Camp 21 - Rainer Wekwerth - E-Book + Hörbuch

Camp 21 Hörbuch

Rainer Wekwerth

4,5

Beschreibung

Mike und Kayla sind in Camp 21 gelandet. Sie kennen sich kaum und mögen sich noch weniger. Durch elektronische Armbänder aneinander gefesselt, ist es ihnen unmöglich, sich aus dem Weg zu gehen. Entfernen sie sich zu weit voneinander, empfangen sie über die Fessel quälende Schmerzimpulse. Während Kayla versucht mit der Situation zurechtzukommen, ahnt Mike, dass im Camp etwas nicht stimmt. Nach einem tödlichen Vorfall gelingt den beiden die Flucht. Doch dies ist erst der Anfang einer atemberaubenden Jagd, denn die Fesseln, die geheimen Experimente und die Liebe zueinander bilden für Mike und Kayla ein gefährliches Netz, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. "Camp 21" gewann bei der "Ulmer Unke" den 2.Platz.

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Zeit:7 Std. 48 min

Sprecher:Mark Bremer

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Rainer Wekwerth

CAMP 21

GRENZENLOS GEFANGEN

Rainer Wekwerth, in Esslingen am Neckar geboren, schreibt aus Leidenschaft. Er ist Autor erfolgreicher Bücher, die er teilweise unter Pseudonym veröffentlicht und für die er Preise gewonnen hat. Zuletzt die »Segeberger Feder«, die »Ulmer Unke« und die »Goldene Leslie« für den 1. Band der Labyrinth-Trilogie. Neben dem Schreiben coacht er Autoren und Schreibschüler, ist Ehemann und Vater einer Tochter. Der Autor lebt mit seiner Familie im Stuttgarter Raum. www.wekwerth.com

Weitere Bücher von Rainer Wekwerth im Arena Verlag:

Blink of Time Das Labyrinth erwacht Das Labyrinth jagt dich Das Labyrinth ist ohne Gnade Damian. Die Stadt der gefallenen Engel Damian. Die Wiederkehr des gefallenen Engels

1. Auflage 2017 © 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Ein Projekt der AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur (www.ava-international.de) Cover und Umschlaggestaltung: ZERO, unter Verwendung eines Fotos von © FinePic®, München ISBN 978-3-401-80559-7

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Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

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10.

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17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

Epilog

1.

Es war heiß. Die Sonne brannte vom Himmel herab. Mike konnte sie auf seinen nackten Armen kribbeln spüren. Er sog die warme Luft ein, die nach Fichten und Kiefern roch und ihm das Gefühl gab, frei zu sein, während er über die einsame Landstraße raste, das Vibrieren des Sechszylindermotors spürte und den Wind über sein Gesicht streichen ließ. Ein gutes Gefühl, nach allem, was geschehen war. Monate der Trauer fielen in diesem Moment von ihm ab und er konnte endlich wieder durchatmen.

Neben ihm saß sein Bruder Ricky und zog sich gerade einen Joint rein. Der süßliche Duft waberte heran, kitzelte Mike in der Nase. Er sah zu ihm hinüber. Ricky hatte sich weit im Sitz zurückgelehnt. Seine Lider waren geschlossen. Die wilden dunklen Haare umwehten sein Gesicht, ließen ihn wie ein übernatürliches Wesen wirken.

»Willst du auch?«, fragte Ricky, ohne die Augen zu öffnen, und hielt ihm den Joint hin.

»Nein.«

»Du bist echt ein Spießer, Mann.«

»Und du ziehst dir zu viel Shit rein.«

»Es entspannt mich.«

»Ricky, du bist sechzehn. Da ist man entspannt.«

»Und du bist gerade mal ein Jahr älter und hörst dich an wie Dad.«

Ist das wirklich so? Klinge ich wie unser Vater? Nein, so bin ich nicht.

»Sie haben dich schon zweimal an der Schule mit dem Zeug erwischt. Dad hat gesagt, wenn du den Scheiß nicht lässt, gibt es Ärger mit ihm.«

»Er hat sich als Student auch ab und zu mal einen Joint reingezogen. Hat er uns doch selbst erzählt.«

»Das ist lange her. Er macht sich Sorgen um dich. Seit Moms Tod ist er nicht mehr derselbe.«

»Musst du mir nicht sagen, Mike. Immerhin war ich für ihn da, als sie gestorben ist. Du bist nach der Beerdigung für eine Woche abgehauen. Hast uns alleingelassen.«

Obwohl das schon ein Jahr her war, hörte Mike immer noch die Bitterkeit in Rickys Worten. Er hatte es damals nicht mehr im Haus ausgehalten. Alles erinnerte ihn an seine Mutter. Ihre Sachen lagen herum, selbst der Duft ihres Parfums hing noch in der Luft. Er hatte rausgemusst, einfach raus, oder er wäre verrückt geworden. Im Nachhinein tat es ihm leid, dass er seinen Dad und Ricky in dieser Situation im Stich gelassen hatte. Das würde nie wieder passieren.

Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Jeder hing seinen Gedanken nach.

»Wenn der Alte mitkriegt, dass wir uns seine Karre ausgeliehen haben, flippt er aus«, meinte Ricky schließlich und nahm einen weiteren tiefen Zug.

»Sag mir was, was ich noch nicht weiß.«

Der Tag war einfach zu schön, um nicht durch die Gegend zu fahren. Ihr Vater hatte den Zug in die Stadt genommen und würde erst spät am Abend zurückkehren. Zeit genug, die Sonne zu genießen, während all ihre Freunde in der Schule saßen und für die nächste Prüfung büffelten.

Eigentlich war es Rickys Idee gewesen, blauzumachen und sich den Wagen für einen Ausflug zu schnappen. Zuerst hatte er sich nicht darauf eingelassen, aber Ricky konnte einen echt bequatschen, und wenn er seinen Kleinerbruderblick aufsetzte, war es schwer, ihm etwas abzuschlagen.

Nun röhrte der 78er Ford Mustang II King Cobra mit seinen sechs Zylindern über die Landstraße und es fühlte sich gut an.

Verdammt gut.

Das Gefühl hielt nicht lange.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Mike blickte in den Rückspiegel. Hinter ihm war ein Streifenwagen aufgetaucht und kam rasch näher. Was gerade noch Spaß, das Gefühl von Freiheit und Abenteuer gewesen war, wurde ernst. Nicht nur, dass er viel zu schnell fuhr. Nicht nur, dass er erst siebzehn Jahre alt war und noch keine zwölf Monate seinen Führerschein hatte. Nicht nur, dass dies das Auto seines Vaters war, das er sich, ohne zu fragen, »ausgeliehen« hatte, nein, neben ihm saß auch noch sein Bruder mit einem Joint in der Hand. Mike spürte, wie sein Magen nach unten sackte.

»Hinter uns sind die Cops«, rief er. Der Fahrtwind riss ihm die Worte aus dem Mund.

