Camille Saint-Saëns - Michael Stegemann - E-Book

Camille Saint-Saëns E-Book

Michael Stegemann

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Beschreibung

Camille Saint-Saëns: geboren 1835 in Paris – achteinhalb Jahre nach dem Tod Beethovens –, gestorben 1921 in Algier – achteinhalb Jahre nach der Uraufführung von Strawinskys «Sacre du printemps». Seine erste Komposition schreibt er im Alter von dreieinhalb Jahren, seine letzte beendet er drei Tage vor seinem Tod. Dazwischen liegen rund 700 Werke in allen Gattungen, darunter die erste Filmmusik, der erste Tango und natürlich der berühmte «Karneval der Tiere», den Saint-Saëns nie veröffentlichen wollte. «In meinen Anfängen wurde ich als Revolutionär apostrophiert – in meinem Alter kann ich nur noch ein Vorfahre sein.» Heute zweifelt niemand mehr daran, dass er eine Schlüsselfigur der europäischen Musikgeschichte war. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Michael Stegemann

Camille Saint-Saëns

Über dieses Buch

Camille Saint-Saëns: geboren 1835 in Paris – achteinhalb Jahre nach dem Tod Beethovens –, gestorben 1921 in Algier – achteinhalb Jahre nach der Uraufführung von Strawinskys «Sacre du printemps». Seine erste Komposition schreibt er im Alter von dreieinhalb Jahren, seine letzte beendet er drei Tage vor seinem Tod. Dazwischen liegen rund 700 Werke in allen Gattungen, darunter die erste Filmmusik, der erste Tango und natürlich der berühmte «Karneval der Tiere», den Saint-Saëns nie veröffentlichen wollte. «In meinen Anfängen wurde ich als Revolutionär apostrophiert – in meinem Alter kann ich nur noch ein Vorfahre sein.» Heute zweifelt niemand mehr daran, dass er eine Schlüsselfigur der europäischen Musikgeschichte war.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Michael Stegemann, geboren 1956 in Osnabrück. Studium (Komposition, Musikwissenschaft, Romanistik, Philosophie und Kunstgeschichte) in Münster und Paris, u. a. in der Meisterklasse von Olivier Messiaen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind der kanadische Pianist Glenn Gould, Mozart und Schubert, die russische und die französische Musik. Hörspiele, Sendereihen und Moderationen kreuz und quer durch die ARD, darunter seit 1987 das WDR 3 Klassik Forum. Deutscher Hörbuchpreis (2008) für «The Glenn Gould Trilogy». Rund ein Dutzend Bücher, darunter die Rowohlt-Monographien zu Antonio Vivaldi, Camille Saint-Saëns und Maurice Ravel und zuletzt «Franz Liszt – Genie im Abseits» (Piper). Seit 2002 auf dem Lehrstuhl für historische Musikwissenschaft an der TU Dortmund. Seit 2016 Herausgeber der «Œuvres instrumentales complètes» von Camille Saint-Saëns im Kasseler Bärenreiter-Verlag. 2017 vom französischen Kultusministerium zum «Chevalier des Arts et des Lettres» ernannt.

Für Yves Gérard

Proteus

Camille Saint-Saëns, dargestellt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten – das Porträt eines Dichters, dessen Sammlung Rimes familières mehrere Auflagen erlebt; eines Dramatikers, der als erfolgreicher Autor einiger Einakter und der abendfüllenden Gesellschaftskomödie Le Roi Apépi in die Annalen der Theatergeschichte eingeht; eines Astronoms, der sich als Gründungsmitglied der Société astronomique de France für die Erforschung der Marskanäle interessiert und mit Gustave Adolphe Hirns Theorien der Kosmogenese auseinandersetzt; eines Philosophen, dessen Essays Spiritualisme et matérialisme und Problèmes et mystères um Fragen der Theodizee, der Freiheit des Menschen und der Messbarkeit eines Raum/Zeit-Modells kreisen; eines Naturwissenschaftlers, der aufgrund seiner eigenen Arbeiten über die Verwandtschaft pflanzlicher und tierischer Zellstrukturen die Systematik Jean-Baptiste Lamarcks und die Evolutionslehre Charles Darwins verteidigt; eines Archäologen, der als einer der ersten die pompejanischen Fresken untersucht und sie in seiner Schrift Note sur les décors de théâtre dans l’antiquité romaine als Darstellungen antiker Bühnendekorationen interpretiert, der nach langjährigen Studien griechischer Vasenmalereien in einer Hauptversammlung des Institut de France seinen Essai sur les lyres et cithares antiques vorträgt; eines Ethnologen, der jede Gelegenheit wahrnimmt, um Dokumentationsmaterial über fremde Völker und Kulturen zu sammeln; eines Zeichners und Karikaturisten, der seine nach Tausenden zählende Korrespondenz mit graphischen Randglossen schmückt und mit schneller Feder Personen und Landschaften skizziert.

