tätigkeit musste ich über jenes absurde Empfinden schmunzeln, wenn die Mitarbeiter der Reihe nach Klagen ausstießen, dass nächste Woche bereits wieder Spätschicht sei. Wissen die überhaupt, was arbeiten heißt? Wissen die, dass Spätschicht in anderen Berufsgruppen wirklich spät bedeutet? Nichts für ungut, aber wer zwischen 14 und 15 Uhr den Feierabend einläutet, für den fällt 18 Uhr wirklich außerhalb der Norm. Nach ein paar Jahren, gehörte ich selbst zu denen, die stöhnten, sobald es hieß ... verflucht! Da rede ich mit mir über diesen leidigen Job! Wozu prokrastiniere ich, wenn ich mich mit dem Thema beschäftige, das ich aufschiebe? Mein Ärger wächst ins Unermessliche in Anbetracht des krummen Buckelwals, den ich währenddessen fabriziere. Beim Festklopfen des Tabaks fällt der Filter raus und beide Papierenden sind zu stark gekräuselt, als dass sie ein unfallfreies, geschweige denn genussvolles Rauchen zuließen. Ich muss von Neuem beginnen.
Mit dem ersten Zug an der Zigarette bereue ich den Aufwand, den ich dafür betrieben hatte, denn sie schmeckt fürchterlich. Da ich lediglich Longpapers vorrätig habe, stehen mir zwei Zigarettenlängen zum Nachdenken bevor. Wobei, so locker wie ich den Tabak aus Nichtkönnen verteilt habe, dürfte sie sogar schneller aufgeraucht sein, dafür verursacht sie entschieden mehr Schwindelgefühl, was ich begrüße, denn ich stelle mir eine Art Selbstkasteiung oder Selbstzerstörung vor - Körper du hast es schlimmer verdient, wenn du weitermachst wie bisher! Weiterhin rede ich mir ein, dass der Rausch unverzichtbar ist für die nächsten Stunden. Oh, ich fange wieder an vom Büro zu sprechen, also Themenwechsel. Am liebsten würde ich über Vögel sprechen. Sobald ich rauchend auf dem Balkon stehe, was meistens geschieht, (Wozu soll er sonst dienen?) schaue ich zwangsläufig in den grünenden Schlund des Innenhofes und beobachte die verschiedenen Vogelarten. Krähen krächzen mystisch durch die Zweige und besiedeln mit Vorliebe die Dachgiebel der umliegenden Häuser, Kohl- und Blaumeisen, sowie Spatzen bringen die Sträucher zum Schwirren. Manchmal verirren einige Exemplare sich bis zu mir in den fünften Stock, wo ich eine Futterstelle auf einem Dachvorsprung für sie anbrachte. Hastig greifen sie nach den Walnusskernen, die sie geradeso mit ihren Schnäbeln wegbekommen. Für diese Heldentat, um ihnen vor dem Hungertod Schutz zu bieten, hätte ich einen Orden von der NABU verdient! Dieser moralische Schulterklopfer steht im ständigen Wechselspiel mir meine Unfähigkeit vorzuwerfen, denn über das gesamte Jahr verteilt habe ich einen Plan zum Basteln einer Futterstelle entwickelt. Das Konsultieren einschlägiger Foren, Anleitungsseiten, sowie Erklärvideos gehörten zeitweise zum Tagesablauf dazu wie das Zähneputzen. Meistens informierte ich mich, während ich auf dem Klo saß - im Übrigen für mich eine der Errungenschaft der Moderne, in der kein Freiraum ungenutzt bleibt. Jedenfalls wog ich ab, welche Art Futterstelle ich bauen möchte, im Besonderen lag die Schwierigkeit darin, ein Konstrukt herauszufinden, welches meinen handwerklichen Fähigkeiten entsprach und die sind offen gestanden limitiert. Als Beispiel musste ich für mein obiges Schraubengleichnis überlegen, ob es wirklich eine Schraube ist, die ich meine. Nirgends erhielt ich Informationen ohne Einschübe wie ... das ist kinderleicht ... das kann jeder ... oder ... und im Handumdrehen ist es fertig... Von Verdruss durchtränkt und in einem Alter, in dem es schwerer wird, mir Illusionen weis zu machen, kann ich behaupten, dass ich mich eine Kategorie unter den Kindern einordne, dass das, was jeder kann, nicht für mich Gültigkeit besitzt und rein gar nichts im Handumdrehen fertig wird, schon gar nicht, wenn ich eine genaue Vorstellung habe. Diese mit Missverständnissen geschwängerten Vorstellungen ... sie sind der Grund ein solches Vorhaben zu beginnen und abzubrechen, Feuerfunken und Wassertropfen in einem. In meiner brennenden Phase hatte ich eine Vogelfutterstelle gefunden, die vorwiegend aus Ästen bestand, die ich auf eine Größe zurechtstutzen musste und nebeneinander auf eine Spanplatte mit extra starkem Alleskleber befestigte, wobei ich vor hatte zwei Seiten offenzulassen, sodass die Vögel überhaupt an das