Ricky öffnete die Augen, wandte sich ihm zu. »Was ist?«

»Polizei!« Mike deutete nach hinten.

»Ich verstehe dich nicht. Was sagst du?«, brüllte Ricky.

Mike setzte erneut an, aber eine Sekunde später war das nicht mehr nötig. Das Polizeifahrzeug hinter ihm hatte die Sirene eingeschaltet und jagte nun mit aberwitzigem Tempo und zuckenden blauen und roten Lichtern heran. Einen Moment lang, nur einen Augenblick, dachte Mike daran, das Gaspedal durchzutreten und sein Glück in der Flucht zu versuchen, aber dann wurde ihm bewusst, dass er Ricky und sich dadurch erst recht in Schwierigkeiten bringen würde. Sein Bruder hatte in der Schule schon genug Ärger am Hals.

»Schmeiß den Joint weg«, schrie Mike.

Ricky sah ihn überrascht an, dann begriff er, dass Mike sich den Cops stellen würde. In hohem Bogen flog die Kippe aus dem Wagen.

Mike ging vom Gas. Der Streifenwagen war nun so dicht heran, dass er beim Abbremsen darauf achten musste, dass er nicht auf ihn auffuhr. Vorsichtig zog er auf den Seitenstreifen und ließ den Mustang ausrollen.

Als sie standen, schaute er Ricky an.

»Am besten, du sagst nichts. Lass mich reden.«

»Dad wird uns umbringen.« In Rickys Augen stand die Angst vor dem Ärger, der auf sie zukommen würde.

»Wird schon werden.«

»Das denke ich nicht«, murmelte Ricky und Mike glaubte einen Moment lang, ihn falsch verstanden zu haben.

Kayla ging den düsteren Hausflur entlang und fühlte sich unwohl. Der ganze Häuserblock war schäbig. Überall lag Müll herum. Es roch nach Alkohol und Urin. Papierfetzen und Graffiti säumten ihren Weg und ihre Turnschuhe machten tappende Geräusche auf dem schmierigen Linoleum.

Während sie auf der Suche nach Wohnung 1198 B den Flur hinunterschritt, hatte sie das Gefühl, die Wände rückten mit jedem Meter, den sie zurücklegte, näher. Links und rechts befanden sich schwere Metalltüren, die zu Wohnungen führten, aber besser in eine unterirdische Bunkeranlage gepasst hätten.

Im trüben Licht vereinzelter Glühbirnen war es schwer, die Nummern an den Wänden zu lesen. Alle Leuchtmittel waren vergittert, aber die meisten von ihnen waren dennoch zersplittert oder funktionierten aus anderen Gründen nicht.

Obwohl es draußen heiß war, kroch im Haus eine merkwürdige Kühle durch die Gänge. Kayla trug Shorts und ein ärmelloses Shirt. Sie fröstelte und rieb sich die Arme, während sie versuchte, eine weitere Wohnungsnummer zu entziffern.

1193 A.

Es konnte nicht mehr weit sein. Kayla war verunsichert. Sie begann zu schwitzen. Es fühlte sich falsch an, hier zu sein. Sie gehörte nicht in diese Gegend, alles Mögliche konnte passieren. Für einen Moment fragte sie sich, ob es nicht vollkommen verrückt gewesen war hierherzukommen.

Vor ihr machte der Flur einen rechtwinkligen Knick und bog nach links ab. Hier war es noch dunkler als im übrigen Gang.

Oh Tom, wo bist du nur gelandet? Wie konnte es so weit mit dir kommen?

Sie und Tom kannten sich seit dem Kindergarten. Er war ihr bester Freund gewesen, aber dann hatte er sich verändert, sich von ihr zurückgezogen, und schließlich, vor einem halben Jahr, hatte er jeden Kontakt zu ihr abgebrochen.

Sechs Monate lang kein Lebenszeichen von ihm.

Bis heute.

Um 11.38 Uhr war eine Nachricht auf ihrem Handy eingegangen.

Ich bin verloren. Hilf mir.

Hickary Street 28, Wohnung 1198 B.Tom

Sie hatte seinen Hilferuf erst in der Pause gelesen, Handys waren im Unterricht verboten, und war sofort losgefahren, um ihn zu treffen.

Kayla wusste, dass es deshalb Ärger geben würde. Erstens versäumte sie unentschuldigt den Unterricht und zweitens setzte sie sich über den Willen ihrer Eltern hinweg. Schon vor seinem Verschwinden hatten sie ihr aus Sorge, Tom hätte einen schlechten Einfluss auf sie, jeden Umgang mit ihm verboten. Immer wieder hatte Kayla versucht, mit ihren Eltern über ihn zu sprechen, aber die Antwort blieb stets die gleiche: »Halt dich von ihm fern!«

Aber das konnte sie nicht. Niemals. Tom wohnte in ihrem Herzen. Er war der Bruder, den sie nie gehabt hatte. Ebenso gut hätten ihre Eltern verlangen können, sich von ihrem rechten Arm fernzuhalten. Es ging nicht, sie waren miteinander verwachsen und all die Monate ohne Nachricht von Tom waren dunkel gewesen.

Nun würde sie ihm wieder gegenüberstehen.

1198 B.

Verschmiert, aber noch lesbar prangte der Schriftzug neben der Tür. Kayla holte tief Luft, sammelte ihren Mut für das, was sie wohl erwartete.

Sie klopfte an.

Einmal.

Zweimal.

Nichts geschah.

Dann bemerkte sie, dass die Tür nicht abgeschlossen war, sondern einen Spalt offen stand.

2.

Mike sah im Rückspiegel, wie zwei Polizisten aus dem Wagen stiegen. Sie trugen verspiegelte Brillengläser. Das Blaulicht zuckte noch immer. Machte Mike nervös.

Verdammt, das würde Ärger geben. Richtigen Ärger.

Einer der Cops kam näher, während sein Kollege ihn absicherte, die Hand über der Waffe an seiner Seite. Der Mann war groß, mindestens einen Kopf größer als er selbst. Er hatte harte Gesichtszüge und einen schmalen blassen Mund.

Einen Meter hinter ihm blieb er stehen. Mike musste den Kopf verdrehen, um ihn zu sehen. Er kurbelte das Fenster herunter.

»Die Hände aufs Lenkrad!«, befahl der Officer. »Sehen Sie nach vorn.«

Mike gehorchte.

»Der Beifahrer soll das Fenster herunterlassen und seine Hände rausstrecken.«

»Sir?«

»Ich will seine Hände sehen.«

Ricky neben ihm rührte sich nicht. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck saß er da.

»Mach schon, Ricky«, zischte Mike ihm zu, aber sein Bruder verzog nur verärgert den Mund.

»Der kann sich ins Knie ficken.«

»Ricky, bau jetzt keine Scheiße, streck die Arme raus.«

Mike wandte sich um. Der Polizist wurde unruhig. Er konnte seine Augen hinter den Brillengläsern nicht sehen, aber er spürte, wie ihn die Blicke des Mannes festnagelten.

