Carlos Kleiber - Alexander Werner - E-Book

Carlos Kleiber E-Book

Alexander Werner

4,8

Beschreibung

Für viele ist Carlos Kleiber der bedeutendste Dirigent des ausgehenden 20. Jahrhunderts - mit Sicherheit ist er der problematischste. Aufgewachsen mit der Bürde des "Übervaters" Erich Kleiber, rang er sein Leben lang mit seinem Anspruch auf Perfektion. Obwohl einer der meistgefragten Dirigenten, war die Zahl seiner Auftritte gering, seine offizielle Diskografie kurz. Der charismatische Garant musikalischer Sternstunden blieb dem klassischen Musikbetrieb ein Rätsel. Alexander Werner nähert sich dem "Geheimnis Kleiber" über Gespräche mit Weggefährten, zahlreiche Original-Interviews und bislang unveröffentlichte Dokumente.

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Der unvergessene, der unvergessliche Carlos Kleiber, er war der große »Unbekannte« unter den seltenen, großen Fixsternen am Dirigierhimmel. Einzig war er in seiner Art – eine singuläre Erscheinung, als Mensch wie als Dirigent.Aus dem Vorwort von Richard von Weizsäcker

Für viele ist Carlos Kleiber der bedeutendste Dirigent des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Aufgewachsen mit der Bürde des »Übervaters« Erich Kleiber, rang er sein Leben lang mit seinem Anspruch auf Perfektion. Obwohl einer der meistgefragten Dirigenten, war die Zahl seiner Auftritte gering, seine offizielle Diskografie kurz. Der charismatische Gestalter musikalischer Sternstunden blieb dem klassischen Musikbetrieb ein Rätsel. Alexander Werner nähert sich dem »Geheimnis Kleiber« über Gespräche mit Weggefährten, zahlreiche Original-Interviews und bislang unveröffentlichte Dokumente.

Alexander Werner, geboren 1961, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Bis 1995 war er Redakteur bei den Badischen Neuesten Nachrichten, 2001–2008 Chefredakteur des Magazins Standpunkte mit Chrismon plus. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge über klassische Musik. Seit 2009 lebt er als freier Journalist und Autor in Karlsruhe.

Hinweis zur Benutzung der digitalen Ausgabe:Die Zitatnachweise befinden sich nach Kapiteln und in chronologischer Reihenfolge geordnet im Anhang dieses E-Books.

Alexander Werner

Carlos Kleiber

Eine Biografie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer: SDP 18

ISBN 978-3-7957-9165-0

© 2013 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Elektronische Ausgabe der bei Schott Music erschienenen Taschenbuch-Ausgabe

Bestellnummer: SEM 8416

ISBN 978-3-254-08416-3

© 2010 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Korrigierte und aktualisierte Ausgabe der bei Schott Music erschienenen Hardcover-Ausgabe

Bestellnummer: ED 20225

ISBN 978-3-7957-0598-5

© 2007, 2., durchgesehene Auflage 2008, Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

www.schott-music.com

www.schott-buch.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags.

Coverabbildung: Carlos Kleiber während der Proben mit den Münchner Philharmonikern im Kongresssaal des Deutschen Museums, Mai 1967 © Werner Neumeister

BSS 56010

Inhalt

Zu dieser Ausgabe

Carlos Kleiber: Fixstern am DirigierhimmelEin Vorwort von Richard von Weizsäcker

Der Spätberufene: Lange Lehrjahre zwischen den Kontinenten

Berlin 1930: Geburt einer Legende

Von Berlin nach Buenos Aires 1935–1947: Zwischen den Kontinenten

Buenos Aires 1948–1953: Licht am Horizont

München 1953: Lehrjahre mit Operette

Potsdam 1954–1955: Debüt mit plötzlichem Ende

Zürich 1956: Tod des Vaters

Wien 1956–1957: Kein Platz am Pult

Salzburg und Hamburg 1957–1960: Zwischenspiele

Düsseldorf und Duisburg 1957–1960: Endlich Opernerfahrungen

Düsseldorf und Duisburg 1960–1962: Aufstieg zum Kapellmeister

Der Eigenwillige: Das Profil schärft sich

Düsseldorf 1962: Paris am Rhein

Duisburg 1963: Balletterfahrungen mit Ravel

Düsseldorf/Duisburg 1964: Ausklang am Rhein

Stuttgart 1964: Ein Eklat

Düsseldorf/Duisburg 1964: Abschied vom Rhein mit Verdi

Frankfurt 1964: Debüt ohne Folgen

Zürich 1964/65: Erfahrungen mit widerspenstigen Musikern

Stuttgart 1965: »Der beste Dirigent seiner Generation«

Zürich 1965: Abkehr vom Ballett und Studien in Prag

Zürich und Stuttgart 1966: Skandal um Wozzeck

München und Wien 1967: Opernpause im Konzertsaal

Der Unbequeme: Erbittertes Ringen um die Kunst

Stuttgart 1967: Zwei Künstler im Wettstreit

Prag 1968: Erneut auf den Spuren des Vaters

Stuttgart 1968: Beifallsstürme für Carmen

München 1968–1970: Tornados im Nationaltheater

Stuttgart 1969/70: Mit Tristan und Isolde zur Weltklasse

München 1970: C-Dur-Explosion

München 1970/71: Sensation Wozzeck

Stuttgart 1969–1972: Blick in die Werkstatt

Stuttgart 1971: Turbulenzen mit Elektra

Stuttgart 1970: Und immer wieder Rosenkavalier

Stuttgart 1971/72: Zwist um Tristan und Isolde

Der Mustergültige: Interpretationen für die Ewigkeit

München 1972: Rosenkavalier für die Ewigkeit

Köln 1972: Das Erbe des Vaters

Bern 1972: Tristan und Isolde konzertant

Stuttgart 1972–1975: Ende einer Ära

Hamburg 1971–1973: Werben um Carlos Kleiber

Dresden 1973: Die erste Schallplatteneinspielung

Hamburg 1974: Bitterer Abschied für immer

Wien 1973: Begeisterungsstürme in der Heimatstadt des Vaters

Zürich 1974: Noch einmal in die Schweiz

London 1974: Debüt an Covent Garden

Der Wagner-Dirigent: Bayreuth als Herausforderung

Bayreuth 1974: Debüt auf dem Grünen Hügel

München und Tokyo 1974: Faszination Fernost

Bratislava und Göteborg 1974: Konzertdebüt mit den Wiener Philharmonikern

Wien 1974–1978: Schallplattenaufnahmen mit den Wiener Philharmonikern

München 1974/75: Triumph in Champagnerlaune

München 1975: La traviata mit Hindernissen

Bayreuth 1975: Rückkehr auf den Grünen Hügel

Mailand 1976: Endlich Italien

München 1976/77: Im Studio mit Plácido Domingo

München 1976: Duo mit Swjatoslaw Richter

Bayreuth 1976: Abschied vom Grünen Hügel

Der Spitzendirigent der Oper: Mit Verdis Otello endgültig zur Weltklasse

Mailand 1976/77: Kleibers Otello erobert die Scala

London 1977: Zusammenarbeit mit Birgit Nilsson für Elektra

München 1976/77: Ende einer Ära

München 1977: Otello mit John Neumeier

Mailand 1978: Wagner mit Wagner

München 1978: Abschied von Otello

Der Universelle: Gastspiele auf vier Kontinenten

Chicago 1978: Sprung über den eigenen Schatten

Wien 1978: Carmen im Fernsehen

Mailand 1979: La Bohème als Medienereignis

München 1979: Der Rosenkavalier im Film

London 1979: Verewigt in den Annalen

Dresden 1980/81: Stürmische Schallplattenaufnahmen

Mailand und München 1980–1982: Maskeraden

Wien 1979–1981: Wiener Konzerte und Mexiko-Tournee

Mailand 1981: Ärger in London und Glück in Japan

Der Vielumworbene: Ein Star mit Prinzipien

München 1981/82: Werben um den Genialen

Berlin 1982: Streit um Notenmaterial

Wien 1982: Ein spontanes Spitzenkonzert

Wien 1982: Fahrt ins Blaue

Amsterdam 1983: Debüt beim Königlichen Orchester

München 1983/84 und Chicago 1983: Frühlingsgefühle mit Beethovens Sechster

Wien 1985: Rückkehr im Triumph

München 1985/86: Faschingsrausch und Ernüchterung

Der Legendäre: Langsamer Rückzug

München und Hannover 1985: Rückzug auf Raten

München 1986–1988: Triumphe und Rückzug aus München

London, Mailand und New York 1987/88: Abschiede und spätes Debüt

Wien 1988/89: Sensation Neujahrskonzert

Berlin 1989: Gala für den Bundespräsidenten

New York 1989: Violetta hat Sinusitis

London und New York 1989/90: Eroberung der Metropolen

Salzburg 1990/91: Vergebliche Liebesmüh’

Wien 1992: Neues Glück mit den Wiener Philharmonikern

Wien 1991–1993: Kampf ums Heldenleben

Tokyo/München 1992: Konversation mit Sergiu Celibidache

Wien und Tokyo 1994: Noch einmal Rosenkavalier

Der Ferne: Späte Triumphe und stiller Abschied

Berlin 1994: Abschiedsgala für Richard von Weizsäcker

Ingolstadt und München 1996: Pferdestärken und Gefälligkeiten

Kanarische Inseln 1999: Eine Abschiedstournee

Grünwald 1999–2004: Späte Jahre einer Legende

Wenn Schmerz und Glück verschmelzen – das Phänomen Carlos KleiberNachwort

Anhang

Zitatnachweise

Disko- und Videografie

Bibliografie

Bildnachweis

Bildteil

Im Andenken und für meine ElternMaria und Ernst Werner

Carlos Kleiber:Fixstern am Dirigierhimmel

Ein Vorwort

Der unvergessene, der unvergessliche Carlos Kleiber, er war der große »Unbekannte« unter den seltenen, großen Fixsternen am Dirigierhimmel. Einzig war er in seiner Art – eine singuläre Erscheinung, als Mensch wie als Dirigent.

