Café con Lychee - Emery Lee - E-Book
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Café con Lychee E-Book

Emery Lee

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Beschreibung

Manchmal kann sich erbitterte Rivalität in etwas Süßes verwandeln. Theo Mori und Gabriel Moreno haben sich nie verstanden. Ihre Eltern führen rivalisierende Geschäfte – ein asiatisch-amerikanisches Café und eine puerto-ricanische Bäckerei. Und damit nicht genug: Gabis Ungeschicklichkeit hat das Fußballteam, in dem sie beide spielen, schon unzählige Siege gekostet. Da Gabi es nicht wagt, offen über seine Sexualität zu sprechen und seine Träume zu verfolgen, sieht er seine Zukunft in der Bäckerei. Theo trägt schwer am Gewicht familiärer Erwartungen: Um überhaupt daran denken zu können, Vermont endlich hinter sich zu lassen, muss er dafür sorgen, dass die Lebensgrundlage seiner Eltern gesichert ist. Als ein "Fusion Café" die Existenz beider Familienbetriebe bedroht, müssen Theo und Gabi sich einer unerfreulichen Wahrheit stellen: Sie können ihr jeweiliges Ziel nur erreichen, wenn sie zusammenarbeiten. Gemeinsam kochen sie einen Plan aus: die geheime Operation "Snack-Verkauf in der Schule", mit der sie Kunden zurückgewinnen wollen. Doch können sie ihre Streitigkeiten lange genug beiseitelassen, um die Läden ihrer Eltern zu retten? Und was, wenn sie in Abwesenheit des alten Grolls Gefühle füreinander entwickeln? Eine köstliche romantische Komödie, gut gewürzt und mit einem Hauch Süße!

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Inhalt

1 Theo

2 Gabi

3 Theo

4 Gabi

5 Theo

6 Gabi

7 Theo

8 Gabi

9 Theo

10 Gabi

11 Theo

12 Gabi

13 Theo

14 Gabi

15 Theo

16 Gabi

17 Theo

18 Gabi

19 Theo

20 Gabi

21 Theo

22 Gabi

23 Theo

24 Gabi

25 Gabi

26 Theo

27 Gabi

28 Theo

29 Gabi

30 Theo

31 Gabi

32 Theo

Danksagungen

Theo

Es heißt, kurz vor dem Tod ziehe das Leben noch ein letztes Mal an einem vorbei. Lasst mich eins klarstellen: Wer auch immer für meinen Clip zuständig ist, sorgt besser dafür, dass Gabriel Moreno kein einziges verdammtes Mal darin vorkommt, sonst geht die Sache vor Gericht.

Schlimm genug, dass ich vom Fußballrasen zu ihm hochblicken muss, während die Grasflecken sich in mein Trikot fressen – ich werde wohl die ganze nächste Woche mit Schrubben verbringen. Dämlich grinsend stammelt er eine Entschuldigung vor sich hin, als würde er mich nicht bei jedem zweiten Training umrennen.

Ich glaube, inzwischen sogar öfter.

»Tut mir total leid, Theo.« Er hält mir die Hand hin.

Widerwillig ergreife ich sie, wohl wissend, dass mich der Coach beobachtet, schließlich möchte ich nicht noch ein ›Kommt mit anderen nicht zurecht‹ im Zeugnis stehen haben.

Tja, so bin ich eben: schwach in der Schule, mies im Freundefinden und grottenschlecht darin, mit meinen Teamkollegen auszukommen, denn die sind höchstwahrscheinlich der einzige Grund, dass wir seit zwei Jahren kein Spiel mehr gewonnen haben. Unser Motto lautet buchstäblich: Ungeschlagen in Niederlagen. Naiverweise habe ich angenommen, wir könnten das Blatt noch wenden und unser drittes Jahr an der Highschool rocken. Das hätte mir vielleicht ein paar Bonuspunkte für spätere College-Bewerbungen eingebracht, und meine Eltern wären nicht ganz so enttäuscht von mir. Mit dem heutigen Debakel möchte mir das Universum offenbar mitteilen, dass ich meine großen Träume ein für alle Mal an den Nagel hängen kann.

»Kommt nicht wieder vor«, sagt Gabriel.

Wir starren einander ausdruckslos an. Diesen Quatsch glauben wir beide nicht.

»Na schön!«, ruft der Coach und pfeift ab. Die Trillerpfeife hat es ihm wirklich angetan. Es ist, als gäbe nur sie ihm ein Gefühl von Autorität, während er seine Zeit mit der schlechtesten Mannschaft der Geschichte verplempert. »Fangen wir einfach noch mal von vorne an, okay?«

Ich bin der Schnellste im Team und einer von vielleicht dreien, die tatsächlich treffen, darum kann mich der Coach gut leiden. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, er bleibt nur, weil wir noch nutzloser sind als er – so kommt er sich selbst weniger wie ein Versager vor. Warum sollte man sonst eine Mannschaft trainieren, die nie gewinnt, und all seine Nachmittage mit dem hoffnungslosen Versuch verschwenden, ihre Fähigkeiten zu verbessern? Vielleicht zögert er aber auch bloß hinaus, in sein leeres Haus heimzukommen: Er und seine Frau sind seit letztem Jahr geschieden.

Als es endlich fünf ist, schmerzt mein Rücken, entweder vom Sturz oder weil ich wieder einmal das Zugpferd der gesamten Mannschaft gewesen bin. Auf dem Heimweg holt mich Justin Cheng ein.

Der Vorteil an einer Stadt, die sich kaum über fünfundzwanzig Quadratkilometer erstreckt, ist der kurze Schulweg. Gerade einmal anderthalb Kilometer sind es, zu Fuß also machbar. Schwierig wird es erst im Winter, wenn man sich auf den Straßen durch hüfthohe Schneemassen kämpfen muss. Da wir aber erst Mitte September haben, macht mir das noch keine Sorgen. Ziel wäre natürlich, irgendwann woanders zu wohnen, zum Beispiel in New York, wo zu Fuß zu gehen tatsächlich praktisch ist und mir nicht an jeder Ecke Gabriel Moreno über den Weg läuft.

Die Nachbarschaft hier entspricht überwiegend dem, was man sich unter einem weißen Vorstadtviertel vorstellt. Obwohl gerade Rushhour ist, fahren kaum Autos auf den Straßen. Der Weg zum Café führt an dem einzigen, vertrauten Kreisverkehr vorbei, und wie üblich halten alle Fahrer kurz an, um die Fußgänger über die Straße zu winken. Mein Bruder zieht mich ständig auf: Anderswo werde man nicht so nett zu mir sein, sollte ich es je aus Vermont herausschaffen. Aber genau darin liegt ja der Reiz. Ich möchte irgendwohin, wo die Leute ansatzweise wie ich denken, statt in dieser grünen Bilderbuchkulisse voller Maple Creemees zu versauern.

»Hast den Schlag wie ein echter Champ weggesteckt«, kommentiert Justin.

Ich zucke mit den Schultern. »Tja, war wohl mein Muskelgedächtnis.«

Er lacht, als hätte er noch nie etwas Witzigeres gehört. Wir sind schon seit der zweiten Klasse befreundet. Da wir in unserem Jahrgang die einzigen beiden Ostasiaten sind, war es von Anfang an naheliegend, miteinander abzuhängen. Ich versorge ihn regelmäßig mit Bubble Tea, und er erinnert mich daran, was für ein verdammter Glückspilz ich bin, weil meine Eltern mich für meinen B-Minus-Durchschnitt nicht schon längst enterbt haben. Eine Symbiologie oder wie man so was nennt.