Futter gelangen. Das Flachdach, denn ein Spitzdach traute ich mir nicht zu, bestand aus weiteren, aber längeren Ästen, die über die Grundfläche hinausragten und wie die vorherigen befestigt werden müssten. Im unteren Teil benötigte ich eine Art Schwelle, die die Sonnenblumenkerne davon abhält, über meinen Balkon verteilt zu werden. Wenn es komplett ist, hätte ich mir einen natürlichen Lack, der für die Vögel ungiftig ist, zusammengerührt und in zwei bis drei Schichten bestrichen. Das gesamte Konstrukt hätte ich mit einem Winkel versehen und so in den Spalt der Dachabdeckung verhakt. Ein kinderleichter Plan! Das würde sogar ich schaffen und im Handumdrehen sah ich mich in der Betrachtung, der noch freien Position, versunken, wie ich den Vögeln hinterher schaue und ihnen Gern geschehen! hinterherrufe. Schritt eins bestand im Sammeln der geeigneten Äste und jedes Mal, wenn ich mich dazu aufrappeln konnte, einen Spaziergang in den Auwald zu unternehmen, schien es mir wie verhext, denn ausgerechnet dann regnete es in Strömen, sodass ich froh war im fünften Stock zu wohnen, falls es 40 Tage und 40 Nächte weiter regnen würde. Davon abgesehen würde der Bau einer Arche Noah nicht mir zugeteilt werden, es sei denn Gott hält nicht besonders viel auf seine Kreationen und hat in Aufwallung einer masochistischen Ader gewaltige Lust auf dieses zum Scheitern verurteilte Experiment. Aber der Allmächtige wäre nicht der Allmächtige, wenn er nicht die Logik überwinden könnte, habe ich mir aus der dritten Staffel von The Sinner abgeleitet, die das Allmachtsparadoxon erwähnte. Freilich war Starkregen die Ausnahme, aber selbst Nieselregen ist schließlich auch Regen und ich war der festen Überzeugung, dass ich die Hölzer trocken zusammentragen müsse. Das hatte ich zwar nirgends gelesen oder gesehen, aber es war dennoch meine Überzeugung. In dieser lauernden Position verharrte ich, verharrte und verharrte weiter bis ich beim Durchstöbern des Woolworths den Zufallsfund einer Futterstelle auswendig machte und das für ganze 7,99 Euro exklusive eines monströsen Futtersacks. Im Keller fand ich einen Winkel, den ich stolz befestigte und mein Plan ging somit in Glanz und Gloria auf. Die Futterstelle hielt bombenfest, trotzdem misstraute ich mir und verzichtete auf das Anrühren des Lacks, immerhin kann ich mir für solch einen billigen Preis kurzum das Nächste kaufen, sobald dieses verschimmelt sein sollte. Das Futter aus Woolworth ließen die Vögel unberührt, alte Brotkrumen hingegen, aber vor allen Dingen Walnusskerne liebten sie - ich hatte es geschafft. Vielleicht drehe ich bald eine Doku unter dem Leitstern David Attenboroughs. Soll er von den exotischen Plätzen der Welt berichten, von dichten Dschungeln, lebensfeindlichen Wüsten, tiefen Ozeanen und dadurch bekunden, wie schützenswert die Natur ist, mein Film würde von der Natur handeln, die ich von meinem Balkon aus wahrnehme, zum Beispiel wie der Buntspecht in den Moosflechten der Bäume nach Nahrung sucht oder wie ein Elsterpärchen vor Monaten aufgeregt mit dem Nestbau begann. Auf die Namen Adelbert und Esther getauft, suchten sie nach geeigneten Stöcken, ihnen war das Wetter gleichgültig, was mich umso mehr beschämte und allmählich entstand ein wulstiges Geflecht mit zwei Eingängen. Adelbert entwickelte ein ausgeprägtes Revierverhalten und verscheuchte den Specht und überhaupt jeden Vogel, der es wagte in der Birke, wo das Nest seiner Angetrauten hing, zu landen. Mittlerweile ist es vom Grün der Blätter fast vollständig verdeckt, nur ich weiß davon und bin der Beobachter. Gerade fliegen beide wieder aus. Mich dünkt, dass Esther dicker und behäbiger wird, aber noch durchqueren beide Elstern den Innenhof auf Nahrungssuche. Wo die eine ist, ist die andere nicht weit. Ja, die Faszination Natur wartet direkt vor der Tür. Plötzlich heult der Motor eines Rasenmähers auf, ausgerechnet als ich den letzten widerlichen Zug von meiner Zigarette nehmen möchte. Wie kann ich den bei diesem Lärm bloß genießen? Verärgert zieh ich tief bis zum Filter, behalte den Qualm in mir, drück mit Ingrimm, was an Glut vorhanden ist aus und stoße die Qualmwolke wie ein schniefender Drache in die Atmosphäre des Innenhofs. Wer mich gesehen hätte, hätte sich gefürchtet.
