Franz Liszt - Michael Stegemann - E-Book

Franz Liszt E-Book

Michael Stegemann

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Beschreibung

Franz Liszt gilt als eine der Schlüsselfiguren der europäischen Musik. Doch wer war dieser so geniale wie widersprüchliche Pianist und Komponist wirklich? Aus einem gefeierten Pianisten, der das Publikum in Paris und London, in Rom und Wien zu Begeisterungsstürmen hinriss, wurde im Alter ein Menschenfeind, der sich bitter beklagte, dass alle Welt gegen ihn und seine Musik sei. Der erste Popstar der Klassik, Frauenschwarm und Hexenmeister am Klavier – er wurde als Komponist von seinen Zeitgenossen nicht verstanden, seine Musik fand kein Gehör. Erst jetzt wird Liszts visionäres Künstlertum wiederentdeckt: Die fesselnd erzählte Biografie des lange verkannten Genies.

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www.piper.de

In herzlicher Freundschaft für

Karl Dietrich Gräwe, Dieter Hauer und Klaus Stadler –

treue Wegbegleiter durch so viele Sendungen und Bücher …

… et bien amicalement pour Michel, MaJo et Kim.

ISBN 978-3-492-97715-9

Februar 2017

© Piper Edition, ein Imprint der Piper Verlag GmbH,

München/Berlin 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2011

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

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Douze Études (biographiques) d’exécution transcendante

Vorwort

1885, irgendwo zwischen Rom, Weimar und Budapest. Irgendwo in Europa. Ein alter, vom grauen Star fast erblindeter, von Krankheit und Alkohol gezeichneter Mann schlurft in zerschlissenen Pantoffeln durch eine Wohnung, in der es nach kaltem Zigarrenrauch und schalem Cognac riecht. Immer wieder lässt ihn ein quälender Hustenanfall innehalten; leise stöhnend stützt er sich an einem Sessel ab. Seit einem Treppensturz vor ein paar Jahren bereitet jeder Schritt seinen von der Wassersucht aufgedunsenen Beinen Mühe und Schmerzen, und die Erkältung will und will nicht besser werden. Das immer noch dichte, schlohweiße, schulterlange Haar fällt auf den Kragen einer nachlässig zugeknöpften Soutane. Um die Schultern hat er ein Tuch gelegt: Er friert. Auf dem Tisch im Salon liegen einige Zeitungen und Journale: Berlin, Leipzig, Paris, die Neue Freie Presse aus Wien, der Pester Lloyd. Das Übliche: feindselige Verrisse und gehässiger Spott. Erfolg und Anerkennung? »Ich kann warten«, hat er immer wieder seinen Schülern erklärt. Warten … Seufzend setzt er sich an den Schreibtisch, um die tägliche Korrespondenz zu erledigen: Briefe an die Tochter, die ihm ganz und gar entfremdet ist, an die frühere Geliebte, die ihre Wohnung nicht mehr verlässt, an Bittsteller, an Freunde.

»Alle sind gegen mich. Die Katholiken, weil sie meine Kirchenmusik profan finden, die Protestanten, weil sie finden, dass meine Musik katholisch ist, die Freimaurer, weil sie meine Musik als klerikal empfinden; für die Konservativen bin ich ein Revolutionär, für die ›Zukunftsapostel‹ ein falscher Jakobiner. Was die Italiener betrifft, trotz Sgambati: Wenn sie Anhänger Garibaldis sind, hassen sie mich als Frömmler, wenn sie auf Seiten des Vatikan stehen, klagen sie mich an, den Venusberg in die Kirche gebracht zu haben. Für Bayreuth bin ich kein Komponist, sondern bloß ein Werbeträger. Die Deutschen verabscheuen meine Musik als französisch, die Franzosen als deutsch, für die Österreicher schreibe ich Zigeunermusik, für die Ungarn fremdartige Musik. Und die Juden hassen mich und meine Musik ohne jeden Grund.«1

Dieser späte Brief Franz Liszts an seinen ungarischen Freund Ödön Mihalovich ist ein erschütterndes Dokument: Lebensresümee eines vereinsamten, verkannten und verletzten Künstlers, dem doch einmal ganz Europa zugejubelt und zu Füßen gelegen hatte. Wie konnte aus dem glamourösen Pop- und Superstar, der mit seinem Klavierspiel die Massen zu hysterischer Begeisterung hinriss, dieser alte Mann werden, der sich bitter beklagt, dass alle gegen ihn und seine Musik sind? Wie konnte sein Genie derart ins Abseits geraten? Diese Fragen zu beantworten ist eines der Hauptanliegen dieses Buches.

*

»Es ist ganz erstaunlich, daß sich ein erheblicher, ich möchte sagen der überwiegende Teil der Musiker trotz der Neuartigkeit und Großartigkeit der Musik Liszts so wenig mit ihr anfreunden kann«2, stellte Béla Bartók 1911 in einem Aufsatz zum 100. Geburtstag des Komponisten fest. Und daran hat sich auch heute – 100 Jahre später – nicht viel geändert. Tatsächlich gibt es kaum einen bedeutenden Komponisten des 19. Jahrhunderts, der so wenige Freunde zu haben scheint. »Ich weiß, ich kompromittiere mich, indem ich ein Wort für Liszt einlege«, verteidigte sich der Pianist Alfred Brendel 1976 in einem Plädoyer für den Geächteten. Die Vorurteile gegen seine Musik, die Brendel aufzählt – »bombastische Äußerlichkeit, billige Sentimentalität, Formlosigkeit, Wirkung um der Wirkung willen«3, – sind heute so lebendig wie eh und je. In Deutschland kommt noch ein spezifisches Kainsmal hinzu, das Liszt anhaftet: seine Vereinnahmung als »Volksgenosse«4 durch die Nationalsozialisten und der Missbrauch seiner Symphonischen Dichtung Les Préludes als musikalisches Signet für Sondermeldungen der Wehrmacht im Rundfunk. Kein Wunder, dass sich die Musikforschung vor allem in Deutschland schwertut mit Liszt. Nach den beiden großen Monografien von Lina Ramann5 und Peter Raabe6 ist in Deutschland seit 80 Jahren keine umfassende Darstellung seines Lebens und seiner Musik mehr erschienen. Von Ernst Burger7 gibt es zwei edle Bildmonografien, aber größere deutschsprachige Biografien wie die von Wolfgang Dömling8, Adalbert Engel9, Reinhard Haschen10 oder Klára Hamburger11 bieten eher Kompilationen bekannter Fakten, Quellen und Texte, als dass sie das Bild des Komponisten grundlegend verändern würden. Die jüngste, englischsprachige Referenzmonografie des britisch-kanadischen Liszt-Forschers Alan Walker12 ist zwar ins Französische übersetzt worden, nicht aber ins Deutsche.

Trotz alledem: Franz Liszt ist weltberühmt. Seinen Namen kennen auch Menschen, die nicht unbedingt eine Affinität zur so genannten ›klassischen‹ Musik haben. Seine zweite Ungarische Rhapsodie zum Beispiel ist ein »Greatest Hit«, der es ebenso zum Zeichentrickfilm-Ruhm eines frühen Mickey-Mouse- (1929 in The Opry House von Walt Disney) und eines Tom-&-Jerry-Cartoons gebracht hat (1946 in The Cat Concerto von William Hanna und Joseph Barbera) wie zum Victor-Borge-Sketch in der Muppet Show.13 Der (1936 erstmals veröffentlichte) Roman Ungarische Rhapsodie von Zsolt Harsányi wird immer wieder neu aufgelegt. Das Hollywood-Melodram Song Without End von Charles Vidor und George Cukor (mit Dirk Bogarde) zeichnet 1960 Liszts Leben als kitschbuntes Rührstück nach, 1970 dreht der ungarische Regisseur Márton Keleti (mit Imre Sinkovits) unter dem Titel Szerelmi álmok (»Liebesträume«) ein fast dreistündiges Filmepos über seinen berühmten Landsmann, 1975 stilisiert der englische Regisseur Ken Russell in seinem Film Lisztomania den Komponisten zum ersten Popstar der Musikgeschichte (und besetzt die Titelrolle folgerichtig mit Roger Daltrey, dem Leadsänger der Rockband The Who, während der Ex-Beatle Ringo Starr als Papst Pius IX. auftritt). In verschiedenen Internet-Foren mit Listen der berühmtesten Komponisten rangiert Franz Liszt immer unter den ersten 20.

Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Popularität Liszts jedoch als eher fadenscheinig. Es sind höchstens zwei Dutzend Werke, denen man heute noch im Konzert begegnet: an Klavierwerken die h-Moll-Sonate, zwei oder drei der Ungarischen Rhapsodien (die Nummern 2, 6 und 15), die Funérailles aus den Harmonies poétiques et religieuses, der dritte Liebestraum und die erste der Consolations, das eine oder andere Stück aus den Années de pèlerinage, die beiden Franziskus-Legenden; für Tastenvirtuosen, die ›sich zeigen‹ wollen, kommen noch der erste Mephisto-Walzer, die Rigoletto-Paraphrase und die eine oder andere der Etüden hinzu, während der ›späte Liszt‹ gelegentlich mit den Nuages gris oder La lugubre gondola auf einem Klavierabend-Programm erscheint. (Zur Orientierung: Die Gesamtaufnahme der Klavierwerke von Liszt, die der australische Pianist Leslie Howard zwischen 1985 und 2001 für das englische Label Hyperion eingespielt hat, umfasst 97CDs mit 1418 Tracks!) Das erste Klavierkonzert, ein, zwei Symphonische Dichtungen und ab und zu einmal die Faust-Symphonie sind alles, was von seinen Werken für und mit Orchester geblieben zu sein scheint, und ein paar Organisten haben noch Präludium und Fuge über den Namen BACH im Repertoire. Die Klavier- und Orchesterlieder, die Melodramen, die Kammermusik, die weltlichen und geistlichen Chorwerke, die beiden Oratorien Christus und Die Legende von der heiligen Elisabeth – sie alle scheinen aus der Mode gekommen zu sein, wie überhaupt der Großteil seines mehr als 800 Werke umfassenden Œuvres.