Vor allem aber das Porträt eines Musikers, dessen Universalität selbst seine Gegner nicht ihre Hochachtung versagen konnten: «Niemand kennt die Musik der ganzen Welt besser als Monsieur Saint-Saëns»[1] – der als Musikwissenschaftler die ersten Gesamtausgaben der Werke Jean-Philippe Rameaus und Christoph Willibald Glucks betreut; der als Musikhistoriker vom Cembalo aus die Société des Concerts d’instruments anciens leitet; der als Journalist verschiedener Zeitungen das musikalische Geschehen eines halben Jahrhunderts kommentiert; der sich als Pädagoge und Gründer der Société Nationale de Musique für die Eigenständigkeit der französischen Musik einsetzt und jungen Komponisten Aufführungen ihrer Werke ermöglicht; der als Pianist im Frankreich des Second Empire und der Troisième République die Werke Beethovens, Schumanns und Wagners gegen die Vorurteile des Publikums durchsetzt; der zwei Jahrzehnte lang als Organist an der Église de la Madeleine wirkt, und zu dessen sonntäglichen Improvisationen sich «le tout Paris» einfindet; der als Dirigent eigener und fremder Werke von nahezu allen großen Orchestern der Zeit zu Gast geladen wird; der als Komponist – erfolgreich in jedem nur denkbaren musikalischen Genre – sein erstes Werk mit kaum dreieinhalb Jahren[2], sein letztes als Sechsundachtzigjähriger schreibt: geboren acht Jahre nach dem Tod Beethovens – ein Revolutionär; gestorben acht Jahre nach der Uraufführung von Strawinskys «Sacre du printemps» – ein Reaktionär.

So groß die Bewunderung war, die das 19. Jahrhundert Saint-Saëns aufgrund dieser schier unglaublichen Vielfalt künstlerischer und wissenschaftlicher Interessen und Aktivitäten entgegenbrachte, so heftig wurde ihm vom 20. Jahrhundert gerade diese Vielseitigkeit vorgeworfen: Wird man nicht den Autor (der es selbst am besten weiß) spüren lassen, wie sehr ihm jegliche Kompetenz fehlt, um über so tiefgreifende Fragen zu schreiben? «Was mischt er sich in Dinge ein, die ihn überhaupt nichts angehen.» Pardon, aber das geht jeden etwas an[3], rechtfertigt Saint-Saëns im Epilog der Problèmes et mystères seinen philosophischen Diskurs. Doch seine Kritiker halten daran fest, ihn als einen modernen, auf den verschiedensten Gebieten dilettierenden Proteus[4] und Eklektizisten zu charakterisieren. Dass er selbst keineswegs Anspruch auf wissenschaftliche Originalität erhob und seine außermusikalischen Studien nur als Divagations sérieuses[5], als «ernsthafte Gedankenspiele» bezeichnete, änderte nichts daran.

Aus psychologischer Sicht bekommt die Ruhelosigkeit, mit der Saint-Saëns von einem «Gedankenspiel» zum nächsten eilt (und der die Schaffensintensität des Œuvres ebenso entspricht wie die Unrast der zahllosen Reisen und Auslandsaufenthalte), freilich eine andere Bedeutung. Es scheint, als verberge sich hinter diesen «Fluchten» ein Horror vacui, eine tiefe Lebensangst. «Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren … Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen. Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen.»[6]

Die Flucht gelingt: die Persönlichkeit Saint-Saëns’ entzieht sich in fast erschreckendem Maß dem Zugriff des Biographen, und selbst seinen engsten Freunden (soweit dieses Wort überhaupt Berechtigung hat) ist es nie gelungen, die sorgsam gewahrte Distanz zu überwinden. Der Einzige, der das Eis der Gefühlskälte durchbrochen zu haben scheint, war Saint-Saëns’ Kammerdiener Gabriel Geslin. Umso merkwürdiger also, dass Gabriel von nahezu allen Biographen regelrecht totgeschwiegen wird; ein Grund dafür mögen die Gerüchte über die angebliche homosexuelle oder sogar päderastische Neigung Saint-Saëns’ gewesen sein, denen die große Zuneigung, die der Komponist dem jungen Mann entgegenbrachte, gerade recht kam. (Tatsächlich entspricht das Wenige, was man über Saint-Saëns’ Intimleben weiß, eher dem Bild eines asexuellen Menschen.)