PINK. Nichts wie weg! Weg aus dem beengenden Wohnungskäfig, weg aus der Kazmierczak-Straße, dort beim Mexikaner steht ein Nextbike und weg entlang der Coppistraße, die Lindenthaler rollt es wie von selbst bergab, bloß die Kreuzung mit der Georg-Schumann-Straße heil überstehen mit ihrem Pulk aus Schienen und Großstadtverkehr, ein Durcheinander, das keiner braucht. Die Eisenacher fahr ich bis zum Ende, wie ruhig es gleich wieder in den Seitenstraßen ist, kein Druck, der durch die hektischen Hupsignale der Autos und Straßenbahnen ausströmt, fast schön, aber für meinen Geschmack stehen hier zu wenig Bäume. Das ist natürlich in der Kazmierczak-Straße genauso, aber nicht bei Green, der hat seine Lindenallee, die ihn jeden Tag verabschiedet, wenn er ins Büro geht und ihn begrüßt, wenn er von selbiger kommt, ABER er geht zur Arbeit, ein Tausch unserer Alltagsleben ist aus diesem Grund ausgeschlossen, da lieber verzichte ich auf Bäume, denn wenn ich echten Bäumen begegnen möchte, weiß ich wohin ich gehen muss. Diese domestizierten Anverwandten, diese jämmerlichen Straßenkinder, die gepflanzt wurden, um uns unserer Naturliebe zu erinnern. Peter Wohlleben hat es in seiner Doku auf den Punkt gebracht und das Wesen der Bäume und ihrer Geheimnisse darzustellen gewusst. Drei Buchen, die dicht nebeneinanderstanden, als seien sie Freunde, die nach einer durchzechten Nacht einander stützen, so griff das Geäst ihrer Kronen ineinander, ohne dem Nachbarn Böses zu wollen, sie existierten schlicht im Einklang und hatten somit exakt die gleichen Voraussetzungen und das Interessante: Sie verloren im Herbst nicht gleichzeitig die Blätter, wie sie im Frühjahr ebenso wenig gleichzeitig begonnen zu grünen, nein. Wohlleben schloss daraus, dass der Zeitpunkt, wann ein Baum sein Laubwerk ablegt bzw. beginnt auszutreiben auf die Charakterfrage zurückzuführen sei... Faszinierend, was Natur alles kann. In meiner Grübelei ist mir nicht aufgefallen, wie ich mit dem Fahrrad vorankam. Diese verdammten Tätigkeiten, die in ihrer Häufigkeit zu Routinen verkommen und einem maschinell automatisierten Ablauf nahkommen ... gruselig. Auf dem Damm der Neuen Luppe, sieh ihn dir an! Moment, mit wem rede ich? Allmählich werde ich verrückt oder ich möchte mir selber Dinge zeigen, die ich sehe. Wie der Morgennebel einen Schleier über die Mulde legt, ein Fluss auf dem Fluss, er tritt über den Damm und löst sich auf, über mir die V-Formation der Graugänse, wie sie schnacken ... ich grüß euch ebenfalls ihr Lieben, einen wunderschönen Tag wünsch ich, wo immer hier hinfliegen mögt ... (leise, indem er ihnen nachblickt) nehmt mich mit ... das ist ein Foto! Wie sich der Uni-Riese gemächlich über die Baumkronen erhebt, der Nebel über der Luppe, die kleiner werdenden Gänse - klack. Nun nichts wie weiter, die Sonne steigt höher und verhindert bald schöne Aufnahmen! Das Quietschen des Rads gibt getreulich seine Fahrtauglichkeit wieder, es fährt, als reite ich eine Möhre. Äußerst anstrengend, allerdings ist es befreiend meinen Frust in die Füße zu verlagern und zu sehen, wie schnell ich auf dem Asphaltweg davon radle. Das rote Dach vom Haus Auensee fängt schon Feuer, ich muss mich wirklich beeilen. Uff, uff, los zieh, uff, ich muss mir bloß vorstellen, wie ich damals als Kind angeregt die Tour de France verfolgte. Lance Armstrong, das war mein Vorbild. Natürlich ist es leicht, auf einen Siegertypen zu setzen, aber der hatte die Willenskraft eines Bären und ließ nicht locker, das gefiel mir so an ihm. Keine Ahnung auf welcher Etappe das war, aber bei mir hat sich eine bestimmte Szene einprägt, auf