Change mich am Arsch - Axel Koch - E-Book

Change mich am Arsch E-Book

Axel Koch

0,0
14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Firmen erwarten heutzutage von ihren Mitarbeitern, dass sie Flexibilität zeigen, sich anpassen, weiterbilden, um 180 Grad drehen können und auch ihre Werte und Fähigkeiten wechseln, als wären diese eine Jacke. Die Devise in der Personalentwicklung lautet: Wer nicht passend ist, wird passend gemacht. Menschen sollen zu dem werden, was sie nicht sind. Das kann nicht funktionieren. Axel Koch deckt auf, warum wir mit dem Change-Wahnsinn einem kollektivem Irrtum aufsitzen und wie eine Balance zwischen Stabilität und Veränderung aussehen kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

In unseren Unternehmen herrscht der Ausnahmezustand – nur dass er längst nicht mehr die Ausnahme ist. Ein Change jagt den anderen, und kein Unternehmen bleibt auf Dauer von diesem Wahnsinn verschont. Ausbaden müssen es die Mitarbeiter: Sie sollen sich permanent anpassen, weiterbilden und ihre Werte wechseln wie ein Chamäleon seine Farben. Die Devise der Personalentwicklung lautet: Wer nicht passend ist, wird passend gemacht. Das kann auf Dauer nicht funktionieren. Denn eines lassen die Wandel-Gurus viel zu oft außer Acht: Das menschliche Gehirn mag keine permanente Veränderung. Eine unüberschaubare Zahl von Mitarbeitern leidet schweigend vor sich hin. Aufwand und Nutzen vieler Change-Prozesse stehen in keinem Verhältnis. Die unrealistischen Erwartungen der Führenden richten vielmehr einen enormen wirtschaftlichen Schaden an. In Veränderungsprozesse fließen jedes Jahr Unsummen – für Maßnahmen, die nicht wirken können, weil sie den Menschen außer Acht lassen. In diesem Buch gibt der Psychologe und Bestseller-Autor Axel Koch den Opfern des Change-Wahns erstmals eine Stimme. Schonungslos und kenntnisreich deckt er die menschlichen Schicksale und die psychologischen Mechanismen hinter den Change-Prozessen auf. An Führung und Investoren richtet er ein flammendes Plädoyer: für ein realistisches Verständnis von Change und eine gesunde Balance zwischen Stabilität und Veränderung.

Der Autor

Axel Koch, ist Professor für Training und Coaching an der Hochschule für angewandtes Management in Ismaning. Er ist promovierter Diplom-Psychologe und arbeitet selbst seit über 20 Jahren als Trainer und Personalentwickler. In dieser Funktion hat er tiefe Einblicke in zahlreiche Unternehmen und die gängige Praxis von Change-Prozessen gewonnen. Seinen ersten Bestseller Die Weiterbildungslüge veröffentlichte er 2008 unter Pseudonym.

Axel Koch

Change mich am Arsch

Wie Unternehmen ihre Mitarbeiter und sich selbst kaputtverändern

Econ

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweise zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-17274

© 2018 © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Lektorat: Gerd König, Berlin Covergestaltung: FHCM GRAPHICS, Berlin

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Einleitung

1. Rechtsrum, linksrum: Das Leiden am Veränderungstempo

2. Schneller als der eigene Schatten: Die Treiber der Veränderung

3. Die Folgen des Veränderungskarussells: Flexibel sei der Mensch, biegsam und gut

4. Das Baumarkt-Prinzip: Wer nicht passt, wird passend gemacht

5. Das mörderische Spiel mit dem Leben: Der Veränderungs-Kollaps

6. Über den Wolken: Change von oben

7. Im Einklang mit dem Ich: Die Veränderungs-Balance

Nachwort von Prof. Dr. Myriam N. Bechtoldt

Einleitung

Es ist, als ob eine Raupe langsam zwischen zwei Buchdeckeln zerdrückt wird. Kleine Kinder haben ja leider manchmal solche Einfälle. In einer Ecke des Gartens hockend wird der kleine Max von der Experimentierfreude gepackt: Wollen wir doch mal sehen, wie der kleine grüne Organismus auf den zunehmenden Druck reagiert! Ist ja irre, wie sich der zähe kleine Leib dehnen lässt. Wie Kaugummi. Oder Knete. Und dann diese lustigen zappelnden Stummelbeinchen, die immer mehr Mühe haben, sich zu bewegen. Was wird wohl passieren, wenn ich den Druck weiter erhöhe? Nur noch ein kleines bisschen mehr …

»Max, lass sofort das arme Tier frei!« Das gequälte Geschöpf hat Glück: Die Mutter verhindert die bevorstehende Schandtat gerade noch rechtzeitig.

Sie finden das eklig? Tierquälerei? Ab zum Psychologen mit dem kleinen Sadisten?

In den Unternehmen geschieht tagtäglich genau das. Nur dass es dabei nicht um Raupen geht, sondern um Menschen wie Sie und mich. Der Druck wird nicht durch zwei Buchdeckel erzeugt, die jemand zusammendrückt, sondern durch immer mehr Change-Prozesse.

Und die Führungskräfte, die diese Prozesse anstoßen und gnadenlos vorantreiben, pfeift leider niemand zurück.

Vermutlich sind Sie mittendrin. Sie spüren den ständigen Anpassungsdruck jeden Tag. Keine Zeit zum Durchatmen. Eine Veränderung jagt die andere. Wie oft haben Sie schon gedacht: Was soll der ganze Scheiß! Ich habe keine Lust mehr! Vielleicht kennen Sie auch das Gefühl, in einer Change-Endlosschleife zu stecken: Gerade wussten Sie noch, wo es langgeht, schon kommt wieder etwas Neues um die Ecke. Und Sie fragen sich: Wie komme ich da noch mit? Wie lange halte ich das alles eigentlich aus?