Aber bedarf es überhaupt solcher Kenntnisse der Psyche des Komponisten, um sein Porträt zu entwerfen? «Was zählt, ist allein das Werk des Künstlers», behauptet Jean Bonnerot, langjähriger Privatsekretär und Autor der bis heute umfassendsten und zuverlässigsten Biographie Saint-Saëns’[7]: «Im Übrigen erklärt und umfasst das Werk sein ganzes Leben und scheint dieses so sehr zu absorbieren, dass es mit ihm verschmilzt.»[8] Doch wo bei jedem anderen Komponisten das Werk ein mehr oder weniger getreues Abbild seines Autors darstellt (oder zumindest rudimentär Rückschlüsse auf dessen Erleben und Empfinden zulässt), bleibt Saint-Saëns selbst im Spiegel seiner Musik unnahbar und unkenntlich. Trotz einer Schaffenszeit von mehr als einem dreiviertel Jahrhundert lässt sich kaum eine Veränderung seiner musikalischen Sprache feststellen; ihr Vokabular und ihr Stil sind gleichsam objektiviert, frei von allen inneren Regungen – so als wäre auch die Musik für ihn nur ein «ernsthaftes Gedankenspiel» gewesen. «Er schien das Komponieren als eine angenehme Geistesübung zu pflegen … Man könnte aus seiner Musik auch nicht entnehmen, ob er gütig, liebes- oder leidensfähig war.»[9] Dieselbe Unpersönlichkeit kennzeichnete auch sein Klavierspiel; Saint-Saëns galt als «klassischer Pianist von großer, wenn auch etwas kühler und trockener Begabung»[10], der «wenig Seele und wenig Leidenschaft zeigt und am Klavier gewissermaßen doziert»[11], sodass man ihm «Kälte und Mangel an Sensibilität»[12] nachsagte. Keinerlei Verbindlichkeit gegenüber dem Publikum: «Für den Beifall bedankt er sich fast wie ein Automat mit einem regelmäßigen Nicken des Kopfes.»[13]

Dem 19. Jahrhundert – Zeitalter der romantischen Emphase, in dem jedes Kunstwerk mit dem Herzblut seines Schöpfers getränkt ist – musste dieser kühle Rationalismus fremd, suspekt, wenn nicht gar unheimlich sein. Hinzu kam, dass Saint-Saëns keinem der Entwicklungs- oder Reifungsprozesse unterworfen zu sein schien, die für die Entfaltung einer Künstlerpersönlichkeit als unabdingbar gelten: seine Identität ist von Anfang an ausgeprägt. Gerade das hat man ihm vielleicht am wenigsten verziehen: «Er weiß alles, aber es fehlt ihm an Unerfahrenheit»[14], bemerkte Hector Berlioz, als die Jury des Conservatoires 1864 Saint-Saëns’ Kantate Ivanhoé den Prix de Rome verweigerte. Diese und andere Enttäuschungen konnten seinen Gleichmut freilich ebenso wenig erschüttern wie Erfolg und Anerkennung. Für Kritik und Lob bin ich kaum empfänglich – nicht etwa aus übertriebenem Selbstwertgefühl (das wäre eine Dummheit), sondern weil ich im Hervorbringen meiner Werke einem Gesetz meiner Natur folge, so wie ein Apfelbaum Äpfel hervorbringt, und mich also nicht darum zu kümmern brauche, was man für eine Meinung von mir hat.[15] So verlaufen Lebens- und Schaffensweg Saint-Saëns’ in völliger Geradlinigkeit; getreu seinen Leitsätzen – sich vor jeder Übertreibung zu hüten und seine ganze geistige Gesundheit zu bewahren[16] – hält er sich so gut es geht von allen Einflüssen fern und bleibt in der musikalischen Szenerie seiner Epoche ein Einzelgänger, «der kein System hat, keiner Schule angehört und keinerlei Reformbewegung vertritt»[17]: eine absolute Größe.

In seinem egozentrischen Stoizismus fehlte Saint-Saëns allerdings auch jegliches Verständnis oder Gespür für die Empfindlichkeit anderer; mit seinen scharfen und scharfzüngigen Urteilen nahm er keinerlei Rücksicht darauf, ob er jemanden kränken oder sich selbst schaden könnte. Ebenso unberührt blieb er von den fließenden Veränderungen der Zeit und hielt an seinem künstlerischen Credo mit derselben Kompromisslosigkeit fest wie an seiner (konservativ-patriotischen) politischen Einstellung. Das eine machte ihm so viele Feinde wie das andere, ohne dass er bei sich selbst die Schuld gesucht hätte: Ich möchte geliebt werden und verstehe gar nicht, dass man mich hasst – mich, der ich doch nie irgendjemandem etwas Böses getan habe.[18] Aus diesen Zeilen spricht eine erstaunliche Naivität, denn wenn Saint-Saëns auch sicher niemandem wissentlich oder absichtlich etwas Böses getan hatte, so konnte er doch kaum erwarten, mit seiner immer wieder dezidiert und vehement geäußerten Ablehnung der neuen musikalischen Strömungen Freunde zu gewinnen.