Wenn man über Carlos Kleiber spricht, dann kann das, voller Sympathie, nur aus einer gewissen Distanz heraus geschehen. Er wirkte, vollkommen unüblich im internationalen Musikbetrieb und eigentlich wider dessen Natur, wie ein scheues Reh, das nur ganz Wenige an seiner Nähe und dem, was ihn bewegte, teilhaben ließ. Er schrieb lieber, las und dachte nach, als dass er sprach. Vieles trieb Carlos Kleiber um. Seine Interessen, seine Bildung, seine Belesenheit, seine Beherrschung von Sprachen waren imponierend; das ging weit, weit über den Bereich der Musik hinaus. In seinem Empfinden trug er unendlich schwer an der Unvollkommenheit der Welt. Unentwegt war er, das eben macht ihn aus, auf der Suche nach dem Makellosen, dem Idealen, dem Vollkommenen.

Dieser Zug vor allem prägte ihn auch in seiner musikalischen Gestaltungsarbeit. Monate und Jahre, eigentlich sein ganzes Leben lang, konnte er brüten über die »richtigen«, die perfekten Zeitmaße im Strauss’schen Heldenleben oder in jedem anderen Werk. Vergleichsweise wenige Werke nur hat er einstudiert, so sagt man, und stellt, sieht man sich sein Werkverzeichnis an (von Telemann und Haydn bis zu Alban Berg und Henze), fest, dass es gar so wenige denn doch nicht waren. Dennoch hat er relativ wenig und Weniges nur dirigiert, das aber auf eine alle stets wieder aufs Neue überwältigende, uns Zuhörer buchstäblich atemlos machende Art. Wenn seine Violetta liebt, dann lieben wir mit, stirbt sie, sterben wir mit. Wenn er musiziert, dann rührt er an den Himmel – so gut wie immer. Es ist nicht so, dass er andere Werke, deren er sich nicht angenommen hat, für unter seiner Würde, unter seinem Niveau gehalten hätte. Ganz im Gegenteil: Er traute sie sich einfach nicht zu, hatte zu viel Respekt vor der Verantwortung gegenüber der Musik, dem Publikum – und auch sich selbst. Viel hat er uns mit seiner Aufführungsökonomie mutmaßlich vorenthalten, hat nur hie und da ein wenig den Schleier über seinem unendlichen Können und Wissen gelüftet. Und doch: welche Offenbarung, wenn er es tat! Wir sind durch sein Tun reicher geworden, nicht ärmer durch seine Sparsamkeit.

Mich hat er durch seine zwei – die überhaupt einzigen – Konzerte zusammen mit dem Berliner Philharmonischen Orchester reich beschenkt. Trotz seiner immensen Scheu, gerade auch dem Orchester und seinen begnadeten Fähigkeiten gegenüber, ließ er sich darauf ein, ohne große Überredungsbitten. Für ihn kein leichter Gang. Ungefähr da wo jetzt die Scharoun’sche Philharmonie sich erhebt, stand, so sagte er, sein Elternhaus. Mit den Fährnissen einer aufgeladenen Familiengeschichte im Hintergrund stand er am Pult. Die beiden Aufführungen in den Jahren 1989 und 1994 bleiben unvergesslich. In jenen Stunden hat Polyhymnia, Muse der Musik, den Saal geküsst.

Nicht alles war bei Carlos Kleiber aber nur Last und Leiden an der Unvollkommenheit irdischer Existenz. Im Musizieren hat er sich befreit, die Schwerkraft überwunden. Wer, der seine Wiener Neujahrskonzerte, »seine« Mozart-Sinfonien (Nr. 33 und Nr. 36), seine Fledermaus oder seinen Rosenkavalier im Ohr hat, würde das nur eine Sekunde vergessen? Carlos Kleiber hatte Humor, auch wenn er nicht selten von schwärzlicher Farbe war. Geadelt, wer von ihm mit seinen legendären Briefen und Postkarten, oft skurrilen Stücken nach E.T.A. Hoffmann’scher Art, bedacht wurde. Er liebte seine Kinder, seine Frau und deren Land, Slowenien. Dort ruht er nun aus. In mir bleibt die Erinnerung an ihn, lebendig wie vor Jahr und Tag.

Bundespräsident a. D. Richard von Weizsäcker

Der Spätberufene: Lange Lehrjahre zwischen den Kontinenten

Berlin 1930: Geburt einer Legende

Eine Sensation erwartete niemand an diesem Winterabend im Hamburger Studio des Norddeutschen Rundfunks, aber ein interessantes Konzert, getragen von der Inspiration dreier hochmotivierter junger Talente. Ganz unbekannt waren die Solisten nicht mehr: Irene Güdel hatte als Cellistin und Lehrerin bereits einen Namen und auch der 21-jährige Oboist Heinz Holliger hatte bereits Beweise seines Ausnahmetalents bei internationalen Auftritten geliefert. Die Reihe Podium der Jungen des Norddeutschen Rundfunks bot drei Künstlern, wie vielen anderen in den 21 Konzerten zuvor, die Chance, mit einem namhaften Orchester zu arbeiten, Erfahrungen zu sammeln, über den Rundfunk eine große Zahl von Hörern zu erreichen und ein bisschen Geld zu verdienen.

Bliebe noch der dritte im Bunde, der Gastdirigent: ein großer, hagerer, junger, ja jugendlich wirkender Mann. Vielleicht hätte man ihn mit seiner Ausstrahlung, den feinen Gesichtszügen, seinem offenen, sinnlichen Blick auf Anfang zwanzig geschätzt, sicher nicht auf dreißig, blendend aussehend dazu. Um diesen Dirigenten, der außerhalb des Podiums noch eine Brille und einen ordentlichen Scheitel trug, bemühte sich eine ältere Dame – seine Mutter, in der Branche eine Frau mit Einfluss. Als diese am 7. Dezember 1960 fotografierte, wie ihr Sohn zum Dirigentenpult schritt, war dieser noch ein unbeschriebenes Blatt. Dass die Musiker trotzdem gespannter waren als sonst, hatte einen Grund, der dem jungen Dirigenten manch schlaflose Nacht bereitete. Sein Name war nämlich Kleiber, Carlos Kleiber, der Sohn des großen, des genialen Erich, an den man sich auch in Hamburg lebhaft erinnerte. Noch wurde Carlos vor allem als der Sohn seines Vaters gehandelt, für viele der bedeutendste Vertreter seiner Zunft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Paradoxerweise hemmten die Emigration, seine lebenslang konsequente, korruptionsferne und aufrechte Art, dann seine Ost-Berliner Episode und der frühe Tod Erich Kleibers angemessenen Nachruhm. Es ist leicht vorstellbar, was dies alles für seinen Sohn Carlos, seine Persönlichkeit, sein Selbstbewusstsein und seinen Ehrgeiz bedeutete. Doch Carlos schickte sich an, mit eisernem Willen und extrem hohen Ansprüchen an sich selbst aus dem Schatten des Übervaters zu treten. 1960 war der vier Jahre zuvor verstorbene Vater das Maß für ihn und für andere. Carlos, der gerade ernsthaft seine Laufbahn als Dirigent in Angriff nahm, musste hinnehmen, dass wer auch über ihn schrieb, dies nicht tat, ohne in Ehrfurcht des Vaters zu gedenken und den Sohn mit dem Vater zu vergleichen.

In der Spielzeit 1959/60 hatte Carlos Kleiber mit Gastspielen und seinem ersten Dirigat an der Deutschen Oper am Rhein einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Kapellmeister geschafft. In Hamburg leitete er sein erstes bekanntes Konzert mit für ihn zeitlebens untypischem Repertoire. Nie wieder sollte er später Manuel de Falla oder Bohuslav Martinů, geschweige denn Komponisten wie Georg Philipp Telemann oder Carl Philipp Emmanuel Bach dirigieren. Dieses Konzert geriet kurioserweise im Nachhinein zur Sensation, letztendlich auch wegen des Interviews in der Pause, das Carlos Kleiber gab. Später bemühten sich Journalisten weltweit vergeblich, ihm nur ein paar Worte abzuringen. Dem NDR erschien einst weder das Konzert noch das zumindest privat erhaltene Interview archivwürdig. Wenngleich nur für wenige Minuten, so hört man ihn doch einmal über sich, seine Arbeit und seinen Vater sprechen. Solche Originaltöne gibt es ansonsten nur von autorisierten und heimlichen Probenmitschnitten.

Kindheit und Jugend Carlos Kleibers verbergen sich, von einigen gut inszenierten Ausnahmen abgesehen, hinter den schützenden Mauern, die Erich Kleiber wie viele Prominente sich und seiner Familie verordnete. Carlos selbst brachte kaum Licht ins Dunkel. Indem er sich gegenüber Presse und Öffentlichkeit verweigerte, ließ er wenig über sein Leben und seine Privatsphäre nach außen dringen. Wer ihn kannte, hütete sich meist, indiskret zu werden. Denn der eigenwillige Maestro war ebenso genial wie unberechenbar. In der Presse waren fast immer falsche Informationen zu finden. Er sei in Argentinien geboren, erzählte Carlos beispielsweise manchmal im Scherz. Viele glaubten ihm. Allerdings antwortete er 1960 auf die Frage bei dem Interview des Norddeutschen Rundfunks: »Wo sind Sie geboren?« – »In Berlin.« Und auf die Frage »30 Jahre alt, ja?« entgegnete Kleiber spontan und kurz »Jawohl!«