Das sind berechtigte Fragen. Das zunehmende Change-Tempo ist gefährlich, weil es Menschen nicht guttut. Nicht einmal denen, die grundsätzlich flexibel und veränderungsbereit sind.

In diesem Buch werden Sie Menschen kennenlernen, die mir ihre Geschichte erzählt haben. Sie haben mir berichtet, was sie bei Change-Prozessen erlebt und erlitten haben. Um ihre Identität zu schützen, treten sie nicht unter ihrem Klarnamen auf. Ihre Erfahrungen dagegen spiegeln die auf vielfältige Weise erschreckende, bedrückende und manchmal einfach nur verrückte Change-Realität in den Firmen wider, über die bisher nicht öffentlich gesprochen wird.

Dieses Buch möchte all den Change-Opfern erstmals eine Stimme geben. Wie viele dieser Schicksale gibt es? Tausende? Zehntausende? Millionen gar? Es ist schwer zu sagen, denn diese Statistik will niemand erstellen. Es gibt keine genauen Zahlen, wie viele Menschen faktisch Schaden am Change nehmen. Sie lesen höchstens mal etwas darüber, wie mal wieder im Rahmen von Umstrukturierungen Arbeitsplätze abgebaut werden. Doch was ist mit all den anderen? Wie ergeht es der weitaus größeren Zahl von Menschen, die in den Firmen bleiben? Wie erleben sie den vielbeschworenen permanenten Wandel?

Ich möchte sichtbar machen, was diesen Mitarbeitern so alles widerfährt. Die Recherchen für dieses Buch lassen eine ungeheure Dunkelziffer von Change-Opfern vermuten, die größtenteils unentdeckt vor sich hin leiden. Ich finde diesen Zustand nicht länger haltbar. Für mich ist die Situation vergleichbar mit der Dunkelziffer von häuslicher Gewalt: Jeder weiß, es sieht schlimm aus. Jeder ahnt, dass die Dimensionen weitaus größer sind, als die offiziellen Meldungen es andeuten. Doch es wird der Mantel des Schweigens darübergehüllt.

Besonders bedauerlich finde ich, dass viele Change-Opfer im Stillen leiden. Ihnen fehlt das Ventil. Oft glauben sie, es ginge nur ihnen allein so, und alle anderen kämen zurecht. Sie schweigen und beißen die Zähne zusammen, weil sie glauben funktionieren zu müssen. Denn da ist diese Angst, dass ihre Chefs oder Kollegen sie als »Querulant«, »Jammerlappen« oder auch »Change-Bremse« abstempeln. Schlimmer noch: Der Chef könnte auf die Idee kommen, sich von ihnen zu trennen, weil sie nicht flexibel genug und belastbar sind.

Dieses Buch ist ein Appell, genau hinzuschauen, was in unseren Unternehmen vor sich geht, und nicht mehr die Augen vor der Realität zu verschließen. Ich möchte dazu beitragen und auch Sie ermutigen, dieses Thema in die öffentliche Diskussion zu tragen. Helfen Sie mit, die Mechanismen zu enttarnen, die Sie kaputtverändern. Denn die Auswirkungen dessen, was gerade täglich von Aachen bis Zwiesel geschieht, sind weder für Sie persönlich noch für unsere Wirtschaft und Gesellschaft folgenlos.

Doch ich habe auch eine gute Nachricht für Sie: Sie sind dem Change-Horror nicht hilflos ausgeliefert. Sie können etwas tun. Dazu finden Sie in diesem Buch Rat. Sie lernen die psychologischen Mechanismen kennen, die Sie in eine krankmachende Veränderungsfalle tappen lassen. Wie Sie erfahren werden, spielen dabei häufig ausgerechnet hochgelobte Tugenden und Wertsysteme in unserem Arbeitsleben eine tragische Rolle, an die wir bisher alle glaubten.

Im Mittelpunkt des Buches stehen zwei Fragen: Wie viel Veränderung können Sie als Mensch überhaupt aushalten? Und was passiert, wenn die Grenze überschritten ist?

Machen wir uns nichts vor: Eigentlich ist der Mensch ein Gewohnheitstier. Unserem Gehirn haben wir eine eingebaute Change-Aversion zu verdanken. Es liebt die Routine und die Wiederholung, weil das viel kraftsparender ist, als ständig neue neuronale Verbindungen aufzubauen.

Wenn wir ständig mit Veränderungen konfrontiert sind, ist das für unser Gehirn so, als wenn Sie mit Ihrem Auto mit Vollgas auf einer Buckelpiste fahren und dabei mal nach rechts und mal nach links geschaukelt werden. Gerade, wenn Sie denken, dass es nun wieder ruhiger läuft, haut die nächste Bodenwelle Sie so richtig aus dem Sitz. Jedes Mal müssen Sie gegensteuern, um noch auf der Fahrbahn zu bleiben. Wie schön wäre es dagegen, auf einer glatten Straße einfach nur dahinzufahren!

Doch diese glatten Straßen sind in der Arbeitswelt ein Wunschtraum. Die Change-Buckelpiste ist die Realität, der wir täglich ausgesetzt sind. Und sie wirft sehr viele Menschen voll aus der Bahn.

1

Rechtsrum, linksrum: Das Leiden am Veränderungstempo

Ich habe alles für diese Firma gegeben, und jetzt nimmt sie mir alles.

Brigitte atmet durch, um die Fasson zu wahren. Sie will sich keine Blöße geben. Mit den Zähnen beißt sie sich auf die Lippen und malträtiert sie, bis es wehtut.