Dabei findet sich gerade unter den vergessenen Werken Liszts Musik von fundamentaler und epochaler Bedeutung. Der Beginn der sogenannten »Dante-Sonate« (Après une lecture du Dante. Fantasia quasi Sonata) aus dem zweiten Teil der Années de pèlerinage ist das erste Werk der abendländischen Musik, das mit einem unaufgelösten Tritonus beginnt. Das Melodram Der traurige Mönch nach Nikolaus Lenau ist nahezu vollständig auf Ganztonskalen und -harmonien aufgebaut. Das Lied Ich möchte hingehn (nach Georg Herwegh) nimmt zehn Jahre vor Wagner das berühmte Tristan-Motiv vorweg, so wie das Excelsior-Vorspiel zu der Longfellow-Vertonung Die Glocken des Straßburger Münsters den Parsifal vorausahnt. Und die quasi abstrakten Klangwelten jenseits der Dur/Moll-Tonalität, zu denen Liszt in Klavierstücken wie Schlaflos. Frage und Antwort, R. W. Venezia oder Unstern. Sinistre. Disastro. vordringt, weisen derart weit voraus ins 20. Jahrhundert, dass man sich kaum darüber wundert, dass diese Werke erst 1927 veröffentlicht wurden. »Im letzten Grunde stammen wir alle von ihm – Wagner nicht ausgenommen – und verdanken ihm das Geringere, das wir vermögen«14, schrieb 1920 Ferruccio Busoni.

Wie konnte es also zu dieser Verdrängung Franz Liszts aus dem musikalischen Bewusstsein kommen? Sie ist das Ergebnis einer systematischen Demontage, die bereits zu seinen Lebzeiten begann und für die – teils nacheinander, teils parallel – mehrere Personen und Personengruppen verantwortlich waren. Die erste, die ihm zum Verhängnis wurde, war ausgerechnet Marie d’Agoult: bis 1844 Liszts Lebensgefährtin und die Mutter seiner drei Kinder. Nach dem Ende ihrer Beziehung veröffentlichte sie 1846 unter dem Pseudonym »Daniel Stern« den Schlüsselroman Nélida, in dem Liszt (in der Gestalt des Malers »Guermann Régnier«) als kreativ impotent dargestellt wird. Dann war es (nach 1847) das breite Publikum, das es dem Klaviervirtuosen nicht verzieh, dem öffentlichen Konzertleben den Rücken gekehrt zu haben. Es fühlte sich gewissermaßen von ihm im Stich gelassen und verraten, um seine ›lisztomanische‹ Begeisterung betrogen. Es war der Pianist und Popstar Liszt gewesen, dem sie zugejubelt hatten – der Komponist und Dirigent interessierte sie nicht. Mit dem hingegen hatte das Weimarer Bürgertum seine Probleme. Die Werke der musikalischen Avantgarde, die Liszt ihm als großherzoglicher Kapellmeister seit 1849 ›zumutete‹ – Richard Wagners Tannhäuser und Lohengrin, Hector Berlioz’ Benvenuto Cellini oder Peter Cornelius’ Der Barbier von Bagdad –, waren ihm ein Graus. Als es Liszt dann auch noch wagte, eigene Orchesterwerke zur Aufführung zu bringen, brach ein Sturm der Entrüstung los, der weit über Weimar hinaus Wogen schlug. Seine Idee einer Verknüpfung von Musik und Poesie rief Robert und Clara Schumann, Johannes Brahms und andere konservative Gegner der Programmmusik auf den Plan, die ihn mit einer jahre-, wenn nicht jahrzehntelangen Pressekampagne als »Un-Musiker« diffamierten – allen voran der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick.

Und es waren nicht allein die Feinde der »Zukunftsmusik«, die Liszt mit ihrem Hass verfolgten. Der bewunderte Freund Wagner, der ohne die ideelle und vor allem materielle Unterstützung Liszts kaum die Jahre seines politischen Exils überstanden hätte, wandte sich von ihm ab, nachdem er in Ludwig II. von Bayern seinen königlichen Mäzen gefunden hatte: Zum einen, weil er nicht zugeben wollte, welchen Einfluss die Werke Liszts auf sein eigenes musikalisches Schaffen gehabt hatten, zum anderen, weil sich Liszt entschieden gegen die Beziehung seiner Tochter Cosima zu Wagner gestellt hatte; auch das (ohnehin problematische) Verhältnis Cosimas zu ihrem Vater drohte an diesen Spannungen vollends zu zerbrechen. Als dann jedoch 1876 die ersten Bayreuther Festspiele stattfanden, bemühten sich die Wagners, die Beziehung zu ihrem Vater und Schwiegervater wieder einzurenken. Liszt war immer noch eine europäische Berühmtheit und damit der ideale »Werbeträger« der Wagner’schen Musikdramen, wie er es so hellsichtig in seinem Brief an Mihalovich genannt hat: un agent publicitaire. Nach Wagners Tod verfolgte Cosima diesen Weg rücksichtslos weiter, um einen hohen Preis: Liszt wurde von ihr (bis hin zu seinem Tod und seiner Beisetzung in Bayreuth) so sehr zum Propheten Wagners stilisiert, dass seine eigene künstlerische Persönlichkeit und Leistung in Wagners Schatten bis zur Unkenntlichkeit verkümmerten. Und schließlich trug auch noch Liszts zweite große Liebe Carolyne von Sayn-Wittgenstein einen Teil der Schuld daran, dass sein Name schon zu Lebzeiten in Misskredit geriet: Er hatte ihr 1881 die Neuausgabe seines Buches Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie anvertraut, das die Fürstin eigenmächtig einer Revision unterzog und dabei mehrere Passagen einfügte, die Liszt in den (notabene völlig unberechtigten) Ruf eines Antisemiten brachten. Und was nach alldem noch von Liszts ›gutem Namen‹ übrig war, fiel dem Klatsch zum Opfer: Vor allem was seine erotische Ausstrahlung betrifft, ranken sich um kaum einen Musiker so viele Legenden und Anekdoten wie um Franz Liszt.

Warum nur hat sich Liszt selbst nicht gegen diese Demontage gewehrt, die doch schon zu seinen Lebzeiten begann? Auch das ist eine Frage, auf die dieses Buch versuchen will eine Antwort zu geben. Ihre Folgen wirken jedenfalls über seinen Tod hinaus bis heute fort. Selbst bei jenen, die bereit sind, seine musikhistorische Bedeutung anzuerkennen, hält sich hartnäckig ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber seiner Person. »Rollen, Kostüme, Verwandlungen« hat zum Beispiel Sigfried Schibli 1986 sein Liszt-Porträt15 genannt – und damit genau jenes Bild des »Schauspielers« bedient, gegen das Liszt zeit seines Lebens angekämpft hat. Bereits im Januar 1837 schrieb der 25-Jährige im zweiten seiner Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst an George Sand:

»Die Leute der Welt, die den Künstler zu hören kommen, haben keine Zeit, um an die Leiden des Menschen denken zu können. Ihr leichtes, sich ewig zwischen den beiden Kompaßzeigern ›Schicklichkeit und Wohlsein‹ bewegendes Leben begreift nichts von den Widersprüchen und Excentricitäten, wie sie aus einem Doppelleben wie das meine nothwendigerweise hervorgehen mußten. Von tausend wirren Neigungen gequält, mit dem Bedürfnis schrankenloser Ausdehnung, zu jung, um mir selbst zu mißtrauen, zu naiv, um mich in mich selbst zurückzuziehen, überließ ich mich gänzlich meinen Eindrücken, meiner Bewunderung, meinen Antipathien. Und weil ich mich gab, wie ich war: ein enthusiastisches Kind, ein warmfühlender Künstler, ein strenger Gläubiger, mit einem Worte alles, was man mit achtzehn Jahren ist, wenn man Gott und die Menschen mit heißer, glühender Seele liebt und unberührt ist von dem erstarrenden Hauche des socialen Egoismus, weil ich es nicht verstand Komödie zu spielen, kam ich in den Ruf – ein Schauspieler zu sein.«16

Es wäre Aufgabe der Musikwissenschaft gewesen, dieses Bild zurechtzurücken; doch die Aktivitäten der Liszt-Forschung geben nach außen ein alles andere als harmonisches Bild.

Parallel zu den verschiedenen Liszt-Gesellschaften in aller Welt wurde zwar 2009 – vorausblickend auf das Liszt-Gedenkjahr 2011 – in Budapest die »International Liszt Association« gegründet. Die 1950 von Humphrey Searle in England gegründete »Liszt Society«, die 1964 gegründete »American Liszt Society«, der 1969 gegründete »Franz-Liszt-Verein Raiding«, die 1973 gegründete »Ungarische Liszt-Gesellschaft«, die 1985 in Detmold eingerichtete und seit 1999 an der Musikhochschule Weimar beheimatete »Franz-Liszt-Forschungsstelle«, das 1997 gegründete »Istituto Liszt di Bologna« – sie alle scheinen eher nebeneinander her als miteinander zu arbeiten, und der Stand der Liszt-Forschung ist nach wie vor desolat: Das thematisch-chronologische Werkverzeichnis, an dem die ungarische Liszt-Forscherin Mária Eckhardt seit Anfang der 1980er Jahre arbeitet und das im Münchner Henle-Verlag erscheinen soll, ist noch immer nicht abgeschlossen, sodass weiterhin wenigstens vier verschiedene Verzeichnisse nebeneinanderher existieren. Von der kritischen Neuausgabe der Schriften Liszts, die seit 1989 von Detlef Altenburg betreut wird, liegen bei Breitkopf & Härtel (Wiesbaden) erst vier der geplanten neun Bände vor. Die Neue Liszt-Ausgabe seiner musikalischen Werke – 1970 als Gemeinschaftsprojekt der Editio Musica Budapest (EMB) und des Kasseler Bärenreiter-Verlags begonnen – wird seit 1985 von EMB allein fortgeführt und ist noch sehr, sehr weit von ihrem Ende entfernt. Und was die Korrespondenz betrifft, so ist es vielfach noch immer die mehr als 100 Jahre alte, alles andere als zuverlässige Ausgabe von La Mara17, an der sich die Liszt-Forschung orientieren muss; abgesehen von drei Auswahleditionen18 liegen immerhin die Briefwechsel mit Marie d’Agoult, Marie zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Olga von Meyendorff, Agnès Street-Klindworth und Richard Wagner vollständig und in kommentierten Neuausgaben vor.19

