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Greiner hat einen unterhaltsamen Weg gefunden, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen. Die Dialogform mit einer Jugendlichen lässt einfache Fragen zu, mit der Direktheit und Unbekümmertheit von jungen Menschen. Es sind Fragen, wie sie uns eigentlich alle auf der Zunge brennen, wenn wir uns mit komplexen Sachverhalten beschäftigen, für die wir keine Spezialisten sind. So gelingt es Greiner in diesem kleinen Büchlein so komplexe Themen wie Konstruktivismus, Evolution und Bewusstsein einfach und verständlich darzustellen. Hinzu kommt eine verblüffende, neue Sicht über die Stellung des Menschen im Universum. Greiner garniert das Ganze mit einem Essay über die hohe Bedeutung des Zufalls in unserem Leben und gibt Ratschläge, wie wir stressfrei über diese und andere Themen diskutieren können. Ein gelungenes Buch, amüsant und trotzdem tiefgehend.
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Greiner hat einen unterhaltsamen Weg gefunden, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen. Die Dialogform mit einer Jugendlichen lässt einfache Fragen zu, mit der Direktheit und Unbekümmertheit von jungen Menschen. Es sind Fragen, wie sie uns eigentlich alle auf der Zunge brennen, wenn wir uns mit komplexen Sachverhalten beschäftigen, für die wir keine Spezialisten sind. So gelingt es Greiner in diesem kleinen Büchlein so komplexe Themen wie Konstruktivismus, Evolution und Bewusstsein einfach und verständlich darzustellen. Hinzu kommt eine verblüffend neue Sicht über die Stellung des Menschen im Universum. Greiner garniert das Ganze mit einem Essay über die hohe Bedeutung des Zufalls in unserem Leben und gibt Ratschläge, wie wir stressfrei über diese und andere Themen diskutieren können. Ein gelungenes Buch, amüsant und trotzdem tiefgehend.
Dr. Ing. Tilmann Greiner ist von Haus aus Wirtschaftsingenieur und war Manager in der Industrie. Parallel hat er sich intensiv und streng wissenschaftlich Jahrzehnte lang mit den Themen Evolutionstheorie, Konstruktivismus und Philosophie des Geistes auseinandergesetzt. In diesen Wissensgebieten kennt er alle bekannten Denkrichtungen und hält sich immer auf dem neuesten Stand. Als Ingenieur besitzt er die Fähigkeit, komplexe Themen einfach und verständlich zu erschließen, eine Fähigkeit, die sich in unzähligen Diskussionen noch verstärkt hat. Besonders am Herzen liegt ihm, zu zeigen, dass der Mensch ein Lebewesen wie jedes andere ist, weder die Krone der Schöpfung noch das Maß aller Dinge. Tilmann Greiner lebt sowohl in Hamburg als auch in der Nähe von Heidelberg.
Es sind große Themen, die in diesem kleinen Bändchen umrissen werden. Sie treiben mich seit einigen Jahrzehnten um.
Endlich habe ich die Zeit gefunden, sie niederzuschreiben.
Ich bin glücklich, die Dialogform entdeckt zu haben. Sie ermöglicht Rede und Gegenrede und erlaubt einen flotten, umgangssprachlichen Stil. Nichts ist frei erfunden, alle Fakten sind belegt und so bekannt, dass sie mit wenig Mühe schnell gegoogelt werden können. Daher habe ich fast überall auf Quellenangaben verzichtet.
Ich hoffe, es macht Spaß, die Themen Wirklichkeit, Evolution, Bewusstsein und Zufall mal aus einer anderen Sicht zu erleben.
Die Dialogpartner „Vater und Tochter“ sind willkürlich und ohne jeden Hintergedanken gewählt. Es hätte auch „Vater und Sohn“, oder jede andere Kombination sein können. Es sollten nur miteinander vertraute Personen sein. „Lehrer und Schüler“ wäre mir schon wieder zu distanziert.
Und nun Vorhang auf und rein ins Vergnügen.
Tilmann Greiner
Hirschberg & Hamburg, im Mai 2023
In der ersten Dialogreihe „Wirklichkeit des Menschen“ wird die fast unglaubliche Behauptung untermauert, dass der Mensch, wie andere Lebewesen auch, die eigentliche Realität nie erkennen kann.