So geriet Saint-Saëns nach der Jahrhundertwende mehr und mehr ins Abseits der Musikgeschichte; er selbst hatte sich zwar nicht geändert, doch die Zeit war über ihn hinweggerollt, und als letzter Überlebender einer längst versunkenen Epoche, «dessen Vorliebe für die alte Musik ebenso notorisch ist wie seine Abneigung gegen die zeitgenössische»[19], bot er den Vertretern der neuen französischen Schule eine ideale Zielscheibe. Es liegt eine gewisse Tragik darin, dass ausgerechnet er zum konservativen Eklektizisten par excellence erklärt wurde, nur weil andere, die es weit mehr verdient hätten (wie Jules Massenet), entweder schon gestorben oder (wie Vincent d’Indy) früh genug zum Lager der Modernisten übergelaufen waren. Wäre Saint-Saëns nur 70 oder 75 Jahre alt geworden, so hätte die Musikgeschichte ihm zweifellos den Rang «eines der größten Meister der französischen Musik nach Berlioz» eingeräumt, der ihm noch 1907 zugestanden wurde.[20] Dass er aber erst 1921 – mehr als dreieinhalb Jahre nach Debussy – starb, wurde ihm zum Verhängnis. Die Stimmen seiner Gegner verstummten zwar, doch sie hallten noch lange nach: «… Es ist sonderbar: Man kann stundenlang mit Musikern über die Musik Frankreichs sprechen, doch nie fiele es einem ein, den Namen Saint-Saëns zu erwähnen.»[21]

Einige Werke aber bewahrten seinen Namen vor dem Vergessen, darunter die Oper Samson et Dalila, die dritte, sogenannte Orgel-Symphonie, die symphonische Dichtung Danse macabre, das zweite und vierte Klavierkonzert, Introduction et Rondo capriccioso, die Havanaise und das dritte Konzert für Violine und Orchester, das erste Cellokonzert, die Étude en forme de valse für Klavier und die «große zoologische Fantasie» Le Carnaval des animaux. Sie bildeten sozusagen das Fundament des allmählich neuerwachenden Interesses an Saint-Saëns und seiner Musik, das vor allem in den anderthalb Jahrzehnten zwischen seinem 50. Todestag (1971) und seinem 150. Geburtstag (1985) stetig zugenommen und große Teile des verschütteten Œuvres wieder zugänglich gemacht hat. Camille Saint-Saëns – ein «moderner Proteus»? Das Bild hat sich verändert und andere Urteile bestätigt, die in Saint-Saëns «den größten Symphoniker Frankreichs»[22] und «den einzigen Vertreter des klassischen französischen Geistes»[23] in der Musik erkannten.

Das Leben

Das Wunderkind (1835–53)

Wenn man Paris über die Porte Saint-Ouen in nordwestlicher Richtung verlässt, der Route Nationale 14 bis Rouen folgt, dann weiter über die Route Nationale 28 fährt und nach etwa 30 Kilometern die Route Départementale 154 einschlägt, die nach Dieppe führt, stößt man am Kreuzungspunkt mit der Route Nationale 29 im Département Seine-Maritime auf die kleine Kreisstadt Saint-Saëns. Im 7. Jahrhundert hatte der Merowingerfürst Thierry (Dietrich) III. hier am Ufer der Varenne ein Kloster gegründet und einen irischen Mönch namens Sidonius 675 zu seinem Abt bestimmt. Zum Schutz des Klosters wurde eine Burg errichtet, in deren Schatten bald eine Ansiedlung entstand. Nach der Heiligsprechung des Mönchs nahmen der Ort und die Burgherren zu seinen Ehren den Namen «Sanctus Sidonius» an, der sich dann im Sprachgebrauch mehrerer Jahrhunderte zu «Saint-Saëns»[24] abschliff.