*

Und nun also dieses Buch. Es kann und will keine erschöpfende Biografie sein, die mit Alan Walkers Standardwerk wetteifert, dessen bis ins kleinste Detail recherchierte Daten- und Faktenfülle auf 1700 Seiten den aktuellen Stand der Liszt-Forschung widerspiegelt. Ebenso wenig kann und will es die oben aufgezählten Desiderata und Lücken füllen, mit denen sich die Liszt-Forschung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zweifellos beschäftigen wird. Es sind »Zwölf biografische Etüden in zunehmendem Schwierigkeitsgrad« – angelehnt an Liszts pianistisches Wunderwerk der Douze Études d’exécution transcendante: Studien, die anhand der Lebens-, Werk- und Wirkungsgeschichte (und auf der Grundlage zahlreicher Quellen) zum einen untersuchen, wer eigentlich dieser so widersprüchliche und faszinierende Franz Liszt war, an dem sich alle Geister scheiden; zum anderen aber soll diese Untersuchung Franz Liszts Bedeutung als eine der Schlüsselfiguren der europäischen Musik auf ihrem Weg in die Moderne dokumentieren – und dass vielleicht gerade dieses visionäre Künstlertum der Grund dafür war, dass er so wenige Freunde hatte: Größe macht einsam.

Michael StegemannHerne und Paris, im April 2011

I Preludio

Kindheit und Virtuosenjahre

Zwei Türen führen zum Geburtshaus des Komponisten in der kleinen burgenländischen Marktgemeinde Raiding. Über der einen Tür hängt eine Gedenktafel in ungarischer Sprache, die am 7. April 1881 im Beisein des Komponisten enthüllt wurde: Itt született Liszt Ferencz 1811 Oktober 22-én. Hódolata jeléül a Soproni irodalmi és müvészeti kör. (»Hier wurde Franz Liszt am 22. Oktober 1811 geboren. Als Zeichen der Huldigung, der Soproner [Ödenburger] Verein für Literatur und Kunst.«) Auch über der anderen Tür hängt eine Gedenktafel – in deutscher Sprache, gestiftet 1926 von der Deutschen Reichsregierung, der Österreichischen Bundesregierung und der Burgenländischen Landesregierung; sie zeigt im Relief den Kopf des Komponisten und trägt die Inschrift: »Hier wurde Franz Liszt 22. Oktober 1811 geboren. Diese Gedenktafel weiht dem deutschen Meister das deutsche Volk.«

*

Zwei Türen, zwei Tafeln, zwei Sprachen: Die Frage, ob Franz Liszt Ungar oder Deutscher war, zieht sich wie ein roter Faden durch die Biografien und Lexika. Stellvertretend seien hier die Einträge in der alten und der neuen Ausgabe der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart zitiert:

»Liszt ist in dem damals zu Ungarn gehörigen Dorf als ungar[ischer] Untertan zur Welt gekommen, stammt aber aus einem deutschen Geschlecht.«1

»Franz Liszt wurde als einziges Kind deutschsprachiger Eltern in Raiding (Komitat Sopron) und damit in einem Gebiet Ungarns geboren, in dem Deutsch damals Amtssprache war und das im Zusammenhang mit der Neuordnung der Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg 1921 der Republik Österreich (Burgenland) zugesprochen wurde.«2

Die Frage nach Liszts Nationalität ist mehr als nur eine Marginalie im Schatten jener kulturusurpatorischen Strömungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die versucht haben, aus Ludwig van Beethoven einen Österreicher oder aus Jacques Offenbach einen Franzosen zu machen. Zum einen war die Beantwortung dieser Frage für Liszt selbst eine ganz entscheidende Stufe auf dem Weg zu seiner künstlerischen Selbstfindung; zum anderen spiegelt sich in ihr bereits die Entfremdung wider, die Liszt nach 1850 zu spüren bekam, als er mehr und mehr zwischen die Fronten unterschiedlicher, miteinander verfeindeter national- und religionsästhetischer Schulen geriet: weder deutsch noch ungarisch, weder französisch noch italienisch, weder katholisch noch protestantisch. Oder ›sowohl als auch‹: »FranzLiszt hat viel von Vater und Mutter. Von beiden Wahrhaftigkeit, vom Vater das heißwallende Ungarnblut, von der Mutter das deutsche Gemüth voll Innigkeit.«3

*

Der Stammbaum des Komponisten lässt sich bis zu seinem Urgroßvater Sebastian List (~ 1703 – 1793) zurückverfolgen, der als einfacher Kötter in Ragendorf lebte, dem heutigen Rajka – einem kleinen Dorf im Dreiländereck zwischen Ungarn, Österreich und der Slowakei. Von seinen drei Kindern war der Jüngste, Georg Adam (1755 – 1844), mutmaßlich derjenige, der den Familiennamen durch ein hinzugefügtes »z« magyarisierte und damit auch die ungarische Aussprache änderte: Aus ›Lischt‹ wurde ›Lißt‹. Georg Adam Liszt übte in seinem langen Leben nicht nur die verschiedensten Berufe aus – Dorfschullehrer, Chorleiter, Notar und Gutsaufseher –, er hinterließ auch eine ungewöhnlich große Nachkommenschaft: 25 Kinder gingen aus drei Ehen hervor, wobei zwischen dem erstgeborenen Sohn Michael (1775 – 1779) und dem jüngsten, Eduard (1817 – 1879), 42 Jahre lagen. Adam Liszt, der Vater des Komponisten, stammte aus Georg Adams erster Ehe mit Barbara Schlesar (1753 – 1798) und wurde als ihr zweites Kind am 16. Dezember 1776 in Edelsthal geboren, einem kleinen Städtchen südwestlich von Pressburg. Er erhielt eine umfassende Schulbildung, trat aber nach seiner Matura am Königlich-Katholischen Gymnasium zu Pressburg am 21. September 1795 als Novize in das Franziskanerkloster in Malacka ein – eine spirituelle Berufung, wie sie später auch sein Sohn verspüren sollte. Nach knapp zwei Jahren, am 29. Juli 1797, verließ Adam Liszt allerdings das Noviziat »wegen Unstetigkeit und Wankelmut«4 und trat im Januar 1798 in die Dienste des Fürsten Nikolaus II. Esterházy, zunächst als Wirtschaftspraktikant in Forchtenau (heute Forchtenstein), dann als »Rentschreiber« in Kapuvár, wo er allerdings wegen mangelnder ungarischer Sprachkenntnisse nicht zurechtkam. Adam war es auch, der seinem Vater im Oktober 1801 eine Anstellung als »Holzlegstadlschreiber« – eine Art Forstbuchhalter – bei den Esterházys vermittelte, für die Georg Adam Liszt mit seiner zweiten Frau und seinen damals elf Kindern im Oktober 1801 nach Marz umzog.

Adam Liszts eigentliche Liebe gehörte freilich der Musik. Sein Vater spielte Klavier und Violine und hatte auch seinem Sohn eine mehr als solide musikalische Ausbildung zukommen lassen, unter anderem bei dem Pressburger Musikmeister Franz Paul Riegler. Adam spielte Orgel, Klavier, Violine, Flöte, Gitarre und Violoncello, und er verstand auch sein Handwerk als Komponist. So bewarb er sich schließlich mit einem Te Deum für gemischten Chor und großes Orchester um eine Versetzung nach Eisenstadt, wo Johann Nepomuk Fuchs als Kapellmeister die 80 Musiker umfassende Esterházy’sche Hofkapelle leitete; im Februar 1805 wurde seinem Gesuch stattgegeben.

»Damals wirkte er auch als Dilettant am Violoncellpult mit in den frequenten Hofconzerten des Fürsten, unter Leitung des glücklich grossen Meisters Josef Haydn. Mein Vater erzählte mir oft von seinem Verkehre mit Haydn und den täglichen Partien, die er mit ihm machte.«5

Zweieinhalb Jahre später dann, im Oktober 1808, wurde Adam Liszt (mit einem recht stattlichen Jahreseinkommen von 130 Gulden) als »Wirtschafter und Rechnungsführer« der fürstlichen Schäferei nach Raiding versetzt, wo Nikolaus II. kurz zuvor ein großes Gut erworben hatte. Damit verfügte der mittlerweile 32-Jährige über die materielle Basis, um an eine Familiengründung zu denken. Am 11. Januar 1811 heiratete Adam Liszt in der Pfarrkirche zu Unterfrauenhaid die zwölf Jahre jüngere, aus Krems stammende Anna Maria Lager (1788 – 1866) – die früh verwaiste Tochter eines Bäckermeisters, die in Wien als Stubenmädchen arbeitete; ihr Bräutigam wird sie vielleicht bei einem seiner regelmäßigen Dienstbesuche in der Hauptstadt kennengelernt haben. Gut neun Monate nach der Hochzeit wurde am Dienstag, dem 22. Oktober 1811, in den frühen Morgenstunden ihr einziges Kind geboren und tags darauf in Unterfrauenhaid auf den Namen Franciscus getauft.