Jedes Lebewesen lebt in seiner eigenen Wirklichkeit, nur bestimmt durch die Fähigkeiten seiner eigenen Art. Die Grenzen seiner Wirklichkeit kann kein Lebewesen überschreiten, auch der Mensch nicht.
In der zweiten Dialogreihe „Entstehung des Menschen“ wird herausgearbeitet, dass der Prozess der Evolution überwiegend auf Zufall beruht. Wie können aber durch einen zufälligen Prozess so komplexe Systeme wie der Mensch entstehen? Diese Frage wird ausführlich beantwortet. Es wird klar, dass die Entstehung komplexer Systeme nicht unmöglich ist, aber auch nicht notwendig. Niemand hat den Menschen je gewollt.
In der dritten Dialogreihe „Stellung des Menschen“ soll der Mensch von seinem hohen Ross heruntergeholt werden, dass er die Krone der Schöpfung ist. Die Nachteile, Schwächen und Grenzen seiner von ihm selbst so geschätzten Eigenschaft „Bewusstsein“ werden herausgearbeitet. Anhand von vielen Kriterien wird gezeigt, dass der Mensch sich nicht grundlegend von anderen Arten von Lebewesen unterscheidet. Selbst eine so offensichtliche Behauptung, dass der Mensch die Erde wie kein anderes Lebewesen verändert hat, wird widerlegt.
Im vierten Dialog „Über den Zufall in unserem Leben“ wird gezeigt, dass im Leben von uns Menschen viel mehr Zufall steckt, als wir annehmen und wie wir mit dieser Erkenntnis umgehen sollen.
Im fünften und letzten Dialog „Gehirn-Jogging“ soll eine Möglichkeit aufgezeigt werden, wie die Themen aus diesem Buch oder auch andere Themen möglichst stressfrei diskutiert werden können. Es soll für die Lust am Diskutieren geworben werden, in einer möglichst angenehmen und sachlichen, aber trotzdem kontroversen Atmosphäre.
Ich danke meiner Familie für das Verständnis für dieses verrückte Projekt und meinem Sohn besonders für die ästhetische und inhaltliche Unterstützung, sowie in alphabetischer Reihenfolge den Herren Bateson, Berkeley, Ditfurth, Glasersfeld, Gerhauser, Gödel, Gould, Harari, Herdner, Hume, Lorenz, Kadel, Kant, Maus, Mayr, Popper, Rösch, Roth, Singer, Turing, Uexküll, Vollmer, Watzlawick und Weissbauch für die unzähligen Anregungen und Aufmunterungen - oft auch nur durch ihre Werke - während dieses langen Marsches.
Vorwort
Zusammenfassung
Danksagung
Über die Wirklichkeit des Menschen
Dialog 1: Kein Lebewesen kann die Realität erkennen
Dialog 2: Wirklichkeit statt Realität
Dialog 3: Flachland: Alles ist relativ!
Dialog 4: Individuelle Wirklichkeiten
Dialog 5: Konstruktivismus ist überall anwendbar
Über die Entstehung des Menschen
Dialog 1: Die Entwicklungslinie hin zum Menschen
Dialog 2: Zufall oder Notwendigkeit
Dialog 3: Wie wahrscheinlich ist der Mensch
Dialog 4: Gibt es vergleichbare Prozesse zur Evolution
Dialog 5: Besonderheiten der biologischen Evolution
Über die Stellung des Menschen in der biologischen Welt
Dialog 1: Der Mensch überschätzt sein Bewusstsein
Dialog 2: Die Schwächen des Bewusstseins
Dialog 3: Einordnung des Menschen in die biologische Welt
Über den Zufall in unserem Leben
Gehirn-Jogging
Nachwort
Tochter: Du Papa, heute haben wir in der Schule etwas Komisches durchgenommen, Kollektivismus oder so ähnlich.
Die Anhänger dieser Philosophie behaupten, wir Menschen können die Realität nicht erkennen. Das ist doch bescheuert, oder?
Vater: Ah, du meinst Konstruktivismus?
Tochter: Ja, genau, so hieß das.
Vater: Ja, das ist ein komischer Name, man kann ihn sich schwer merken. Aber du wirst lachen, seine Anhänger haben recht.