jeden Fall war es eine Bergtour, bei der die Gesichter der Radfahrer Bände sprachen. Die Kräfte gingen zur Neige, jede Sekunde würde der Erste umkippen und dann würden sie wie Dominosteine fallen, da steigt Armstrong, der, der den Hodenkrebs bezwang, plötzlich aus seinem Sattel, um erneut Übermenschliches zu leisten und trat ohne Rücksicht auf seine Gesundheit drauf los. Ich bin mir sicher, man hätte ihm ein LKW anbinden können und er hätte ihn nicht nur gezogen, nein, er wäre trotzdem als Sieger über die Ziellinie gefahren. Teufelskerl, zu schade, dass ihm die Dopingvorwürfe die Titel kosteten. Ich meine, Doping hin oder her, es grenzt trotzdem an eine enorme Leistung und die Tatsache eines aufputschenden Mittels ändert nicht das geringste. Wobei ... das ist falsch ... das sehe ich ein, die Statue des Lance Armstrong bekam Risse und bröckelte, ohne dass ich darauf Einfluss nahm. Wem haben die bescheuerten Regeln also geholfen? Armstrong sicherlich nicht, der war fortan ein Geächteter, der Zweite, der danach den Titel zugesprochen bekam, den kennt niemand und wichtiger: Es interessiert auch niemand, wenn irgendwer einen ersten Platz am grünen Tisch zugesprochen bekommt. Und weiter? Die Tour de France litt massiv als Wettbewerb, weil Armstrong kein Einzelfall blieb - es machte eher den Eindruck als hätte jeder gedopt, umso besser, dann gebt ihm die Titel zurück! - und ein kleiner Junge - und auch das wird bei weitem kein Einzelfall geblieben sein - verlor sein Vorbild, was mir blieb, ist diese Szene, diese Momentaufnahme, in der ich bloß auf die Willenskraft des Einzelnen achten darf. Faszinierend - klack! Traumhaft - klack! Wunderbar - klack! Wie erhebend die Natur im Schlosspark Lützschena am Morgen ist. Bis vor ein oder zwei Monaten, wäre ich sicherlich nicht allein gewesen. Andere Fotografen, die in aller Früh ihre Sachen packen, um die Bärlauchfelder, durch die sich pittoreske Wege schlängeln, im Schattentheater des Morgenlichtes festzuhalten, hätten mir die Ruhe gestohlen. Mittlerweile ist der Bärlauch verblüht. Mit Glück steht noch eine intakte zierliche Blüte zwischen den gelbbraun gewordenen Nachbarn, die nach der knoblauchigen Verwesung des Todes stinken - klack. Für mich sind diese Fotos echter, immerhin ist der Mensch länger tot als lebendig, das ist Fakt und ich wüsste keinen plausiblen Grund, der dagegen spricht, die Hässlichkeit zu fotografieren, immerhin versteckt sie nichts, sie ist der ungeschminkte Anblick, die Schattenseite der Schönheit, die welken muss. Gibt es von uns Menschen, die ein reges Geltungsbedürfnis verspüren, etwa keine Fotos im Alter und wie schön sind wir da? Überlegt man, wie alt früher die Menschen geworden sind, müssten sie einen Schock bekommen, wie schrumpelig, wie faltig, wie eingesackt dieses stolze Wesen Mensch aussieht, aber wir fotografieren trotzdem und sprechen von einem nicht unerheblichen Reiz an Lebenserfahrung, also was mache ich anderes mit den Pflanzen, die nun den Preis dafür kennen, dass sie blühen durften? Klack - Einzigartig - Klack - Umwerfend - ein Bild für die Götter - Klack. Hey du kleiner Löwenzahn, reck dich und schüttle von deinem Goldhaupt den Morgentau. Das ist mein Gefährte, mein Freund, eine mächtige Rotbuche! Frei steht sie auf der Flur, als wurde sie einst bei der Abmessung des Feldes vergessen. Ein Stamm, charakteristisch gefurcht, natürliches Alter kann tatsächlich Schönheit ausstrahlen. Ich versuche zwischen dem noch niedrigen Sonnenstand und meinen Augen einen Zweig mit Blättern zu schieben, um zu erkennen, warum du landläufig auch Blutbuche genannt wirst. Wenn