Mit ihrem Chef sitzt sie gerade in einem dieser typischen kleinen Sitzungszimmer. Gefängniszelle wäre die richtige Bezeichnung für dieses Kabuff, das ihr die Luft zum Atmen nimmt. Weiße Wände, weißer Tisch, weiße grelle Neonleuchten an der Decke, weißes Flipchart. Weiße Lamellen, die wie Gitterstäbe anmuten, vor dem einzigen, winzigen, weiß gerahmten Fenster.

Und Brigitte: grau. Nicht auf dem Kopf – noch nicht –, sondern im Gemüt. So grau wie der Teppich unter ihren Füßen, der möglicherweise auch mal weiß war. Nachdem ihr Chef die Katze aus dem Sack gelassen hat, wo künftig ihr Platz im Organigramm sein wird und was ihre Aufgaben sein werden, fühlt auch sie sich irgendwie schmutzig. Ein Change-Prozess kann wie ein Fahrradunfall sein: Kurz nicht aufgepasst, und schon ist man unter die Räder geraten. Brigitte hätte nie gedacht, dass ihr das passieren würde.

Ihre Gedanken kreisen in Endlosschleifen: Warum steckt man mich jetzt in so eine Tätigkeit? Warum darf ich nicht mehr das machen, was eigentlich mein Steckenpferd ist? Anscheinend habe ich meinen Job jahrelang falsch gemacht, sonst würde das ja wohl nicht passieren.

Die Verbitterung sitzt tief. In Gedanken geht sie die letzten 15 Jahre durch, seit sie für das Lebensmittelunternehmen arbeitet. Ich habe mir nie etwas zu Schulden kommen lassen. Ich war immer verlässlich. Immer engagiert. Viel Lob für meine Arbeit. Und jetzt dieser Bruch. Brigitte ist völlig perplex. Sie fühlt sich degradiert. Nicht die geringste Wertschätzung ist zu spüren für all das, was sie geleistet hat. Mistkerl.

Die Stimme des Mistkerls holt sie zurück in den Raum: »Lassen Sie uns darüber sprechen, wie es für Sie weitergeht.« Er klingt so nüchtern, als ginge es um die Ausarbeitung einer Excel-Tabelle und nicht um ihr Leben. Begreift er das überhaupt? Ihr Leben!

»Was heißt ›weitergeht‹?«, fragt sie mit ausdrucksloser Tonlage. »Die neue Tätigkeit ist ein totaler Rückschritt. Das ist so, als ob Sie ab morgen als Putzfrau arbeiten.«

Ihr Chef zeigt keine Regung. Warum eigentlich nicht? Der Mann ist wie eine Mumie. Er hätte sich doch bestimmt mehr für sie einsetzen können. Ja klar, Brigitte, als ob!, weist sie sich selbst zurecht. Fast mitleidig mustert sie diesen farblosen Brillenträger vor ihr am Tisch in seinem grauen Sakko. Wenn er sich damit auf diesen Teppich legt, wird er unsichtbar.

Brigitte weiß genau: Die neue Arbeit wird sie keinesfalls ausfüllen. Nur noch einfache Tätigkeiten. Kein Blick mehr über den eigenen Tellerrand. Wieso wollen die mein Know-how nicht nutzen? Wieso nur? Die Frage hämmert in ihrem Kopf wie ein Löffel auf einem weichgekochten Frühstücksei. Zurzeit ist sie noch für den Support von Anwendern zuständig, die Unterstützung bei der Nutzung einer speziellen ERP-Software brauchen, mit der im Unternehmen die Geschäftsprozesse gesteuert werden. Eine inhaltlich, menschlich anspruchsvolle und sehr dankbare Arbeit, die sie gern macht. Gemacht hat, korrigiert sie sich. Jetzt nicht mehr. Warum nochmal?

»Die Dinge sind, wie sie sind«, versucht ihr Chef die Diskussion zu beenden. »Ich habe ja gerade schon deutlich gesagt, dass wir über das ›Warum‹ nicht sprechen müssen. Die Entscheidung steht. Lassen Sie uns nach vorn schauen.«

Für dich vielleicht, du gefühlloser Sandsack! Brigitte fühlt sich hilflos. Doch sie wird hier weder ausflippen noch rumheulen. So ist sie nicht. Diese beschissene Neustrukturierung. Logisch nachvollziehbar ist es ja, dass nach einer Fusion alles neu geordnet werden muss. Sie erinnert sich an die Betriebsversammlung vor einem Jahr, bei der die Firmenleitung die grobe Richtung für diesen Prozess angedeutet hatte.

Danach war lange nichts passiert. Dann machten die Organigramme die Runde und brachten Aufschluss, wie die neue Struktur genau aussehen würde. Jeder Mitarbeiter konnte sich das anschauen, doch keiner wusste, was das für ihn persönlich bedeuten würde. Dafür waren die Personalgespräche da, die kürzlich begonnen hatten.

Einige von Brigittes Kollegen hatten das Ganze schon hinter sich. Manche kamen erleichtert heraus, die anderen mit so langen Gesichtern, dass sie beim Gehen hätten drauftreten können. Diese Mitarbeiter hatte der Change mit voller Wucht getroffen. Sei es, weil sich ihre Tätigkeiten und Aufgaben stark wandelten, oder weil ihnen eine Versetzung an einen anderen Standort bevorstand. Mit denen, die ihr näherstanden, hatte sie sich ausgetauscht, um sich ein Bild von der Lage zu machen, bevor sie selbst zum Gespräch gebeten wurde.