Tochter: Papa, du schockierst mich. Das kann doch nicht dein Ernst sein. In diesem Moment sehe ich dich doch, ich rieche meinen Goldhamster, höre die Glocken läuten. Das ist doch real!
Vater: Woher weißt du das?
Tochter: Ähh, hmmm, was soll man denn darauf antworten?
Das ist doch einfach offensichtlich.
Vater: Naja, dass die Erde flach sein soll, war auch mal offensichtlich.
Tochter: Okay, wissenschaftlich ist mein Argument nicht. Aber es beruht auf dem gesunden Menschenverstand. Und ist erfolgreich. Wenn mein Goldhamster stinkt, dann miste ich ihn aus und er stinkt nicht mehr.
Vater: Es gibt aber tatsächlich sehr viele Hinweise darauf, dass wir die Realität nicht erkennen, aber dennoch gut in ihr überleben können.
Tochter: Na dann schieß mal los.
Vater: Die Grundlage aller Erkenntnis können doch nur die Signale sein, die wir über unsere Sinne empfangen. Das wirst du nicht abstreiten!
Tochter: Na Papa, das geht aber einfach los. Klar ist das so. Hätte jemand keine Sinne könnte er nichts erkennen.
Vater: Gut! Weißt du auch, dass die optischen, akustischen, haptischen usw. Signale von dem jeweiligen Sinnesorgan direkt in elektrische Signale umgewandelt und über Nerven an das Gehirn weitergeleitet werden?
Tochter: Ich glaube, mich zu erinnern, das gelernt zu haben.
Vater: Gut! Das bedeutet, dass im Gehirn zu jedem Zeitpunkt ein riesiger Strom von elektrischen Signalen ankommt. Es kommen keine Farben, Bilder, Töne, Musik, Gerüche an.
Tochter: Okay, das muss wohl dann so sein.
Vater: Genau. Wir aber sehen Bilder, hören Musik, und riechen Gerüche, usw. Woher kommen diese Vorstellungen?
Tochter: Da ist dann ja nur ein Schluss möglich:
Das Gehirn muss diese Vorstellungen schaffen.
Vater: Richtig. Das Gehirn besteht aber aus 100 Milliarden „dummer“ Gehirnzellen, die an andere Gehirnzellen elektrische Signale senden können, sonst nichts.
Wie kann ein Gehirn aus einem Strom elektrischer Eingangs-Signale Vorstellungen wie Bilder und Musik konstruieren?
Tochter: Hm. Das könnte wie in einem Computer sein; Signale kommen rein, werden verarbeitet und Vorstellungen werden ausgegeben. Zur Verarbeitung von Signalen benötigen Computer Programme, in denen festgelegt ist, wie die reinkommenden Signale verarbeitet werden. Im Gehirn müssen Programme sein.
Vater: Sehr guter Vergleich. In unserem Gehirn existiert tatsächlich etwas Ähnliches wie Programme, mehr oder wenig feste Verdrahtungen zwischen Gehirnzellen und Gehirnarealen. Wie haben sich diese Verdrahtungen im Lauf der Evolution gebildet?
Tochter: Laut Darwin entstehen Eigenschaften zufällig durch Mutationen und bleiben erhalten, wenn sie die Fortpflanzungsrate erhöhen oder sie zumindest nicht verschlechtern.
Vater: Druckreif formuliert!
Das heißt aber, dass die Ergebnisse dieser Programme, nämlich unsere damit konstruierten Vorstellungen, ausschließlich zum Erhalt oder zur Verbesserung der Fortpflanzung dienen. Die Lebewesen haben nichts davon, die Realität möglichst gut abzubilden.
Tochter: Aber wenn die Realität abgebildet wird, hilft uns das doch, uns besser fortzupflanzen.
Vater: Aber unser Gehirn kennt ja die Realität nicht und kann sie damit auch nicht abbilden. Das Gehirn hat ja nur Signale unserer Sinne zur Verfügung.
Selbst wenn es wollte, könnte es daraus kein Bild der Realität erzeugen, weil es sie nicht kennt.
Tochter: Das verstehe ich nicht. Die Signale kommen doch aus der Realität.
Vater: Ja, aber woher soll das Gehirn denn wissen, wie es die Milliarden von elektrischen Signalen, die es jede Sekunde empfängt, so zu Vorstellungen zusammensetzen soll, dass die Realität abgebildet wird? Es kennt ja die Realität nicht.