*

Der familiäre Hintergrund ist unauffällig. Ein gewisser sozialer Status, eine gewisse Bildung, eine gewisse Musikalität; jedenfalls keine aristokratische Herkunft, wie sie frühe Biografen nachzuweisen versucht haben. Erst im Oktober 1859 verlieh Kaiser Franz Joseph I. dem Komponisten den Orden der Eisernen Krone III. Klasse und erhob ihn damit als »Franz Ritter von Liszt« in den erblichen Adelsstand. Auch topografisch hat Liszts Geburtsort Raiding nichts Auffälliges: ein unscheinbares Dorf »zwischen Gänseweihern, Tümpeln und Wiesen, zwischen Bächen und Weiden«6 – rund 100 Kilometer südlich von Wien, 150 Kilometer südwestlich von Pressburg, 200 Kilometer westlich von Budapest. Welchen Einfluss die Familie und die burgenländische Landschaft auf Liszt gehabt haben, ist schwer zu sagen – so wie er sich selbst auch nur sehr sporadisch über seine frühe Kindheit geäußert hat. Liszt war kein ›Familienmensch‹, und selbst das Verhältnis zu seinen Eltern liegt in einem merkwürdigen Halbdunkel. In Lina Ramanns Biografie heißt es dazu lakonisch: »Meist war er der Mutter zur Seite, die er mit großer Zärtlichkeit liebte. Auch am Vater hing er, aber mehr mit scheuem Respekt.«7

Das wenige, was wir über Liszts frühe Kindheit wissen, stützt sich auf eine ziemlich obskure Quelle: Tagebücher des Vaters Adam Liszt, deren Authentizität allerdings ebenso ungewiss ist wie ihr Verbleib. »Ein paar Hefte dieser Tagebücher behielt meine Mutter. Seit ihrem Verscheiden, weis ich nicht wo sie hingekommen sind.«8 Anna Liszt hat sie aber offenbar dem französischen Musikfeuilletonisten Joseph d’Ortigue zur Verfügung gestellt, als dieser 1835 die erste Biografie des Komponisten für die Gazette musicale de Paris verfasste, die ein Jahr später auch auf Deutsch in der Neuen Zeitschrift für Musik erschien. Einer der von d’Ortigue zitierten Einträge lautet:

»Mein Sohn, du bist vom Schicksal bestimmt! Du wirst jenes Künstlerideal verwirklichen, das vergeblich meine Jugend bezaubert hat. In dir wird sich das erfüllen, was ich für mich geahnt habe. Mein Genie, zur Unzeit geboren in mir, wird in dir sich befruchten. In dir will ich mich verjüngen und fortpflanzen.«9

Ist das glaubwürdig? Hielt Adam Liszt sich selbst tatsächlich für ein »zur Unzeit geborenes Genie«? Ist dieser Tagebucheintrag wirklich im nahen zeitlichen Umfeld von Franz’ Geburt entstanden oder nicht doch (wie Alan Walker vermutet) eher später, als sich die Erfolge des Knaben bereits abzeichneten und der Vater post festum einige Erinnerungen zu Papier brachte, um etwaigen Biografen ›authentisches‹ Material liefern zu können?

*

Adam Liszts Tagebücher bezeugen die von Anfang an schwächliche Konstitution des Kindes und häufige Krankheiten. »Franzi« (wie er von den Eltern gerufen wurde) hatte immer wieder »mit Nervenleiden und Fieber zu kämpfen […]. Einmal in seinem zweiten und dritten Jahr hielten wir ihn für tot und ließen seinen Sarg machen. Dieser beunruhigende Zustand dauerte bis in sein sechstes Jahr fort.«10 Auch später noch wurde Liszt bei Konzertauftritten gelegentlich von heftigem Fieber geschüttelt, erlitt Nervenanfälle oder brach sogar ohnmächtig über den Tasten zusammen. Und auch über die musikalischen Anfänge des Sechsjährigen erfahren wir aus Adam Liszts Tagebuch: Nachdem Franz seinen Vater ein Klavierkonzert von Ferdinand Ries hatte spielen hören, sang er das Thema fehlerfrei nach. »Das war das erste Anzeichen seines Genie’s. Er bat unausgesetzt, das Clavier mit ihm anzufangen.«11 Der Vater wird Franz’ erster und – gegen die Bedenken der Mutter – strenger Lehrer, unter dessen Anleitung der Sohn so rasche Fortschritte macht, dass er bald ein tägliches Pensum an Fugen von Bach bewältigt.

*

Was nach einer klassischen, vom Vater nachdrücklich geförderten Wunderkind-Karriere à la Mozart klingt, mag freilich nur die halbe Wahrheit gewesen sein. Zum einen waren Adam Liszts pianistische und pädagogische Fähigkeiten – anders als bei Leopold Mozart – wohl eher begrenzt; als Carl Czerny den kleinen Franz das erste Mal hört, empfindet er sein Klavierspiel jedenfalls als »ganz unregelmäßig, unrein, verworren«12. Zum anderen scheint das Kind eher religiöse als musikalische Neigungen verspürt zu haben, wie Joseph d’Ortigue berichtet:

»Überhaupt glaubte er sich zum Priesterstande berufen. Die Musik hatte er zum Verdruß, und er widmete sich ihr nur aus Gehorsam gegen den unbeugsamen Willen seines Vaters. Auf der einen Seite erfüllte die Furcht, seine Bestimmung zu verfehlen, auf der anderen die Furcht, des Vaters Hoffnungen zu täuschen, ihn mit unerträglicher Herzensangst, und erregte eine Menge Scrupel in seinem Inneren.«13

Es bleibt jedenfalls eine merkwürdige Diskrepanz zwischen dem vom Vater erklärten und eingeforderten »Genie« des Kindes und dessen innerem »Verdruß«. Hinzu kam, dass Liszts allgemeine Bildung sträflich vernachlässigt wurde. »Das Noten Schreiben habe ich mir allein angelernt, und übte mich darin weit lieber als in den Buchstaben.«14 In den paar Jahren, die er die Raidinger Dorfschule besuchte, lernte er nur die Rudimente des Rechnens, Schreibens und Lesens, und lange hat er peinlich darunter gelitten, keinerlei Kenntnisse der Geschichte, Geografie oder Naturwissenschaften zu haben; andererseits hat er diese Defizite durch eifriges Lesen und Selbststudium mehr als wettgemacht. Tatsächlich entwickelte sich Liszt durch sein immenses Lesepensum zu einem der gebildetsten Komponisten des 19. Jahrhunderts.

Liszts Mutter- und Vatersprache war Deutsch, doch nach dem Umzug des Elfjährigen nach Paris wurde schnell das Französische zu seiner eigentlichen Sprache, die das Deutsche bald weitgehend verdrängte; der Großteil seiner Schriften und Briefe – sogar die an seine Mutter und an deutsche Adressaten – ist französisch abgefasst, und selbst in seinen späteren Weimarer Jahren war sein gesprochenes und geschriebenes Deutsch nicht fehlerfrei. »Verzeihe die Orthographie und Kalligraphie dieser Zeilen!«, entschuldigt er sich in einem Brief an Franz von Schober: »Du weisst, dass ich gar nie Deutsch schreibe.«15 Und in einem französischen Brief an Theodor Uhlig: »Lassen Sie mich Ihnen ganz herzlich […] auf Französisch danken, denn diese Sprache wird mir immer vertrauter und angenehmer, während ich mich zu Verrenkungen zwingen muss, um mehr oder weniger ungeschickt meine äußerst holprige deutsche Syntax auf die Reihe zu bringen.«16 Ungarisch hat Liszt erst spät und nur rudimentär erlernt, allerdings doch wohl besser, als oft behauptet wurde: Nach dem intensiven Unterricht bei dem Piaristen Zsigmond Vadász, Anfang der 1870er Jahre, scheint zumindest seine passive Kenntnis der Sprache recht passabel gewesen zu sein: »Ich bin in der Lage, Ungarisch zu lesen. Ich verstehe es auch, aber ich schäme mich, es so schlecht zu sprechen.«17 Sein Italienisch wird dagegen sicher sehr flüssig gewesen sein. Hinzu kamen wohl noch einige Brocken Russisch und Englisch.

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Inzwischen hatte Liszt auf dem Klavier so große Fortschritte gemacht, dass sein Vater seine weitere musikalische Ausbildung in berufenere Hände legen wollte. Zunächst dachte er an Johann Nepomuk Hummel, den er noch aus seiner Zeit in der Esterházy’schen Hofkapelle kannte und der seit 1819 als Hofkapellmeister in Weimar tätig war; doch Hummels Honorarforderungen waren zu hoch für das schmale Budget der Familie. So brachte Adam Liszt seinen Sohn kurzerhand nach Wien, zu Carl Czerny.

»Im Frühjahr 1819 […] kam eines Morgens ein Mann mit einem kleinen Knaben von ungefähr acht Jahren zu mir mit der Bitte, den Kleinen auf dem Fortepiano etwas vorspielen zu lassen. Es war ein bleiches, schwächlich aussehendes Kind, und beim Spielen wankte es am Stuhle wie betrunken herum, so daß ich oft dachte, es würde zu Boden fallen. Auch war sein Spiel ganz unregelmäßig, unrein, verworren, und von der Fingersetzung hatte er so wenig Begriff, daß er die Finger ganz willkürlich über die Tasten warf. Aber dem ungeachtet war ich über das Talent erstaunt, welches die Natur in ihn gelegt hatte. Er spielte einiges, das ich ihm vorlegte, à vista, zwar als reiner Naturalist, aber eben darum um so mehr in einer Art, daß man sah, hier habe die Natur selber einen Klavierspieler gebildet. Ebenso war es, als ich auf den Wunsch seines Vaters ihm ein Thema zum Phantasieren gab. Ohne die geringsten erlernten harmonischen Kenntnisse brachte er doch einen gewissen genialen Sinn in den Vortrag.«18

Czerny erklärte sich bereit, den kleinen Franz binnen Jahresfrist als Schüler anzunehmen, und gab Adam Liszt entsprechende Anweisungen, wie er bis dahin das Klavierspiel seines Sohnes fortbilden solle.