Als wir ankommen, wischt Mom gerade mit hängenden Schultern den vorderen Tresen. So geht das schon die letzten paar Wochen: Wann immer ich gegen fünf hier eintreffe, wirkt das Café noch ausgestorbener als die Tribünen bei einem unserer Fußballspiele, und meine Mutter schrubbt dieselbe blitzblanke Stelle. Letztes Jahr hätten um diese Zeit mindestens eine Handvoll Kunden angestanden, um sich Milchtee oder Ähnliches zu gönnen. Damals hat allerdings auch noch nicht jeder Eis-, Froyo- und Donutladen das Gleiche angeboten.

Dazu kommt noch unser Problem mit den Morenos. Von Zeit zu Zeit sprießen hier zwar Cafés aus dem Boden, die ihr Glück mit Ethno-Food versuchen. Die Stadt ist jedoch insgesamt so weiß, dass die meisten nicht einmal wissen, was Mungbohnen sind, und so gehen diese Läden alle in ein bis zwei Jahren pleite. Das Café der Morenos und unseres sind die einzigen Ausnahmen, die bis jetzt überdauern konnten. Vielleicht unterscheiden wir uns gerade genug voneinander, dass die Leute bei beiden gern vorbeischauen. So befinden wir uns jedoch in einem ständigen Tauziehen mit den Morenos, damit sie nicht zu viele Kunden abwerben und uns in den Ruin treiben. Und aus diesem Grund würde ich Gabriel in jedem Fall bis aufs Blut hassen, selbst wenn er nicht die größte Nervensäge der Welt wäre.

»Ach, Theo«, begrüßt mich Mom überrascht, als würde ich nicht jeden Tag zur gleichen Zeit nach Hause kommen. »Du darfst mir gern helfen, das Trinkgeld zu zählen.«

Sie bittet mich nie um etwas. Es heißt immer nur »Du darfst gern«, als wäre es ein besonderes Privileg, ihr Dienstbote zu sein.

»Hey, Mrs. Mori«, sagt Justin. »Krieg ich ’n Taro-Bao und einen dieser coolen Sunset-Becher?«

Noch ehe sie antwortet, spüre ich ihre Anspannung. »Was soll denn ein Sunset-Becher sein?«

»Na, einer dieser coolen bunten Tees. Sekunde, gleich hab ich’s.«

Er zieht sein Smartphone aus der Hosentasche; wahrscheinlich zeigt er Mom gleich ein Video von den Try Guys oder so. Endlich hält er ihr das Display vor die Nase. Sie kräuselt die Oberlippe. »Was soll das denn sein? Tee ganz bestimmt nicht! Sieht eher aus wie ’ne Lavalampe.«

»Aber alle posten dauernd Bilder davon!«

Ich lege Justin die Hand auf die Schulter. »Dann geh ich mal das Trinkgeld zählen«, verkünde ich und begebe mich hinter den Tresen.

Im Hintergrund höre ich ihn immer noch quengeln; dabei müsste er doch wissen, dass er sich den Atem sparen kann. Tradition wird bei meinen Eltern großgeschrieben – soweit das bei einem chinesisch-japanischen Paar überhaupt möglich ist. Sie trauen nur bekannten Marken, die sie außerdem nie zum vollen Preis einkaufen. Und was am wichtigsten ist: Sie laufen keinen Trends hinterher. Steht es nicht von alters her im Familienrezeptbuch, bieten sie es auch nicht an. Bis auf dieses Bubble-Tea-Zeug, aber da schlägt wohl die alte chinesische Gewohnheit durch, den Taiwanern ein Getränk abzuluchsen und es als eigene Erfindung auszugeben.

Hinter mir fällt die Bürotür ein wenig zu laut ins Schloss. Immerhin schirmt sie mich vor der Diskussion ab, die gleich am Tresen losbrechen wird. Justin wird um seinen komischen Regenbogenbecher betteln, und Mom wird nicht nachgeben. So sind die beiden nun mal.

Während ich mich auf den Schreibtischstuhl setze, wird mir wieder einmal bewusst, dass ich in unserer Familie mit Abstand der Großmütigste bin: Ich lasse Justin seine Marotten und Mom ihre althergebrachten asiatischen Gepflogenheiten, bezeichne diesen Raum hier sogar als Büro, obwohl Abstellkammer mit Schreibtisch treffender wäre.

Ich hole die kleine Frühstücksfleischbüchse hervor, die Dad als Blechtresor für die täglichen Trinkgelder benutzt, und fange mit dem Zählen an. Sieht ziemlich mau aus, wenn man bedenkt, dass die meisten unserer Kunden ältere Asiaten auf der Suche nach den einzig authentisch-heimatlichen Backwaren der Stadt sind. Was aber in Ordnung geht: Fürs Zählen bin ja immer ich zuständig, und bei mir wundert sich niemand, wenn mal ein, zwei Dollar fehlen.

Ich schreibe die Endsumme auf und lasse dabei die zerknitterten Scheine in meine Hosentasche wandern. Meinen Eltern kommt es auf die paar Mäuse nicht an, aber für meine Zukunft machen sie einen gewaltigen Unterschied. Also ignoriere ich das nervöse Kribbeln, das mich jedes Mal überkommt, wenn ich den Blechtresor schließe und auf den Schreibtisch zurückstelle. Wir machen zwar erst um acht dicht, doch ich bezweifle, dass wir innerhalb der letzten paar Stunden noch Kundschaft bekommen. Meine Eltern lassen das Café in der Hoffnung geöffnet, es werde noch jemand hereinschneien, um die Baozi vor der Tonne zu bewahren, aber genau dort landen sie dann in der Regel doch.

Als ich aus dem Büro komme, ist Justin schon weg – ob mit oder ohne seine Bestellung, weiß ich nicht.

»Wie steht’s mit dem Trinkgeld? Gut?«, fragt Mom.

Nickend überreiche ich ihr den kleinen Notizblock mit der Gesamtsumme des Tages. Beim Überfliegen wirkt sie etwas niedergeschlagen, kommentiert es jedoch nicht weiter.

»Wenn’s okay ist, geh ich jetzt in mein Zimmer und mach mich an die Hausaufgaben«, sage ich.

»Nie hilfst du hier aus. Thomas ist uns nach der Schule immer zur Hand gegangen, aber du verschwendest deine ganze Zeit bloß mit Fußball, und jetzt …«

»Also gut!« Die Worte kommen lauter heraus als beabsichtigt. »Du brauchst Hilfe? Was soll ich tun?«

Mom wirft mir einen strengen Blick zu, und der Winkel ihrer Augenbrauen verrät mir überdeutlich, dass ich mit meinem Tonfall schon wieder den Bogen überspannt habe. Wahrscheinlich hätte sie eine höhere Meinung von mir, wenn ich jemanden ermordet hätte – aber wehe, ich bin mal ein klein wenig vorlaut.