»Die Hände. Jetzt!«

Hart. Unmissverständlich.

»Sofort, Sir«, sagte Mike und dann, zu Ricky gewandt: »Bitte tu es.«

»Mann!«, stöhnte Ricky, aber er kurbelte das Fenster herunter und streckte beide Hände durch. Mike atmete erleichtert auf.

»Sie …«, der Cop deutete auf Mike, »steigen aus. Ich will die Fahrzeugpapiere und den Führerschein sehen. Wo sind sie?«

»Im Handschuhfach, Sir.«

»Nehmen Sie die Sachen langsam heraus. Machen Sie keine schnellen Bewegungen.«

»Okay.«

Er beugte sich zu Ricky hinüber, öffnete die Klappe zum Handschuhfach.

»Ich hab keinen Bock mehr«, maulte sein Bruder. »Außerdem ist mir nicht gut. Ich glaube, ich muss kotzen.« Er würgte.

»Ricky …«

Der Blick, den er auffing, traf ihn bis ins Mark. Bisher hatte er es nicht richtig wahrgenommen, aber Ricky war vollkommen zugedröhnt. Seine Augen waren glasig. Er wirkte schläfrig und abwesend.

»Ich steig jetzt aus.«

»Nein … nein, tu das nicht.«

Aber Ricky schüttelte den Kopf. Mike wusste nicht, was er machen sollte. Wenn er nach Ricky griff, konnte der Polizist die Bewegung falsch deuten, aber keinesfalls konnte er seinen Bruder gegen den Befehl des Cops aus dem Wagen steigen lassen.

»Sir«, rief er. »Meinem Bruder ist schlecht. Er muss sich übergeben.«

»Sie bleiben, wo Sie sind!«, brüllte der Polizist.

Ricky rülpste. Etwas in seinem Magen gluckerte laut.

»Bitte, Sir …«

»Nein!«

Neben ihm stöhnte Ricky. »Ich muss …« Er würgte erneut.

Der Polizist riss seine Waffe aus dem Halfter. Mike fasste nach der Schulter seines Bruders.

Die Zeit blieb für einen Moment stehen.

Dann drückte Ricky den Türöffner herunter und taumelte aus dem Wagen.

Es ging alles schnell. So schnell. Der zweite Cop stürzte heran, packte Ricky im Genick und drückte ihn zu Boden, noch während sich dieser übergab. Der andere Polizist richtete seine Waffe auf Mikes Gesicht. Mike blickte in die Mündung und hatte das Gefühl, in einen Tunnel zu sehen. Eine Hand riss die Fahrzeugtür auf und zog ihn aus dem Wagen.

Mike prallte hart auf den heißen Asphalt. Seine Kiefer klappten abrupt zusammen. Dann spürte er das Knie des Polizisten in seinem Rücken. Heißer Schmerz jagte durch seine Zähne. Seine Hände wurden brutal nach hinten gebogen, Handschellen schnappten um seine Handgelenke zu.

»Ich … bekomme keine Luft«, wollte Mike sagen, aber es kam nur ein dumpfer Laut heraus.

Sein Kopf dröhnte. Das Atmen fiel ihm schwer. Alles wirbelte durcheinander. Ein Kaleidoskop wirrer Bilder tanzte vor seinen Augen, dann durchzuckte ein Gedanke seine Verwirrung.

Ricky?

Ricky war so still. Warum hörte er seinen Bruder nicht?

Er versuchte, sich aufzurichten. Wollte nach seinem Bruder sehen. Ihm sagen, er solle ruhig bleiben, alles werde gut, aber der Mann auf seinem Rücken presste ihn unerbittlich nieder.

»Rühr dich keinen Millimeter, Junge«, zischte der Polizist. »Oder ich breche dir jeden Knochen im Leib.«

Mike gab seinen Widerstand auf. Sein Körper erschlaffte.

»Unter Kontrolle«, rief der Mann seinem Kollegen zu.

»Hier auch«, kam es zurück.

Gott sei Dank. Ricky hatte sich nicht weiter gewehrt. Die Sache würde sich klären lassen. Sie waren keine Verbrecher, nur zwei Jungs, die ein bisschen Spaß haben wollten. Das würden die Polizisten verstehen.

Es war ein schöner Tag.

Er wurde an den Handschellen gepackt und so grob auf die Füße gerissen, dass er das Gefühl hatte, beide Schultern kugelten sich aus. Sein erster Blick galt Ricky, der auf der anderen Seite des Wagens auf die Motorhaube gepresst wurde. Ricky schrie schmerzerfüllt auf. Klar, der Motor war heiß und das Blech zusätzlich durch die Sonne erhitzt.

»Was tun Sie da?«, rief Mike. »Lassen Sie ihn los.«

Wieder schrie Ricky. Er wehrte sich gegen den Griff. Mike konnte sehen, dass seine Hände nicht gefesselt waren. Irgendwie gelang es ihm, sich zu befreien. Er wirbelte herum.

»Nein!«, brüllte Mike, aber es war zu spät.

Ricky stieß den Polizisten von sich.

Der Mann stolperte einen Schritt nach hinten, fing sich aber gleich wieder. In einer einzigen fließenden Bewegung zog er seinen Schlagstock vom Gürtel und schlug zu. Mike konnte nicht sehen, wo Ricky getroffen wurde, aber sein Bruder brach augenblicklich zusammen. Stumm, ohne jedes Geräusch, sackte er zu Boden.

Entsetzen machte sich in Mike breit.

»Ricky?«, brüllte er, aber es kam keine Antwort. »Ricky?«

Der Cop in seinem Rücken trat ihm die Beine weg. Mike sackte nach hinten, wurde aber aufgefangen und zum Streifenwagen gezogen. Wie einen Sack Getreide schleifte ihn der Mann hinter sich her, öffnete die Tür zum Rücksitz und stieß ihn hinein.

»Was ist mit meinem Bruder?«, rief Mike. »Tun Sie ihm nichts.«

Aber der Polizist antwortete nicht, sicherte Mike an einer Vorrichtung im Fahrzeug und zog ihn in eine aufrechte Position.

»Verhalte dich ruhig!«, befahl er, dann ging er zu seinem Kollegen hinüber und begutachtete die Lage. Kurz darauf war er zurück, öffnete die Beifahrertür, griff nach dem Funkgerät und machte eine Meldung an die Zentrale. Mike verstand kaum etwas, aber er bekam mit, dass ein Abschleppwagen für den Ford Mustang angefordert wurde. Seine Hoffnung, alles noch einigermaßen unter Kontrolle zu halten, flog dahin. Sie saßen bis zum Hals in der Scheiße.

Noch schlimmer war seine Sorge um Ricky.

War er verletzt? Bewusstlos?