Carlos Kleiber, zwei Jahre jünger als seine am 28. März 1928 geborene Schwester Veronika, war das zweite Kind von Erich Kleiber, seit 1923 Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden, und der Kalifornierin Ruth Goodrich. Er wurde in Berlin-Dahlem am 3. Juli 1930 geboren. Musiker sucht man unter den Ahnen vergeblich. Die Vorfahren väterlicherseits entstammten dem slawischen Volk der Wenden, das zwischen Elbe und Oder siedelte, seine eigene Sprache hatte und seit dem 16. Jahrhundert seine ununterbrochene und ganz eigene literarische und volksmusikalische Tradition besaß. Carlos Kleibers Urgroßvater aus der väterlichen Linie verdiente seinen Lebensunterhalt als Schulmeister, und sein Sohn, Franz Otto Kleiber, folgte seinen Spuren. Er war mit vierzehn Jahren aus Sachsen ins Wendisch-Katholische Priesterseminar nach Prag gekommen, beschloss jedoch nach dem Tod seiner Eltern, nicht den geistlichen, sondern den Beruf seines Vaters zu ergreifen, unterrichtete Griechisch, Latein, Deutsch und brachte es zum Doktor der Philosophie. Seine Studien machten ihn zu einer »bekannten Figur in der Bibliothèque Nationale in Paris und an der Wiener Hofbibliothek«, wie Erich-Kleiber-Biograf John Russell vermerkt. 1888 heiratete Franz Otto Kleiber Veronika Schöppl, Tochter des in Prag beliebten kaiserlichen Hof-Wagenmachers Johannes Schöppl, mit der er nach Wien übersiedelte. Wenngleich sich Franz Otto gemäß des ererbten Talents der Pädagogik und Philosophie verschrieben hatte, spielte er wie einst sein Vater ausgezeichnet Klavier und Orgel. Er liebte es, »daheim zu singen«. So kam die mit etwas Verspätung aufblühende musikalische Begabung des Erich Franz Otto, der am 5. August 1890 in der Wiener Kettenbrückengasse, gegenüber dem Sterbehaus Schuberts das Licht der Welt erblickte, nicht von ungefähr. Dessen Sohn Carlos sollte wie der Großvater viel Zeit in Bibliotheken mit intensivsten wissenschaftlichen Studien zubringen. Intellektualität, extremer Fleiß und Hartnäckigkeit gehörten zu den Tugenden, die er von seinen Vorfahren erbte und mit dem Willen zur tiefsten Wahrhaftigkeit und Perfektion in die Musik einfließen ließ. Wien bescherte den Kleibers allerdings kein Glück. Erichs Eltern starben bald, und er kehrte für eine Interimszeit mit seiner ein Jahr älteren Schwester Elisabeth nach Prag zurück. Prag bedeutete viel für das musikalische Empfinden des Jungen. Dort lernte er die Folklore in ihren ursprünglichen Ausprägungen und zugleich in ihrer von Komponisten wie Dvořák und Smetana verarbeiteten Form kennen und lieben. Dass Erich Kleiber die Musik zu seinem Beruf machen würde, kristallisierte sich zwar erst im fortgeschrittenen jugendlichen Alter heraus, mit 22 Jahren aber hatte er schon den Posten eines Kapellmeisters in Darmstadt inne.

Carlos musste sich später weitaus länger als sein Vater gedulden, obwohl seine Herkunft und sein Talent ideal schienen für eine zeitige und fruchtbare musikalische Entwicklung. Zwangsläufig war diese nicht und sein Weg nie vorgezeichnet, wie man im Rückblick einem umjubelten Weltstar gerne nachsagt. Weder nahm sich Erich Kleiber vor, seinen Sohn zum Wunderkind zu erziehen, noch ignorierte er die beachtlichen Risiken. Es war nicht allein die Sorge, ob diesen ein unsicheres Künstlerdasein ernähren würde. Er war scharfsinnig und einfühlsam genug, um von Carlos Entschlusskraft und den Beweis für besonderes Talent zu fordern. Eines, das ihn dazu befähigte, seinem Vater ebenbürtig zu werden. Dass er es besaß, erkannte nicht nur sein Vater. Erich Kleiber, der anfangs die musikalischen Ambitionen seines Sohnes misstrauisch beäugte, bekannte schließlich gegenüber seinem Freund, dem Musikpublizisten Karl Heinz Ruppel: »Du wirst lachen, der Bub hat Talent.« Carlos war wohl bewusst, dass sein Vater stolz auf ihn war. Über sein eigenes Talent war er sich bei allen Selbstzweifeln immer im Klaren. Das ließ ihn auch die Genialität des Vaters erkennen, die sein Maßstab wurde.

Seine kalifornische Frau Ruth lernte Erich Kleiber 1926 in Buenos Aires während seines ersten Südamerika-Aufenthalts kennen. Der Dirigent hatte das Publikum mit dem Orchester des Teatro Colón nach einigen umjubelten Konzerten im Sturm erobert. Am 12. September besuchte Mrs. Ruth Goodrich mit dem deutschen Botschafter Günter Henle eine Probe vor dem Konzert am Abend. Kleiber lud die junge amerikanische Botschaftsangestellte über Henle spontan zum Essen ein. Am nächsten Tag kritzelte er ihr auf die Rückseite einer Speisekarte den Grundriss seiner Berliner Wohnung und schaffte es, ihr mit seinem defizitären Englisch einen Heiratsantrag zu machen. Der erste Kuss folgte am 18. September während einer Flussfahrt auf dem Tigre. Mrs. Ruth Goodrich, durchaus beeindruckt von dem außergewöhnlichen Mann, sagte erst einmal höflich und im Geiste unverbindlich »Ja«. Für Kleiber aber war damit die Sache perfekt. Er organisierte Überfahrt und Umzug, überschüttete sie fürsorglich mit allen Annehmlichkeiten, baute für sie ein »unzerstörbares Traumland« auf, an dessen Beständigkeit sie zusehends zu glauben begann. »›Erdbeeren mit Sahne zu jeder Mahlzeit‹, dachte sie bei sich«, heißt es in Russells Kleiber-Biografie. Günter Henle, späterer Chef der Klöckner-Werke und großer Musikliebhaber, schrieb in seinen Erinnerungen: »Ich bin mit Kleiber in nahe persönliche Berührung gekommen und habe auf sein Leben insofern entscheidend eingewirkt, als ich einmal in die Orchesterprobe eine bildhübsche junge Amerikanerin mitbrachte, mit der er sich prompt eine Woche später verlobte. Daraus hat sich für mich eine treue Freundschaft mit beiden Kleibers entwickelt. Bei den Konzertproben, denen ich so oft wie möglich beiwohnte, konnte ich beobachten, wie das ganze Orchester geradezu an den Lippen des großen Dirigenten hing, wenn er seine Auffassung erläuterte oder Anweisungen für das Spiel gab.« Henle nannte Carlos sein »Patenkind«, ohne Taufpate zu sein. Seine Protektion hatte Ende der fünfziger Jahre erheblichen Anteil an der beginnenden Karriere des jungen Dirigenten. Jedoch, so unkompliziert, wie auch Erich-Kleiber-Biograf Russell es darstellt, verlief die Beziehung zwischen Ruth und Erich anscheinend zu Beginn nicht. Denn sie war geschieden und jüdischen Glaubens, er überzeugter, wenngleich kein bigotter Katholik. Den Katechismus anerkennen oder gar römisch-katholisch werden, das wollte Ruth wiederum nicht, die, so erzählte Carlos später, von Sir Walter Scott abstammen soll.

Die Hochzeit sollte in Prag sein. Erichs Tante sollte die Lage beim Pfarrer erkunden. Wenn es die Kirche nicht erlauben sollte, beruhigte er Ruth, dann würden sie eben standesamtlich heiraten. So gleichgültig war es ihm jedoch keineswegs. Erich hoffte, die kirchliche Trauung nachholen zu können. 25 Tage etwa brauchte ein Brief zwischen Südamerika und Deutschland. Ruth konnte gerade noch rechtzeitig die nötigen Formalitäten erledigen. Dennoch war auch eine standesamtliche Heirat in Hamburg nach ihrer Ankunft in Cuxhaven nicht möglich, sondern erst am 29. Dezember 1926 in Berlin. Die Hochzeitsreise führte nach Dresden und St. Petersburg. Die Frage des kirchlichen Segens blieb offen. Im Dezember 1927 versuchte Erich, über den österreichischen Gesandten am Vatikan einen Termin mit einem Prälaten zu bekommen. Seine Initiative blieb erfolglos. Ruth zog schließlich in die Wohnung in der Hohenzollernstraße 9 in Berlin-Zehlendorf ein. Kleiber, der ihr schelmisch zu verstehen gab, ihre Mission sei, nichts zu tun, als schön zu sein und ihn lieb zu haben, dachte sofort an Nachwuchs. Und irgendwie war er davon überzeugt, zuerst komme eine Tochter und dann ein Sohn, der Bonifatius heißen sollte. Als sich dieser zwei Jahre nach der Geburt von Tochter Veronika tatsächlich ankündigte, war Erich Kleiber überglücklich.

»Peach« oder »Peaches« war der von der Mutter ausgedachte Kosename für Veronika, Carlos wurde in seiner Kindheit und Jugend zärtlich »Pie« genannt. Daneben kamen bei Carlos später noch die Namen »Woo« oder »Pooh« dazu. Ein Chauffeur, ein Koch und zwei Hausmädchen erleichterten der Ehefrau eines vielbeschäftigten und reisefreudigen Gatten das recht ungetrübte Leben im hektischen Berlin. Zu dieser Zeit lebte die Familie in der Rohlfsstraße 14 in Berlin-Dahlem, worauf später das Haus Nummer 8 in der Tiergartenstraße folgte. Das Haus, in dem die Kleibers wohnten, sollte später wie das ganze Viertel dem Bombenhagel während des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fallen. Der Berliner Tiergarten war die Spielwiese des kleinen »Pie«. Der spätere Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, Leon Spierer, traf ihn dort als kleinen Jungen sporadisch zum Spielen und Fahrradfahren. Viele Jahre später sprach er ihn in Salzburg darauf auf Spanisch an. Carlos erinnerte sich gut an diese Kindheitserlebnisse in Berlin.