Bis eben war sie überzeugt gewesen, dass es für sie gut ausgehen würde. Sie hatte sich mit ihrer bisherigen Stellenbeschreibung gut in dem neuen Organigramm wiedergefunden. Wie konnte ich nur so blauäugig sein?, hadert sie nun mit sich selbst. Wie konnte ich das nicht kommen sehen?

Sie schiebt die Gedanken weg und versucht sich auf das Gespräch zu fokussieren: »Ja, ich habe da noch diverse Fragen«, entgegnet sie ihrem Chef so frostig, dass selbst die legendäre Schneekönigin aus dem Märchen vor Kälte gezittert hätte. »Ich kann mir gar nicht genau vorstellen, wie das alles funktionieren soll. Wie stellen Sie sich das vor? Wann geht es los? Wie soll die Übergabe ablaufen?«

Ihr Chef wirkt froh, dass sie ihm hier keine Szene macht, und ignoriert die klirrende Beziehungskälte. Dienstbeflissen erläutert er den groben Ablauf und räumt ein: »Sie haben recht, manche Details haben wir im Vorfeld bei den ganzen Planungen gar nicht auf dem Schirm gehabt. Ich spreche mit meinen Kollegen aus dem Führungskreis noch einmal darüber.« Doch was nützt es Brigitte, wenn die Übergabe noch ein bisschen reibungsloser verläuft? Sie muss ihren Posten räumen und einen beziehen, den sie nicht haben will. Ihre Einwände gegen die Versetzung verhallen wirkungslos im Weiß dieser Folterkammer von einem Besprechungsraum. Die Entscheidung steht. Und Brigitte wankt.

Nach einer Stunde ist das Gespräch vorbei. Ihr Tag ist gelaufen. Auf die Arbeit kann sie sich nicht mehr richtig konzentrieren. Sie spricht noch mit ein paar Kollegen und erntet Trost. Mehr geht nicht. Mehr als ein paar warme Worte hat niemand für sie. Woher auch? Viele von ihnen kämpfen genauso mit sich und der Situation.

Dann geht es endlich nach Hause. Eine Stunde Autofahrt. Ach ja, die Fahrerei: auch so eine Kerbe in ihrem Lebensbaum. Früher musste sie zur Arbeit nur ums Eck. Bis vor ein paar Jahren schon einmal ein Change-Prozess zugeschlagen hatte. In der Region gab es damals noch mehrere Firmenstandorte. Ihren hatten sie geschlossen. Seitdem hat sie diesen langen Arbeitsweg. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Doch sie hat sich daran gewöhnt. Die Autofahrt hat auch Vorteile. Sie gibt ihr genügend Zeit, die Ereignisse eines Tages Revue passieren zu lassen. So auch heute.

Was soll ich nur tun? Ihr Blick fixiert angestrengt die Fahrbahn. Links und rechts huschen im Halbdunkel Bäume am Fahrbahnrand vorbei. Unheimlich, diese dunklen Äste. Wie gierige Kraken, die sie packen und in den Abgrund ziehen wollen. Unwillkürlich schaudert sie.

Soll ich kündigen? Aber wo bewerbe ich mich dann? Sie wohnt im ländlichen Bereich. Hier gibt es nur wenige Betriebe, die überhaupt in Frage kommen. Vielleicht sollte ich umschulen, um mehr Chancen zu haben? Oder umziehen? Will ich überhaupt in eine andere Stadt ziehen? Was ist mit meiner Familie?

Ihr Sicherheitsbedürfnis meldet sich zu Wort: Aber was, wenn das alles nicht klappt! Oh Gott, wie soll ich meine Rechnungen bezahlen? In der Firma kenne ich mich wenigstens aus. Also doch lieber den Wechsel aushalten? Genau. Stell dich nicht so an, Brigitte, sagt sie sich. Du musst offen sein für Neues! Dann tust du eben, was von dir verlangt wird. Fängst du eben wieder bei null an und kämpfst noch einmal von Neuem um die Anerkennung von Vorgesetzten und Kollegen.

Aber dieser Job lastet dich doch nicht aus, Herrgott, das weißt du genau!, schimpft die andere Stimme in ihr. So fahren sie zu dritt durch die Landschaft: Brigitte, das Engelchen und das Teufelchen auf ihren Schultern. Nur wer hier wer ist, ist noch nicht so klar.

Brigitte starrt durch die Frontscheibe in die Finsternis, die sich mittlerweile über die Landschaft gelegt hat. Sie hört den Motor brummen. Selbst dieses vertraute Geräusch kann sie heute nicht beruhigen. Sie fühlt sich macht- und hilflos. Wie soll es bloß weitergehen?

Plötzlich spürt sie, wie der Ärger in ihr hochkommt. Von einer Sekunde auf die nächste bricht er aus ihr heraus wie eine Glutfontäne aus Lava und Gas aus einem Vulkan. Sie lässt die Fensterscheibe runter und hält ihr Gesicht in den Fahrtwind. »Warum tut ihr mir das an?«, schreit sie in die Nacht. »Changt mich doch am Arsch!«

Vielleicht quälen Sie auch gerade solche Erfahrungen wie Brigitte. In einer solchen Situation die richtige Entscheidung zu treffen, ist wirklich nicht leicht. Es geht um viel, und gefühlt um alles.

Brigitte hat sich schließlich entschlossen, erst einmal im Unternehmen zu bleiben und die Versetzung mitzumachen. Vielleicht wird es ja nicht so schlimm wie befürchtet. Vielleicht gewöhnt sie sich irgendwann an die neue Stelle.

Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass es bald den nächsten Change in ihrem Unternehmen geben wird. Auch der aktuelle Veränderungsprozess ist schließlich nicht der erste. Sie kennt die Dynamik in ihrer Firma. Bisher hat es sie nur noch nie so hart erwischt wie dieses Mal. Ihre Hoffnung ist, dass früher oder später ein anderes Türchen für sie im Unternehmen aufgeht. Und die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt.

Brigittes Beispiel spiegelt sehr gut wider, was in den meisten Unternehmen früher oder später abläuft: Es gibt immer mehr Veränderung in immer kürzerer Zeit. In dem Punkt sind sich die Betroffenen und auch die Personalverantwortlichen einig, die ich für dieses Buch interviewt habe. Irgendwo im Unternehmen rumort es eigentlich immer – mal mehr, mal weniger intensiv. Ob in einzelnen Abteilungen oder gleich in der ganzen Firma: Irgendein Change ist immer.

Verschiedene Studien, auf die ich in diesem Kapitel noch zu sprechen komme, zeigen zudem, dass sich der Wandel inzwischen tatsächlich schon selbst wandelt. So mächtig ist das Eigenleben, das der Change-Wahn inzwischen entwickelt hat.

Wie steht es in Ihrem Unternehmen? Ich will nicht hoffen, dass Sie einen solchen Veränderungsmarathon durchmachen, wie Margit ihn erlebt.

Abzählreim statt Einbeziehung: Ene, mene, muh – und wo sitzt du?

»Oh nein«, entfährt es Margit leise, als sie die Tür zu ihrem Großraumbüro öffnet. Ihr Blick verharrt auf ihrem Arbeitsplatz. Schon auf dem Weg zur Arbeit hatte sie heute dieses ungute Gefühl. Immer wieder ploppte der Gedanke auf: Hoffentlich erwischt es mich heute nicht schon wieder.

Seit gut einem Jahr arbeitet sie für den technischen Dienstleister. Großraumbüro. Arbeitsinseln. Bildschirmarbeitsplatz mit Headset. Sie ist Mitarbeiterin des Service-Centers und nimmt Schadensmeldungen per Telefon an. Die Frage ist nur, an welchem Platz sie dabei sitzt.

Und tatsächlich: Auf ihrem Drehstuhl – da, wo sie gestern noch gearbeitet hat – sitzt ein anderer Kollege und ist bereits mitten in einem Telefonat.

Unterbrechen wäre jetzt eine Todsünde. Fragend zieht sie die Schultern hoch und schaut hilfesuchend in die Runde. Marion aus der benachbarten Tischgruppe macht winkende Bewegungen, als würde sie einen Jumbojet einweisen. »O.k., verstehe«, flüstert Margit nickend. Sie kennt das ja schon. Ihr Arbeitsplatz ist jetzt anscheinend zwei Räume weiter den Flur runter. Wo sind denn jetzt meine Privatsachen? Suchend blickt sie sich um. Ah, da hinten. Bereits gestapelt. Das Foto von Mann und Kind, die Vase, die Unterlagen, die Tafel Schokolade; was man eben so an seinem Arbeitsplatz hat, um ein kleines bisschen Privatsphäre zu schaffen. Durch wessen Finger ihre persönlichen Dinge wohl dieses Mal wieder gegangen sind?

Zügig setzt sie sich in Bewegung und erreicht die neue Arbeitsinsel. Ganz neue Gesichter. Mal wieder. Um sich erst mal vorzustellen und die Atmosphäre zu testen, bleibt ihr keine Zeit. Schnell im System einloggen. Wer fragt, riskiert Ärger.

Margits Erfahrungen sind für viele Unternehmen typisch: Wenn die Situation es erfordert, wird einfach schnell mal umstrukturiert: Platzwechsel. Aufgabenwechsel. Teamwechsel. Angekündigt wird so etwas oft schon gar nicht mehr. Bei den Mitarbeitern hinterlässt das natürlich den Eindruck, als würde ihr Chef sie als Schachfiguren betrachten, die es strategisch ins Feld zu führen gilt. Von einem Zug auf den nächsten kann die Strategie gewechselt werden. Nach dem Motto: Wenn ich auf der linken Hälfte des Spielfeldrands einen Läufer brauche, dann stelle ich ihn eben da hin. Und wenn ich ihn opfern muss, dann opfere ich ihn eben.

Erläuterungen, Einbindung, Mitspracherecht – Fehlanzeige. All das kommt bei fast allen kleineren, aber auch bei größeren Veränderungsprozessen typischerweise zu kurz, wie verschiedene Change-Management-Studien zeigen.1,2 Der Laden muss laufen. Keine Zeit für lange Erklärungen oder Einweisungen. Wozu auch? Der Mitarbeiter merkt doch, was los ist. Ist doch selbsterklärend, wenn plötzlich ein anderer auf dem Stuhl in deiner Abteilung sitzt, den du gestern noch belegt hast.

In der Tat wundern viele sich schon längst nicht mehr. Das heißt allerdings nicht, dass es den Mitarbeitern nicht gewaltig stinken und auf die Motivation drücken würde.