Mike reckte den Hals und versuchte, durch das Absperrgitter, das die Frontsitze von der Rückbank trennte, etwas zu erkennen, aber der Mann vor ihm verdeckte die Sicht. Der Polizist beendete seine Meldung und drehte sich zu ihm um.

Mike sah ihn an. »Sir, bitte. Ich mache keinen Ärger. Bitte sagen Sie mir, was mit meinem Bruder ist.«

Das Gesicht des Mannes blieb ausdruckslos, aber er wandte sich seinem Kollegen zu, von dem nur der Kopf hinter dem Mustang zu sehen war.

»Mit ihm ist alles okay.«

Mike beobachtete, wie der Cop Ricky auf die Füße zog. Sein Bruder trug nun ebenfalls Handschellen. Jeder Widerstand in ihm war erloschen. Den Blick gesenkt, stolperte er neben dem Polizisten her. Ein schmaler Blutstreifen zog sich aus seiner Nase das Kinn hinunter.

Als beide heran waren, wurde Ricky zu Mike auf den Rücksitz bugsiert und gesichert, dann die Fahrzeugtür zugeschlagen. Er schaute zu seinem Bruder und erschrak.

Rickys Schultern hingen nach unten, er keuchte wie nach einem Hundertmeterlauf. Alles an ihm wirkte zerbrochen.

»He, Ricky? Alles gut?«

Was für eine dämliche Frage. Nichts war gut und würde es so bald auch nicht werden.

Ricky antwortete nicht.

»Ricky, bist du verletzt? Hast du Schmerzen?«

Drei sich eine Ewigkeit anfühlende Sekunden antwortete Ricky nicht, dann sagte er leise: »Ich hab mich angepisst.«

»Ach, Ricky, das ist doch …«

»Wie ein kleines Kind … angepisst.«

Mike holte tief Luft. Irgendetwas stimmte nicht mit Ricky. Die Situation war schlimm, aber die Art, wie sein Bruder neben ihm saß und mit tonloser Stimme sprach, machte ihm mehr Angst als alle Cops der Welt.

»Hast du Schmerzen?«, fragte er erneut.

»Weiß nicht«, kam es zurück.

»Ricky, bitte konzentrier dich. Ich muss wissen, was mit dir los ist. Brauchst du einen Arzt?«

Ricky drehte den Kopf. Das Blut, das aus seiner Nase gelaufen war, begann zu trocknen. Er sah um Jahre älter aus. »Nein, ich denke nicht.«

Neben dem Streifenwagen hatten die beiden Polizisten ihre Besprechung beendet. Die Fahrertür wurde aufgerissen, einer der Cops beugte sich ins Wageninnere. Es war der Mann, der Mike festgenommen hatte.

»Ist der Wagen gestohlen?«

»Nein, Sir. Er gehört meinem Vater.«

»Henry, hol die Fahrzeugpapiere. Sie sind im Handschuhfach.«

Eine Minute später war der Kollege mit den Zulassungspapieren zurück.

»Führerschein und Ausweis?«, wurde Mike gefragt.

»In meiner Hosentasche.«

Der zweite Cop öffnete die Fahrzeugtür. Mike musste sein Gesäß anheben, damit der Mann an seinen Geldbeutel herankam.

Er reichte ihn dem Kollegen, der den Ausweis herauszog und sorgfältig studierte.

»Mike Sanders, ist das dein Name?«

»Ja, Sir.«

»Das Foto sieht dir nicht besonders ähnlich.«

»Ich hatte da noch längere Haare.«

Der misstrauische Blick des Mannes glitt über ihn hinweg, dann schien er zufrieden zu sein.

»Ist das dein Bruder?«

»Ja.«

»Name?«

»Richard Sanders.«

»Ausweis?«

Ricky antwortete nicht, saß nur da und starrte dumpf auf den Boden.

»Hast du deinen Ausweis dabei?«, fragte Mike.

Ricky schüttelte den Kopf.

»Nun ja, spielt keine Rolle«, sagte der Cop. »Die Kollegen sind gleich da. Ihr werdet zur Fulton County Police Station gebracht. Dort überprüfen sie eure Identität und nehmen eure Aussagen auf. Außerdem wird ein Test auf Alkoholkonsum und Drogenmissbrauch gemacht. Wir schreiben einen Bericht, ein Richter wird entscheiden, ob gegen euch ein Haftbefehl erlassen wird.«

Haftbefehl?

»Sir«, sagte Mike. »Ist das nötig? Wir haben nichts Schlimmes getan. Sind nur ein wenig herumgefahren.«

Der Mann nahm seine Sonnenbrille ab. Ein Blick aus harten Augen traf Mike. »Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit. Verkehrsgefährdung. Widerstand gegen die Polizei. Das sind ernste Vergehen, mein Junge. Du bist siebzehn, dein Bruder sieht sogar noch jünger aus, aber das wird euch nicht helfen. In diesem County herrschen Recht und Ordnung.«

Mike wurde schwindelig. Das alles klang, als wären sie Schwerverbrecher. Er musste unbedingt etwas unternehmen.

»Wir haben einen Fehler gemacht, sicher, aber doch niemanden gefährdet. Ich habe nichts getrunken und auch keine Drogen genommen. Okay, wir waren zu schnell, aber jetzt kennen Sie unsere Identität. Gibt es denn keine andere Möglichkeit? Ein Bußgeld oder so etwas?«

»Nein. Dein Bruder hat sich der Festnahme widersetzt, einen Polizisten angegriffen.«

»Sir, ich bitte Sie!«

Die Fahrzeugtür wurde wieder zugeschlagen.

»Verdammt, verdammt, verdammt«, fluchte Mike. »Verdammte Scheiße.«

»Dad wird uns umbringen«, murmelte Ricky vor sich hin.

»Ach ja«, ätzte Mike. »Das sagtest du bereits. Ricky, falls du es noch nicht bemerkt hast, wir haben ganz andere Probleme. Ich wünschte, Dad wäre hier. Ich wünschte, er würde uns so richtig zusammenstauchen, drei Monate Hausarrest verpassen oder sonst etwas tun. ER IST ABER NICHT HIER! Begreifst du es nicht? Die bringen uns zur County Police Station. Wir werden verhört und womöglich einem Haftrichter vorgeführt und DANN IST ALLES MÖGLICH. Mann, wenn es dumm läuft, verbringen wir die Nacht im Knast. Hast du Bock darauf?«

»Nein«, gab Ricky kleinlaut zu und sofort tat Mike sein Ausbruch leid. Statt rumzubrüllen, sollte er sich um Ricky kümmern, den das alles schon genug verwirrte. Er musste ruhig bleiben, egal, wie er sich selbst fühlte, und versuchen, seinem Bruder Zuversicht zu vermitteln. Auch wenn er selbst keine Zuversicht in sich spürte.