Tochter: Hast du recht Papa. Das geht nicht! Schlimm!
Vater: Nein, überhaupt nicht schlimm! In der Evolution geht’s nur ums Fortpflanzen. Das ist das Einzige, was das Gehirn wissen kann, denn sonst wäre es nicht mehr da. Das Gehirn konstruiert also irgendeine beliebige Vorstellung, die nur eins können muss: Dazu beizutragen, dass das Individuum überlebt und sich fortpflanzt.
Tochter: Papa, das ist mir zu hoch. Mach mal ein Beispiel.
Vater: Okay. Stelle dir einen Blinden vor, der nichts von der Welt weiß. Er bekommt die Aufgabe, durch einen Wald an einen Fluss zu gehen.
Er weiß nicht, was Bäume sind, was ein Wald ist.
Er läuft los und stößt gegen etwas und läuft darum herum. Und das passiert immer wieder, bis er es endlich geschafft hat und an den Fluss kommt. Um den Fluss zu erreichen ist es vollkommen unerheblich, ob er weiß, was ein Baum oder ein Wald ist.
Er kann sich vorstellen, dass die Bäume irgendwelche Felsen sind, oder erstarrte Waldschrate, oder Fabrikschlote. Um zum Fluss zu kommen, muss er sie nur als unverrückbares Hindernis verstehen.
Tochter: Ah, jetzt wird es mir klarer: Der Wald und die Bäume sind die Realität. Überleben und damit sich fortpflanzen bedeutet, den Fluss zu erreichen und die Fabrikschlote sind das Bild, das sich das Gehirn konstruiert.
Vater: Und das Anstoßen an die Bäume ist der Bezug zur Realität. Denn eins ist klar. Da draußen ist etwas, da gibt es eine Realität und die sendet ständig Signale und wirkt auf uns ein. Unsere Vorstellungen haben einen Bezug zur Realität, der uns zu überleben hilft, sind aber weit davon weg, die Realität in irgendeiner Form abzubilden. Und was noch verrückter ist, es ist völlig egal und bleibt dem Zufall überlassen, welches Bild er sich von der Wirklichkeit macht: Fabrikschlote, Felsen, Waldschrate. Hauptsache, sie stehen fest und bilden ein Hindernis.
Tochter: Das schafft mich! Dass wir die Realität da draußen nicht erkennen können, ist ein Schock.
Das muss ich erst mal verdauen.
Vater: Nicht nur für dich ein Schock! Für Descartes konnte beim verwirrenden Nachdenken über die Realität nur eins sicher sein: Mich gibt es, weil ich denke. Oder mein Lieblingsphilosoph Berkely sagte: Sein ist wahrgenommen werden. Alles was nicht wahrgenommen wird, existiert nicht. Er stellte die berühmte Frage, ob der im einsamen Wald umstürzende Baum auch dann noch ein Geräusch verursacht, wenn niemand da ist, es zu hören.
Tochter: Dies Frage kann doch ein Konstruktivist ganz leicht beantworten: Weder den Baum noch das Geräusch gibt es in der Realität oder hat es jemals gegeben. Es ist eine Konstruktion unseres Gehirns. Irgendwas passiert da draußen in der Realität, aber bestimmt nicht, dass ein Baum umstürzt und dabei knackt.
Vater: Na siehst du, jetzt bist du ja selber schon ein halber Konstruktivist.
Tochter: Gott bewahre! Das ist so schwer vorstellbar, dass wir die Realität nicht erkennen können.
Ich brauch einfach noch mehr Beispiele.
Vater: Stell dir vor, ein verrückter Wissenschaftler operiert das Gehirn eines Menschen aus dem Schädel und gibt es in eine Nährlösung, damit es weiterlebt. Ein Computer stimuliert das Gehirn dann an bestimmten Stellen mit elektrischen Signalen und empfängt seinerseits Signale des Gehirns von bestimmten Stellen. Und plötzlich denkt dieser Mensch, dass er zum Beispiel gerade Eis isst oder über eine Blumenwiese geht. In der Realität schwimmt sein Gehirn nur in einer Nährlösung und ist an einen Computer angeschlossen.
Tochter: Uuuh. Das ist ja wie aus Frankenstein!