das Laub anderer Bäume für gewöhnlich erst im Herbst farblich erleuchtet, also annähernd wie deines jetzt, dann verlierst du deine Tönung, wirst dunkelgrün, ganz wie jetzt die meisten deiner Bekannten dahinten im Park. Du bist anders, antizyklisch. Die Schwierigkeit meiner Rasse ist, dass jeder ein Recht auf Andersartigkeit beansprucht und die, die es lauthals proklamieren, sind es am wenigsten. Aber ich posaune es ihnen nicht ins Gesicht, ich sage es dir, ganz im Vertrauen … ich bin anders, ich gehöre zu ihnen, wie du, eine Randerscheinung, zu der sich gelegentlich eine einsame Seele verirrt. Der Teil deiner Wurzeln, der an der Oberfläche verläuft, lädt mich ein hinzusetzen, welch Einladung! Im Schneidersitz lass ich mich nieder, mein Rücken ist leicht an deinen Stamm gelehnt, die Lehne ist unnötig, aber ich trete gern in direkten Kontakt zu dir und schließe die Augen und atme tief ein und tiefer wieder aus, ich atme tief ein und tiefer wieder aus, ich atme tief ein und tiefer wieder aus. Dabei sage ich beim Einatmen gedanklich die Silbe LIE und beim Ausatmen BE. Ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE, ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE, ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE. Jede Wiederholung bringt mich eine Bewusstseinsebene tiefer, entrückt mich von mir, entfernt jeden Druck, ich darf sein in diesem produktiven Nichtstun. Vor und auf mich fallen Gedankentropfen und perlen ab. Was werden meine Freunde gerademachen? Versucht Green der Überzeugung nachzukommen, den Arbeitsantritt so weit wie möglich nach hinten zu verlagern? Ist White die Einsicht gelungen, dass der Weg aus der Persönlichkeitskrise die Persönlichkeit ist? Und was ist mit meiner Familie? Wie lange werde ich mit der Situation klarkommen, in einer Zweckgemeinschaft gefangen zu sein zugunsten eines Kindes, das ich zwar liebe, aber zu dem mir jegliche Bindung fehlt? Ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE, ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE, ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE. Ich stelle mir diese und mehr Fragen, aber lasse sie unbeantwortet. Jede Frage ist ein Bettler, der Zeit von mir verlangt, aber ich ignoriere jede, obgleich ich sie wahrnehme, bis sie unverrichtet weiterziehen, eine wahre Bettlerkarawane zieht gen Wüste – fallt nicht auf mich wie auf eine Fata Morgana rein, ich bin so real wie ihr. Zieht von dannen ihr Fragen und verlangt von jemand Zeit, der sie euch bereitwillig opfert, ich bin bloß da und atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE, ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE, ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE. Ich spüre, wie das Joch der Zeit keine Rolle mehr für mich spielt, gleich ob ich für Minuten oder Stunden meditiere. Zu Beginn einer spirituellen Sitzung regt sich eine Empfindung, die mich ängstlich gegen die Dunkelheit macht, aber bald dringt ein Farbenspiel an mich heran, es ist ein Spektrum, fluoreszierend und wandelbar, das Nordlicht meiner Fantasie und ich fühle mich hingerissen und verfolge den Augenblick, losgelöst von seiner zeitlichen Spanne, der Augenblick, sonst ein Bewusstseinskrümmelchen, wirkt unendlich ausgedehnt, für immer ein Augenblick - das ist der Zustand völliger Befreiung externer Zwänge. Ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE, ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE, ich atme tief ein LIE und tiefer wieder aus BE - dies ist der Zustand, der mich in einen Rausch versetzt und mir den Zugang zum Kollektivbewusstsein ohne Grenzen öffnet.