»Okay, tut mir leid, ich habe übertrieben. Wird schon nicht so schlimm werden. Dad holt uns da raus.«

Ricky sah zum ersten Mal seit Langem auf. Sein Blick flehte nach Trost. »Meinst du?«

»Sicher, mach dir keine Sorgen.«

Fünf Minuten später wurden sie in einen Transporter mit der Aufschrift »Fulton County Police« verladen. Bevor Mike einstieg, wandte er sich noch einmal an den Polizisten, der ihn festgenommen hatte.

»Das Ganze tut mir leid, Sir.«

Nichts regte sich in dem Gesicht des Mannes. Die Sonne spiegelte sich in der silbernen Brille.

»Nein, noch nicht«, sagte der Cop. »Aber bald.«

3.

Der Gestank war atemberaubend. Es roch nach kaltem Rauch und abgestandenem Essen. Darunter mischte sich der Geruch von saurem Bier und Erbrochenem.

Es war düster im Zimmer. Nur durch die Schlitze der zugezogenen Vorhänge fiel ein schmaler Lichtstreifen, der kaum ausreichte, um etwas zu erkennen. Kayla nahm nur grobe Formen wahr, aber immerhin stellte sie fest, dass der gesamte Fußboden mit Abfall bedeckt war. Ihr Fuß stieß gegen einen leeren Pizzakarton, als sie vorsichtig einen Schritt nach vorn machte.

Es war still hier drin. Unnatürlich still.

»Tom?«

Ein Rascheln drang an ihr Ohr. Kayla wirbelte herum, entdeckte eine weitere Tür.

»Tom, bist du da?«

Nebenan stöhnte jemand.

»Tom? Bist du dadrin? Sag bitte etwas!«

Ihre Stimme zitterte. Kayla fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, allein hierherzukommen.

Erneut erklang ein Stöhnen.

Verdammt!

Kayla raffte ihren Mut zusammen. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Sie schaute sich um, suchte sich einen Weg ins andere Zimmer. Dafür musste sie einem umgekippten Sofa und einem schweren Sessel ausweichen.

Schließlich stand sie vor der Tür zum Nebenzimmer. »Ich komme jetzt rein, okay?«

Niemand antwortete ihr. Sie legte die Hand an die Tür und schob sie auf.

Was sie sah, ließ ihr Herz erstarren.

Die Vorhänge waren auch hier zugezogen, aber es fiel genug Licht ins Zimmer, damit Kayla ihren Freund sehen konnte.

Er lag da, auf einer alten, stinkenden Matratze, wie eine achtlos weggeworfene Puppe, und rührte sich nicht. Tom hatte sich wie ein Embryo zusammengekrümmt. Sein Kopf ruhte auf dem rechten Arm, mit dem linken bedeckte er sein Gesicht. Beide Knie waren angezogen.

Er sah so dünn aus.

Er ist tot, war ihr erster Gedanke. Kayla erschrak bis in ihr Innerstes, aber dann hörte sie ein leises Keuchen. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass das Geräusch von Tom kam.

Hastig kniete sie sich neben ihn. »Tom?«

Nichts.

Sie fasste nach seiner Schulter. Noch immer bewegte er sich nicht.

Kayla rüttelte ihn.

»Tom!«, rief sie.

Dann schrie sie seinen Namen.

Ein kaum hörbares Stöhnen war die Antwort.

Sie packte Tom fest und wälzte ihn auf den Rücken. Sein Kopf kippte nach hinten, aber er zeigte noch immer keine Reaktion. Seine Augen standen offen, leer starrten sie zur Zimmerdecke. In seinen Mundwinkeln hatte der Speichel Schaumblasen gebildet.

Kayla war kurz vor einer Panik. Alles in ihr vibrierte. Sie blickte auf ihren Freund nieder. Was war mit ihm geschehen? Er lebte, aber er war bewusstlos. Ihr Blick fieberte umher.

Plötzlich stutzte sie. Neben der Matratze lagen eine benutzte Spritze, ein verrußter Löffel und verbrannte Alufolie. Nicht weit davon ein leeres Plastiktütchen. Drogenbesteck!

Oh Tom, was hast du nur gemacht?

Schlagartig wurde ihr bewusst, wie ernst die Lage war. So wie es aussah, hatte sich Tom einen Schuss gesetzt. Was auch immer in dem Tütchen gewesen war, anscheinend hatte es bei ihm für eine Überdosis gesorgt.

Kayla fasste an seinen Hals, suchte den Puls.

Schwach und flatternd.

Tom brauchte sofort einen Arzt. Hier ging es um Leben und Tod.

Kurz dachte sie daran, dass sie durch diese Sache in große Schwierigkeiten geraten würde, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie musste dafür sorgen, dass ihm geholfen wurde. Alles andere war im Moment zweitrangig.

Kayla fingerte ihr Handy aus der Hose. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer der Notrufzentrale ein.

Zwei Sekunden später meldete sich eine weibliche Stimme.

»Ich brauche Hilfe«, sagte Kayla.

Sie saßen in einem fensterlosen Raum, rechts und links von einem Tisch, der im Boden festgeschraubt war. Die Stühle waren aus Metall, ebenfalls fest verankert.

Seit Stunden saßen sie hier. Menschen kamen und gingen. Stellten ihnen Fragen. Fragen zu den Vorkommnissen auf der Landstraße, Fragen zu ihrer Lebenssituation. Irgendwie schien jeder alles von ihnen wissen zu wollen.

Ricky und er waren auf die Toilette geführt worden und hatten eine Urinprobe abgeben müssen. Das Ergebnis der Auswertung hatte man ihnen nicht mitgeteilt.

Mike hatte gefragt, ob er seinen Vater anrufen dürfe. Das hatte man verneint, aber eine Polizistin hatte sich die Handynummer geben lassen und gesagt, er werde verständigt. Etwas später hatte sie ihnen mitgeteilt, er wäre auf dem Weg hierher.

Das war vor drei Stunden gewesen. Warum sein Vater nicht sofort kam, konnte sich Mike nicht erklären.

Ricky hatte beide Arme auf den Tisch gelegt und sein Gesicht darin vergraben. Sie sprachen nur wenig miteinander und das wenige ließ Mike bewusst werden, dass sein Bruder mit der Situation nicht umgehen konnte.

Das High des Joints war verflogen und hatte einer kindlichen Traurigkeit Platz gemacht. Ricky weinte nicht, aber er war wie betäubt. Mike war zweimal zu ihm hinübergegangen und hatte ihm tröstend den Arm um die Schultern gelegt, doch sein Bruder hatte nicht darauf reagiert, genauso wenig wie auf die Worte, die ihn beruhigen sollten. So hockte er nun auf seinem harten Stuhl und schloss die Welt aus.

In Mike sah es ganz anders aus. Er war unruhig. Eine finstere Ahnung hatte sich in ihm breitgemacht. Die Vorgänge auf dem Polizeirevier machten deutlich, dass niemand diese Sache auf die leichte Schulter nahm.