Nein, ich denke an seriöse Beispiele, vielleicht aus dem Tierreich, wie man überleben kann, ohne die Realität zu erkennen.
Vater: Die gibt es! Aber dann beim nächsten Mal.
Machen wir Schluss für heute. Ich glaub, das Abendbrot ist fertig.
Davor nochmal kurz zusammenfassen: Die Realität ist für uns nicht erfassbar. Die Vorstellungen, die unser Gehirn aufgrund von Signalen aus der Realität erzeugt, müssen aber einen für uns unbekannten Bezug zur Realität haben, da wir bis jetzt überlebt haben.
Tochter: Papa können wir weiterreden? Heute ist Sonntag und vormittags funktioniert mein Hirn am besten.
Vater: Klar, meine Kleine. Lass uns weiterreden.
Ich hab‘ dir ja gestern mehrere Hinweise versprochen, dass wir die Realität nicht erkennen können.
Einen haben wir gestern diskutiert, nämlich dass unser Gehirn die Realität überhaupt nicht abbilden kann und auch nicht muss, damit wir überleben.
Tochter: Okay Papa, der Waldläufer. Hab‘ ich im Kopf. Jetzt bin ich gespannt, welche Hinweise du mir noch gibst.
Vater: Betrachten wir mal weniger komplexe Tiere.
Die Zecke z.B. ist blind und taub. Sie hat nur zwei Sinne: Einen Temperatur- und einen Geruchssinn. Und sie kennt nur zwei Signale aus der Umwelt: Die Temperatur ist um die 36 Grad und der Geruch ist Buttersäure. Treffen diese beiden Signale, elektrisch umgewandelt, im Gehirn, besser Ganglion, der Zecke zusammen, lässt sie sich vom Busch oder Baum fallen und saugt sich an seinem Wirt fest, der aufgrund der beiden Signale nichts anderes sein kann als ein Säugetier.
Tochter: Igittegitt. Zecken mag ich nicht.
Vater: Klar, keiner mag Zecken. Aber wir können sehr viel von ihnen lernen. Die Realität der Zecke besteht nur aus diesen beiden Signalen Temperatur und Geruch. Das Rauschen des Windes, das Plätschern des Baches, ob es Tag oder Nacht ist, die Autos, die auf der nahen Straße vorbeifahren bleiben für die Zecke auf alle Ewigkeiten unerkennbar.
Dennoch gibt es Zecken seit 100 Mio. Jahren. Sie haben also offensichtlich mit dieser simplen Realität sehr gut überlebt. - Menschen gibt es erst seit 200.000 Jahren.
Tochter: Naja, ob das alles so stimmt. Die Zecke muss ja irgendwie auf den Busch klettern und sie muss sich auch fortpflanzen.
Vater: Klar, da hast du recht. Das Beispiel stammt von einem sehr angesehenen Forscher, Jakob von Uexküll vom Anfang des vorigen Jahrhunderts. Mittlerweile weiß man mehr über die Zecke. Aber es geht hier nur um das Prinzip.
Tochter: Okay Papa. Hast du noch ein Tierchen parat?
Vater: Oh ja, ein noch krasseres Beispiel. Die Qualle schwimmt, frisst und atmet durch eine einzige Bewegung, dem rhythmischen Zusammenziehen der Muskeln am Schirmrand. Damit diese überlebenswichtige Bewegung immer sicher stattfindet, gibt es glockenförmige Organe am Schirmrand, deren Klöppel bei jeder Schirmbewegung auf ein Nervenpolster schlagen. Dieser Reiz ruft den nächsten Schirmschlag hervor. In der Realität der Qualle existiert nur ihr eigener Glockenschlag. Sonst existiert nichts. Wasser, Wind, Feinde, Ölteppiche können von der Qualle nicht wahrgenommen werden.
Trotzdem gibt es seit 500 Mio. Jahren Quallen.
Tochter: Wow, Papa. Das ist ein sehr beeindruckendes Beispiel. Auch von Oxkill, oder wie der heißt?
Vater: Ja, auch von Uexküll. Auch nicht mehr ganz up to date. Aber auch hier geht es nur um das Prinzip.