Kurz nach diesem Besuch wandte sich Adam Liszt im Sommer 1819 mit einem Bittgesuch an seinen Dienstherrn, er möge ihm doch »in Wien eine seinen Fähigkeiten und Charakter passende Stelle […] verleihen«, damit er »seinem 7 ½jährigen Knaben, der ein so großes Talent und eine so große Anlage für die Musique zeigt«19, eine angemessene Ausbildung zukommen lassen könne. Am 21. September 1819 durfte Franz bei einer Jagdgesellschaft dem Fürsten zwar vorspielen, doch die Suplique des Vaters blieb unbeantwortet. Auf ein zweites Bittgesuch (vom 13. April 1820) hin wurden ihm immerhin ein einjähriger unbezahlter Urlaub und 200 Gulden Unterstützung gewährt, die Adam Liszt jedoch als Almosen empfand und in verletztem Stolz ablehnte. Stattdessen wollte er versuchen, die notwendigen Subsidien durch Konzerte und private Gönner aufzubringen.

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Es ist noch immer die Zeit, in der musikalische Wunderkinder Europa überschwemmen. (»Wieder ein junger Virtuose«20, schreibt die Allgemeine Musikalische Zeitung nach Liszts Wiener Konzertdebüt.) Überall führen ehrgeizige Eltern ihre begabten – oder soll man sagen: ›dressierten‹? – Kinder vor, ganz gleich, ob an einem Hof oder in einem Gasthof. Je jünger sie sind, desto besser; adrett herausgeputzt müssen sie sein, und kommt noch eine physische Besonderheit hinzu (wie die Blindheit der Glasharmonika-Virtuosin Marianne Kirchgeßner oder der Pianistin Maria Theresia von Paradis), ist es kein Schade. Das Unerhörte, Unglaubliche, Noch-nie-Dagewesene macht Sensation – und Kasse. Natürlich beteuern die Eltern stets ihre lauteren Absichten, und Adam Liszt hätte zweifellos Wort für Wort den Brief unterschrieben, in dem Leopold Mozart seine Reisen mit den beiden Kindern Wolfgang und Nannerl erklärt und verteidigt:

»S:e Hochfürstlichen Gnaden haben keine Lügner, keine Charlatans, keine Leutbetrieger in ihren Diensten, die mit Vorwissen und gnädigster höchstderselben Erlaubnis an fremde Orte gehen, um den Leuten gleich den Taschenspielern, einen blauen Dunst vor die Augen zu machen; Nein: sondern ehrliche Männer, die zur Ehre ihres Fürsten und Vatterlandes der Welt ein Wunder verkündigen, welches Gott in Salzburg hat lassen gebohren werden. Ich bin diese Handlung dem allmächtigen Gott schuldig, sonst wäre ich die undanckbarste Creatur: und wenn ich iemals schuldig bin die Welt dieses wundershalben zu überzeugen, so ist es eben ietzt, da man alles, was nur ein Wunder heist, lächerlich machet und alle Wunder widerspricht.«21

Auch Adam Liszt beförderte die Wunderkind-Karriere seines Sohnes mit allen Mitteln, wie ein Besessener – und offenbar durchaus nicht nur aus Idealismus: »Leider wünschte sein Vater von ihm pekuniäre Vorteile«22, erinnerte sich später Carl Czerny. Immer wieder spricht und schreibt Adam Liszt von »meinem großen Unternehmen«23, dem er große Teile seines privaten Vermögens ebenso geopfert hat wie die Mitgift seiner Frau. Der Druck, den er damit auf seinen Sohn ausübte, muss ungeheuer gewesen sein, und man mag in den häufigen Krankheiten des Kindes durchaus eine Art von Kompensation sehen, um dem zu begegnen. Welche Rolle die Mutter in diesem Kräftemessen zwischen Vater und Sohn gespielt hat, ist ungewiss. Frühe Biografien berichten von einer Szene, in der Adam und Anna Maria Liszt im Beisein des Kindes über dessen Zukunft diskutierten: Was denn nun zu tun sei? »Da sprang er vor und rief mit fester und muthiger Stimme: ›Mutter, was Gott will!‹«24 Wobei das, »was Gott will«, auch der Wunsch des Vaters war …

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Der erste Konzertauftritt, den Adam Liszt für seinen Sohn organisierte, fand im Oktober 1820 im alten Kasino von Sopron (Ödenburg) statt, als Teil einer musikalischen Akademie eines Barons Sigismund von Braun, der als blindes (!) Flöten-Wunderkind in der Umgebung ein gewisses Renommee besaß. Liszt spielte das Klavierkonzert Nr. 2 Es-Dur op. 42 von Ferdinand Ries und improvisierte eine Fantasie über Volksmelodien. Das Konzert war überaus erfolgreich und gewissermaßen die bestandene Probe aufs Exempel: Am Sonntag, dem 26. November 1820 gab der Neunjährige mittags ein Konzert im Hause des Grafen Michael Esterházy, »vor einer zahlreichen Versammlung des hiesigen hohen Adels und mehrerer Kunstfreunde«25, wie zwei Tage später die Pressburger Zeitung berichtete. Adam Liszt hatte vor diesem Konzert eine Porträtlithografie von Ferdinand Lütgendorf drucken lassen, die den Knaben in dem ungarischen Kostüm zeigte, in dem er auch auftrat; und er hatte bewusst einen Tag gewählt, an dem in Pressburg der Stände-Landtag zusammenkam, sodass mit einem illustren Publikum zu rechnen war. Die Taktik ging auf: Nach dem Konzert offerierten sechs Magnaten für sechs Jahre ein Stipendium von jährlich 600 Gulden, um Franz’ weitere Ausbildung abzusichern.

Danach dauerte es freilich noch fast anderthalb Jahre, bevor die kleine Familie am 8. Mai 1822 Raiding verließ und nach Wien übersiedelte – zunächst in den Gasthof Zum grünen Igel in der Mariahilfer Vorstadt, dann (ab Oktober) in eine Wohnung in der Krugerstraße Nr. 1014, in der Inneren Stadt. (Franz Schubert wohnte damals nur ein paar Straßen weiter, im Göttweigerhof Nr. 1155; welch ein Jammer, dass er und Liszt sich nie begegnet sind …) Alsbald nahm Franz seinen geregelten Unterricht bei Czerny auf, der ein paar Häuser weiter als Junggeselle im Hause seiner Eltern wohnte.

»Ich widmete dem Kleinen, da ich bei Tag wenig Zeit hatte, fast täglich jeden Abend.

Nie hatte ich einen so eifrigen, genievollen und fleißigen Schüler gehabt. Da ich aus mancher Erfahrung wußte, daß gerade solche Genies, wo die Geistesgaben der physischen Kraft vorauseilen, das gründlich Technische zu versäumen pflegen, so schien es mir vor allem nötig, die ersten Monate dazu anzuwenden, seine mechanische Fertigkeit dergestalt zu regeln und zu festigen, daß sie in späteren Jahren auf keinen Abweg mehr geraten könnte. In kurzer Zeit spielte er die Skalen in allen Tonarten mit aller der meisterhaften Geläufigkeit, welche seine, zum Klavierspiel höchst günstig organisierten Finger möglich machten. […] Da er jedes Tonstück äußerst schnell einstudieren mußte, so eignete er sich das Avista-Spielen endlich so an, daß er fähig war, selbst bedeutende, schwierige Kompositionen öffentlich vom Blatte weg zu spielen, als ob er sie lange studiert hätte. Ebenso bestrebte ich mich, ihm das Phantasieren anzueignen, indem ich ihm häufig die Thema zum Improvisieren aufgab.«26

»Putzi« oder »Zisi«, wie der kleine Franz liebevoll im Hause Czerny genannt wurde, machte nicht nur stetige Fortschritte im Klavierspiel, sondern erhielt auch geregelte Unterweisung in der Komposition, und zwar bei keinem Geringeren als dem damals schon über 70-jährigen Antonio Salieri. Auch von diesem gibt es (in einem Brief an den Fürsten Esterházy) einen Bericht über Liszts Studien:

»Als ich durch einen Zufall in einem Privathaus den Jüngling Franz Liszi [sic!] auf dem Klavier präludieren und vom Blatt spielen hörte, war ich so verwundert, dass ich wirklich zu träumen glaubte. Als ich dann mit dem Vater sprach, […] sagte er mir, dass ihm [für seinen Sohn ein Meister] für das Studium des Generalbasses und der Komposition fehle. Sobald ich merkte, dass er schließlich mich bitten wollte, bot ich mich selbst mit dem größten Vergnügen an, aus reiner Freundschaft, wie ich es ja schon seit vielen Jahren mir zur Gewohnheit gemacht habe gegenüber der mittellosen Jugend. Von der Mitte des vergangenen Monats [Juli 1822] führte daher der Vater dreimal die Woche den Sohn zu mir, und der Jüngling macht erstaunliche Fortschritte, sowohl im Gesang als im Generalbass und auch im Dechiffrieren von Partituren der verschiedensten Art, also in drei Dingen, in denen ich ihn in jeder Stunde übe, um ihn so nach und nach zur Komposition zu führen und ihn so stets im guten Geschmack zu halten.«27

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War die Begegnung mit Salieri wirklich »durch einen Zufall« zustande gekommen, oder hatte Adam Liszt vielleicht ein bisschen nachgeholfen? Wichtig war vor allem, dass Salieri den kleinen Franz »aus reiner Freundschaft« kostenlos unterrichtete: Die materielle Situation der kleinen Familie in Wien war trotz des Adelsstipendiums alles andere als leicht, auch wenn Adam Liszt versuchte, durch private Lektionen die Haushaltskasse aufzubessern. »Hatten Sie damals noch anderen als Musikunterricht?«, fragte Lina Ramann 1874 den Komponisten. »Nein. Mein Vater ertheilte damals Unterricht in Geschichte, Latein, etc. an mehreren jungen Cavalieren, und hatte keine Zeit für mich zu verwenden.«28 Eine Formulierung, in der eine gewisse Bitterkeit mitzuschwingen scheint. Tatsache ist, dass der Tagesablauf des Kindes aus Üben und Unterricht bestand und dass Adam Liszt für eine weitere Bildung schlechterdings keine Notwendigkeit sah und nicht bereit war, Geld dafür auszugeben. »Es lag nicht in der Anschauung jener Zeit, daß der Künstler noch einer anderen als der specifischen Fachbildung bedürfe.«29 Mit Czerny war ein Stundenhonorar von zwei Gulden Konventionsmünze ausgemacht worden, das dieser jedoch nach einem Dutzend Lektionen ablehnte: »Für Putzi habe ich nichts zu beanspruchen.«30 Liszt ist diesem großzügigen Beispiel später selbst gefolgt und hat die meisten seiner Schülerinnen und Schüler kostenlos unterrichtet.