Noch immer war er der Meinung, dass nichts Schlimmes geschehen war. Sie hatten niemanden verletzt oder gefährdet und bis auf die Geschwindigkeitsüberschreitung keine Straftat begangen, aber hier wurde ein ganz anderes Bild vermittelt. Die Männer, die mit ihm sprachen, blickten durchweg ernst und ließen keinen Zweifel daran, dass Rickys Gegenwehr bei der Festnahme keine Lappalie war. Niemand ging auf Mikes Fragen ein. Er saß mit seinem verzweifelten Bruder in diesem Raum und grübelte, was mit ihnen geschehen würde.

Wird man uns anklagen?

Vor einen Jugendrichter stellen?

Und dann? Was dann?

Eine Strafe auf Bewährung? Ein Bußgeld? Sozialer Dienst? Oder Jugendgefängnis?

Alles schien möglich. Und das beunruhigte ihn von Minute zu Minute mehr.

Mike trommelte mit seinen Fingern auf der Tischplatte.

»Lass das«, knurrte Ricky und hob den Kopf an, um ihn anzusehen.

»Ich bin nervös.«

»Ich auch. Trotzdem.«

»Wo bleibt Dad nur?« Es war keine Frage, denn Ricky kannte auch keine Antwort darauf.

»Ich bin nicht wild drauf, ihn zu sehen.«

»Sie haben das Auto beschlagnahmt.«

»Ich hab’s gehört.«

Mike schaute in Rickys gerötete Augen. Er wusste nicht, ob er geweint hatte, aber es sah so aus. »Wie geht es dir?«

»Ich bin okay.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich will nur nach Hause. Denkst du, sie lassen uns bald gehen?«

Mike zögerte. Was sollte er antworten? Er machte sich Sorgen, dass man sie über Nacht hierbehalten würde. In einer Zelle. Aber das konnte er Ricky nicht sagen.

»Sie werden warten, bis Dad hier ist.«

»Ob er einen Anwalt mitbringt?«

»Nein, denke ich nicht«, meinte Mike. »So wild ist die Sache nun auch wieder nicht.«

Eine Lüge. Das Ganze war sehr ernst.

»Ich habe Hunger«, sagte Ricky.

Mike sah ihn an. Hunger? Wie konnte Ricky in dieser Situation ans Essen denken? Sie hatten beide ein Dr Pepper bekommen, um ihren Durst zu löschen, aber mehr hatte es nicht gegeben.

»Ich frag mal nach einem Sandwich, wenn sie zurückkommen.«

»Das dauert alles ganz schön lang.«

»Ja, Ricky. So ist das nun mal.«

Danach verfiel sein Bruder wieder in Schweigen.

Ungefähr dreißig Minuten später öffnete sich die Tür zum Vernehmungsraum und ihr Vater trat ein. Man hatte ihnen die Handys abgenommen, daher wusste Mike nicht, wie weit der Tag vorangeschritten war, aber er vermutete, dass es früher Abend war.

Der Anzug seines Vaters war verknittert und sah aus, als habe er darin geschlafen. Die Krawatte hing schief, sein Gesicht war so grau wie die schütteren Haare an den Schläfen. Um die Mundwinkel lag ein harter Zug. Frustration sprach aus jeder seiner Bewegungen, als er mit einem Polizisten hereinkam, der den Raum aber gleich wieder verließ. Dann waren sie allein.

Mike und Ricky standen auf.

»Dad …«, setzte Mike an, aber sein Vater gebot ihm zu schweigen.

»Geht es dir gut?«, fragte er. Seine Stimme klang beherrscht und ernst.

»Ja, Dad.«

»Was ist mit dir, Ricky?«

»Alles okay.«

»Ich muss euch nicht sagen, dass ihr in Schwierigkeiten steckt.«

Beide schüttelten stumm den Kopf.

»Setzt euch.«

Er selbst blieb stehen.

»Können wir gehen, Dad?«, wollte Ricky wissen.

»Nein.«

Ein Wort. Nur wenige Buchstaben, aber es hallte wie Donner durch Mikes Bewusstsein.

»Wie lange müssen wir noch hierbleiben?«, fragte er und fürchtete die Antwort.

»Ihr kommt nicht nach Hause.«

»Was meinst du damit?«

»In Rickys Urin wurde THC nachgewiesen. Man hat mir gesagt, das ist der Wirkstoff von Marihuana.«

»Dad«, mischte sich Ricky ein. »Es war nur ein wenig Gras. Ich …«

»Das ist in diesem Bundesstaat verboten. Sie können dich deswegen anklagen, aber ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen, darum komme ich auch so spät. Ich musste zwei Stunden in seinem Büro warten, bis er fünf Minuten Zeit für mich hatte.«

Mike spürte wieder dieses seltsame Gefühl im Magen. Es war, als würden zwei Kugeln hin und her rollen und immer wieder aneinanderstoßen. Er schaute zu Ricky hinüber, aber der hatte den Kopf gesenkt und starrte auf den Fußboden.

»In dieser Sache hängt ihr beide drin. Ricky wegen Drogen, du wegen Verkehrsgefährdung. Dazu der Widerstand, als man euch angehalten hat.«

Mike wollte etwas einwenden, aber sein Dad hob die Hand.

»Es gab zwei Möglichkeiten für euch«, fuhr er fort. »Entweder eine Anklage und eine Verhandlung vor einem Jugendrichter oder die freiwillige Teilnahme an einem Erziehungsprogramm. Staatsanwalt McCormick hat mit dem zuständigen Richter telefoniert, der sein Einverständnis gegeben hat. Ihr werdet an einem Erziehungsprogramm teilnehmen.«

Mike atmete tief aus. Alles würde gut werden. Ein Erziehungsprogramm? Kein Problem, sie würden ein paar Wochen lang irgendeinen Kurs besuchen, über ihre Fehler sprechen, Rollenspiele und Übungen in Sozialverhalten machen. Das alles hatte er schon im Fernsehen gesehen. Sie hatten noch einmal Glück gehabt.

Ricky hob den Kopf. Irgendetwas Merkwürdiges lag in seinem Blick. »Du hast gesagt, wir gehen nicht nach Hause, Dad. Was hast du damit gemeint?«

»Ihr werdet in ein Erziehungscamp am anderen Ende des Staates geschickt. Dort verbringt ihr die nächsten sechs Monate. Danach entscheidet ein Therapeutenteam, ob ihr in den Alltag zurückkehren könnt. Ich habe dem zugestimmt. Die Papiere sind unterzeichnet. In einer Stunde geht es los. Ich war auch schon zu Hause und habe eure Sachen gepackt. Die Taschen stehen draußen.«

Die Worte kamen beherrscht. Vielleicht war es die Ruhe, mit der sein Vater sprach, die Mike erschütterte. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie wurden fortgeschickt. Sechs Monate lang. In ein Camp?

Damit konnte nur eines dieser Bootcamps gemeint sein, von denen man immer wieder Gerüchte hörte.

Nein, nein, nein, brüllte es in ihm.