Der stolze Vater Erich Kleiber erholte sich regelmäßig im Sylter Gästehaus der Schauspielerin Clara Tiedemann, wo sich illustre Gäste aus Kunst, Literatur und Politik trafen. Schon als Carlos ein Säugling war, reiste Ruth mit den Kindern nach Kampen. Damals unterhielt der kleine Carlos auch bereits »Korrespondenz« mit wichtigen Zeitgenossen. Am 4. August 1930 »schrieb« Ljuba, die Tochter von Kleibers berühmtem Kollegen Leopold Stokowski: »Lieber Generalmusikdirektor – Papa zeigte mir ihr Bild mit Peaches und die Grußkarte von Carl[!] Ludwig Bonifacius. Warum geben Sie ihm nicht noch einige Namen mehr? Ich habe achtzehn Namen – einen für jeden Wochentag. Papa sagt, Sie kommen nach Amerika, so hoffe ich, Sie bald zu sehen, und Ihre Musik im Radio zu hören. Bitte bringen Sie Peaches mit. Ich würde schrecklich gerne mit ihr spielen. Ich bin dreieinhalb Jahre alt, aber ich würde gerne mit kleinen Mädchen spielen, die zweidreiviertel Jahre alt sind. Ich würde Peaches gerne in meine Vorschule mitnehmen, wo wir mit vielen anderen kleinen Mädchen und Jungen spielen könnten. Papa sagt, er freut sich sehr, Sie und die Mutter von Peaches zu sehen. Wir alle senden Ihnen liebe Grüße.«

Am 5. Dezember 1930 wurde Carlos Kleiber auf den Namen Karl Ludwig Bonifatius getauft, wie vor ihm Veronika gleich hinter der Staatsoper am Taufstein der St. Hedwigs-Kathedrale. Einige Musiker des väterlichen Orchesters aus der Staatsoper spielten. Mehrere Vornamen waren Tradition in der Familie. Viele Jahre später sollten Gerüchte Zweifel nähren, ob hier wirklich ein Kleiber getauft wurde oder nicht eher ein Sohn Alban Bergs. Herangezogene Fotostudien der Zweifler bestätigten oft nur das eigene Wunschdenken, vor allem das der Wiener. Die Meinung von Schwester Veronika ist eindeutig: »Carlos ist der Sohn meines Vaters.« Gegen Ähnlichkeiten mit Berg sprechen solche mit Erich Kleiber als jungem Mann, vor allem die Augenpartie. Die Wienerin Margarethe Schlee, ab 1947 Sekretärin der Erich Kleiber betreuenden Künstleragentur Dietz und Witwe des Direktors der Universaledition Alfred Schlee, hält nichts von den Gerüchten: »Ruth vergötterte ihren Mann.« Zwar war er kleiner als sein Sohn und nahm im Alter merklich zu, Carlos dagegen war groß und stets schlank, doch mancher Schnappschuss des älteren Carlos Kleiber erinnert deutlich an den Vater. Bei den Vergleichen zwischen Vater und Sohn achtete kaum jemand darauf, wie ähnlich sich Carlos und seine Mutter sahen. Stattdessen wurden fälschlicherweise immer die physiognomischen Unterschiede zwischen Erich und Carlos als Beweis für eine Vaterschaft Bergs gedeutet.

Die Korrespondenz zwischen der jungen Ehefrau und Mutter mit ihrem Mann war sehr liebevoll während dieser Jahre. Erich schwelgte im Familienglück, brachte »Pie« eine Schwimmente und später Indianerfiguren mit. Er stellte seinen Sohn auch stolz zur Schau. Ein bei der Presse begehrtes Foto zeigt ihn auf dem Schoß seines Vaters begeistert eine Blechtrommel schlagen, Teil einer ganze Serie aus dem Jahr 1931. Bedeutende Fotografen der Zeit, wie das Berliner Fotoatelier Zander & Labisch oder Fritz Eschen, lichteten den kleinen Prominentensohn ab, der zudem schon früh durch die Welt reiste. Im Jahr 1934 wurde der vierjährige Carlos auf dem Turm des New Yorker Empire State Buildings fotografiert.

Carlos brachte in der Zwischenzeit bereits ein auffälliges Gespür für Musik mit. Ende 1933 spielte er schon begeistert auf einem Kindersaxophon. Auch die Bühne war ihm seit früher Kindheit vertraut. Es gab Erlebnisse wie den Besuch einer Vorstellung von Hänsel und Gretel unter Leitung Leo Blechs, Carlos und seine Mutter schauten von der Loge aus zu, während sich Veronika in der ersten Reihe des Parketts unter der Jacke ihres Vaters vor der Hexe versteckte. Der Junge begegnete vielen Künstlern, darunter auch einem besonderen Komponisten. Carlos witzelte 1960, sein Vater habe ihn im Alter von vielleicht acht Jahren Richard Strauss vorgestellt. »Das ist mein Sohn«, soll Erich Kleiber gesagt haben, worauf Strauss fragte: »Von welcher Frau?«

Anfang der dreißiger Jahre steuerte die Familie Kleiber, wie viele Bewohner des Deutschen Reiches, unruhigem Fahrwasser entgegen: »Wo einst die Inhaber der Luxuswohnungen hinter ihren Fenstern zitterten, wenn von kommunistischen Versammlungen auf dem Alexanderplatz die Rede war«, schreibt Russell in seinem Buch über Erich Kleiber, »gab es jetzt nur Zittern anderer Art, als selbst im Theater die braunen Uniformen mehr und mehr alltäglich wurden.« Erich Kleiber setzte sich vehement für die Moderne und den in Nazi-Deutschland verfemten Alban Berg ein. Im Mai 1930 leitete er die Premiere von Darius Milhauds Oper Christophe Colomb, wartete bereits darauf, Bergs Oper Lulu vorzubereiten und bestand darauf, dessen von ihm 1925 so denkwürdig uraufgeführten Wozzeck wiederaufzunehmen, als »andere es vorzogen, zu leugnen, dass sie je davon gehört hätten.«

Mit den unaufhörlich anschwellenden Marschschritten der Nationalsozialisten auf den Straßen Berlins wurde auch die Lage der Kleibers unsicher. Im Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Fünf Monate später mussten fast alle jüdischen Mitglieder der Staatsoper diese verlassen. Ab Anfang 1934 unterstellte sich der Preußische Ministerpräsident Hermann Göring die Berliner Staatstheater. Nun begann die Politik endgültig, das Musikgeschehen bis ins Kleinste zu reglementieren. Die Musik Bergs war mittlerweile verboten. Kleiber hatte einen schweren Stand. An eine Uraufführung von Lulu war nicht mehr zu denken. All dies ließ bei ihm bereits den Entschluss keimen, dem Land den Rücken zu kehren. Dieser reifte, als die von ihm geliebte Oper Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach ebenfalls auf die schwarze Liste kam. Kollegen wie Bruno Walter, Fritz Busch und Otto Klemperer hatten Deutschland bereits verlassen. Für Kleiber wurde 1934 ein Konzert mit Alban Bergs Lulu-Suite, sinfonischen Stücken aus der Oper Lulu, die aufzuführen realistischer erschienen als die ganze Oper, zur letzten Zerreißprobe. Im Mai zitierte Göring Ruth Kleiber wegen dieses Konzertes zu sich. Kleiber hielt sich gerade in Brüssel auf. Ruth gelang es, Göring zu bewegen, die gewagte Aufführung zu akzeptieren. Aber vier Tage nach dem erfolgreichen und umstrittenen Konzert legte Erich Kleiber am 3. Dezember 1934 sein Amt nieder. In dem Konzert hatte ein unwilliger Zuhörer in den Jubel »Heil Mozart« gerufen, worauf Kleiber konterte: »Sie irren sich, das Stück ist von Alban Berg.« Kleiber entschloss sich, seinen Vertrag zu erfüllen und sogar noch zwei Sondervorstellungen für hohe Parteifunktionäre und ihre Gäste zu geben, weil man ihn und seine Familie unter Druck setzte. Es war sogar ein Fahndungs- und Haftbefehl herausgegeben worden, den man dann aber wieder aufgehoben hatte. So dirigierte Kleiber also am 3. Januar 1935 bei einer Tannhäuser-Aufführung zum letzten Mal in der Lindenoper. »Meine Mutter war eine scharfe Nazi-Gegnerin«, erinnert sich die Tochter Veronika, »und mein Vater sehr unglücklich, als die jüdischen Musiker plötzlich verschwunden waren. Meinen Vater als Nichtjuden wollten die Nazis unbedingt in Berlin halten.« Ziehen ließen die Nationalsozialisten den populären Österreicher trotz heftigen Misstrauens sehr ungern. Noch ein halbes Jahr später versuchte Göring persönlich, ihn über den Generalintendanten Heinz Tietjen brieflich umzustimmen. Als Erich Kleiber erfuhr, dass an der Mailänder Scala Juden ausgeschlossen werden sollten, kündigte er sein Engagement mit der Feststellung, dass die Musik, ähnlich der Luft und der Sonne, für alle Menschen da sei und er den Ausschluss von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Rasse als Künstler und auch als Christ nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne. So kam sein für Dezember 1938 an der Scala geplantes Dirigat von Beethovens Fidelio nicht zustande.

Karl Heinz Ruppel, Journalist, Publizist und Freund Erich Kleibers seit Darmstädter Tagen, schrieb Jahre später, dass »nicht politische oder rassistische Gründe« Kleiber zur Emigration bewogen, sondern ausschließlich künstlerische: »Er war in dieser Beziehung – obgleich ein Wiener – das, was man einen ›eisenharten Schädel‹ nennt, kannte und duldete keinerlei Kompromisse und ›arrangierte sich‹, wie man so schön sagt, nie und mit niemand.« Es ging um Politik, aber auch um persönliche Belange, auch wenn Ruths jüdische Abstammung in Deutschland damals nie ans Licht der Öffentlichkeit kam und selbst guten Bekannten verborgen blieb. Die Nazi-Führung wäre zu vielen Zugeständnissen bereit gewesen. Kleiber aber ließ sich darauf nicht ein.