Was genau Liszt bei Antonio Salieri gelernt hat, wissen wir nicht, es werden aber wohl vor allem satztechnische Regeln gewesen sein; ein frühes Tantum ergo für Chor a cappella, das damals entstand, ist jedenfalls verschollen. Sehr viel prägender war sicher der Unterricht bei dem damals 31-jährigen Czerny, der selbst bei Beethoven studiert hatte und über Wien hinaus als hervorragender Klavierpädagoge galt. Die Grundlagen seiner Technik hat er 1839 in seinem Opus 500 niedergelegt: Vollständige theoretisch-praktische Pianoforte-Schule: Geläufigkeit in schnellem und schnellstem Tempo, perfektes Fingerlegatospiel bei weitgehend ruhigem Handgelenk, die Finger dicht über den Tasten, ein klarer, perlender und gleichmäßiger Anschlag mit der Fingerkuppe.31 Es war eine Schule des Virtuosentums, die Czerny vertrat: eine frühindustrielle »Einzelhaft am Klavier«32, eine stets dem Metronom unterworfene »Mechanisierung bis zur Gedankenlosigkeit«33, die wie am Fließband perfekt funktionierende Pianistinnen und Pianisten produzierte.

Czerny unterrichtete den Knaben rund 17 Monate lang, bis September 1823. Es war der einzige professionelle Unterricht im Klavierspiel, den Liszt je erhalten hat, und noch in seinen späten Jahren sprach er voller Zuneigung und Dankbarkeit von »meinem hochgeehrten und theuren Meister Czerny«34. Was nichts daran änderte, dass es ihm anfangs schwerfiel, sich der strengen Zucht des Unterrichts zu unterwerfen.

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Wie sehr sich Adam Liszt bemühte, seinen Sohn ins Gespräch zu bringen und zu lancieren, zeigt Liszts erste erhaltene Komposition: Franz ist (in alphabetischer Reihenfolge an 24. Stelle) als jüngster Komponist in der legendären Sammlung Vaterländischer Künstlerverein vertreten, in der der Wiener Musikverleger Anton Diabelli 50 österreichische Komponisten um eine Variation über einen von ihm verfassten Klavierwalzer in C-Dur gebeten hatte. Liszts 1822 entstandener Beitrag ist ein kleines virtuoses Paradestück, das sowohl im Takt- wie im Tonartwechsel (2/4-Takt in c-Moll) durchaus Eigenständigkeit verrät.

Während Czerny bemüht war, eine allzu frühzeitige Konzertkarriere des Kindes zu verhindern (oder doch zu bremsen), arrangierte sein Vater regelmäßige Auftritte in den Wiener Salons des Adels und des gehobenen Bürgertums. Und bereits am 1. Dezember 1822 fand der erste öffentliche Auftritt des Elfjährigen in Wien statt: In einer Akademie der Sängerin Karoline Unger und des Geigers Léon de Saint-Lubin spielte er das hochvirtuose Klavierkonzert Nr. 3 h-Moll op. 89 von Johann Nepomuk Hummel und eine »freye Fantasie«. Die Allgemeine Musikalische Zeitung widmete dem Debüt einen ausführlichen Bericht:

»Wieder ein junger Virtuose, gleichsam aus den Wolken herunter gefallen, der zur höchsten Bewunderung hinreisst. Es gränzt ans Unglaubliche, was dieser Knabe für sein Alter leistet, und man wird in Versuchung geführt, die physische Möglichkeit zu bezweifeln, wenn man den jugendlichen Riesen Hummels schwere und besonders im letzten Satze sehr ermüdende Composition mit ungeschwächter Kraft herabdonnern hört; aber auch Gefühl, Ausdruck, Schattirung und alle feinere Nuancen sind vorhanden, so wie überhaupt dieses musikalische Wunderkind alles a vista lesen, und jetzt schon im Partitur-Spielen seines Gleichen suchen soll. Polyhymnia möge die zarte Pflanze schützen, und vor entblätternden Stürmen bewahren, auf daß sie wachse und gedeihe. Die Phantasie wollen wir lieber ein Capriccio nennen, denn mehrere, durch Zwischenspiele an einander gereihte Themata verdienen noch nicht jenen in unsern Zeiten nur zu oft gemissbrauchten Pracht-Titel. Indess war es recht artig, wie der kleine Herkules Beethovens Andante der A Symphonie, und das Motiv einer Cavatine aus Rossini’s Zelmira vereinte, und so zu sagen in einen Teig zusammenknetete. Est Deus in nobis.«35

Weitere Auftritte folgten: am 9. Dezember 1822 im Kärntnertor-Theater, am 18. Dezember 1822 in Pressburg, am 18. Januar 1823 und noch einmal wenige Tage später in Wien. Bei diesem Konzert soll Beethovens Adlatus Anton Schindler im Publikum gewesen und so tief vom Spiel des Knaben beeindruckt gewesen sein, dass er Beethoven zu Liszts nächstem Konzert mitbrachte, das am Sonntag, dem 13. April 1823 mittags im Redoutensaal stattfand; auf dem Programm standen Hummels h-Moll-Konzert, Variationen für Klavier und Orchester von Ignaz Moscheles und eine »Freye Fantasie«. Es war jenes Konzert, nach dem Beethoven auf das Podium gekommen und Liszt einen »Weihekuss« auf die Stirn gedrückt haben soll – eine Legende, die sich in fast allen Liszt-Biografien findet und die 1873 sogar als Lithografie ›dokumentiert‹ wurde. Es würde hier zu weit führen, die Entstehung dieser Anekdote Schritt für Schritt zu verfolgen und zu entwirren;36 Adam Liszt dürfte an ihr wohl einigen Anteil gehabt haben … Heute steht fest, dass Beethoven das Konzert nicht besucht hat, dass aber Liszt sehr wohl am Tag zuvor dem Komponisten einen Besuch abstattete, den auch entsprechende Einträge in den Konversationsheften bezeugen.371875 hat Liszt angeblich seiner Schülerin Ilka Horowitz-Barnay einen ausführlichen, in einigen Details allerdings fehlerhaften Bericht von diesem Besuch gegeben und erzählt, dass ihn der Meister bei dieser Gelegenheit tatsächlich auf die Stirn geküsst habe.38 Sowohl Joseph d’Ortigue als auch sein Schüler August Göllerich hingegen wollen von Liszt selbst erfahren haben, dass Beethoven sehr wohl das Redoutensaal-Konzert besucht und die »Weihekuss«-Szene dort stattgefunden habe.

Wichtiger als die Wahrheit war ohnehin die Wirkung dieser Legende: Außerhalb Wiens, wo niemand die Authentizität der Szene bestätigen oder dementieren konnte, war der »Weihekuss« Beethovens gewissermaßen das musikalische Adelsprädikat, das dem kleinen Franz den Weg auf die Konzertpodien Europas ebnete. Es war höchste Zeit, Wien zu verlassen.

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Warum? Wien war damals, in den 1820er Jahren, eines der bedeutendsten Musikzentren Europas, wo Liszt zweifellos eine glänzende Karriere hätte machen können. Die Konzerterfolge, die exzellenten Verbindungen zum Wiener Adel, die erste gedruckte Komposition – alles schien eigentlich für Wien zu sprechen. Warum also wollte Adam Liszt fort? Warum weitere Kosten, wo doch die finanzielle Lage prekär genug war? (Um nach Paris reisen zu können, musste Adam Liszt seinen Dienst bei Fürst Esterházy quittieren.) Warum den nach wie vor schwächlichen, häufig kränkelnden Knaben einer Reise ins Ungewisse aussetzen? (Als Liszt im Juli 1824 in England auftrat, erhielt sein Vater den Brief eines gewissen J. M. Raikes, der sich höchst besorgt über die krankhafte Blässe des 13-Jährigen äußerte: »Sie opfern die Gesundheit Ihres Sohnes auf dem Altar des Plutus.«39) Warum die Reise in ein Land (oder Länder), dessen Sprache weder er noch seine Frau noch der kleine Franz beherrschten?

Am 4. August 1823 bat er den Reichskanzler Fürst Metternich (in dessen Salon Franz bereits aufgetreten war) um Empfehlungsschreiben nach London, Paris und München:

»Daß: Nachdem das Musiktalent des Knaben stets vorwärts schreitet und immer mehr Reiz und Originalität entwickelt, es mein sehnlichster Wunsch und auch der Rath anderer Sachkundiger wäre, die weitere Bildung im Auslande zu verfolgen und das junge Talent nach und nach auf den Parnaß zu führen.

Zu dem Ende wünsche ich mit dem Knaben Anfangs des nächsten Monats September eine Reise über München (wo ich die Reisekosten einigermaßen zu decken, ein Konzert zu geben gedenke) nach Paris in das Studium der Composition in dem bestehenden Music Conservatoire fortzusetzen ein ganzes Jahr zu verbleiben, dann nach London oder Italien eine Reise zu machen, und im ganzen wenigstens zwey Jahre auszubleiben.«40

Wer auch immer als »Sachkundiger« zu dieser Reise geraten haben mag – Czerny war es jedenfalls nicht: »Als der Kleine im besten Studieren war, als ich anfing, ihn zur Komposition anzuleiten, ging er auf Reisen.«41 Oder war es vielleicht gerade dies: Dass Adam Liszt seinen Sohn dem Einfluss Czernys entziehen wollte, der die gehäuften Konzertauftritte des Kindes mit zunehmender Skepsis verfolgt haben dürfte? Oder doch rein materielle Interessen, weil der Reiz des Wunderkindes sich in Wien abzunutzen drohte, weil anderenorts größere Einnahmen zu erwarten standen? Alan Walker jedenfalls und andere Biografen haben Adam Liszt ausschließlich lautere und ehrenhafte Absichten unterstellt.