Was können wir aus diesen Beispielen lernen? Keiner würde behaupten, dass Zecke und Qualle die Realität erkennen können. Dennoch haben sie gut überlebt. Aus welchem Grunde sollen ausgerechnet wir Menschen die Realität erkennen können? Wir sind auch nur Lebewesen wie Zecke und Qualle, wenn auch komplexere. Obwohl unsere Realität viel komplexer ist, ist es sehr unwahrscheinlich, dass es die wahre Realität unserer Außenwelt ist. Warum sollte die Evolution bei uns eine Ausnahme machen, wenn es doch zum Überleben gar nicht notwendig ist?
Tochter: Hm, da ist was Wahres dran. Ich sehe also meinen Goldhamster und kann daraus nur eins schließen, dass es da draußen in der echten Realität irgendetwas geben muss, das Signale aussendet, mit denen mein Gehirn dann die Vorstellung eines Goldhamsters konstruiert.
Vater: Ja, genau das behaupten die Konstruktivisten. Und sie mögen das Wort Realität nicht, wenn sie sich auf Lebewesen bezieht: Die Realität der Zecke, der Qualle, des Menschen. Es kann nur eine Realität geben und nicht viele.
Tochter: Das stimmt. Wie nennen die Konstruktivisten dann die Realität einzelner Arten von Lebewesen?
Vater: Sie benutzen ein viel treffenderes Wort:
Wirklichkeit. Die Wirklichkeit passt auf jede Art von Lebewesen. Die Wirklichkeit eines Lebewesens wird bestimmt durch das, worauf es wirken kann.
Das bedeutet, was es mit seinen Sinnen wahrnehmen kann, wie es die Signale im Gehirn verarbeitet und wie es dann die Wirklichkeit verändern kann. Es ist wieder wie in der EDV: Input, Verarbeitung, Output. Die Sensoren nehmen etwas wahr, der Prozessor, also das Gehirn verarbeitet die Signale der Sensoren und löst etwas aus, das die Umwelt durch die Aktoren verändert.
Tochter: Oh Papa, das ist aber sehr theoretisch.
Mach doch mal ein Beispiel.
Vater: Nichts einfacher als das. Nehmen wir wieder die Zecke. Ihre Wahrnehmung besteht ausschließlich auf chemischen und temperatur-empfindlichen Sensoren. Die Verarbeitung im Prozessor, in diesem Fall kein Gehirn, sondern nur ein Ganglion, ist ein ganz einfaches Programm: Wenn die Temperatur von 36 Grad aufgenommen wird und zugleich der Geruch von Buttersäure, dann sende ein Signal an die Beine: Muskelentspannung. Und daraufhin lassen die Aktoren los und die Zecke fällt auf das Säugetier.
Tochter: Ja, jetzt wird es verständlich.
Vater: So hat jedes Lebewesen seine eigene Wirklichkeit, basierend auf seinen Sensoren, seines Prozessors und seiner Aktoren. Ein Hund z.B. kann nicht wegfliegen, weil er keine entsprechenden Aktoren, nämlich Flügel, hat.
Tochter: Ja, der Begriff Wirklichkeit trifft es voll. Es ist das, was eine biologische Art bewirken kann. Also Fledermäuse können z.B. Ultraschall hören und sie können fliegen. Damit haben sie eine andere Wirklichkeit wie etwa eine Zecke.
Vater: Genau. Und jede Wirklichkeit ist begrenzt.
Kein Lebewesen kann aus seiner Wirklichkeit raus.
Es sieht, bewertet, analysiert, denkt immer nur in seiner Wirklichkeit. Das gilt auch für uns Menschen.
Tochter: Da muss ich ein Veto einlegen. Du kannst doch nicht einfach Zecke und Qualle hochrechnen auf uns Menschen. Wir Menschen haben die Welt verändert wie kein anderes Lebewesen zuvor und fliegen sogar zum Mond. Das geht doch nicht ohne eine klare Vorstellung der Realität. Oder meinst du, der Mond ist eine Konstruktion von uns und es gibt ihn gar nicht?
Vater: Der Mond ist tatsächlich eine Konstruktion von uns. Irgendetwas gibt es da draußen, woraus wir den Mond konstruiert haben. Aber es ist sicher etwas anderes als ein Mond.
Tochter: Papa, Papa, du tust mir leid. Wer soll da noch folgen können. So eine Sturheit!
Vater