Spätere Versuche der Nationalsozialisten, ihn zur Olympiade zurückzuholen, wies Erich Kleiber strikt zurück. Auch Furtwängler spannten sie zu diesem Zweck vergeblich ein. Die Rolle Kleibers im Jahr 1933 ist dennoch nicht unumstritten. Carlos legte immer sehr viel Wert darauf, dass sein Vater nicht wegen Ruth, sondern wegen des verbrecherischen Regimes ging. Er ärgerte sich vehement über die Behauptung, sein Vater habe jedem Musiker der Staatskapelle bei der Machtübernahme Hitlers ein Exemplar von Mein Kampf geschenkt. Margarethe Schlee, die durch Erich Kleibers Künstleragentur mit ihm Kontakt hatte, zweifelt nicht an dessen Integrität, selbst wenn er wohl »die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch in Österreich begrüßte. Ich glaube aber nicht, dass er durchschaute, wie kurzfristig diese Sache war.«

Die Erinnerungen des Verlegers Gottfried Bermann Fischer legen nahe, dass Kleiber sich zumindest anfangs blenden ließ. Am 30. Juni 1934, die Kleibers machten gerade Urlaub auf Sylt, traf sich eine kleine Runde von Urlaubern zur abendlichen Unterhaltung. Plötzlich klingelte das Telefon, die Hausherrin erfuhr von einer angeblichen Revolte und der Ermordung des SA-Stabchefs Ernst Röhm. Anschließend wurde aufgeregt über das mögliche Ende der Nazis spekuliert, das man erhoffte. Diese Gespräche wurden jäh unterbrochen durch Erich Kleiber, der nach dem Bericht von Bermann Fischer unvermittelt Hitler als Retter Deutschlands gepriesen habe und die Hoffnung zum Ausdruck brachte, dem Diktator sei nichts geschehen. Ruth soll fassungslos unter Tränen den Raum verlassen haben: »Wir anderen, versteinert vor Schreck, gingen schweigend hinaus. Wir konnten es nicht glauben – mitten unter uns ein Nazi? Ob er Parteimitglied war – man sagte es damals – habe ich nicht erfahren können. Aber es dauerte nicht mehr sehr lange, bis auch er den Entschluss zur Auswanderung fasste, um dann nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren.« Gleich wie es sich nun verhalten haben mochte, Kleiber verließ Deutschland vor allem aus politischen Gründen inmitten der allgemeinen Euphorie und nicht erst später das sinkende Schiff.

Eine Mitgliedschaft in der NSDAP ist sehr unwahrscheinlich. In der zu 80 Prozent erhaltenen Mitgliederkartei im Bundesarchiv Berlin ist er nicht verzeichnet. Hätte Kleiber damals wirklich eine solche politische Naivität besessen, dann wäre diese allenfalls von kurzer Dauer gewesen. Ruth Kleiber wandte sich in den fünfziger Jahren hilfesuchend an Alban Bergs Witwe Helene, die deren Frage nach einer angeblichen Mitgliedschaft Kleibers mit der Feststellung beantwortete, dies sei ein Missverständnis gewesen. Ruth schloss eine Parteizugehörigkeit ihres Mannes definitiv aus. Hitlers Pamphlet Mein Kampf an die Musiker zu verteilen, hatte Tietjen veranlasst. Kleiber musste lediglich zustimmen. Die Anweisung stammte von Göring und betraf alle preußischen Theater. Kleiber, der die Dimension der Nazis anfangs nicht überblickte und wie viele nicht unbeeindruckt von der allgemeinen Zustimmung für Hitler war, kümmerte sich letztlich weder sonderlich um die Politik, noch um Hitler oder dessen Buch. Als Kleiber die Nazis durchschaute, zog er sofort die Konsequenzen und verließ Deutschland. Die endgültige Entscheidung, ins südamerikanische Exil zu gehen, fiel erst, als ihm jede europäische Lösung verbaut war. Aus den Briefen an seine Frau geht eindeutig hervor, zu welch entschiedenem Gegner der Nazis er wurde. Dessen ungeachtet blieb er zeitlebens ein Konservativer. In einem unveröffentlichten Interview aus dem Jahre 1942 oder 1943 in Mexiko äußerte er sich erstmals zu den Gründen seines Exils. Wie er später erfahren habe, durchforsteten die Nazis bereits 1933 seinen und den Stammbaum seiner Frau, ohne etwas vermeintlich Belastendes zu finden. Geblieben sei er 1933, weil er wie viele andere geglaubt habe, der Rassenwahn der Nationalsozialisten gehe bald vorüber. Furtwängler gegenüber sagte er, es sei ausgeschlossen, dass sie beide in dieser Unfreiheit weiterarbeiten könnten. Furtwängler gab ihm Recht, und die beiden vereinbarten, dass der Ältere zuerst seine Entlassung verlangen und Kleiber sich sofort mit ihm solidarisch erklären solle. Furtwängler demissionierte in Folge der durch sein Eintreten für Paul Hindemith entfachten Krise tatsächlich. Hindemith wurde wegen seiner antinazistischen Gesinnung diffamiert, seine Werke wurden im Rundfunk 1934 verboten. Vereinbarungsgemäß reichte auch Kleiber sein Entlassungsgesuch ein. Furtwänglers Gesuch wurde sofort angenommen, Kleiber bekam Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu seinem wankenden Kollegen aber blieb er hart, trotz mehrerer Versuche, ihn umzustimmen und zurückzuholen.

Von Berlin nach Buenos Aires 1935–1947: Zwischen den Kontinenten

Das Leben aus Koffern mit weltweiten Gastspielen, das Kleiber fortan bis zu seinem Tod führte, veränderte das Leben seiner Familie völlig. Ein normales Familienleben, dauerhafte Freundschaften oder eine konstante schulische Ausbildung gab es fortan für die Kinder nicht. Der Vater machte sich in den kommenden Jahren oft Sorgen, wie sein Sohn die Strapazen der ständigen Ortswechsel verkraften würde. 1935 durfte »Pie« auch über den Ozean mit zur Familie der Mama.

Noch schien ein Weltkrieg fern. »Pie« war nicht ganz fünf Jahre alt, als die Familie schließlich ihr neues Quartier am Mondsee bei Salzburg bezog. Kleiber liebte die Natur dieser malerischen Landschaft. Als seine Kinder alt genug waren, um ihn auf seinen Spaziergängen zu begleiten, respektierten sie seine gespannte Konzentration, gingen still voran, während er ihnen mit einer Partitur in der Hand folgte: »(…) unnahbar distanziert, und doch allem Geschehen offen. Einmal, zum Beispiel, brach er ab, rettete seinen Sohn vor einem kleinen Unfall und ging weiter, als sei nichts geschehen«, schildert Erich-Kleiber-Biograf Russell eine Episode aus Carlos’ Kindheit. Doch die scheinbare Ruhe der Weltlage war trügerisch.

Zu Silvester erkundigte sich Erich Kleiber aus Budapest voller Sorge nach seinen Kindern, mit der Hoffnung, dass alle gesund blieben. Ruth besuchte ihren Mann mit den Kindern in Moskau, wo Erich ein Gastspiel gab. Im Jahr darauf bereiste die Familie Griechenland. Eine Fotografie zeigt »Pie« und »Peaches« Hand in Hand vor dem Parthenon in Athen. 1936 fuhr Ruth alleine zu ihrer Mutter nach Canon City in Colorado. Erich Kleiber befürchtete in diesen Jahren, seine Familie könne aufgrund des rastlosen Lebens ohne ein längerfristiges Heim verzweifeln, wie aus persönlichen Mitteilungen hervorgeht.

Aus dem Jahr 1935 oder 1936 stammt ein Foto aus dem Album des Cembalisten Igor Kipnis, auf dem dieser als Kind neben dem intelligent und etwas verlegen blickenden »Pie« zu sehen ist. Igor Kipnis, der Sohn des Bassisten Alexander Kipnis, erinnerte sich gerne an seinen damaligen Kameraden: »Wir waren als Jungen Freunde, bis sich unsere Wege trennten.« Gemeinsam zur Schule gingen die beiden nie, trafen sich aber in den vierziger Jahren in New York wieder. Kipnis sollte zu einem großen Bewunderer von Carlos Kleiber werden. Gelegentlich schrieben die beiden sich Briefe.

Erich Kleiber feierte 1936 in Prag und Brüssel Triumphe. Er dirigierte im gleichen Jahr sein erstes Konzert an der Scala und intensivierte sein Engagement in Buenos Aires. Auch wenn die Familie nunmehr ein neues Domizil am Mondsee bei Salzburg hatte, bot ihm seine Heimat Österreich kein dauerhaftes Zuhause. Mit der Behauptung, er sei Jude, hatten schon seine Gegner versucht, ihn in Berlin und Wien zu verleumden. Als Erich Kleiber der Reichsstelle für Sippenforschung in Berlin einen »Ariernachweis« vorlegte, setzte dies den Denunzierungen kein Ende. Das musikalische Juden-ABC, ein beliebtes Nachschlagewerk zur Diskreditierung von Künstlern, führte ihn auf. Erbittert schrieb Kleiber an Alban Berg: »Was mein Christentum angeht, lasse ich den Leuten sagen, sie sollen in der Pfarre Sankt Joseph, im Taufbuch Band 204 (Margareten) nachschauen oder im Wasa-Gymnasium nachfragen, wo mein früherer Katechet, Professor Kisser, zu finden ist.« Wien tat nichts, um Kleiber zu binden. Die Philharmoniker ließen ihn bei den Salzburger Festspielen 1935 ihre Ressentiments spüren, um ihm nach dem »Anschluss« im Frühjahr 1938 zu verkünden, sie hätten ihn immer als ihren Leiter gewollt, aber nicht gekonnt, wie sie wollten. Bei der Neubesetzung der Wiener Staatsoper wurde Kleiber deshalb übergangen. Um gegen Verleumdungen bezüglich seiner Konfession, seiner Gagenforderungen und seines Repertoires vorzugehen, erklärte er bereits im September 1936 Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg: »Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass es in meinem eigenen Land keinen Platz für mich gibt. Mit dieser Tatsache muss ich mich wohl abfinden. Aber ich muss sichergehen, dass Sie wissen, was man mir antut.« Schuschnigg, so Kleiber, habe darauf mit rotem Kopf gestammelt: »Aber das ist ja monströs, wirklich monströs.« Die Haltung der Wiener Staatsoper schmerzte Kleiber sehr.