Mehrfach werden in der Geschichte der Normandie die «Seigneurs de Saint-Saëns» erwähnt, die für ihre Verdienste um König und Vaterland, vermutlich im 11. Jahrhundert, als «Marquis de Saint-Saëns» in den Adelsstand erhoben wurden.[25] (Das Adelsprädikat ging wohl während der Zeit der Französischen Revolution verloren.) Jedenfalls bilden die «Herren von Saint-Saëns» die Wurzeln des weitverzweigten Stammbaums des Komponisten, und der Name der Familie ist in jenem Landstrich der Normandie – dem Pays de Caux – auch heute noch anzutreffen. Dennoch hielt sich lange Zeit das Gerücht, Camille Saint-Saëns sei jüdischer Abstammung und habe den Namen nur angenommen.[26]

In Rouxmesnil-Bouteilles, einem Weiler nahe von Dieppe, wird im Jahre 1780 der Bauer und Landpächter Jean-Baptiste-Nicolas Saint-Saëns urkundlich erwähnt, der Großvater des Komponisten; aus seiner Ehe mit Marguerite-Marie Vallet, der Tochter eines Landarbeiters aus Saint-Aubin-sur-Mer, gingen zwei Söhne hervor: Jean-Baptiste-Camille (geboren am 18. Mai 1795) und Jacques-Joseph-Victor (geboren am 19. März 1798). Während der Ältere der Berufung zum Priester folgte, schlug der Jüngere die Laufbahn eines Beamten ein, ging nach Paris und erhielt fünfundzwanzigjährig einen Posten im Innenministerium, wo er es binnen kurzem bis zum Prokuristen brachte und nebenher immerhin noch Zeit fand, seinen literarischen Ambitionen zu frönen, Gedichte zu verfassen und sogar an einer kleinen Prosakomödie Jacques-Arsène Ancelots mitzuarbeiten.[27] Am 24. November 1834 heiratete er Clémence Collin, eine Waise aus dem Dorf Wassy in der Champagne und Adoptivtochter ihres Onkels Esprit Masson und seiner Frau Charlotte-Françoise; die Massons hatten in der Rue Mignon eine kleine, recht gut gehende Buchhandlung betrieben, bis eine Wirtschaftskrise sie (wenige Wochen vor Clémences Heirat) über Nacht ins Elend stürzte. So bezogen sie gemeinsam mit dem jungen Paar eine Wohnung im Haus Nummer 3 der Rue du Jardinet, im VI. Arrondissement.

Doch den beiden Familien war kein Glück beschieden: am 27. Januar 1835 starb Victors Bruder, der zuletzt Pfarrer in Neuville-le-Pollet gewesen war; kaum zwei Monate später, am 21. März, mussten sie den Tod Esprit Massons beklagen. Mit der Geburt eines Sohnes am 9. Oktober, der am 27. in der Église Saint-Sulpice auf den Namen Charles-Camille getauft wurde, schien zwar eine bessere Zeit anzubrechen; aber schon bald darauf traf den Hausstand ein weiterer Schicksalsschlag, der schwerste: am 30. Dezember 1835 erlag Jacques-Joseph-Victor Saint-Saëns einer galoppierenden Schwindsucht.

So wuchs ich also in der Obhut von zwei Müttern auf: der, die mich zur Welt gebracht hatte, und meiner Großtante Charlotte Masson … Die beiden Frauen – verwitwet, materiell kaum sichergestellt und bedrückt von traurigen Erinnerungen – standen allein mit einem Kind von äußerst schwächlicher Konstitution, für dessen Lebensfähigkeit die Ärzte nicht garantieren konnten. Auf ihren Rat hin brachte man mich aufs Land, – nach Corbeil – wo ich bis zu meinem zweiten Lebensjahr bei einer Amme heranwuchs.[28]

So wie der Vater als Literat dilettiert hatte, widmete die Mutter ihre freie Zeit der Malerei: sicher ein guter Nährboden für die Entwicklung des Kindes, doch kaum genug, um seine außergewöhnliche Begabung durch das Wirken des «Vererbungsgesetzes»[29] zu erklären, wie es viele Biographen getan haben. Umso weniger, als diese Begabung keineswegs nur künstlerischer Natur ist: Im Alter von 30 Monaten lernt Camille mit derselben Leichtigkeit lesen, mit der er als Sechs-, Siebenjähriger lateinische und griechische Texte übersetzt[30], naturwissenschaftliche Experimente unternimmt und komplizierte algebraische Probleme löst. Seine Mutter soll ihn zwar schon vor der Geburt zum Musiker bestimmt haben, doch ich muss, der Wahrheit getreu, gestehen, dass meine Vorliebe sich zwischen Musik und Mathematik teilte[31].