Hastig blickt sie sich um, als wollte sie vor der anstehenden Standpauke rasch nachzählen, wie viele Kunden noch anwesend sind, merkt dabei jedoch, dass gar niemand mehr da ist. Sie seufzt. »Wenn du so mit mir redest, kann ich auf deine Hilfe verzichten. Geh und tu was, damit du keine schlechten Noten mehr nach Hause bringst.«

Wir wohnen in einer beengten Drei-Zimmer-Dachwohnung über dem Café. Bis vor Kurzem habe ich mir mein Zimmer noch mit Thomas, meinem Bruder, teilen müssen. Letzten Sommer hat er endlich am College angefangen und ist mit ein paar Kerlen zusammengezogen, die ich weder kenne noch kennenlernen möchte. Eigentlich wohnt er keine zwanzig Minuten von hier entfernt, aber das genügt ihm offenbar als Ausrede, hier nicht mehr auszuhelfen. Er schaut ja nicht einmal nach, ob wir noch leben.

Sobald die Zimmertür zu ist, ziehe ich meine Schuhschachtel voller Dollarscheine und Kleingeld unter dem Bett hervor und lege den heutigen Verdienst dazu. Ein paar Dollar pro Tag aus der Trinkgeldbüchse hören sich vielleicht nicht gerade profitabel an; da ich jedoch schon vor ungefähr einem Jahr damit angefangen habe, quillt die Schachtel jetzt nahezu über.

Die meisten weißen Kids an der Schule geben damit an, dass sie Taschengeld bekommen oder sich mit Rasenmähen (oder mit Nacktbildern) etwas dazuverdienen. Ich hingegen helfe schon im Café aus, seit ich alt genug bin, bis sieben zu zählen, und das an den meisten Abenden und Wochenenden. Bezahlt haben sie mich dafür noch nie. Nicht mal Taschengeld kriege ich. Eigentlich ist die abgezwackte Kohle nur ein kleiner Teil dessen, was mir meine Eltern noch für all die Arbeitsstunden schulden.

Sobald ich nächstes Jahr mit der Schule fertig bin, wird das als mein inoffizielles Sparkonto fürs College herhalten, da meine Eltern nie eines für mich angelegt haben und nach meiner ADHS-Diagnose deutlich klargemacht haben, dass sie bezüglich eines Studiums keine großen Hoffnungen in mich setzen. Keine Ahnung, wie viel ich bis dahin zusammengekratzt haben werde – hoffentlich genug, um aus Vermont zu verduften, auch wenn mir mit meinen Noten sicher keine berauschende Zukunft bevorsteht. Und wenn schon. Am Ende geht es ja um individuelle Freiheit, nicht um die Ausbildung. Ich muss nur mein schlechtes Gewissen ignorieren, das sich jedes Mal meldet, wenn ich von der Schule nach Hause komme und sehe, dass das Café fast wie ausgestorben ist. Der Besucherverkehr schwankt eben, bestimmt ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Leute den verwässerten Kaffee und die vor Fett triefenden Snacks der Morenos satthaben und wieder bei uns angekrochen kommen.

Das größte Problem ist, dass meine Eltern außer dem Café so gut wie nichts haben. Nach ihrem Umzug nach Vermont haben sie all ihre Zeit in den Aufbau des Geschäfts investiert und dabei sämtliche Freundschaften eingebüßt. Seither sind sie nie dazu gekommen, neue zu knüpfen. Und jetzt, da Thomas am anderen Ende der Stadt wohnt und sich fast nicht mehr hier blicken lässt, arbeiten sie bloß noch im Café und nörgeln wegen meiner beschissenen Noten und meines generellen Versagens als Sohn herum. Sich auf meine Nutzlosigkeit zu konzentrieren, gibt ihnen wohl das Gefühl, die Lage im Griff zu haben: Sie arbeiten daran, mich zu einem Menschen zu erziehen, den meine Großeltern noch zum Weihnachtsessen einladen würden.

Seit Thomas aufs College geht und das Geschäft schlechter läuft, stehe ich viel extremer unter ihrer Fuchtel. Ich mag mir kaum ausmalen, was passieren würde, wenn sie das Café ganz aufgeben müssten. Hätten sie keinerlei Ablenkung mehr, dann würden sie garantiert nicht einfach zusehen, wie ich aus der Stadt abhaue.

Es klopft an meine Zimmertür. Hastig schiebe ich die Schuhschachtel unters Bett und lasse mich auf die Daunendecke plumpsen. »Komm rein.«

Mein Vater reckt den Kopf durch den Spalt und sieht sich um, als wüsste er nicht, wo in dem zweieinhalb Quadratmeter kleinen Zimmer ich nur stecken könnte. Bisher ist mir nicht einmal aufgefallen, dass er zu Hause ist – obwohl es eigentlich logisch ist, da meine Eltern außerhalb des Cafés kein Leben haben.

»Ah, Theo«, sagt er, als hätte er sonst jemanden erwartet. »Hat Mom mit dir über das Café gesprochen?«

»Nein. Was ist damit?«

Eine Minute lang bleibt er zögerlich auf der Schwelle stehen, dann tritt er ein und hält inne. »Die Morenos machen uns schon wieder die Kundschaft abspenstig. Außerdem ist da noch dieses neue Café, das gerade eröffnet hat. Wir brauchen dringend einen Plan, wie wir unsere Kunden zurückgewinnen.«

»Fragst du mich etwa nach meiner Meinung?«

Dass er lacht, überrascht mich gar nicht. Eher friert die Hölle zu, als dass meine Eltern vor einer Entscheidung meinen Rat einholen würden. »Wir haben uns gedacht, du könntest das Café doch bei deinen Klassenkameraden bewerben und sie daran erinnern, warum wir immer noch die Nummer eins sind?«

»Meinen Klassenkameraden ist das latte.« Die entsprechen nämlich eher dem typischen Coffeeshop-Hipster-Klischee.

»Das weißt du erst, wenn du’s versucht hast.« Dad greift in die Tasche und holt einen Stapel Visitenkarten heraus, die offenbar ein schlechter Hobbygrafiker gestaltet hat. »Probier’s doch wenigstens mal.«

Widerwillig nehme ich die Kärtchen und überfliege die geschmacklose Schrift: Oolong, Bubble Tea und Knabberei – seid ihr altes Brot leid, kommt auf lecker Bao vorbei!

Ich ziehe eine Braue hoch. »Altes Brot?«

»Die hab ich vorm Café Moreno an die Laufkundschaft verteilt«, erklärt er augenzwinkernd.

Genervt lege ich den Stapel beiseite. Später werde ich ihn unbemerkt entsorgen.

Dann verlässt Dad ohne ein weiteres Wort mein Zimmer – typisch. Unsere Gespräche gestalten sich immer recht einseitig. Und ich sehe absolut nicht ein, warum ich gegen eine Wand anreden sollte.

Gabi

Der Freitag ist zweifellos das Schönste an der Woche. So kurz vor dem Wochenende schwänzt sowieso jeder, daher ist der Parkplatz größtenteils leer. Und weil der Coach unseren Stundenplan mit Weitblick erstellt hat, findet gnädigerweise kein Fußballtraining statt.

Das Beste ist allerdings der freitägliche Kundenverkehr: In der Regel hält er meine Eltern so auf Trab, dass sie gar nicht dazu kommen, mich wegen meiner Nachmittagspläne zu löchern. O Wonne.