Der so genannte »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 setzte allen Hoffnungen der Kleibers auf eine Zukunft in Österreich ein Ende. Erich Kleiber erreichte die Nachricht davon in Lugano, wohin die Familie Ende 1936 umgesiedelt war. Mit Hilfe des Expräsidenten Alvear erhielt Kleiber im September 1938 schließlich die argentinische Staatsbürgerschaft. Die Kinder dagegen konnten die Staatsbürgerschaft ihres Geburtslandes behalten und wurden bis zum 18. Lebensjahr im Pass der Mutter verwaltungstechnisch mitgeführt.

Zunächst aber hielt sich die Familie in der Schweiz auf. In Lugano, dem neuen Aufenthaltsort der Familie, sollte Carlos endlich auf eine Schule gehen. Erich Kleiber teilte seiner Frau im November 1936 aus Moskau sorgenvoll mit, dass Carlos noch immer nicht eingeschult sei aufgrund der ständigen Ortswechsel in jenen bewegten Zeiten. Doch auch mit acht Jahren sollte Carlos noch keine reguläre Schule besuchen, was den Vater besorgte. Da zu dieser Zeit noch ein längerer Besuch Ruths in Buenos Aires bei ihrem saisonal im Teatro Colón und in Montevideo tätigen Mann vorgesehen war, schlug er ab Ende Oktober 1938 eine Schule in Zürich oder Luzern für »Pie« vor. Die Schwester Veronika amüsierte sich bereits über den humorvollen kleinen Bruder, der damals vor dem ersten Besuch einer regulären Schule mit acht Jahren zunächst Bedenken hatte und sagte: »Ich komme da nicht mit. Was habe ich denn überhaupt für eine Schulbildung? Wenn man mich fragt, sage ich, ich war sechs Jahre im Kindergarten.« In Lugano lernten »Pie« und »Peaches« in der deutsch-schweizerischen Schule auch Italienisch. Die enorme Sprachbegabung offenbarte sich bei Carlos früh. Er sollte später fließend Deutsch und Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch und Slowenisch sprechen.

Die Familie musste 1938 unruhige Monate überstehen. Ende des Jahres bemühte sich Erich Kleiber um das Einreisevisum für Frankreich. Lugano, schrieb er aus Südamerika, habe keinen Sinn mehr. Ruth drängte es, ihre Mutter zu besuchen. Ihr Stiefvater lag im Frühjahr nach schwerem Leiden im Sterben. Sie nahm die Kinder mit. Nach dem Tod des Stiefvaters verließen Ruth und die Kinder Canon City und machten eine Rundreise. Sie waren Berühmtheiten und weckten die Aufmerksamkeit der Presse. Ruth gab ein Interview und suchte eine Ferienunterkunft für die Kinder. Erich Kleiber erinnerte seine Frau eindringlich daran, dass die Kinder trotz der Reisen konsequent weiter im Rechnen, Lesen und Schreiben unterrichtet werden sollten, vor allem Carlos. Ruth wollte nach Südamerika fahren, dort auch ihren Mann treffen, zögerte aber, Carlos alleine zu lassen. Doch die unsichere politische Lage vereitelte ihre geplante Reise nach Buenos Aires, während der die Kinder in einer Pension in Südfrankreich und im Fall eines Kriegs in der Schweiz untergebracht werden sollten. Nun versuchten die Kleibers in der kleinen gemieteten Villa »Les Anémones« in Roquebrune-Cap-Martin, nicht weit von Monte Carlo, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Da Carlos noch zu schlecht Französisch sprach, um an einer staatlichen Schule dem Unterricht folgen zu können, erhielten die Kinder Privatunterricht. Veronika Kleiber erinnert sich: »Eine von uns heiß geliebte Mademoiselle André kam jeden Tag und arbeitete mit uns. Sie war eine ältere Frau, eher krank und blass.« Pläne Erich Kleibers, das Orchester in Monte Carlo zu übernehmen, kamen nicht zustande. Ende 1938 feierte ihn London bei seinem Debüt in Covent Garden mit Der fliegende Holländer und Der Rosenkavalier. Carlos, mit Mutter und Schwester anwesend, beeindruckte dieses Erlebnis tief.

Mit Kleibers Abreise nach Südamerika Ende Juni 1939 begann für die Familie eine knapp einjährige Trennung, eine Phase der Sehnsucht, des Heimwehs und der Unsicherheiten. Die Kinder warteten immer wieder gespannt auf das Signal, das Vater ihnen aus der Ferne heimlich bei Radioübertragungen sandte. Veronika erinnert sich: »Wir waren richtig scharf auf die Übertragungen aus Montevideo.« Bei dem abgesprochenen Signal handelte es sich um ein Motiv aus Beethovens achter Sinfonie, das später auf der Rückseite von Erich Kleibers Grabstein auf dem Züricher Hönggerberg eingraviert wurde. Er und seine Familie waren zudem ständig durch Briefe in Kontakt. Auch der kleine Carlos schrieb seinem Vater regelmäßig.

Vor seinem ersten Konzert in Montevideo am 18. Juli 1939 hoffte Erich Kleiber noch immer auf Ruths Besuch. Für die Kinder war gesorgt. Sie sollten im Fall des Kriegsbeginns in Genf unterkommen und dort zur Schule gehen. Besonderen Wert legte der Vater darauf, dass sie dort jeden Sonntag vor oder nach der Messe katholischen Religionsunterricht erhalten sollten, um Veronika auf die Firmung und Carlos auf die Erstkommunion vorzubereiten. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 machte jedoch sämtliche Reisepläne zunichte und lastete auf Kleiber. Carlos sollte noch im Alter immer wieder beklagen, dass er seinen Vater in seiner Jugend so wenig gesehen habe. So hatte ein alltägliches Familienleben, wie es in einer häufig erzählten Anekdote durchscheint, Seltenheitswert: Angeblich las Kleiber nie Kritiken seiner Aufführungen. Das behauptete er jedenfalls. An einem Vormittag klingelte das Telefon, der Junge hob ab und gab die Auskunft: »Papa kann nicht, er ist im Bad und liest seine Kritiken von gestern.« Carlos selbst soll die Geschichte schmunzelnd bestätigt haben.

Erich Kleiber dachte längst daran, Frau und Kinder nach Buenos Aires zu holen, aber die ab November noch nicht geklärten Engagements ließen ihn zögern. Im November 1939 erwog er auch, wenn er nichts Anständiges fände, mit seiner Familie in die USA zu gehen. Ruth und die Kinder blieben wegen der unsicheren Situation zunächst in Genf. Carlos besuchte kurz die französische Schule. Die drei saßen quasi auf gepackten Koffern, während der Vater die Passangelegenheiten der Kinder regelte. Konkret fasste Erich Kleiber nun eine Ausreise seiner Familie, nach der er sich sehr stark sehnte, noch im Jahr 1939 ins Auge. »Pie« ließ sich von der unsicheren Situation nicht beirren und machte sich mit neun Jahren ans Komponieren, wie Mutter Ruth ihrem Mann nach Lima schrieb. Am 1. Dezember antwortete dieser aus dem Bolivar-Hotel »Miraflores« in Lima: »Ich brenne darauf, eine Komposition meines Sohnes zu sehen (…).« Die anschließende Bemerkung »wie schade, dass er ›musikalisch‹ wird«, mag weniger die irrige und weitverbreitete Annahme unterstützen, dass Erich Kleiber dies ungnädig vernahm, sondern spricht eher für das gespannte Interesse des Vaters. Am 8. Dezember zeigte er erneut Ironie im Brief: »Dass Pie singt und komponiert, ist ja schon verdächtig, aber er wird doch nicht Musiker werden wollen?« Schmerzlich für Erich Kleiber war allerdings die Tatsache, dass er aufgrund seiner Konzertreisen Weihnachten 1939 nicht bei seiner Familie sein konnte.

Anfang 1940 hatte das ungewisse Warten endlich ein Ende. Als sich der Kriegseintritt Italiens abzeichnete, verließen Ruth und die Kinder die Schweiz mit dem Ziel Südamerika. Die Überfahrt verlief nicht ohne Komplikationen. In der brasilianischen Hafenstadt Santos konnte das Schiff, auf dem sie waren, nicht mehr weiterfahren, weil Brasilien damals mit den Deutschen sympathisierte. So mussten Ruth, Veronika und Carlos ihre Reise nach Buenos Aires mit dem Zug fortsetzen, ein ungleich strapaziöseres Unterfangen. Für die beiden Kinder jedoch war es eine abenteuerliche Einstimmung auf eine völlig neue und fremde Welt. Zum Eingewöhnen blieb allerdings keine Zeit. Buenos Aires, der Vorort Martínez, wo Carlos mit dem etwas älteren Sohn der benachbarten und befreundeten Familie Kade spielte, sowie die französische Schule bedeuteten nur eine kurze Zwischenstation. Veronika Kleiber berichtet: »Es gab dort für uns keine wirklich gute Schule, deshalb schickten uns unsere Eltern in Chile aufs Internat.«

Schon 1939 hatte sich der Vater über die richtige Schule für die Kinder den Kopf zerbrochen. Nur die besten Internate kamen für ihn in Frage. Mitte März harrte er dann stundenlang in der Immigrationsbehörde aus, um sich schließlich der Wohnungssuche zu widmen. Groß sollte das neue Domizil sein, mit reichlich Platz für die Kinder. Damals hatte Erich Kleiber von Chile aus bereits entschieden, dass wegen der Visa der Weg über Argentinien führen musste. Allerdings gab es in Santiago de Chile seiner Meinung nach die besseren und billigeren Schulen. Als Ruth mit den Kindern im Mai 1940 in Chile eintraf, hatte sich ihr Mann so gut eingelebt, »dass er erstaunliches Geschick beim Fangen und Erschlagen von Flöhen entwickelt hatte«, worüber sich seine Kinder sehr amüsierten. Carlos konnte damals beobachten, wie rasch seinem Vater die Wälder um Valparaíso vertraut wurden. Auch für die Vogelwelt der Gegend interessierte er sich sehr. Doch die Familienidylle war nur von kurzer Dauer.