ROTBUCHE. Du bist nicht mit der Absicht in diese Welt geboren, dass sie dich hasst, warum also hasst du sie?
PINK gelassen. Sie macht es einem eben zu leicht.
ROTBUCHE. Und dafür hasst du sie?
PINK. Ich habe mich bemüht, ich schwöre, ich habe es innig versucht, der Welt - so wie sie ist - das Lebenswerte abzuringen, aber was ich unternehme, ist eine Flucht bestimmt dazu, ziellos zu sein.
ROTBUCHE. Dann fliehst du in die falsche Richtung.
PINK. Welche Richtung empfiehlst du?
ROTBUCHE. Die, in die dich meine Finger weisen.
PINK. Es ist sinnlos.
ROTBUCHE. Versuch es!
PINK. Ich habe Pflichten, versteht du? Brücken überwinden ist das eine, sie nach der Überquerung niederzureißen hingegen ist ein komplett anderes Thema.
ROTBUCHE. Versuch es!
PINK. Du hast keine Ahnung, was du verlangst! Als ich am IT- Studium scheiterte, begann ich eine schulische Ausbildung. Weißt du, was das bedeutet? Kein Einkommen, das heißt es! Vom Gutwillen des Staates BAföG beziehen, das man eines Tages zurückzahlen darf. Schwere Jahre nach der Schule, die ich gemeinsam mit meiner ersten Freundin teilte, eine Zeit, in der das Leben genossen werden will, eine Zeit, in der die Optionen verlangen ausgekostet zu werden, Zeit, in der man Erinnerungen für die Ewigkeit schafft, um spätere Krisenzeiten zu überstehen ... sie fand einen Job und wir zogen dafür nach Nürnberg, sie arbeitete als Chemielaborantin und ich fand in der IT eines bundesweit agierenden Steuerunternehmens eine Anstellung. Kurz gesagt: Es lief gut, so gut, dass ich mir berechtigte Hoffnung auf das machte, was ich dir eben erzählte und dann erzählte sie mir, sie sei schwanger. Während der folgenden acht Monate mimten wir den Hiob und empfanden nach, wie viele Tiefschläge ein Paar verträgt. Die Schwangerschaft verursachte bei ihr durch einen nahe am Kollaps befindlichen Hormonhaushaltes jegliche vorstellbare Krankheit inklusive Depression und mir wurde klar: Die Welt würde nicht ausschließlich wegen der Geburt unseres gemeinsamen Kindes verändert sein. Wir hatten nie zuvor über das Familienthema gesprochen, es wurde mir zugefügt, wie eine Ohrfeige. Will ich Vater sein? Ja, irgendwann vielleicht, vielleicht auch nicht, aber diese Fragen waren überflüssig, es war da! Und wenn ich von Hoffnung spreche, dann rede ich von einer vagen Möglichkeit verstehst du? In Wirklichkeit kriselte es oft, mehr als es einer gesunden Beziehung gut tut. Öfters wachte ich neben einem Kumpel, einem Arbeitskollegen oder auf dem Sofa von einem der vorgenannten Personengruppen auf als neben ihr, um mich an sie zu schmiegen, sie zu drücken und ihr Sonntagmorgen ins Ohr zu flüstern, wie sehr ich sie liebe, bevor ich das Frühstück vorbereite. Verzweiflungsschreie trieben mich an den Abgrund und als ich ‚Schluss!‘ sagen wollte, gestand sie mit bebenden Lippen ihre Schwangerschaft. Wie das geschehen konnte, weiß ich nicht mehr. Sie reagiert gerne extrem und manchmal ging ich fortführenden Konflikten aus dem Weg, indem ich es geschehen ließ. Die Schwangerschaft würzte diese ohnehin kaum zu ertragende Mahlzeit weiter und ich kaute Bissen für Bissen, denn ich bin ein Scheidungskind musst du wissen. Meine Eltern trennten sich früh, was ich mit dem heutigen Wissen klar unterstütze, denn mein Vater blieb, bis ich es verstand, deswegen möchte ich meinem Kind so lange Vater sein, bis er mich als Vater nicht mehr benötigt, sondern einen Mentor, einen Lehrer oder einen Freund, was auch immer, aber bis es soweit ist, muss ich da sein!
ROTBUCHE. Versuch es!
PINK. Das ist deine Antwort? Versuch es? DU machst es dir damit allzu leicht.