Das ist die Welt, in der Margit und ihre Kollegen leben. Fast täglich grüßt das Veränderungskarussell. Der Change ist immer und überall. Margit erzählt mir: »Du sitzt da und arbeitest. Und dann hörst du aus dem Nebenraum so ganz typische Geräusche, wenn Telefon- und Netzwerkkabel abgeklickt werden. Dann ein Hin- und Hergeschiebe. Und dann weißt du schon, dass da wieder ein Arbeitsplatz zusammengeräumt wird. Innerhalb von acht Wochen sind manche bereits dreimal umgezogen, in einen anderen Raum, eine andere Etage, eine andere Abteilung.«

Für die Mitarbeiter ist das alles unvorhersehbar und kommt aus heiterem Himmel. Margit beschreibt das so: »Plötzlich kommt der Teamleiter rein und sagt: Du. Und du. Und du.« Einer ihrer Kollegen hat es einmal an einen Mastgeflügel-Betrieb erinnert: Die Hühnchen sitzen nichtsahnend in ihrem Gehege. Und dann kommt der Landwirt und greift sich einfach ein paar heraus. »Wir haben noch Glück«, hat der Kollege mal gewitzelt. »Denn wenn wir Hühnchen wären, hätte in diesem Moment unser letztes Stündlein geschlagen.«

Den Hals abgeschnitten bekommen die Mitarbeiter in diesen Gesprächen zwar nicht, aber die Botschaft ist auch keine erfreuliche: »Ihr zieht im versetzten Abstand von einer halben Stunde um. Ach übrigens, ihr habt jetzt auch andere Aufgaben. Ihr macht jetzt das und das andere nicht mehr.« Und schon bekommen sie einen neuen Platz zugewiesen, im Zweifel in einem anderen Team, einer anderen Abteilung und mit einer anderen Tätigkeitsbeschreibung.

Die Mitarbeiter in Margits Firma reagieren ganz unterschiedlich darauf. Dem einen oder anderen schwillt der Kamm: »Aber ich kenn mich doch jetzt gerade mit den Bearbeitungsmasken aus. Ich weiß jetzt gerade gut Bescheid. Und jetzt schon wieder umlernen?« Andere ergeben sich kleinlaut ihrem Schicksal: »Ach Gott, das jetzt auch noch … Na ja, es hilft ja nichts.«

Margit berichtet, wie sich bei solchen Aktionen die Gedanken in den Köpfen der Kollegen (und hinter vorgehaltener Hand in der Teeküche) überschlagen. »Warum werde ich plötzlich degradiert? Ist es vielleicht, weil mein Arbeitsvertrag ausläuft?« Daran wird das Problem schon erkennbar: Die Hintergründe dieser Scharaden kennt eigentlich niemand so richtig. »Der Arbeitgeber macht das vermutlich in der Hoffnung, dass die Arbeitsabläufe danach strukturierter sind und durch den Effizienzgewinn Geld gespart wird.« Offizielle Aussagen dazu gibt es aber nicht. Alles reine Vermutungen, genährt aus Gesprächsfetzen, die die Mitarbeiter irgendwo aufschnappen. Mal auf dem Flur, mal aus Telefonaten ihres Teamleiters, die sie zufällig mithören. Aber eigentlich weiß niemand irgendetwas genau.

Die Ahnung der Mitarbeiter stimmt natürlich: In der Regel geht es bei solchen Prozessen darum, Geld zu sparen. Kostensenkung, Effizienzsteigerung, Prozessoptimierung: Das sind zentrale Gründe, wieso es immer wieder Veränderung in den Unternehmen gibt. Aber auch Wachstumsinitiativen, technologische Innovationen oder veränderte Unternehmensstrategien sind Treiber des Wandels, wie aus einer Studie der Unternehmensberatung Capgemini aus dem Jahr 2015 hervorgeht.3

Ein Veränderungstempo, wie es Margit und ihre Kollegen erleben, bedeutet eine ständige Anpassungsleistung. Jeder fliegende Wechsel kostet zusätzliche Arbeit und Energie. Für viele ist das Stress pur. Denn immer stehen drohend die Fragen im Raum: Werde ich die neuen Aufgaben bewältigen? Wie funktioniert es mit den neuen Kollegen oder dem Chef? Was ist, wenn ich es nicht schaffe und den Erwartungen nicht gerecht werde? Wie lange wird die Situation so bleiben? Was kommt als Nächstes?

Das Beispiel von Margit macht eine Besonderheit deutlich, unter der alle Mitarbeiter leiden, die Veränderungsprozesse in ihren Unternehmen erleben. Keiner von ihnen hat sich selbst dazu entschieden. Change passiert, weil die Firmenleitung oder andere Manager im Unternehmen dafür eine Notwendigkeit sehen. Der Change steht eines Tages vor Ihrer Tür wie ein Postpaket. Nur, dass Sie es nicht bestellt haben.

Und damit erleben Sie einen Kontrollverlust. Das ist psychologisch gesehen problematisch, weil Menschen normalerweise nach Beeinflussbarkeit und Kontrolle streben. Richtig schwierig wird so eine Situation aber erst dann, wenn eine Bedrohung hinzukommt. Ein extremes, aber typisches Beispiel für diese Konstellation ist Folter. Wenn Sie beispielsweise gefesselt sind und irgendwer auf Ihrem Körper brennende Zigaretten ausdrückt, haben Sie keinen Einfluss auf die Situation und empfinden die Bedrohung deshalb als mindestens genauso existentiell wie die Schmerzen an sich. Noch eine Stufe härter ist es, wenn Sie obendrein nicht vorhersehen können, wann Ihr Peiniger auf Sie losgeht.

Die Bedrohung durch Change ist natürlich nicht so direkt wie ein solches Szenario. Doch die Unberechenbarkeit des Wandels in vielen Unternehmen ist so ähnlich, als wenn Sie in einem Erdbebengebiet leben. Sie wissen, irgendwann kann etwas passieren. Nur nicht, wann und wie stark. Für das Gefühl der Bedrohung macht es natürlich einen gravierenden Unterschied, ob Sie alle paar Wochen ein Erdbeben erleben – sprich ein hohes Veränderungstempo haben – oder etwa nur alle fünf oder zehn Jahre. Und dann spielt auch eine große Rolle, ob es ein leichtes Erdbeben – sprich ein leichter Change – ist, nach dem nur ein paar Dachschindeln am Boden liegen, oder ein starkes Erdbeben, das gleich das ganze Haus plattmacht.