Ich wechsle vom Schülerparkplatz auf den Gehweg und steuere die drei backsteinernen Schulgebäude an. Zu meiner Rechten taucht der Fußballplatz auf, zu meiner Linken das Baseballfeld. Meine Mitschüler, die verzweifelt versuchen, bis zum Wochenende durchzuhalten, stolpern und schlurfen wie Zombies an mir vorbei.

Melissa, meine beste Freundin, sitzt mit Stöpseln in den Ohren auf der gemauerten Treppe vor dem Schulgebäude, das dem Parkplatz am nächsten ist, und wippt mit dem Kopf zum Beat. Sie wirkt tiefenentspannt, als könnte nichts sie aus der Ruhe bringen. Dabei weiß ich, dass sie wie jeden Morgen ungeduldig auf mich wartet. Schließlich bin ich ihre ganz persönliche Kiki – nur dass mein kleiner Lieferservice ausschließlich Frühstück bringt und ich den Hexenbesen gegen einen gebrauchten Corolla eintauschen musste.

»Morgen!«, rufe ich ihr zu, und sie blickt sofort auf, als hätte sie gar keine Musik im Ohr. Mit einer übertriebenen Verbeugung reiche ich ihr den Pappbecher und die weiße Papiertüte. »Tostada y Café wie gewünscht, Eure Zickigkeit.«

Grinsend rollt sie mit den Augen und schnappt sich ihr Gratisessen. Sie kann sich wirklich nicht beschweren: Schon seit dem ersten Highschooljahr spiele ich für sie den kostenlosen, privaten Lieferjungen.

»Ich liiiebe Kaffee!«, flötet sie, was die Untertreibung des Jahrhunderts ist. Bisher ist mir noch niemand über den Weg gelaufen, der das Zeug so runterstürzt wie Meli – noch dazu schwarz. Einmal hab ich sie überreden können, unseren Café con Leche zu probieren, aber nur mithilfe einer Lüge hinsichtlich der Bedeutung des Wortes ›Leche‹.

Ich lasse mich neben sie plumpsen, schnappe ihr kurz den Becher aus der Hand und genehmige mir ein Schlückchen. Obwohl ich nie ein großer Kaffeefreund war, klaue ich Meli immer einen Schluck von allem, was sie gerade trinkt.

»Gibt’s was Neues vom Festwagen?«

Sie seufzt zwar, aber ich weiß genau, dass sie in Wahrheit über nichts anderes sprechen möchte. Meli ist die Vorsitzende des Homecoming-Komitees – wenn auch nur, weil ihr Kunstlehrer sie letztes Jahr schon dafür vorgeschlagen hat und sie nicht Nein sagen konnte. Jetzt geht sie allerdings so in ihrer Rolle auf, dass es fast nichts anderes mehr in ihrem Leben gibt. Perfektionistisch veranlagt war sie schon immer, und wenn man ihr eine Aufgabe zuweist, bringt sie die auch hundertprozentig zum Abschluss, auch wenn sie eigentlich keine Lust darauf hat. Ich bin ebenfalls im Komitee (sie hat mich fast schon dazu genötigt), aber da Sport und schulischer Gemeinschaftssinn nicht gerade zu meinen Stärken gehören, spiele ich da im Grunde nur ihren Lakaien.

Geduldig warte ich, bis sie das Smartphone herausgeholt und ihr Homecoming-Pinterest-Board aufgerufen hat. Es quillt regelrecht über vor Meli-autorisierter Deko: ein paar Abwandlungen der klischeebeladenen Wunderland-Ästhetik als Inspiration für den Festwagen; schwarz-rote Schmuckelemente für den Ballsaal; sogar ein passendes Kleid mit Direktlink zum Shop. Es ist zwar noch über einen Monat hin, aber Meli ist wie immer extra früh dran.

Fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn betreten wir den Hauptflur. Der beengte, mit Schließfächern gesäumte Gang wimmelt bereits von den Schülern, die heute tatsächlich aufgekreuzt sind. Meli gibt mir ihr Smartphone, um mir zwei Farbausführungen von im Grunde identischen Papiergirlanden zu zeigen. Eigentlich sehe ich keinen Unterschied. Ich habe gerade noch Zeit, ihr das Handy zurückzugeben, dann finde ich beinahe mein vorzeitiges Ende: Ich stoße geradewegs mit Theo Mori zusammen, der mit zwei Kerlen aus der Fußballmannschaft herumsteht.

Wir landen zwar nicht auf den minzgrünen Bodenfliesen, aber ich schubse ihn aus Versehen gegen die Schließfächer. Sofort stolpere ich zurück, krache dabei allerdings – weil der Flur so verflucht eng ist – direkt in die gegenüberliegende Spindreihe.

Unter drei eindeutig hasserfüllten Blicken stottere ich eine peinliche Entschuldigung vor mich hin.

Theo ist mit Abstand der Schlimmste von ihnen. Also, damit meine ich nicht, dass er wirklich der Schlimmste ist, sondern dass es für mich am schlimmsten ist, ausgerechnet ihm ans Bein zu pissen. Er ist nämlich nicht nur der Co-Kapitän der Fußballmannschaft, in der ich meinen Eltern zuliebe bleiben sollte, sondern obendrein noch schwul – und, was noch viel wichtiger ist, der einzig bekennende Schwule in unserer Abschlussklasse. Darum habe ich wohl auch immer irgendwie geglaubt, wir sollten miteinander befreundet sein. Wobei ich mich nie outen würde – lieber zeige ich mich in dem grauenvollen Weihnachtspulli, den mir meine Tía letztes Jahr geschenkt hat. Dass ich so verkappt bin, liegt unter anderem an meinen Eltern.

Keine Ahnung, wie lange ich herumdruckse, bis sich Meli endlich bei mir unterhakt und mich von den bösen Blicken wegzerrt. Am liebsten würde ich umkehren, mich zu den anderen gesellen und mir ganz à la Keiynan Lonsdale eine aalglatte Erklärung aus dem Ärmel schütteln, sodass sie mir den Fauxpas sofort verzeihen. Vielleicht würde ich mich aber stattdessen auch versehentlich outen. Wahrscheinlich eher Letzteres.

Meli setzt mich vor dem Klassenzimmer ab. Ich haste an der ersten Reihe vorbei und schnurstracks zu meinem Sitzplatz, wo ich warte, bis Theo sich hinter mich setzt wie schon seit der dritten Klasse. Schon seltsam: Mir ist, als würde uns das Schicksal andauernd gemeinsam auf die Tanzfläche schicken, aber sosehr ich mich auch bemühe – jedes Mal machen mir meine zwei linken Füße einen Strich durch die Rechnung.

Nach der Schule muss ich noch zum Homecoming-Komitee. Den Sommer über fanden die Treffen nur alle zwei Wochen statt, aber jetzt, da uns nur noch ein Monat bis zum großen Spiel bleibt, pocht Meli darauf, dass wir uns öfter versammeln, auch wenn das mit meinen regulären Freitagsplänen kollidiert.

Ich trudle als Letzter ein, was laut Meli daran liegt, dass ich auf »Latino-Zeit« eingestellt bin. Lächerlich – schließlich bin ich nur zwei Minuten zu spät. Vivi wartet bereits an dem wackeligen Fenstertisch auf mich. Sie müsste genauso eingestellt sein wie ich, ist sonst aber immer zu früh dran, also hat das Zuspätsein sicher nichts mit unserer Herkunft zu tun. Meli ist einfach nur zickig.