Die erste musikalische Unterweisung erhält Saint-Saëns von seiner Großtante, einer ausgezeichneten Tonkünstlerin[32], die den Zweieinhalbjährigen Notenlesen lehrt, sein absolutes Gehör schult und ihm an einem Zimmermann-Pianino an Hand der «Méthode de piano pour les enfants» von Adolphe-Clair Le Carpentier die Anfänge des Klavierspiels vermittelt. Nach einem Monat hatte ich die Schule durchgearbeitet! Man konnte einem Knirps wie mir natürlich keinen regelrechten Klavierunterricht geben, aber ich schrie so verzweifelt, wenn man das Instrument wieder verschloss, dass man es schließlich offen ließ und mir einen kleinen Hocker davor stellte.[33] Für das gängige Repertoire anspruchsloser Kinderstücke verliert der kleine Pianist bald jedes Interesse, und man suchte also aus den Werken der alten Meister Haydn und Mozart Stücke heraus, die einfach genug waren, dass ich sie spielen konnte … Bald begann ich, eigene Stücke zu schreiben, Walzer und Galopps.[34] Das früheste dieser Stücke trägt von der Hand Charlotte Massons den Datumsvermerk «22 mars 1839»: Saint-Saëns war drei Jahre und fünf Monate alt! (Mozarts erste Komposition – das nur in der Abschrift seines Vaters überlieferte Menuett G-Dur KV 1 – ist die Arbeit eines Fünfjährigen und trägt überdies «deutliche Spuren des Diktats».[35]) Ich habe kürzlich diese kleinen Kompositionen wieder durchgesehen. Sie sind recht unbedeutend, aber man würde keinen Satzfehler darin entdecken können: erstaunlich genug für ein Kind, das noch nicht die geringsten Kenntnisse der Harmonielehre besaß.[36] Im Mai 1841 schreibt der kleine Camille sein erstes Lied: die Romanze Le Soir[37], nach einem Gedicht von Marceline Desbordes-Valmore. Für eine andere Romanze erhält er wenig später die Partitur von Mozarts «Don Giovanni» zum Geschenk: Sie wird ihn wie eine Bibel sein Leben lang begleiten.

Die Anlagen des Kindes entfalten sich in absoluter Freiheit: Die Behauptung, man habe mich mit der Peitsche ans Klavier getrieben, gehört in den Bereich der Legende.[38] Vielmehr zeigen Mutter und Großtante eine gewisse Reserviertheit gegenüber Camilles Fortschritten: Da ich ein «Wunderkind» war, hatte meine Mutter furchtbare Angst vor Schmeicheleien und warnte mich von Anfang an vor ihrer Falschheit; ich habe nie Komplimenten geglaubt, ohne sie auf ihre Berechtigung überprüft zu haben. Kritik war mir lieber, und ich habe recht daran getan.[39] Dieses schon dem Kind eingeimpfte Misstrauen hat die Verschlossenheit des Mannes sicher mitzuverantworten, ebenso wie es die (in vielen Anekdoten überlieferte) brüske Art erklärt, mit der Saint-Saëns so oft junge Talente entmutigte, die ihm ihre Werke vorlegten. Man darf Anfängern nicht schmeicheln, sie zu früh glauben lassen, dass sie Meisterwerke geschaffen hätten! Sie selbst glauben allzu leicht daran! Im Gegenteil: Man muss ihnen beibringen, dass man sich – mag man es auch noch so gut gemacht haben – stets bemühen muss, es noch besser zu machen.[40]

Die weitere musikalische Entwicklung des Siebenjährigen wird zwei erfahrenen Lehrern anvertraut: Am 13. März 1843 erhält er seine erste Klavierstunde bei Camille Stamaty, einem Meisterschüler Friedrich Kalkbrenners. Alles das, was Saint-Saëns’ Spiel auszeichnete – die Leichtigkeit des Anschlags aus dem Handgelenk heraus, die perlenden Läufe in perfektem Hand-Legato (und überhaupt der weitgehende Verzicht auf Effekte des rechten Pedals), die polyphone Durchsichtigkeit und orchestrale Farbigkeit, die rhythmische Präzision mit nur sehr zurückhaltendem Gebrauch des Rubatos und die sonore, dabei nie «hämmernde» Kraft seines Fortes[41] – gehen durchweg auf den Unterricht bei Stamaty zurück. Eine ganze Reihe von Klavierwalzen und einige frühe akustische Aufnahmen[42] haben zudem besondere Beachtung gefunden, da man aufgrund gemeinsamer Ursprünge aus dem Klavierspiel Saint-Saëns’ gewisse Rückschlüsse auf das Frédéric Chopins zu ziehen vermag.[43] Bemerkenswert ist auch, dass Saint-Saëns absolut nicht dem Typus eines «Tastenlöwen» entsprach, den das Publikum der Zeit favorisierte: «… Er wollte nicht Virtuose genannt sein»[44], und «ungeachtet seiner leidenschaftlichen Bewunderung für Liszt versuchte er nicht, ihn nachzuahmen»[45].