Ein rascher Blick zu Ricky zeigte ihm, dass sein Bruder nun offen weinte. Er hätte ihn gern getröstet, aber es ging nicht. Irgendwie konnte er sich nicht bewegen.

Eine Minute verging in Schweigen, dann sagte Mike: »Warum tust du uns das an?«

Sein Vater sah ihn an. Härte lag in seinem Blick. »Du fragst mich das? Ich habe mich auf dich verlassen, dir vertraut, und was machst du? Nimmst mein Auto, rast damit herum. Verantwortungslos gefährdest du dich, deinen Bruder und andere. Ricky nimmt Drogen und du lässt das zu. Und wenn man euch bei euren Ausflügen schnappt, widersetzt ihr euch auch noch der Polizei.«

»So war das nicht, Dad. Wir …«

»Wie war es dann?«

»Wir wollten nur ein wenig Spaß haben.«

»Geht es darum? Immer nur darum? Spaß haben.« Sein Vater trat vor ihn. »Eure Mutter ist tot. Jeder Tag ohne sie kostet Kraft. Das Leben ist kein Spaß, je früher ihr das erkennt, desto besser. Ich dachte, wir kommen klar, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Vielleicht lernt ihr in diesem Camp ja etwas für die Zukunft.«

»Was ist mit der Schule?«, fragte Ricky kläglich. »Wir können nicht einfach fehlen, sonst müssen wir das Schuljahr wiederholen.«

»Ich spreche mit der Rektorin. Uns wird schon etwas einfallen.«

»Mann, Dad, wenn das in der Schule rumgeht, sind wir erledigt«, meinte Mike.

Zehn Sekunden lang sagte sein Vater nichts, dann zischte er: »Übertreib es nicht! Meine Entscheidung steht und jetzt will ich nichts mehr hören. Ihr habt einen Fehler begangen, also lebt mit den Konsequenzen.«

»Ist das jetzt echt wahr?«, hakte Ricky nach. »Du willst uns nicht nur Angst machen?«

»Ja, Ricky, so ist es.«

Ricky schüttelte ungläubig den Kopf.

»Kommst du uns besuchen?«, fragte Mike gepresst. Wut war in ihm aufgestiegen, brannte heiß in seiner Kehle. Am liebsten hätte er seinen Dad angeschrien, aber das würde alles nur noch schlimmer machen.

»Nein, das ist nicht vorgesehen«, sagte sein Vater. »Man hat mir erklärt, es wäre kontraproduktiv, also sehen wir uns erst in sechs Monaten.«

»Dad!«

»Ihr zieht das jetzt durch. Ich will nichts mehr hören.«

Für eine Minute schwiegen alle drei. Dann umarmte sein Dad erst ihn, dann Ricky.

»Wir sehen uns bald wieder«, sagte er, dann ging er.

4.

Kayla saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf ihre Oberschenkel gestützt. Sie ließ den Kopf hängen. Seit über drei Stunden wartete sie nun auf diesem Krankenhausflur, dass jemand kam und ihr sagte, was mit Tom war.

Der Rettungsdienst hatte zwanzig Minuten gebraucht, bis er bei ihr und dem noch immer bewusstlosen Tom eingetroffen war. Ein Notarzt und zwei Sanitäter waren den Flur hinuntergerannt und hatten nach ihr gerufen. Kayla hatte die Tür zur Wohnung aufgerissen und ihnen gezeigt, wo sie waren.

Danach war alles sehr schnell gegangen. Der Arzt hatte Toms Blutdruck und den Puls kontrolliert und alarmierende Werte festgestellt. Rasch wurden über Kanülen zwei Infusionsbeutel an seinen Handrücken gelegt. Man befestigte eine Sauerstoffmaske auf Toms Gesicht, dann wurde er auf die Krankentrage gehoben und zum Rettungswagen gebracht.

Kayla lief neben der Trage her. Sie hielt Toms Hand, flüsterte ihm immer wieder zu, dass alles gut werden würde, aber sie hatte große Angst, dass es zu spät war und er es nicht schaffen würde.

Im Fahrzeug wurde Tom sofort an ein EKG-Gerät angeschlossen, das Atmung, Blutdruck und Herzschlag kontrollierte. Die Elektroden waren noch keine fünf Sekunden an seinem schmalen Brustkorb befestigt, als schon der erste schrille Warnton ausgelöst wurde.

Der Arzt, ein junger Afroamerikaner, dem bei diesem Wetter der Schweiß in Strömen über die Stirn lief, gab Tom daraufhin eine Spritze mit einem Wirkstoff, den er Kayla nannte, den sie aber noch nie gehört hatte.

Obwohl alles rasch ging, kam es Kayla dennoch so vor, als wate sie durch zähen Nebel. Die Zeit schien irgendwie langsamer als normal zu verlaufen, das Atmen fiel ihr schwer und ihr ganzes Sichtfeld hatte sich eingegrenzt. Sie nahm auf einer harten Bank Platz und legte den Sicherheitsgurt an, dann ging es in rasender Fahrt und mit apokalyptischem Sirenengeheul ins Krankenhaus.

Der Wagen hielt direkt vor dem Eingang der Notaufnahme. Die Sanitäter luden Tom aus und brachten ihn fort, ohne dass sie Kayla sagten, was jetzt mit ihm geschehen würde.

Kayla war wie betäubt zum Empfang der Notaufnahme gestolpert. Eine Frau mittleren Alters mit stark blondierten Haaren drückte ihr ein Klemmbrett und einen Stift in die Hand und forderte sie auf, den Patientenbogen für Tom auszufüllen.

Viel war es nicht, was Kayla eintragen konnte. Im Textfeld für Toms Anschrift trug sie die Adresse der Wohnung ein, in der sie ihn gefunden hatte, obwohl sie sich nicht vorstellen wollte, dass man in so einem Loch leben konnte. Es wurde noch nach dem Namen der Krankenversicherung und Personen gefragt, die im Notfall verständigt werden sollten. Hier schrieb sie den Namen seiner Mutter hin, aber sie kannte die aktuelle Telefonnummer oder ihre Anschrift nicht.

Irgendwann kam die blonde Frau wieder und nahm ihr den Fragebogen ab, dann führte sie Kayla in einen langen Flur, deutete auf eine Reihe Plastikstühle und sagte ihr, sie solle hier warten. Sobald es Neuigkeiten zu Toms Gesundheitszustand gäbe, würde jemand kommen und sie informieren.

Das war vor drei Stunden gewesen.

Während sie wartete und immer wieder leise vor sich hin weinte, vibrierte ihr Handy in der Tasche. Sie zog es heraus und ahnte schon, wer da versuchte, sie zu erreichen.

Drei Anrufe in Abwesenheit und eine Textnachricht. Von ihrer Mutter.

Wo bist du? Die Schule hat angerufen, du hast den Unterricht ohne Erlaubnis verlassen. Dad ist losgefahren und sucht dich. Ich mache mir Sorgen. Melde dich sofort!!!