Ich setze mich neben Vivi und schenke ihr ein flüchtiges Lächeln. Wir sind erst seit unserem Eintritt ins Homecoming-Komitee Ende letzten Jahres miteinander befreundet, und sie ist wirklich schwer in Ordnung. Wir stehen beide auf Kehlani – wie jeder vernünftige Mensch –, und sie ist einer von vielleicht drei Schülern, die wussten, wie echter puerto-ricanischer Brotpudding schmeckt, bevor ich den von meiner Abuelita hier eingeführt habe. Wir verbringen nur deswegen nicht mehr Zeit miteinander, weil sie und Meli sich in etwa so gut vertragen wie Zahnpasta und Orangensaft. Und je weiter Melis Homecoming-Wahnsinn voranschreitet, desto schlimmer wird die Lage.

»Sie dreht schon wieder völlig am Rad«, flüstert Vivi.

Mein Kichern erntet mir einen bösen Blick von Melissa, die gerade Jeff zusammenstaucht, weil seine Poster, die morgen aufgehängt werden sollen, fehlerhaft sind. Ich verdrehe die Augen. Jeder weiß, dass sie übertreibt. Klar wird Homecoming an unserer Schule groß gefeiert, und da wir kein Footballteam haben, setzt die Schulverwaltung eben auf unsere Fußballmannschaft, um nach außen hin einen »ausgewogenen schulischen Lebensstil« zu präsentieren. Auf lange Sicht ist das aber ziemlich belanglos, was Meli früher oder später bestimmt noch merken wird.

Den Großteil der Sitzung verbringen Vivi und ich damit, einander Memes zu schicken, während Meli über Angelegenheiten schwadroniert, die wir überwiegend schon geklärt haben. Ich verstehe ja, warum sie sich über die Inkompetenz im Komitee ärgert, aber meine Gedanken schweifen dennoch ab, und ich bleibe beim Scrollen durch meinen Instagram-Feed an Bildern hängen, auf denen die Leute merkwürdige regenbogenfarbige Bubble-Tea-Becher in die Kamera recken. Dass die Moris plötzlich so viel Wert auf Ästhetik legen, hätte ich wirklich nicht erwartet. Darüber werden meine Eltern garantiert nicht erfreut sein. Schließlich hassen sie die Moris und deren Café sowieso schon.

»Gabi.«

Ich blicke hoch. Meli baut sich mit zusammengepressten Lippen vor mir auf.

»Du hast kein Wort von dem mitgekriegt, was ich gerade gesagt hab, stimmt’s?«

Ich kichere verlegen und schließe die App. »Nimmst du Brotpudding als Entschuldigung an?«

Sie straft mich mit einem genervten Blick.

Da fällt mir auf, dass sich der Großteil des Komitees mittlerweile dezidierten Aufgaben zuwendet: Zeitplanerstellung, Ballorganisation, Dekorationsbeschaffung.

»Komm schon, Gabi. Homecoming steht vor der Tür, da darfst du nicht mehr so rumträumen!«

Sie übertreibt definitiv. Schließlich beschränken sich meine Aufgaben als Klassenverantwortlicher darauf, Snacks für die Sitzungen mitzubringen und dafür zu sorgen, dass die Klassensprecher alles Nötige haben, um die Festwagen vorzubereiten. Ich stehe auf, lege Meli die Hand auf die Schulter und lächle sie an.

»Mittlerweile solltest du doch wissen, wie der Hase läuft: Ich steh immer an deiner Seite.«

Sobald sie ihre eigenen Worte aus meinem Mund hört, entspannt sich ihr Gesicht ein wenig. Sie wischt zwar meine Hand weg, doch ihre Mundwinkel zucken leicht nach oben. »Also gut. Aber wehe, du enttäuschst mich.«

Hinterher kommt mein Tageshighlight. Sobald die Sitzung vorbei ist, mache ich mich auf den Weg zum hinteren Teil des Schulgeländes, an der Cafeteria vorbei und in Richtung Tanzstudio. Zugegeben, das mit dem Tageshighlight war ein Witz: Eigentlich ist es das Highlight der gesamten Woche.

Ballett.

Schon seit ich sechs bin, möchte ich Tänzer werden, aber an meinem siebten Geburtstag stellten meine Eltern ein für alle Mal klar, dass Tanzen etwas für Mädchen sei – insbesondere Ballett. Also hängte ich meinen Traum, professionell zu tanzen, vorerst an den Nagel. Dann allerdings freundete ich mich während des Tanzunterrichts, den ich letztes Jahr als Wahlfach belegt hatte, mit unserer Lehrerin Lady an – ja, so heißt sie wirklich. Nachdem ich ihr über ein paar Bissen ihres berüchtigten Rumkuchens mein Herz ausgeschüttet hatte, bot sie an, mir jeden Freitag nach der Schule private Tanzstunden zu geben. Damit habe ich jetzt sozusagen meine persönliche gute Fee – nur mit dem Unterschied, dass mir das Tutu besser steht.

Der einzige Wermutstropfen dabei ist der unangenehme Marsch quer über das Schulgelände, bei dem ich jedes Mal den Kopf einziehe und hoffe, dass mich niemand bemerkt. Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass irgendjemand sich ernsthaft zusammenreimen könnte, wohin ich gehe. Doch eins steht fest: Sobald herauskommt, dass ich Ballett tanze, weiß die ganze Schule über meine sexuelle Orientierung Bescheid. Das bedeutet, ich darf auf keinen Fall riskieren, enttarnt zu werden. Der einzige Mensch, dem ich bisher davon erzählt habe, ist Meli. Sonst habe ich wohl niemandem genug vertraut, um mich zu outen.

Als ich ankomme, macht Lady bereits Dehnübungen an der Ballettstange und wirft mir ein Lächeln zu. Ich gehöre zu den Jugendlichen, die mit Erwachsenen besser klarkommen als mit Gleichaltrigen. Eltern mögen mich oft auf Anhieb, aber meine Altersgenossen wünschen sich meistens, ich würde an einem Papa Rellena ersticken. Mit Lady unterhalte ich mich gern. Sie ist erst Anfang zwanzig und außerdem die erste und einzige Latina, die ich je als Lehrerin hatte. Sie sieht so aus, als ginge sie selbst noch zur Highschool, daher kann ich wenigstens in ihrer Gegenwart so tun, als würde ich dazugehören.

»Beeil dich und zieh dich um.« Sie knallt den Fuß auf die Matte. »Ich kann heute nicht so lange.«

»Aha? Gibt’s heute Abend noch ein heißes Date?«

Sie lacht. »Ein Vorstellungsgespräch. Über Zoom, um genau zu sein.«

»Ein Vorstellungsgespräch wofür?«, frage ich stirnrunzelnd.

»Für einen Job, bei dem ich mehr als Mindestlohn verdiene.«

Ich erstarre. »Moment. Du willst weg von der Schule?«

Sie zuckt mit den Achseln. »Weiß ich noch nicht. Ist ja nur ein Gespräch.«

Das heißt ganz sicher, dass sie wegwill; und sollte ihr Wunschszenario Realität werden, wäre meine letzte Chance aufs Tanzen dahin.