Studien zum Kontrollerleben bei Menschen verdeutlichen, dass sich bedrohliche, nicht vorhersehbare und nicht beeinflussbare Situationen nachhaltig auf die Motivation, die Stimmungslage und auch auf Lernprozesse auswirken.4 Das bedeutet: Sie haben keine Lust mehr zu handeln und verkriechen sich niedergeschlagen in einer Ecke. Selbst, wenn Sie doch etwas tun könnten, um Ihre Lage zu verbessern, probieren Sie es gar nicht mehr aus, weil Sie denken, es bringt ohnehin nichts. Punktuell löst solch eine Situation Stressreaktionen aus; mittel- und langfristig können Menschen dadurch psychisch und körperlich krank werden.

Psychologisch gesehen sind Change-Prozesse genau solche bedrohlichen, nicht genau vorhersehbaren und nicht beeinflussbaren Situationen. Also harter Tobak für das Gehirn und den Rest des Körpers. Verkauft wird Veränderung in der Regel jedoch als positive Chance. Für die Mitarbeiter fühlt sich das meistens jedoch ganz anders an.

Betrachten wir einmal ein reales Beispiel für einen der beliebtesten Change-Anlässe in deutschen Unternehmen – einen Blockbuster sozusagen, der in den letzten Jahren gleich serienweise im Programm steht. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie selbst schon so etwas erlebt haben. Wenn diese Art von Change ein Unternehmen heimsucht, wird der Scherz über den Mastflügelbetrieb plötzlich bitterer Ernst. Für manch einen schlägt dann nämlich tatsächlich das letzte Stündchen im Unternehmen. Sie ahnen es vielleicht schon: Die Rede ist von Reorganisationen, auch Restrukturierungen genannt.

Schlankheitskur: Sparen bis zur Wespentaille

Der Schock sitzt tief. Fabian kann nicht glauben, was er da gerade von seinem Chef, dem Leiter der Lohn- und Gehaltsabrechnung, gehört hat. Seine Kollegen rechts und links neben ihm im Besprechungsraum sitzen apathisch da wie nach einem schweren Unglück. Als wäre gerade ein Laster in den Besprechungsraum gerast.

Ein Großteil der Abteilung soll in wenigen Monaten nach Rumänien ausgelagert werden. Neun Stellen fallen dann weg. Fabians auch. Nur noch ein paar Abrechnungsspezialisten werden am deutschen Standort des Konzerns verbleiben.

Er weiß nicht, was er denken soll. Seine Gehirnwindungen sind im Leerlauf. Doch dann formen sich erste Zusammenhänge. Erst vor ein paar Monaten sind auch Teile der Buchhaltung nach Rumänien gegangen. Dass es ihn und seine Kollegen auch treffen könnte, war ihm damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Wer weiß, was die noch alles auslagern!

»Wir versuchen für Sie alle neue Plätze im Unternehmen zu finden«, hört er seinen Chef sagen. Es hätte beruhigend wirken können, wenn nicht noch ein Nachsatz gekommen wäre: »Ich kann es aber nicht versprechen.«

Es ist früher Vormittag, als alle wieder im Büro an ihren Schreibtischen sitzen. Die Stimmung hat etwas von einem Lazarett, findet Fabian. Die einen weinen, die anderen sitzen mit verhärteten Mienen und starren Blicken herum. Die älteren Kollegen bilden gerade ein Grüppchen und versinken in Endzeitstimmung. Gesprächsfetzen dringen an sein Ohr: »Uns will doch keiner mehr … « oder »Ich habe am Arbeitsmarkt überhaupt keine Chance in meinem Alter …« Einer spricht frustriert aus, was viele denken: »Bestimmt bieten die uns Jobs an, die kein anderer machen will.« Auf Arbeit hat heute niemand mehr Lust. Auch Fabian nicht. Wozu auch?

Plötzlich hört er ganz in seiner Nähe leises Weinen. Es kommt von seiner etwa gleichaltrigen Kollegin Britta, die in Tränen aufgelöst nach vorne gebeugt an ihrem Schreibtisch sitzt, die Stirn in die Hände gelegt. Er rollt mit seinem Drehstuhl zu ihr hinüber und versucht mit ihr ins Gespräch zu kommen: »Was für eine Scheißsituation, was?«

»So ein Lügner«, schluchzt sie aus ihrer halbliegenden Körperhaltung hervor. »Ich war erst vor ein paar Wochen bei unserem Chef und habe extra gefragt, ob irgendwas geplant ist. Ob mein Arbeitsplatz in Gefahr ist. Ich hatte nämlich eine interessante Stelle in Aussicht, auf die ich mich sonst beworben hätte. Aber er hat nein gesagt. Alles bestens, Britta. Was für ein Beschiss.«

»Vielleicht wusste er damals noch nicht, was kommt. Der kriegt ja vermutlich auch nur die Order von oben.«

»Das kannst du mir nicht erzählen.« Britta richtet sich empört auf, und Fabian sieht Schlieren von verschmierter Schminke in ihrem Gesicht. »Der hat bestimmt einen Maulkorb verpasst gekriegt und durfte nichts sagen. Ich hätte hier längst weg sein sollen. Die können mich mal.«

»Na, wir werden schon unterkommen. Hier oder woanders. Wir sind ja noch jung«, versucht Fabian die Situation zu entspannen, obwohl ihm eigentlich gar nicht danach zumute ist. Es fällt ihm schwer mit anzusehen, wie elend seiner Kollegin zumute ist. Und dabei geht es ihm selbst eigentlich schon schlecht genug.