Der pianistischen Ausbildung wurde die musiktheoretische zur Seite gestellt: Am 18. Oktober 1843 erhält Camille dank der Vermittlung Stamatys seine erste Lektion bei Pierre Maleden, einem Schüler Gottfried Webers. Sowohl am Klavier wie in den theoretischen Fächern übertreffen die Fortschritte des Kindes alle Erwartungen. Nach einigen Privatkonzerten und Matineen gibt Saint-Saëns, begleitet vom Orchester des Théâtre Italien unter der Leitung von Théophile-Alexandre Tilmant, am 6. Mai 1846 in der Pariser Salle Pleyel sein offizielles Debüt; auf dem Programm stehen Mozarts Klavierkonzert B-Dur KV 450, ein Thema mit Variationen und eine Fuge von Händel, eine Toccata von Kalkbrenner, eine Sonate von Hummel, ein Präludium mit Fuge von Bach und schließlich das dritte Klavierkonzert von Beethoven. Der Erfolg ist überwältigend, die «Gazette Musicale» feiert den Zehnjährigen als «neuen Mozart».[46]

Die Frühreife des Kindes wird freilich nicht nur positiv beurteilt. Jemand warf meiner Mutter vor, dass sie mich Sonaten von Beethoven spielen ließ. «Was wird er spielen, wenn er erst zwanzig ist?» – «Seine eigenen Werke», antwortete sie.[47] Die Welt seiner Mutter und seiner Großtante dreht sich nur um Camille. Sicher, sie zwingen ihn zu nichts, doch allzu besorgt halten sie alles Alltägliche von ihm fern; nicht einmal der Schulbesuch befreit ihn aus der «Gefangenschaft» im Schoß der Familie: er erhält Unterricht von verschiedenen Privatlehrern, die ins Haus kommen.[48] In der Obhut der beiden Frauen wächst Saint-Saëns ohne Spielkameraden oder gleichaltrige Freunde auf, fast ohne Verbindung zur Außenwelt; alles Kindliche verkümmert, das Gefühlsleben «vertrocknet»[49], die Kontaktarmut lässt sich durch übertriebene Regsamkeit des Geistes nur schlecht ausgleichen. «Als Kind war Saint-Saëns sehr nervös und empfindlich, und zwar bis zu dem Maße, dass, als er mit zehn Jahren sein erstes Konzert dirigiert [sic!] hatte, er ganz bleich und stark fiebernd zurückkam.»[50] Saint-Saëns lebte in der ständigen Angst, das tuberkulöse Leiden seines Vaters könne auch bei ihm ausbrechen. Bis zum reifen Mannesalter bleibt er mager, blass und anfällig für jeden Infekt, die Feuchtigkeit des Pariser Klimas quält ihn mit Atembeklemmungen; erst als er es sich leisten kann, die Wintermonate auf den Kanarischen Inseln oder in Nordafrika zu verbringen – «keine Reiselust also, sondern eine Frage des Überlebens»[51] –, stabilisiert sich seine Gesundheit.

Im November 1848 tritt Saint-Saëns am Conservatoire in die Orgelklasse François Benoists ein: zunächst als Gasthörer, zwei Monate später als ordentlicher Student. Im Oktober 1850 wird er Kompositionsschüler Fromental Halévys, der seine Klasse sträflich vernachlässigte … Wenn er – was oft genug vorkam – den Unterricht ausfallen ließ, setzte ich mich in die Bibliothek, wo ich meine Ausbildung vervollkommnete: man kann sich kaum vorstellen, was ich an alter und neuer Musik verschlungen habe.[52] Auch hier hat er es leichter als andere: Ein unfehlbares Gedächtnis hält das Gelesene und Gehörte für alle Zeit fest. 1852 bewirbt sich Saint-Saëns um den Prix de Rome, die höchste, mit einem zweijährigen Italien-Stipendium verbundene Auszeichnung des Conservatoires. Die Tatsache, dass er mit seiner Kantate Le Retour de Virginie scheitert, muß ihn tief enttäuscht haben: Man stelle sich den Verdruss und die Niedergeschlagenheit eines Musikers vor, der dazu verdammt ist, Partituren zu schreiben, von denen er weiß, dass sie nie aufgeführt werden![53] Erst zwölf Jahre später (und auch dann vergeblich) bemüht er sich ein zweites Mal um den Preis. Hier mag auch die Erklärung für den Untertitel Urbs Roma zu suchen sein, den Saint-Saëns 1857 seiner F-Dur-Symphonie gibt: Es bedarf keines Prix de Rome, um sich der «ewigen Stadt» als würdig zu erweisen …[54]