»Ich …« Meine Stimme bricht. »Arbeitest du hier etwa nicht gern?«

»Natürlich tu ich das, Gabi. Aber bei einem Job geht es nicht immer um das, was man gerne tut. Als Erwachsener muss man manchmal unangenehme Entscheidungen treffen, um zu kriegen, was man braucht.«

Keine Ahnung, was ich darauf sagen soll. Ich verstehe ja, dass man Opfer bringen muss. Tu ich wirklich! Aber … was soll ich jetzt bloß tun?

Auf meinen traurigen Blick hin schüttelt sie nur lächelnd den Kopf. »Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich weiß doch noch gar nicht, ob sie mich überhaupt einstellen. Und selbst wenn, arbeite ich dort vielleicht nur in Teilzeit. Konzentrier du dich auf deine Technik. Um den Rest kannst du dir später Gedanken machen, ja?«

Gehorsam nicke ich, obwohl ich mit dem Herzen nicht dabei bin.

Während der letzten paar Trainingseinheiten haben wir gemeinsam eine Choreografie erarbeitet – was effektiv bedeutet, dass sie mich als lebendige Gliederpuppe benutzt hat, um alles durchzuplanen. Das macht mir aber nichts aus. Letztes Jahr mussten wir in ihrem Kurs eine waschechte Lady-Choreo auswendig lernen und sie als Abschlussprüfung vortanzen. Und da ich damals jede Sekunde davon genossen habe, ist es jetzt irgendwie ganz cool, in den Prozess mit einbezogen zu werden.

Der letzte Part steht noch nicht, also arbeiten wir an den Schritten davor und brainstormen derweil, wie wir ihn am besten finalisieren, aber ich kann mich kein bisschen konzentrieren. Wie ironisch: Eigentlich ist das Tanzen mein Coping-Mechanismus gegen sämtliche Ängste der Welt, doch nun, da ich hier herumstolpere, brechen sie alle über mich herein.

Erst als ich zu einer Cabriole ansetze, dabei aus dem Gleichgewicht gerate und rücklings gegen die Ballettstange taumle, schlägt Lady vor, eine Pause einzulegen.

Sie reicht mir die Wasserflasche. »Denk nicht zu viel drüber nach, okay? Bleib im Hier und Jetzt.«

»Ich hab gar nicht …«

Sie verdreht die Augen. »Du? Ich bitte dich. Sobald du über irgendwas nachdenkst, denkst du’s kaputt.« Ich muss zugeben, dass es mir einen Stich versetzt, wie gut sie mich kennt. »Du weißt nicht, was als Nächstes passiert, also lass es einfach laufen. Bei Auftritten machst du’s doch auch so, oder? Die Technik und die Schritte beherrschst du; jetzt musst du dich nur noch treiben lassen.«

Ich lasse ihre Worte sacken, dann nicke ich und stelle die Wasserflasche ab. »Meinetwegen können wir weitermachen«, sage ich. »Wenn du auch so weit bist.«

Lächelnd winkt sie mich zu sich.

Und tatsächlich: Sobald ich tanze, geht es mir gleich viel besser. Während ich durch die Bewegungsabläufe gleite, fühle ich mich rundum frei. Allein die Möglichkeit, gelegentlich ein Plié oder eine Pirouette vorzuschlagen, gibt mir schon das Gefühl, endlich etwas zu haben, worauf ich stolz sein kann.

Unfassbar, dass ich das vielleicht bald aufgeben muss.

Kurz nach fünf komme ich im Café an. Normalerweise trainiere ich immer bis um sechs, aber wegen Ladys Vorstellungsgespräch mussten wir heute früher Schluss machen.

Ich hasse es, nach der Schule noch im Café aushelfen zu müssen. Normalerweise ist Mom dann nämlich schon in der Abendschule, was bedeutet, dass Dad den Laden allein schmeißt und mich oft mit einspannt. In der Küche helfe ich eigentlich ganz gerne – aber sagen wir es mal so: Für die Kundenbetreuung bin ich nicht wirklich gemacht. Das Problem ist, dass ich nicht allein zu Hause sein darf, obwohl ich schon sechzehn bin. Mom behauptet, ich könnte ermordet werden oder versehentlich das Haus abfackeln oder so. Manchmal habe ich den Eindruck, sie macht sich in Wahrheit Sorgen, dass ich zu Hause hinter ihrem Rücken Sex haben könnte, aber leider ist das für mich keine Option. Keine Mom sieht gerne ein, dass ihr Sohn schlicht und ergreifend hässlich ist.

Wobei sie das vermutlich eher hinnehmen würde als mein Schwulsein.

Als ich das Café betrete, wischt Dad gerade die Theke sauber. Glücklicherweise ist nicht ansatzweise so viel los, wie ich befürchtet hatte. Nur eine ältere Dame sitzt in der Ecke. Sie schmökert in einem Liebesroman und nippt dabei gelegentlich an ihrer Tasse.

Mein Vater wirft mir einen skeptischen Blick zu. »Schon zurück?«

»Sind heute mit dem Lernen früher fertig geworden.«

Ich lüge meine Eltern höchst ungern an, und das nicht nur, weil ich mir dabei wie ein Unmensch vorkomme – als würde mich Jesus von dort oben ganz genau beobachten, allzeit bereit, mich zu bestrafen. Nein, obendrein bin ich auch noch ein fürchterlich schlechter Lügner. Jedes Mal kommt es mir vor, als stünde ›ER LÜGT!‹ auf meiner Brust – in übergroßen, blinkenden Neonlettern.

Doch Dad scheint das gar nicht zu bemerken. Vielleicht ist ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass sein überehrgeiziger Strebersohn ihm gegenüber tatsächlich flunkern könnte.

Dann schwingt die Hinterzimmertür auf, und Mom tritt mit einem Klemmbrett in der Hand heraus. »Pedro, hast du den Abschnitt hier gelesen?«

Als sie mich sieht, erstarrt sie und reißt die Augen auf. »Gabi, du bist aber früh zurück!«

Ich stelle die Schultasche ab und versuche, betont lässig zu klingen. »Ich hab gedacht, du wärst in der Abendschule.«

Eine Weile starren wir einander schweigend an. Sie scheint unschlüssig, ob sie zugeben soll, heute geschwänzt zu haben, oder ob sie sich doch lieber eine Ausrede ausdenkt. So oder so finde ich das ziemlich scheinheilig von ihr – wenn ich blaumachte, würde sie mir wohl bei lebendigem Leib die Haut abziehen.

»Gabi, es gibt da etwas, das wir mit dir besprechen wollten«, wirft Dad ein und hilft ihr damit aus der Patsche. Dass sie sich so zusammentun können, ist echt unfair. Ich brauche dringend einen Komplizen.

»Qué pasó?«

Seufzend wirft er Mom einen Blick zu, als würde er von ihr erwarten, dass sie mir den Todesstoß versetzt – und wahrscheinlich tut er das auch. Schließlich dreht sie sich kopfschüttelnd zu mir um. »Wir verkaufen das Café.«

Ich reiße die Augen auf. »Aber … Moment mal, was? Warum?«

»Wir haben ein gutes Angebot bekommen und können uns wirklich nicht leisten, es auszuschlagen.«

Davon höre ich zum ersten Mal.