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Wenige Wochen nach dem Konzert im Redoutensaal reiste Adam Liszt Ende April mit seinem Sohn zunächst nach Pest, wo Franz zwischen dem 1. und dem 19. Mai fünf Konzerte gab; Zweck dürfte wohl auch gewesen sein, die Kontakte zu den ungarischen Magnaten zu pflegen, auf deren Unterstützung die Familie mehr denn je angewiesen war. Über Eisenstadt, wo der Vater seinen Abschied vom Dienst bei den Esterházys nahm und seiner Familie, seinen Freunden und Bekannten Lebewohl sagte, führte die Reise über Pressburg (wo Franz am 27. Mai ein weiteres Konzert gab) zurück nach Wien, von wo die Familie am 20. September 1823 endgültig aufbrach.

Erste Station der Postkutschen-Reise war München, wo Franz am 17. und 24. Oktober zwei Konzerte gab. »Ein neuer Mozart ist uns erschienen«42, schrieb die Augsburger Allgemeine Zeitung: die denkbar beste Werbung für die drei Auftritte des Knaben dort am 30. Oktober und (zweimal) am 1. November. Das dritte dieser Konzerte war ein Benefizkonzert zugunsten der Armen – das erste in einer langen Reihe von Konzerten, deren Einnahmen Liszt komplett wohltätigen Zwecken spendete. Hier in Augsburg war es zweifellos eine Idee des Vaters: ein geschickter PR- oder Marketing-Schachzug, modern ausgedrückt – nach dem abgewandelten Motto: Tue Gutes, und man redet darüber. Die Tatsache jedoch, dass Liszt auch in späteren Jahren zahllose Benefizkonzerte gegeben hat, zeigt, wie sehr ihm diese Großzügigkeit zu eigen geworden war. (Von den 21 Konzerten zum Beispiel, die er 1841/42 in Berlin gab, waren neun Benefizkonzerte!) Es gab freilich später immer wieder auch Stimmen, die Liszt genau diese Großzügigkeit vorwarfen und ihm unterstellten, er habe sich damit nur aufspielen und seinen Marktwert steigern wollen.

Weiter ging die Reise über Stuttgart und Straßburg, wo Liszt gleichfalls auftrat und vom Publikum und der Presse enthusiastisch gefeiert wurde. Alles in allem erbrachten die Konzerte nach Abzug der Reisekosten einen Reingewinn von 921 Gulden, wie Adam Liszt in einem Brief an Czerny berichtet. »Fast noch einmal so viel würden wir haben, wenn ich nicht auch darauf sehen müßte, nach Ehre zu streben und Andern Gutes zu thun.«43 Am 11. Dezember 1823 kamen die Liszts in Paris an und stiegen fürs Erste im angesehenen Hôtel d’Angleterre in der Rue du Mail Nr. 10 ab.

»Gleich nach dem Tage unserer Ankunft in Paris eilten wir zu Cherubini. […] Gerade schlug es zehn Uhr – und Cherubini befand sich bereits im Konservatorium. Wir eilten ihm nach. Als ich kaum das Portal, wohl richtiger gesagt den greulichen Thorweg der Rue du Faubourg-Poissonière durchschritten, überkam mich ein Gefühl tief gewaltiger Ehrfurcht. ›Das also‹, dachte ich, ›ist der verhängnisvolle Ort. Hier in diesem ruhmvollen Heiligthum thront das Tribunal, das für immer verdammt oder für immer begnadigt‹ – und wenig hätte gefehlt, so wäre ich vor einer Menge Menschen, die ich alle für Berühmtheiten hielt und die ich doch zu meiner Verwunderung wie einfache Sterbliche auf- und niedergehen sah, auf die Knie gesunken.«44

Doch die Hoffnungen scheiterten jäh an den Statuten des »verhängnisvollen Orts«: Die Klavierklassen des Conservatoire waren derart überlaufen, dass keine Nichtfranzosen mehr aufgenommen werden durften. »Der Herr Director vergaß, daß er selbst ein Italiäner war«45, bemerkte Joseph d’Ortigue mit spitzer Feder; doch Luigi Cherubini erfüllte nur eine Order von oben.

So groß die Enttäuschung auch war – »die Wunde war zu tief und blutete noch lange fort«46 –, so positiv verlief ein anderes Treffen, das Adam Liszt arrangiert hatte. Im Hause des Klavierfabrikanten Sébastien Érard und seines Neffen Pierre fand der junge Liszt nicht nur eine »Adoptivfamilie«47, sondern einen einflussreichen ›Sponsor‹, wie man heute sagen würde. Ein langfristiger Vertrag wurde geschlossen, nach dem Liszt fortan ausschließlich auf Érard-Flügeln spielte, die auf Kosten der Fabrik an den jeweiligen Konzertort gebracht wurden. Érard hatte kurz zuvor mit dem double échappement (»doppelte Auslösung«, etwas ungenau übersetzt) eine nachhaltige Verbesserung der Repetitionsmechanik entwickelt und hatte großes Interesse daran, für seine fortschrittlichen Instrumente europaweit zu werben. Tatsächlich wurden Liszts Konzerte nun immer mit entsprechenden Hinweisen angekündigt: »The incomparable Master Liszt, Has in the most flattering manner consented to display his inimitable powers on the NEW PATENT GRAND PIANO FORTE, invented by Sebastian Erard.«48

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Liszts »unvergleichlich kraftvolles« Klavierspiel bedeutete für die Instrumente seiner Zeit eine echte Herausforderung. Die neuesten Entwicklungen des Hammerflügelbaus waren noch relativ jung und folgten einer Art Kettenreaktion, die gleichermaßen durch die Veränderungen des Konzertlebens bedingt war wie durch die rasanten Fortschritte des virtuosen Klavierspiels: Zum einen verlangten größere Konzerträume nach lauteren Instrumenten, was sich nur durch eine höhere Saitenspannung und schwerere Hämmer erreichen ließ; zum anderen scheiterte die Brillanz der Läufe und Passagen noch oft an der Schwerfälligkeit der Mechanik, die also gleichfalls verbessert werden musste. Die Entwicklung von der deutsch-österreichischen Prellmechanik zur deutlich schneller ansprechenden englisch-französischen Stoßzungen- und Repetitionsmechanik hatte erst Anfang des 19. Jahrhunderts stattgefunden, und erst seit etwa 1820 hatten Klavierbauer wie Thomas Broadwood in London oder Ignaz Pleyel in Paris durch die Stahlrahmen-Bauweise eine höhere Saitenspannung ihrer Flügel und die Erweiterung des Tonumfangs von sechs oder sechseinhalb auf sieben Oktaven ermöglicht – was freilich neue Probleme mit sich brachte, wie die Allgemeine Musikalische Zeitung berichtet:

»Am 8ten Februar [1824], Concert bey Hrn. Gebrüder Erard. Der junge Liszt […] spielte ein Klavierconcert von Hummel in H moll, auf einem Flügel von sieben Octaven (von contra C bis fünfgestrichenem C), das durch diese übertriebene Ausdehnung den Uebelstand mit sich führte, keine Stimmung zu halten. Man war genöthigt, in der Mitte eines Stückes abzubrechen, um die, um einen halben Ton gesunkenen, Saiten bestmöglichst hinaufzustimmen, und die zerrissenen wieder zu ersetzen. Mag wohl dieser Unsinn, dem Umfange des Pianoforte’s keine Schranken zu lassen, von den Klavierspielern herrühren, die dadurch neue Effekte zu erhalten glauben; oder vielmehr von den Klaviermachern, die dadurch ihren Instrumenten einen Vorzug und Käufer zu verschaffen suchen?«49

Aber mochten verstimmte Instrumente und gerissene Saiten auch an der Tagesordnung sein: Liszt erwies sich für die Instrumente Érards als idealer und getreuer Werbeträger und brachte der Fabrik einen nachhaltigen Vorteil gegenüber ihrem größten Konkurrenten Pleyel. (Wobei es übrigens interessant ist, dass Frédéric Chopin eher Pleyels Flügeln den Vorzug gab: »Wenn ich nicht disponirt bin, so spiele ich am liebsten auf einem Erard’schen Clavier, wo ich den Ton schon fertig finde. Bin ich aber in der richtigen Verfassung, und kräftig genug, mir meinen eigenen Ton zu bilden, so muss ich ein Pleyel’sches Clavier haben.«50)

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Bei den Érards kam es auch zur Begegnung mit dem Komponisten Ferdinando Paër, dem musikalischen Direktor des Théâtre Italien, dem Adam Liszt gleichfalls ein Empfehlungsschreiben Metternichs aushändigte. Paër nahm den Jungen nicht nur als Kompositionsschüler an, sondern er führte ihn auch in die »Société Académique des Enfants d’Apollon« ein, eine renommierte Pariser Konzertgesellschaft, die Liszt am 24. Januar 1824 als Ehrenmitglied aufnahm. Auch der Kontakt zu Anton Reicha, bei dem Liszt Musiktheorie-Unterricht erhielt, dürfte über die Érards zustande gekommen sein.