Misserfolg auf der einen, Erfolg auf der anderen Seite: Mit seiner Ode à Sainte-Cécile gewinnt Saint-Saëns im Dezember 1852 einen Kompositionswettbewerb der drei Jahre zuvor von dem belgischen Geiger und Dirigenten François Seghers gegründeten Société Sainte-Cécile; die Konzerte der Gesellschaft, die in einem Saal der Rue de la Chaussée d’Antin stattfanden, waren fast ausschließlich neuer Musik gewidmet, und manchmal gab es regelrechte Aufstände. Zum ersten Mal wurde hier die «Manfred»-Ouvertüre von Schumann gespielt, dessen Werke damals als Nec plus ultra des Modernismus galten, die A-Dur-Symphonie von Mendelssohn und das Vorspiel zum «Tannhäuser». Auch die junge französische Schule, der die Pforten der Rue Bergère (wo die Société des Concerts du Conservatoire ihre Konzerte veranstaltete[55]) verschlossen waren, wurde an der Chaussée d’Antin mit offenen Armen empfangen: darunter Reber, Gounod, Gouvy, und sogar Anfänger wie Georges Bizet oder ich selbst.[56]

Über die Aufführung eines Werks entschied eine Kommission, der Seghers im Herbst 1853 die Symphonie «eines unbekannten deutschen Komponisten»[57] vorlegte; sie wurde angenommen und am 18. Dezember des Jahres mit glänzendem Erfolg erstmals gespielt. (In demselben Konzert fand auch die Pariser Premiere von Berlioz’ «La Fuite en Égypte» statt, Mittelstück der Trilogie «L’Enfance du Christ»; eine Ironie der Musikgeschichte wollte es, dass sich Berlioz zwei Jahre zuvor bei der Uraufführung eines Chorsatzes dieses Werkes – «Adieu des bergers» – ebenfalls verleugnet und das Stück als Arbeit eines apokryphen Autors des 18. Jahrhunderts namens Pierre Ducré ausgegeben hatte.) Als Seghers dann bekannt gab, dass sich hinter den drei Sternen, die auf dem Programmzettel für den Namen des Komponisten standen, der gerade achtzehnjährige Saint-Saëns verbarg, war die Überraschung perfekt. 1855 erschien die Es-Dur-Symphonie bei Richault mit der Opuszahl 2 als erstes Werk Saint-Saëns’ im Druck[58]; die Société Sainte-Cécile war damals bereits der Konkurrenz der Concerts Pasdeloup erlegen und hatte ihre Aktivitäten eingestellt. Viele Jahre später sollte Saint-Saëns mit der Gründung der Société Nationale de Musique das Erbe Seghers’ antreten.

Am Tag nach der Uraufführung der Symphonie erhielt ihr Komponist einen Brief von Charles Gounod, der schon seit einigen Jahren die Entwicklung des jungen Mannes aufmerksam verfolgt und gefördert hatte: «Sie sind über Ihr Alter hinaus: machen Sie weiter so – und denken Sie daran, dass Sie am Sonntag, dem 18. Dezember 1853 einen Vertrag eingegangen sind, der Sie dazu verpflichtet, ein großer Meister zu werden.»[59]

Der Revolutionär (1854–70)

Die Jahre nach dem spektakulären Erfolg der Es-Dur-Symphonie verlaufen ruhig – dem äußeren Anschein nach: Der innere Sturm und Drang der (soweit man weiß) ersten Liebe spiegelt sich nur in den Liedern und Romanzen wider, die Saint-Saëns zwischen 1854 und 1860 komponiert. Sie gelten der mehr als fünf Jahre älteren Marie Félicie Clémence de Reiset, einer Schülerin Friedrich von Flotows, die «zur Vervollkommnung ihrer musikalischen Ausbildung zwei Jahre lang unter der Anleitung von Monsieur Camille Saint-Saëns ihre Studien fortsetzte»[60]. «Mademoiselle Marie Reiset»[61] war allerdings seit 1857 verehelichte Vicomtesse de Grandval, sodass die Gefühle des jungen Saint-Saëns vielleicht erwidert wurden, die Beziehung selbst aber kaum die Grenzen der Konvention überschritten haben dürfte. Im Übrigen ist man auch hier auf Spekulationen angewiesen: Abgesehen von den Widmungen der Lieder und des Oratorio de Noël op. 12 bezeugen nur Berichte Außenstehender die Innigkeit des Verhältnisses.