»Aber was hat sich denn geändert?«

»Deine Mutter und ich …«, erklärt er. »Nun, wir waren uns ja von Anfang an im Klaren darüber, dass das hier temporär ist. Es sollte nur lange genug halten, um Fuß zu fassen, ein Haus zu kaufen und deiner Mutter eine zweite Ausbildung zu ermöglichen.«

Dabei nickt Mom zustimmend, obwohl das alles gar keinen Sinn ergibt. Das Café betreiben sie schon seit vor meiner Geburt. Einmal haben sie es sogar als ihren Erstgeborenen bezeichnet. Und jetzt wollen sie das alles mir nichts, dir nichts in die Tonne treten?

»Wir sind nicht mehr so gut besucht wie früher«, erklärt Mom, »und dann sind da noch meine Ausbildungsgebühren, außerdem wirst du bald aufs College gehen …«

»Ich muss nicht unbedingt aufs College.« Das meine ich ernst. Eigentlich habe ich dazu sowieso keine große Lust. Ich war immer davon ausgegangen, das Café zu übernehmen, sobald ich alt genug dazu wäre.

Dad schüttelt den Kopf. »Cállate, Gabi. Natürlich gehst du aufs College! Aber wir müssen praktisch denken. Die Chinesen klauen uns die Kunden, dazu noch dieses neue Fusion-Café … Wir verdienen mehr, wenn wir den Laden verkaufen, als wenn wir ihn behalten. Deswegen können wir es wirklich nicht mehr rechtfertigen, ihn weiterzuführen.«

»Welches Fusion-Café?«

»Gabi, du hast wieder nicht aufgepasst.« Mom klingt genervt.

Da ist vielleicht sogar was dran. Aber zwischen Homecoming, Fußball und Tanzen bleibt mir eben nicht mehr so viel Freizeit wie früher. Das Café ist aktuell nicht meine größte Sorge.

»Mit dem Geld vom Verkauf … könnten wir die Krankenpflegeausbildung deiner Mutter finanzieren. Und es wäre sowieso praktischer, wenn ich wieder in der Immobilienbranche anfange.«

Ist ja ganz toll, wie jeder hier praktisch denkt und wichtige Erwachsenenentscheidungen trifft, bei denen ich nicht mitreden darf. Als ob man mit sechzehn weder ein Mitspracherecht noch eine Meinung haben darf, was das eigene Leben angeht. Als wäre ich nur ein Requisit, das nach dem Gutdünken der Erwachsenen hin und her geschoben wird.

»Ich weiß, wie schwer das für dich ist, Mijo«, sagt Mom, »und wie sehr du das Café geliebt hast, als du noch klein warst. Aber deswegen musst du ja noch lange nicht mit dem Backen aufhören.«

Langsam schüttle ich den Kopf. »Das schaut ihr euch also gerade an? Den Kaufvertrag? Ihr wolltet das Café verscherbeln, bevor ich nach Hause komme?« Weiter fällt mir dazu nichts ein.

Mein giftiger Tonfall scheint die beiden vor den Kopf zu stoßen. Ich bin selbst ein bisschen überrascht. Es bringt nichts, so gegen sie anzureden, das weiß ich. Aber das hier ist wirklich ein Schlag ins Gesicht. Nicht genug damit, dass es ihnen völlig egal ist, was ich davon halte – sie gedachten nicht einmal mit mir zu sprechen, bevor sie den Familienbetrieb verkaufen.

Mom atmet hörbar aus. »Den unterschriebenen Vertrag reichen wir frühestens ab Montag ein. Und am Wochenende wollten wir sowieso noch mit dir darüber reden.«

Ein einziges Wochenende. So viel Zeit würde mir also bleiben, um mich vom Café zu verabschieden. Mehr nicht. Ich merke nicht einmal, wie mir die Tränen kommen, bis Mom sie mir abwischt. Dad dreht sich weg. Er sagt immer, echte Männer weinen nicht, aber solange er es nicht mit ansehen muss, lässt er es mir dieses eine Mal wohl durchgehen.

Keine Ahnung, wie ich ihm klarmachen soll, dass bei mir derzeit sowieso alles den Bach runtergeht. Alles, woran mein Herz hängt, rinnt mir langsam durch die Finger, und ich habe keine Ahnung, wie ich es festhalten kann.

Theo

Am Samstagmorgen werde ich von lautstarker Streiterei geweckt, die über die Treppe bis zu mir hochschallt. Das kann nur bedeuten, dass Onkel Greg uns gerade einen Besuch abstattet. Vor seinem Wegzug aus China hieß er sicher noch anders, aber jetzt ist er eben einfach nur Greg. Der Name passt zu ihm: Wenn er hier ist, verhält er sich meistens wie ein weißes Arschloch.

Onkel Greg konnte Dad schon nicht ausstehen, als Mom ihn im College kennenlernte. Nach der Hochzeit sagte er ihr klipp und klar, sie hätte besser einen Chinesen heiraten sollen, und hackte außerdem auf ihr herum, weil sie einen japanischen Nachnamen angenommen hatte. Trotzdem lässt er sich hier gelegentlich blicken, im Gegensatz zu Dads Familie, die ihn komplett verstoßen hat, seit er einer Chinesin einen Heiratsantrag gemacht hatte.

Hastig ziehe ich mir Jeans und T-Shirt an und gehe nach unten. Als ich noch jünger war, konnte Onkel Greg mich gut leiden – in erster Linie, weil ich sportlich war und er von mir erwartete, Olympiasieger zu werden oder so. Doch seit meinem Outing hat er ziemlich deutlich gemacht, dass Thomas sein Lieblingsneffe ist, was mir offen gestanden am Arsch vorbeigeht. Das Letzte, was ich brauche, ist die Anerkennung eines Kerls, der seine gesamte Freizeit damit verbringt, sich YouTube-Videos von minderjährigen Mädels reinzuziehen.

»Morgen!«, sage ich.

Onkel Greg schreit Mom gerade auf Mandarin an, während Dad die beiden mit dem weltbesten Pokerface ignoriert und das Gebäck im Kühlschrank umräumt. Dad und ich gehören beide nicht zur Fraktion der Chinesischsprechenden, aber selbst ich merke an Onkel Gregs Tonfall und daran, wie Mom bewusst auf Abstand geht, wie katastrophal diese Unterhaltung verläuft. Außerdem hat Dad bei den ausgelassenen Karaokeabenden und den Seifenopern, die er regelmäßig mit Mom schaut, ganz sicher ein paar Brocken Chinesisch aufgeschnappt.

»Wie geht’s, Onkel Greg?«, frage ich, um ihn von Mom abzulenken.

Mürrisch blickt er zu mir hoch. Mom wirkt erleichtert.

»Theo.« Kein Hey, Neffe, wie läuft’s bei dir? Früher fing er immer an mit: Na, hast du endlich ’ne Freundin?, aber seit der Kater aus dem Sack ist, hat er offenbar endlich das Interesse an meinem Liebesleben verloren.

»Greg«, mischt Dad sich ein, als hätte er mein Ablenkungsmanöver gebraucht, um sich ebenfalls zu ein paar Worten durchzuringen. »Falls du über die Zahlen sprechen möchtest, haben wir die Unterlagen im Büro.«

Ah, die Zahlen. Darüber regt sich Greg also heute Morgen so auf.