Nach zwei bis drei Tagen wollte der Vater die Kinder dann umgehend in die Schule schicken. Die Konzertpläne entschieden schließlich für Chile. Carlos klagte später oft darüber, wie er unter der Trennung gelitten habe. Allerdings neigte er auch dazu, dies gleich wieder zu relativieren. Glücklich über das Leben im Internat war er als Junge jedenfalls nicht. Er ging auf die englischsprachige »Grange School« in Santiago de Chile und Schwester Veronika auf das Santiago College. »The Grange School« war 1928 ursprünglich als winzige Privatschule gegründet worden und beherbergte um 1940 in neuen Räumen rund dreihundert Schüler. In einem eigenen Haus mit der Familie zu leben, davon konnten Carlos und Veronika nur träumen. Veronika erinnerte sich später: »Unsere Eltern waren immer unterwegs. Familienleben gab es fast nie. Es war ein ständiges Hin und Her. Unsere Ferien verbrachten wir in Valparaíso bei Santiago, wo Vater dirigierte. Wir hatten dort eine Mietwohnung.« Die Ferien führten die Geschwister zusammen, einmal mit, einmal ohne den Vater. Ruth und die Kinder verbrachten glückliche Tage in den Bergen von Quinta Compton in Chile. Carlos genoss seine Streifzüge in der wunderbaren Landschaft.

Später trafen sich die Geschwister ab und zu in Alta Gracia in der argentinischen Provinz Córdoba, wo Erich Kleiber die Farm »La Fermata« mit rund vierzig Hektar Land gekauft hatte. Er war dort ein Nachbar des Komponisten Manuel de Falla, dessen Tod im November 1946 Erich Kleiber sehr erschütterte. Den großen Besitz Kleibers mit seinem ausgedehnten Naturwald verkauften die Kinder später.

Die Geschwister gingen mit Unterbrechungen mehrere Jahre in Chile zur Schule, Veronika vollendete dort ihre Highschool, Carlos musste noch weiterhin die Schulbank drücken. Es folgte für ihn – nach einem Aufenthalt in Kuba und einer kurzen Rückkehr nach Chile – ab 1947 die weitläufige, begrünte Riverdale Country School in New York, wo Erich Kleiber Konzerte mit dem NBC-Orchestra gab.

Erich Kleiber, der sich gelegentlich selbst in Briefen mit dem Monogramm »E.K.« auswies und dies wie auch andere markante Eigenheiten seines Schreibstils an seinen Sohn weitergab, förderte mit großem Interesse die künstlerischen Neigungen seiner Kinder. Carlos Kleiber erzählte jedoch Jahre später Leonard Bernstein kokett, er habe bis 1950 noch gar keine Noten lesen können. Bernstein war verblüfft, dass Carlos, den er so bewunderte, angeblich so spät mit der Musik angefangen hatte. Dieser erzählte ihm, er habe als eines seiner liebsten Spiele einem imaginären Orchester mit einem Wasserschlauch Einsätze gegeben, ohne davon eine Ahnung zu haben. Irgendwann habe er sich dann gesagt, dass es besser wäre, herauszufinden, welchen Instrumenten er da den Einsatz gegeben habe. In einem Brief an den Dresdner Orchesterdirektor Arthur Tröber erwähnte Carlos Kleiber 1969 ebenfalls seine angeblich mangelnden Notenkenntnisse. Allerdings stehen diesen Mitteilungen briefliche Äußerungen des Vaters aus den vierziger Jahren gegenüber, dass Carlos durchaus schon die Notenschrift beherrsche. Auch hatte der Vater seinem Sohn 1945 angeraten, Klavierunterricht zu nehmen, was dieser mit Begeisterung befolgte.

Im September 1946 verfolgte Carlos Kleiber im Teatro Colón während seiner Schulferien enthusiastisch die Aufführung von Wagners Die Meistersinger von Nürnberg unter der Leitung seines Vaters. Carlos reiste anschließend zu seiner Mutter nach »La Fermata« in Alta Gracia. Von dort fuhren sie auf dem Weg nach Kuba im Herbst 1946 zuvor noch einmal zu dritt nach Santiago de Chile, zum Unwillen des Vaters, der zumindest seinen Sohn gleich in Havanna erwartet hatte. Denn dort sollte die Familie die nächste Zeit verbringen. Voller Ungeduld wartete Erich Kleiber auf Nachrichten, auch von den musikalischen Fortschritten seines Sohnes, der nun Paukenunterricht bei einem bedeutenden Musiker erhielt, dem gebürtigen Chemnitzer Teodoro Fuchs. Die Pauke mochte für sich alleine kein bedeutendes Instrument sein, doch der Vater legte sie dem Sohn als ein sehr wichtiges Orchesterinstrument ans Herz.

Schließlich gab Erich Kleiber sein letztes Programm in Kuba ohne seine Familie, darunter Werke von Manuel de Falla und Telemanns Tafelmusik. Carlos sollte diese Partitur später als Grundlage für seine eigene Aufführung des Werks verwenden. Kurz darauf traf der Sohn mit der Mutter und Schwester in Havanna ein und hörte am 29. Dezember 1946 ein Konzert mit Alexander Borodins Sinfonie Nr. 2 h-Moll unter der Leitung seines Vaters. In Havanna wohnten die Kleibers in einer kleinen Villa in den Bergen mit wunderschöner Aussicht auf die Stadt.

Für Carlos war es eine Interimszeit mit vielen Reizen. Er fand hier nicht nur musikalische Vorbilder. In Kuba lernte er über seinen Vater auch den Schriftsteller Ernest Hemingway kennen, von dem er so beeindruckt war, dass er ihm bei seinen schriftstellerischen Versuchen nacheiferte. Zum Bekanntenkreis der Mutter gehörte damals auch Fidel Castro. Später beklagte sie rückblickend die politischen Verhältnisse auf der Insel vor der Machtübernahme der Kommunisten: »Sie können sich die Korruption auf der Insel, besonders in Havanna, nicht vorstellen. Alles ist teuer und nur für wenige reiche Leute.« Diese Erfahrungen ließen auch den jungen Carlos in seiner politischen Orientierung nicht unberührt. Jahre danach äußerte er einmal, dass er den häufigen Wechsel zwischen verschiedenen Kulturen in seiner Jugend zwar im jeweiligen Augenblick oft als spannend empfunden, sich aber auch sehr einsam gefühlt habe.

Die unstete Zeit in der Nähe seines Vaters in Kuba und danach auch in New York war für Carlos dennoch faszinierend. In Havanna pulsierte das kubanische Leben mit einem »naturgegebenen Sinn für Rhythmik, der die Musik viele Grade der Natur näher erscheinen ließ als in dem zurückhaltenden Europa«, wie es Russell in der Biografie über Erich Kleiber formulierte. Zum anderen besuchte Carlos immer wieder die Proben seines Vaters. Wie später auch Carlos, hatte Erich Kleiber die Fähigkeit, dem Orchester auch singend seinen Willen kund zu tun. Der spätere Solocellist der Berliner Philharmoniker, Eberhard Finke, erlebte ihn 1947 in Rio: »Es war fantastisch. Er sang uns mit seiner schönen Baritonstimme alles vor, um zu zeigen, wie er es phrasiert haben wollte.« Finke hatte zwiespältige Gefühle, als Erich Kleiber ihn offiziell dem Orchester vorstellte. »Mir schien, dass er Ressentiments gegen alles hatte, was aus Deutschland kam. Er sagte auf Spanisch im forschen Befehlston: ›Stehen Sie auf!‹ Aber dann lud er mich zum Essen ein. Als seine Frau, eine vollschlanke Dame, größer als er und sehr freundlich, vom Tisch aufstand, erhoben sich alle. Kleiber wirkte sehr vital und energiegeladen.«

Auch der »Antipode« seines Vaters, Wilhelm Furtwängler, ließ Carlos Kleiber nicht unberührt. Mit dessen Witwe Elisabeth stand er bis zuletzt in Kontakt: »Er sah meinen Mann in jungen Jahren dirigieren und bewunderte ihn zeitlebens sehr. Ich selbst hatte dank des Verständnisses meiner Mutter alle Opernaufführungen Kleibers in Berlin besucht.« Carlos bewunderte Furtwängler wirklich, lernte gestisch von ihm, wenngleich er dessen Stil nicht als den seinen erkannte. Auf vergleichbare Weise machten in New York erneut auch sein Vater und Toscanini tiefen Eindruck auf ihn – und nicht zuletzt dessen Otello. Carlos erinnerte sich später noch an einen Ausbruch des Maestros in einer Probe: Es herrschte Totenstille, dann hörte man Schritte. Schließlich schlich der Solooboist mit gebeugtem Haupt heraus.

Die bis dato nachhaltigsten musikalischen Erlebnisse wurden Carlos allerdings in den Sommerferien des Jahres 1947 beschert. Nach Die Meistersinger im Vorjahr dirigierte der Vater nun Der Ring des Nibelungen in Buenos Aires. Die Zeit mit dem Vater und das begierige Interesse an der Musik ließen wenig Raum für anderes. Am 12. und 14. August 1947 dirigierte Erich Kleiber die ersten beiden Vorstellungen der Walküre am Teatro Colón. Carlos litt jedoch an einer Grippe und war geschwächt. Deshalb konnte er die erste Aufführung nur im Radio verfolgen. Die dritte Aufführung der Walküre erlebte Carlos endlich im Theater, von der Loge aus. Tags darauf schliefen Vater und Sohn aus. Während Carlos das sonnige Wetter in Buenos Aires genoss, studierte der Vater die Götterdämmerung. Vater und Sohn verbrachten angenehme und offenbar für beide bereichernde Tage zusammen.