Irgendwie schaffte es ihre Mutter mit den wenigen Worten dieser Nachricht, zugleich ängstlich und wütend zu wirken. So als könne sie sich nicht für ein Gefühl entscheiden. Es war offensichtlich, dass Kayla in Schwierigkeiten steckte und sie besser anrufen sollte, aber ihre Mutter würde sicher verlangen, dass sie augenblicklich nach Hause kam, und das konnte sie nicht. Sie konnte nicht gehen, ohne zu wissen, wie es um Tom stand, mochten ihre Eltern auch ausflippen. Sie beschloss, nicht auf die Nachricht zu antworten, denn es bestand durchaus die Gefahr, dass ihr Vater im Krankenhaus auftauchte und sie nach Hause schleppte.

Weitere zwanzig Minuten vergingen, während Kayla auf ihrer Lippe herumkaute und immer unruhiger wurde. Die Angst vor der Reaktion ihrer Eltern und die Sorge um Tom machten sie fast verrückt.

Sie kannte Tom von Kindesbeinen an. Sie hatten alles miteinander geteilt, waren zusammen in die Vorschule, die Grundschule und später auf die Highschool gegangen. Aber dann war etwas mit Tom geschehen, was sie sich nicht erklären konnte. Aus dem fröhlichen Jungen war ein düsterer junger Mann geworden, der seine Haare nicht mehr schneiden ließ und ständig dunkle Klamotten trug. Die natürliche Bräune vieler Stunden unter freiem Himmel verblasste und machte einer ungesunden Blässe Platz. Irgendwann hörte Tom auf, regelmäßig zu essen, und wurde immer dünner. In der Schule verpassten sie ihm den Namen »Spider«, aber das schien ihn nicht zu stören, denn außer Kayla hatte er inzwischen sowieso keine Freunde mehr. So war es mit Tom beständig bergab gegangen und Kayla hatte seinen Absturz weder verhindern noch verlangsamen können.

Sie fragte sich, wann alles begonnen und ob sie den Zeitpunkt verpasst hatte, als es noch die Chance gab, einzugreifen und mit Tom zu reden. Die Scheidung seiner Eltern mochte eine Rolle bei seiner Veränderung gespielt haben, aber sicher war sie sich nicht. Tom und sein Vater hatten ein schwieriges Verhältnis zueinander gehabt und er schien beinahe erleichtert gewesen zu sein, als sein Dad das Haus verließ und nach Chicago zog. Allein mit seiner Mutter schien alles bestens zu laufen.

Doch dann kamen die Veränderungen. Erst in kleinen Schritten, fast unmerklich, schließlich immer auffälliger. Als Tom begann, sich die Augen dunkel zu schminken und schwarzen Lippenstift aufzulegen, konnte niemand mehr übersehen, dass etwas mit ihm geschah.

Zu dieser Zeit hatte er angefangen, ihr aus dem Weg zu gehen. Jeden Tag rief Kayla bei ihm an, schickte ihm unzählige Nachrichten, flehte ihn an, ihr zu erzählen, was mit ihm los war, aber niemals kam eine Antwort zurück. Schließlich hatte sich Kayla verletzt zurückgezogen.

Irgendwann hieß es, Tom wäre von der Schule geflogen. Am selben Tag fuhr sie mit dem Bus in die Robert Adams Street, rannte zu dem kleinen Haus, in dem sie so viel Zeit verbracht hatte, aber da war niemand mehr. Keine Gardinen hinter dem Fenster, kein Leben, keine Geräusche, kein Tom.

Das war vor sechs Monaten gewesen.

Kayla wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ein Arzt in grünem OP-Kittel auf sie zukam. Sie versuchte, in seinen Augen zu lesen, entdeckte aber nur Erschöpfung darin. Der Mann war vielleicht Ende zwanzig, wahrscheinlich ein Assistenzarzt, der Notdienst hatte. Seine Wangen waren eingefallen, so als habe er seit Tagen nicht geschlafen. Der Geruch von Seife und Desinfektionsmittel stieg Kayla in die Nase, als er vor ihr stehen blieb und sie ernst anblickte.

»Sind Sie die junge Frau, die Tom Wyler begleitet hat?«

Kayla nickte. »Wie geht es ihm?«

»Nicht gut, aber er wird durchkommen. Ist er Ihr Freund?«

»Nein, ein normaler Freund.«

»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte der Arzt.

Kayla schüttelte den Kopf. »Er hat mir eine Nachricht geschickt und mir gesagt, dass er Hilfe braucht, da wusste ich aber noch nicht, was mit ihm los war. Ich habe ihn dann bewusstlos in einer Wohnung gefunden. Neben der Matratze, auf der er lag, habe ich eine benutzte Spritze und andere Sachen entdeckt. Da war es nicht schwer zu erraten, dass er Drogen genommen hat.«

»Heroin. Er hat sich eine Überdosis gesetzt. Wissen Sie etwas über seine Drogensucht?«

»Nein, wir hatten seit Monaten keinen Kontakt. Seine Nachricht kam für mich völlig überraschend.«

»Glauben Sie, er hat versucht, Selbstmord zu begehen?«

Kayla dachte kurz darüber nach. »Dann hätte er sich nicht bei mir gemeldet. Es war ein Hilfeschrei. Vielleicht hat er beim Spritzen gemerkt, dass irgendetwas anders ist als sonst, dass es schiefläuft.«

»Ja, danach sieht es aus«, sagte der Arzt. »Tom hatte einen Zusammenbruch aller Vitalsysteme. Während wir uns um ihn gekümmert haben, ist sein Herz stehen geblieben, aber wir konnten ihn zurückholen und stabilisieren.«

Kayla hielt erschrocken die Luft an.

»Er liegt jetzt auf der Intensivstation und wird beobachtet. Sobald es ihm ein wenig besser geht, machen wir Tests mit ihm. Wir vermuten bei ihm Hepatitis B oder C, aber er kann sich auch mit HIV infiziert haben. Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen können? Sie haben angegeben, dass Sie die Adresse seiner Mutter nicht kennen. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Was ist mit seinem Vater?«

»Toms Eltern sind geschieden. Sein Vater lebt in Chicago, glaube ich.«

»Die Behörden werden seine Eltern ausfindig machen. Sonst noch jemand? Irgendwelche Verwandte?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Das ist eine ernste Sache. Ihr Freund hat sich strafbar gemacht. Ich muss einen Bericht schreiben. Die Polizei wurde von der Krankenhausleitung verständigt und schickt jemanden, der Sie nach Hause bringt und Ihre Aussage aufnimmt.«

Kayla erschrak. Polizei? Ihre Eltern würden durchdrehen.

»Muss das sein?«, fragte sie zaghaft.

»So ist die Vorgehensweise in diesen Fällen. Ihr Freund ist noch minderjährig und ich vermute, Sie auch. Der Staat hat eine Fürsorgepflicht.«