Rechtlich gesehen ist er der Eigentümer des Cafés. Vor fünfzehn Jahren, als meine Eltern mit Thomas und Klein-Theo noch in Kalifornien lebten, kaufte er das Geschäft. Und nach ein paar Jahren hatte er dann keine Lust mehr darauf. Nachdem Dad also seinen Job verloren hatte, packten wir unsere Siebensachen und zogen nach Vermont, wo meine Eltern mietfrei die Wohnung im Obergeschoss beziehen durften, wenn sie im Gegenzug das Café betrieben. Eigentlich eine Win-win-Situation – stünden wir nur nicht unter der Fuchtel von Onkel Greg, der jetzt sowohl Vermieter als auch Geschäftsführer ist. Hinzu kommt, dass wir in Vermont leben. Ein echtes Trauerspiel.

»Nicht nötig, Masao«, erwidert Greg. »Dass du schlechte Arbeit leistest, weiß ich auch so. Seit wie vielen Jahren zahle ich jetzt schon eure Miete?«

Mein Vater wendet sich ab und beschäftigt sich anderweitig. Um seine Geduld beneide ich ihn wirklich. Onkel Greg stattet uns regelmäßig Besuche ab, um sich zu ereifern und ihm ein paar gemeine Seitenhiebe zu verpassen. Darunter fällt zum Beispiel auch die Aussage, Dad allein habe die gesamte Kundschaft vergrault, bloß weil er Japaner ist. Zudem behandelt er Mom, als wäre sie ein quengeliges kleines Mädchen – weil sie es seiner Meinung nach nicht einmal fertiggebracht hat, sich einen anständigen Ehemann zu suchen. Meine Güte, wie ich diesen Kerl hasse. Wahrscheinlich hat er Trump gewählt.

»Greg«, sagt Mom jetzt, »wir haben dir am Anfang des Monats den Betrag überwiesen, den du eingefordert hast.«

»Was weniger als im Vormonat war«, ergänzt Onkel Greg.

»Und trotzdem mehr, als du verlangt hast.«

»Aber es sollte deutlich mehr sein. Wenn ich in dem Haus ein anderes Geschäft eröffne, verdiene ich viel besser. Eure albernen Getränke will doch kein Schwein mehr. Ganz besonders seit der neuen Konkurrenz.«

Ich rolle mit den Augen. Einen Scheißdreck würde er mit seinem Laden verdienen – weil es außer Mom niemand mit ihm aushalten würde. So viel ist uns allen klar.

Dieses Drama mutet er uns jeden Monat aufs Neue zu: Er tut so, als bräuchte er uns nicht und wir müssten ihm die Füße küssen und ihn anflehen, uns nicht rauszuwerfen. Dabei sind wir diejenigen, die den Laden am Laufen halten und seinen Unterhalt verdienen. Selbstredend würde er uns nie ernsthaft auf die Straße setzen; er kostet nur den Gedanken aus, dass er es könnte. Und Mom macht er das Leben schwer und missbraucht sie als persönlichen Boxsack.

Selbstgefällig steht er da und brabbelt weiter auf Chinesisch. Dann knallt er vor Mom ein Blatt Papier auf den Tresen. Sie zuckt zurück. Dad tritt zu ihr und schaut ihr über die Schulter, aber keiner von beiden sagt ein Wort.

»So viele Möglichkeiten!«, ruft Greg. Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon er da redet – klar ist nur, dass er ein Arschloch ist. Ihn werde ich sicher nicht vermissen, wenn ich erst einmal am College bin und nicht mehr zurückblicken muss.

Als er endlich geht, ist Mom am Boden zerstört. Ich würde sie gern aufheitern, aber seien wir mal ehrlich: Ich bin nicht dafür gemacht, Leute aufzumuntern. Thomas ist der Sohn, an den man sich wendet, wenn man Rat oder emotionale Unterstützung braucht. Ich bin nur der Bruder, der nie die Klappe hält und alle runterzieht.

Dad reicht ihr einen Becher ihres Lieblingsmilchtees, wahrscheinlich mit einem Bruchteil des Zuckers, der sonst da reinkommt: Laut Mom gibt es nämlich kein schwerwiegenderes Verbrechen als übersüßten Milchtee. Sie lächelt ihn flüchtig an, aber beide sehen ziemlich elend aus. Ich fühle mich wie ein Riesenarsch, weil ich diese anschauliche Diskussion mitgehört habe.

Endlich blickt Mom von ihrem Milchtee auf. »Greg wird uns das Café wegnehmen.«

»So eine Scheiße labert der doch ständig. Das meint er nicht so.«

Mom funkelt mich zwar mit zusammengekniffenen Augen an, doch Dad ist derjenige, der mich ermahnt. »Hüte deine Zunge, Theo.«

Tja, selbst in so schwierigen Zeiten geht es ihnen bloß darum, dass ich nicht auf die schiefe Bahn gerate.

Dann sieht mir Mom direkt in die Augen. »Wir machen nicht mehr so viel Umsatz wie früher, und die Gäste sind auch weniger. Ich weiß nicht, was wir falsch machen, aber …«

»Du machst gar nichts falsch, June«, fällt ihr Dad ins Wort. »Diese Puerto Ricaner verderben uns schon seit Jahren das Geschäft. Und seit dieses neue Café aufgemacht hat …«

Ich muss Mom nicht ansehen, um zu wissen, dass sie darüber nur den Kopf schüttelt. Für sie passiert nichts einfach so. An allem trägt irgendjemand Schuld, und wenn wir plötzlich Kunden an die Morenos verlieren, dann muss es ja zwangsläufig ihre sein.

»Er hat gesagt, wenn wir den Umsatz bis nächsten Monat nicht steigern, schließt er das Café und macht was anderes daraus«, erklärt sie. »Das meint er sehr wohl ernst.«

Sie hält das kleine Blatt hoch, das Onkel Greg auf den Tresen geknallt hatte. Darauf ist eine Art Lageplan zu sehen, der für ein neues Spa wirbt.

Ich schnappe mir den Zettel und lese mir mit versteinerter Miene die Überschrift durch: Luxuriöse Wellnessoase. »Was zum Teufel?«, fauche ich. »Das kann er unmöglich ernst meinen! Er will unser Café dichtmachen, damit wir weiße Käsefüße waschen?«

»Theo!«, ruft Dad wieder. »Pass auf, was du sagst!«

Er nimmt Mom an der Hand, und ich wende mich ab. Zwei gebrochene Herzen, die kurz davorstehen, für immer ihre Existenzgrundlage zu verlieren – auf den Anblick kann ich echt verzichten. Meine Güte. Dabei habe ich ihnen noch nicht mal erzählt, dass ich vorhabe, sie im Stich zu lassen und aufs College zu gehen. Was werden sie erst tun, wenn ich ein Jahr später auch noch abhaue? Ganz besonders nach dem Ich-weine-ja-gar-nicht-im-Bad-Spektakel, das Mom nach Thomas’ Auszug veranstaltet hat.

Na, falls Onkel Greg ihnen das Café wegnimmt. Noch ist es ja nicht so weit. Es bleibt jede Menge Zeit, um den Umsatz zu steigern, mehr Laufkundschaft anzulocken und auch sonst alles zu tun, damit das Geschäft besser läuft. Stimmt’s?