Der Bratschist Julian Krakenberger sollte einmal auf Carlos aufpassen, als dieser mit einer Gruppe von Ausflüglern spazieren gehen wollte: »Wir blieben zurück. Er vertiefte sich in ein Buch, das er lesen musste. Er war ein sehr zurückgezogener junger Mann. Man sah ihn fast nirgends, wenn er in Buenos Aires war. Er sprach wenig, war richtig scheu, aber sehr nett. Alles um ihn herum wurde in Schweigen gehüllt. Das hatte sicherlich mit Diskretion und der Ehrfurcht vor dem berühmten Vater zu tun.« Carlos Feller hielt den Jungen für schüchtern und dachte, dass er unter der Fuchtel des Vaters stand. Der Sänger bewunderte Erich Kleiber, auf dessen Betreiben er 1942 im Colón angestellt wurde. Feller beschreibt seinen Eindruck von Kleiber: »Er war ein wenig diktatorisch, sehr streng, offenbar auch als Vater. Carlos sagte mal, er habe ihm etwas vorgespielt und das hätte ihm nicht gefallen, beschäftigte sich vor 1947 aber noch nicht so intensiv mit Musik.«

In Buenos Aires hatte Carlos Kleiber auch seinen ersten öffentlichen musikalischen Auftritt, wie sich seine Schwester Veronika später erinnerte: »Er war ja immer scharf auf Percussion und schwang bei einer Siegfried-Aufführung den Hammer. Darauf war er sehr stolz.« Carlos’ Aufenthalt in Buenos Aires neigte sich jedoch bald dem Ende zu. Am 20. August folgten noch Rheingold, am 22. und 24. jeweils Siegfried. Sein Vater hatte ihn mit vielen interessanten Personen zusammengebracht. Am 25. August waren sie zu einem Essen eingeladen, an dem auch der Heldentenor Max Lorenz und die Sängerin der Fricka, die Mezzosopranistin Lydia Kindermann, teilnahmen. Erich Kleiber war stolz, seinen Sohn diesen Herrschaften vorzustellen. Tags darauf reiste Carlos ab. Vorher ging der Vater noch einmal mit ihm essen. Carlos zeigte wenig Appetit, besuchte noch mit gepackten Koffern eine Probe und ließ sich erst im letzten Moment zum Flughafen fahren.

Noch im gleichen und im folgenden Jahr hatte Carlos Kleiber wiederum Gelegenheit während seiner Zeit an der Riverdale Country School, seinen Vater in Konzerten mit Toscaninis NBC-Orchester in New York zu erleben, im Dezember 1947 wieder mit Alexander Borodins zweiter Sinfonie. Viel später sollte der Sohn auch aus diesem Partiturexemplar des Vaters dieses Werk einstudieren.

Buenos Aires 1948–1953: Licht am Horizont

Nachdem Carlos Kleiber 1948 in New York sein Abitur bestanden hatte, kehrte er nach Buenos Aires zurück. Mittlerweile war sein Entschluss gereift, Dirigent zu werden. Die Legende erzählt vom diesbezüglichen vehementen Unwillen seines diktatorischen Vaters. Die Frage ist nur, ob das stimmt. Erich Kleibers Biograf John Russell schreibt, der Vater sei davon ausgegangen, dass sich sein Sohn nicht über die Risiken und Unsicherheiten einer Musikerlaufbahn im Klaren war. Seine grundlegenden Bedenken formulierte Erich anschaulich: »Es ist besser, einen anderen Beruf zu ergreifen und die Musik wie einen Garten zu pflegen. Es ist fein, in dem Garten spazieren zu gehen und die Blumen zu riechen, aber … brrrrr! Die Nächte sind kalt!« Genau das sagte er auch seinem achtzehnjährigen Sohn. Der Musikschriftsteller und Journalist Karl Heinz Ruppel nimmt an, der Vater habe sich sogar noch gegen die Pläne seines Sohnes gewehrt, als dieser 1950 das Musikstudium bereits begonnen hatte. Laut Ruppel glaubte Erich Kleiber seinem Sohn »einen soliden Beruf sichern zu sollen; Wissenschaft und Technik schienen ihm in den allenthalben unter den Nachwirkungen des Krieges stehenden europäischen Ländern (…) bessere Aussichten zu bieten als Berufe im Bereich der Kunst.« Carlos habe »sich widerspruchslos, doch mit innerer Auflehnung der Autorität des Vaters gefügt, der den imperialen Willen, der ihn als Dirigent kennzeichnete, auch als Familienoberhaupt praktizierte.« Der Autor und Kritiker Karl Schumann, bekannt mit Carlos Kleiber seit 1953, ist der Ansicht, dass es alleine Mutter Ruth gewesen sei, die den Sohn darin unterstützte, das vom Vater befohlene Studium der Chemie aufzugeben und schließlich Musiker zu werden.

Gerüchte vom grausamen Vater machten immer wieder die Runde. So erzählte ein Fagottist, der im Orchester des Teatro Colón spielte, dass Erich Kleiber in einer Probe innegehalten habe, um vor Musikern und Publikum seinen Sohn bloßzustellen: »Das ist mein Sohn, er ist so musikalisch wie ein Kleiderständer. Aus ihm wird nie etwas.« Der Junge soll vor Entsetzen fahl geworden sein. Diese Begebenheit wurde über den Atlantik bis zu den Wiener Philharmonikern getragen. Bei einem Empfang in Buenos Aires soll Carlos von seinem Vater derart gedemütigt worden sein, dass ein anwesender Gast, der junge Sergiu Celibidache, diesen »am liebsten sofort zur Rede gestellt hätte.« Eine ähnliches Bild der Beziehung zwischen Vater und Sohn zeichnet auch der Regisseur Gottfried Reinhardt, der jüngste Sohn von Max Reinhardt, in seiner Autobiografie: Carlos sei von seinem Vater »gedemütigt und zurückgesetzt worden« und habe erst in einem Alter begonnen, »zu lernen, sich zu bilden und dem Vater Ebenbürtigkeit abzutrotzen«, in dem »andere Musiker längst Virtuosität zu erreichen pflegen«, lautet sein Urteil. Er war später in Stuttgart privat gut bekannt mit Carlos Kleiber und hörte aufmerksam die Geschichten, die dieser ihm erzählte. Leider zog Gottfried Reinhardt zuweilen die falschen Schlüsse daraus und verkannte den versteckten Witz dahinter. Der Oboist und Komponist Heinz Holliger erfuhr eine Begebenheit von Elisabeth Hartmann, der Witwe des Komponisten Karl Amadeus, die ebenfalls auf ein problematisches Verhältnis zwischen Vater und Sohn hindeutet: »Beide waren einmal bei uns zum Essen. Wenn Carlos nur den Mund aufmachte, sagte sein Vater sofort: ›Du hast nichts zu sagen. Schweig!‹« Bei all diesen Zeugnissen ist jedoch Vorsicht geboten. Weder weiß man etwas über die jeweilige Stimmung oder das momentane Verhältnis der beiden zueinander noch entsprachen die damaligen autoritären pädagogischen Prinzipien den heutigen. Dennoch ist es denkbar, dass Carlos sich Ausbrüche seines Vaters gefallen lassen musste – gerade in Zeiten, als der junge Mann eigene Wege gehen wollte. Generationskonflikte dürften sich auch bei Kleibers aufgetan haben. Dies relativiert auch die Aussage des Komponisten Mauricio Kagel, der damals am Teatro Colón als Korrepetitor tätig war und Carlos häufig bei Konzerten traf. Laut Kagel sei das Verhältnis zwischen Erich und Carlos Kleiber schlecht gewesen: »Carlos durfte in Buenos Aires nicht dirigieren, sondern musste korrepetieren.« Auch die Tatsache, dass die Kleiber-Kinder angeblich keine Note Musik spielen durften, wenn der Vater heimkam, besagt wenig. Dieser hatte gerne sein Ruhe, wenn er zu Hause war.

Viele Äußerungen über das Verhältnis zwischen Vater und Sohn Kleiber gehören ins Reich der Fabel. Zweifellos wurde Carlos sehr streng und zur äußersten Disziplin erzogen, aber dies eher in der Schule und offenbar ohne vom eigenen Vater traumatisiert zu sein. Er hegte immer Respekt und Liebe für seinen Vater. Wer Carlos Kleibers spitzfindige Selbstironie nicht verstand, konnte davon leicht in die Irre geführt werden. Mancher dichtete ihm etwas an oder trug verfremdete Anekdoten und Geschichten weiter. Carlos war kein Kind, das grausam behandelt wurde. Er selbst empfand seine Erziehung im Rückblick nicht als übermäßig streng. Sprach er über seine Kindheit und Jugend, schwang allerdings oft Enttäuschung mit darüber, dass ihn seine Eltern in Internate geschickt hatten. Beim Salzburger Freund Otto Staindl klagte er noch als reifer Mann immer wieder darüber. Aber auch Staindl wusste trotz der vielen Gespräche nicht immer genau, was Kleiber ernst meinte und wann er scherzte: »Seinen Vater liebte und verehrte er. Bis zum Schluss blieb er sein Vorbild. Er schickte mir mal den Rosenkavalier und schrieb dazu: ›Das werde ich nie hinbekommen. Die Stimmen und die Walzer, das ist unerreicht.‹ Der Vater war eine Überfigur, aber nur im Musikalischen. Er redete von ihm immer in höchsten Tönen. Er kannte jeden Takt von ihm, sprach gut nur von ihm und Karajan. Furtwängler war schon irgendwie historisch.« 1997 erzählte Kleiber dem Konzertmeister Primoz Novsak vom Züricher Tonhallenorchester in Ljubljana, »dass sein Vater sehr streng gewesen sei und verlangte, dass er intensiv Klavier übte, was er nicht wollte. Das führte oft zu Missstimmungen. Aber dann meinte Carlos: ›Der Vater hat ja schon recht gehabt.‹« Martin Engstroem, der 1999 als Produ