Im übrigen leistete Adam Liszt als Impresario seines Sohnes Unglaubliches: Schon elf Tage nach seiner Ankunft in der Hauptstadt, am 22. Dezember 1823, erschien ein erster, hymnischer Artikel in L’Étoile, zweifellos vom Vater lanciert, in dem nicht nur der obligate Vergleich mit Mozart gezogen, sondern auch die bemerkenswerte Sprachbegabung des Knaben gerühmt wurde:

»Vergessen wir nicht eine weitere Eigenschaft, die aus diesem jungen Landsmann Haydns endgültig ein wahres Wunder macht. Obwohl er nämlich erst seit kurzem damit begonnen hat, Französisch zu lernen, drückt er sich in dieser Sprache bereits ganz klar und sogar mit einer gewissen Finesse aus, die manchem 16- oder 18-jährigen Jüngling alle Ehre machen würde.«51

Wann und wie Liszt begonnen hat, Französisch zu lernen, ist unbekannt. Sicher wird der Vater schon im Vorfeld der Paris-Reise (zwischen Mai und September) für entsprechende Grundlagen in dieser Sprache gesorgt haben, »die man mit Fug und Recht die Sprache Europas nennen darf«52. Anderen Quellen zufolge soll Liszt auch von Paër Sprachunterricht erhalten haben.

Am Neujahrstag 1824 fand dann Liszts erstes Auftreten in Paris statt, in denkbar illustrem Rahmen: Auf Einladung der Herzogin von Berry und des Herzogs von Orléans spielte er bei Hofe und machte dort ebenso Sensation wie bei allen folgenden Konzerten. Bis März 1824 trat der kleine »List«, »Leist«, »Litz«, »Liltz« oder »Listz« – man musste sich an die richtige Schreibart des Namens erst noch gewöhnen – sage und schreibe 38 Mal in Paris auf. Sämtliche Zeitungen berichteten über das Wunder und überschlugen sich in ihrer Begeisterung, die nach einem Konzert am Théâtre Italien am 6. März 1824 in einem Artikel in Le Drapeau blanc gipfelte: »Jetzt ist es so weit: Seit gestern abend glaube ich an Seelenwanderung. Ich bin überzeugt, dass die Seele und das Genie Mozarts in den Körper des jungen List gewandert sind: Er ist Mozart selbst.«53 Eine neue Lithografie (von G. Renal le Villain, nach Anne-Xavier Leprince) wurde gestochen, die den Zwölfjährigen im Frack am Klavier zeigt; das Original wurde im Louvre ausgestellt, die Abzüge waren überall in Paris zu haben. Der Arzt Franz Joseph Gall – Erfinder der Phrenologie – vermaß den Schädel des Knaben, so wie es ein paar Monate später in London James De Ville tun wird. Und die Triumphe zahlten sich aus: Allein das Konzert im Théâtre Italien brachte, nach Abzug aller Unkosten, einen Reingewinn von 4711 Francs! Sie bildeten die Grundlage eines Gelddepots, das bei der Pariser Rothschild-Bank hinterlegt wurde und das im Laufe der Jahre auf 200 000 Gulden anwuchs. Mit dem Resümee dieser Triumphe endet auch der erste Teil der Biografie d’Ortigues:

»Der junge Listz ward indessen so zu sagen, die Puppe aller jungen Frauen von Paris. Ueberall wurde er geliebkost und gehätschelt. Seine losen Streiche und Possen, seine Launen und Grillen wurden alle angemerkt und vielfach erzählt, alles fand man entzückend. In einem Alter von 12 Jahren hatte er Leidenschaft erregt, Eifersucht geweckt, Haß entzündet; alle Köpfe drehten sich um ihn; man war in ihn vernarrt.«54

Mehr war für’s Erste in Paris nicht zu erreichen, und zudem schien es angeraten, sich »Eifersucht, Haß« und Neid zu entziehen, die sich immer lauter zu Wort meldeten. Anfang Mai 1824 – nur viereinhalb Monate nach ihrer Ankunft in der französischen Hauptstadt – reiste Adam Liszt mit seinem Sohn und Pierre Érard nach England. (Und so, wie ein knappes Jahr zuvor Liszts Studium bei Carl Czerny abrupt endete, als der Vater den Sohn nach Paris brachte, endeten jetzt die Studien bei Paër und Reicha.) Für Franz bedeutete dies die Trennung von seiner Mutter, die er mehrere Jahre lang nicht wiedersehen sollte. Ob Anna Liszt ihren Mann und ihren Sohn aus gesundheitlichen oder ökonomischen Gründen nicht begleitete, ist ungewiss. Plante Adam die Reise als Auftakt zu einer längeren Tournee? Sie kehrte jedenfalls nach Österreich zurück und lebte bis 1827 bei ihrer Schwester in Graz; ihren Mann Adam sollte sie nie mehr wiedersehen.

Die Liszts und Érard blieben bis Mitte August in England, und die Konzerte des zwölfjährigen Wunderknaben in London – unter anderem auf Schloss Windsor vor König Georg IV. und dem englischen Hof – und in Manchester fanden ein ähnlich enthusiastisches Echo wie seine Pariser Triumphe. Bei seinem Londoner Debüt am 21. Juni 1824 saßen unter anderem Muzio Clementi, Johann Baptist Cramer, Friedrich Kalkbrenner und Ferdinand Ries im Publikum. Nach wie vor war Hummels h-Moll-Konzert das ›Schlachtross‹ des jungen Virtuosen, doch immer häufiger standen auch eigene Kompositionen auf den Programmen, die auch veröffentlicht und mit Opuszahlen versehen wurden: Als op. 1 die (Sébastien Érard gewidmeten) acht Variationen in As-Dur, deren letzte mit ihren repetierten Sechzehntelsextolen ideal war, um die Möglichkeiten der modernen Érard-Flügel zu demonstrieren. Die ersten Opernparaphrasen, mit denen Liszt auf die gerade aktuellen Bühnenwerke reagierte: als op. 2Sept Variations brillantes sur un air de Rossini (nach der Kavatine des Oreste »Ah, come nascondere la fiamma«, der einzig erfolgreichen Nummer aus Ermione) und als op. 3 ein Impromptu brillant sur des thèmes de Rossini et Spontini, das Themen aus gleich vier Opern verarbeitet: La donna del lago (die kurz vor Liszts Ankunft am Londoner King’s Theatre erstmals in England gegeben wurde) und Armida von Gioacchino Rossini, Olimpie und Fernand Cortez von Gaspare Spontini. Und schließlich ein Allegro di bravura und ein Rondo di bravura als op. 4.

Der kompositorische Ehrgeiz Liszts – oder wohl eher der seines Vaters – zielte freilich noch höher: »Unter Leitung des illustrissimo Maestro Paër«55 komponierte er eine einaktige »Opéra-Féerie« Don Sanche, ou Le Château d’amour, die von einer hochkarätig besetzten Jury der Pariser Académie Royale zur Aufführung angenommen wurde und (nach einigen zeitüblichen Querelen) am 17. Oktober 1825 an der Opéra uraufgeführt wurde, fünf Tage vor Liszts 14. Geburtstag. Die Titelpartie sang Adolphe Nourrit, das Orchester dirigierte Rodolphe Kreutzer. »Das Publikum bereitete dem kühlen Werk, dem es völlig an Feuer, Schwung und Originalität fehlt, eine kühle Aufnahme«56, schrieb zwei Tage später Le Journal des débats. Ein Grund waren wohl auch Neid und Eifersucht der arrivierten und älteren Kollegen:

»Wenn man bedenkt, welche Menge Partituren von Opern, zum Theil von den gefeyertesten Componisten, in den Bibliotheken jenes Theaters liegen, deren Aufführung man schon Jahre lang erwartet, so muss man sich wundern, dass die Administration den ersten Versuch eines Kindes allen diesen Werken vorzog. […] Man wollte das Wunderkind durchaus produciren, und statt auf einem kleinen Theater mit kleinen Sachen anzufangen, musste es sogleich in der grossen Oper auftreten. Kurz das Werk erschien und – fiel.«57

Nach vier Aufführungen wurde Don Sanche wieder abgesetzt. »Da nichts daran war, ist auch nichts daraus geworden«58, kommentierte Liszt später lakonisch das Schicksal seiner einzigen Oper gegenüber Lina Ramann. Wobei das kleine, harmlose Opus durchaus nicht schlecht abschneidet, wenn man es zum Beispiel mit dem Singspiel Bastien und Bastienne des zwölfjährigen Mozart vergleicht.

Für die nächsten knapp zwei Jahre gibt es in der Lebenschronik keine Besonderheiten zu verzeichnen: Bis August 1827 reihte sich Konzert an Konzert, Reise an Reise – Südfrankreich, die Schweiz, England –, Triumph an Triumph. Viele der Werke, die in diesen Jahren entstanden, sind verloren: zwei oder drei Klaviersonaten, eine vierhändige Sonate, zwei oder drei Konzerte für Klavier und Orchester, von denen eines Ignaz Moscheles wegen seiner »chaotischen Schönheiten«59 auffiel. Ein Werk immerhin gibt es, das die spektakulären Fortschritte widerspiegelt, die der junge Liszt sowohl als Pianist wie als Komponist durchlief: die Étude en quarante-huit exercices dans tous les tons majeurs et mineurs, aus denen 1838 die Grandes Études pour le Piano und 1851 die Études d’exécution transcendante hervorgingen. Die ersten 12 (der 48 geplanten) Etüden erschienen parallel 1826 oder 1827 bei Boisselot in Marseille und bei Dufant & Dubois in Paris als op. 6»par le jeune Liszt« und wurden später von Hofmeister in Leipzig als op. 1 nachgedruckt. Dabei ist nicht allein der virtuose Anspruch bemerkenswert, sondern auch der musikalische Gestus; der angebliche, von verschiedenen Autoren angemerkte Einfluss Chopin’scher Nocturnes auf die spätere As-Dur-Etüde Ricordanza etwa wird hinfällig, wenn man ihr Vorbild von 1826 betrachtet. Oder auch ein kleines Allegro molto quasi presto in g-Moll, das Liszt am 27. Mai 1827 in London komponierte und dessen bizarre Sprünge und harmonische Volten manches von dem vorwegnehmen, was für seine späteren Klavierwerke so charakteristisch werden sollte.

Mag sein, dass Liszts Leben noch Jahre oder Jahrzehnte in denselben unruhigen Bahnen weiterverlaufen wäre, wenn nicht Mitte August