Change ist manchmal langwierig. Zunächst herrscht danach für einige Wochen wieder normales Arbeiten. Doch dann kommt erneut Unruhe auf. Er und seine Kollegen haben nämlich erfahren, dass die neuen rumänischen Kollegen für eine gewisse Zeit in ihr Team nach Deutschland kommen werden. »Wir sollten die einarbeiten«, erinnert sich Fabian später im Gespräch mit mir. »Das war völlig unsensibel. Erst sägen sie uns ab, und dann sollen wir diesen Leuten, die uns den Job wegnehmen, auch noch zeigen, wie die Arbeit geht. Wir haben uns da alle tierisch drüber aufgeregt. Es hat aber keinen interessiert. Unser Chef hat’s einfach durchgezogen.«

Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass die Firma tatsächlich bemüht ist, die überflüssigen Mitarbeiter anderweitig unterzubringen. Doch der richtige Traumjob ist nicht dabei. Sie kommen in Bereiche, wo sie eigentlich nicht so gern arbeiten wollten, fasst Fabian zusammen. Seine ältere Kollegin Ilona tut ihm besonders leid. Denn sie hat nur noch wenige Jahre bis zur Rente und bekommt einen neuen Job im Lagerbereich, wo sie sich fortan um die Wareneingabe kümmert. Ein öder Job, der ihr überhaupt nicht liegt. Doch sie bleibt, weil sie in ihrem Alter keine Alternative sieht.

Fabian dagegen macht es wie die meisten seiner jüngeren Kollegen. Er kehrt der Firma den Rücken und bewirbt sich weg. Er hat die Schnauze voll. Das Letzte, was er noch mitbekommt, ist, dass es in der Zusammenarbeit zwischen den verbliebenen Abrechnungsspezialisten und den rumänischen Kollegen stark knirscht. Die Wegveränderten müssen Fehler ausbügeln, die die neuen Kollegen machen. Die Prozesse dauern länger. In Summe läuft es für sie auf doppelte und dreifache Arbeit hinaus. Von wegen Effizienzgewinn! Die Unzufriedenheit ist groß, und von Einsparungseffekten durch das Outsourcing kann noch lange Zeit später keine Rede sein.

Doch über solche typischen Nebenwirkungen des Outsourcings wie dem erhöhten Kommunikations- und Koordinationsaufwand oder der Demotivation der eigenen Mitarbeiter5 sprechen die Befürworter solcher Restrukturierungsmaßnahmen nicht, jedenfalls nie offen. Vielmehr steht im Fokus, Geld zu sparen. Besonders, wenn Unternehmensaufgaben ins Ausland verlagert werden, winken oft hohe Einsparungssummen, weil die Lohnkosten niedriger sind. Also setzen die Firmen externe Dienstleister im Ausland ein oder gründen Tochtergesellschaften. Die Unternehmensberatung A. T. Kearney hat sogar ein Ranking der beliebtesten Outsourcing-Länder veröffentlicht. Ganz vorn liegen Indien und China. Doch auch von Rumänien ist in der Auswertung von 2016 die Rede. Das Land ist aufgrund der niedrigen Arbeitskosten, kompetenter IT-Fachleute und der Nähe zu den westeuropäischen Metropolen sehr beliebt bei den Sparfüchsen in den Chefetagen.6

Insgesamt liegt Outsourcing als eine Form der Restrukturierung voll im Trend. Sechs von zehn Entscheidern erhoffen sich laut der Trendstudie Outsourcing 2013 durch Outsourcing-Maßnahmen Kosteneinsparungen von 20 bis über 50 Prozent.7 86 Prozent der 200 befragten Entscheider aus verschiedenen Firmen und Branchen stuften das Thema als wichtig ein, und mehr als die Hälfte von ihnen sah die Outsourcing-Möglichkeiten bisher als nur mittelmäßig oder gar nicht ausgeschöpft an.8

Kurzum: Beim Outsourcing geht noch was. Deshalb ist auch mit einem weiteren Anstieg von derartig begründeten Change-Prozessen zu rechnen.

Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Im Fall der Lohn- und Gehaltsabrechnung in Fabians Unternehmen sind es ja »nur« neun Mitarbeiter, die es getroffen hat. Im Vergleich zu anderen Firmen ist das praktisch eine homöopathische Dosis. Fast täglich können wir in der Zeitung schließlich von Restrukturierungen und Personalabbau in irgendeinem Unternehmen lesen. Hier mal 2000, da mal 7000 Eingesparte. So viele Mitarbeiter will in den nächsten Jahren etwa Siemens entlassen und in diesem Zuge gleich zwei ganze Werke in Ostdeutschland schließen. Ein Großteil davon entfällt auf die Kraftwerks-Sparte, die aufgrund der Energiewende massiv zurückgebaut wird – eine typische Wandelerscheinung, wie sie uns seit einigen Jahren immer wieder in den Nachrichten begegnet.9 In solchen Schlagzeilen geht es immer gleich um Tausende. Über kleinere Zahlen wird erst gar nicht geschrieben.

Vielleicht ertappen Sie sich auch manchmal dabei, wie Sie über diese Zahlen gedankenlos hinweglesen. Zum einen, weil wir uns inzwischen daran gewöhnt haben – schlimm genug. Zum anderen kommen solche Größenordnungen auch sehr abstrakt daher. Vergessen wir nicht: Hinter jeder einzelnen Zahl steckt ein Mensch, den der Change zwingt, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Wer bleibt, wie im Beispiel die ältere Mitarbeiterin Ilona, muss sich auf die veränderten Aufgaben umstellen und so manche Kröte schlucken. Wer geht, wie Fabian, muss sich gleich auf eine komplett neue Firma einstellen und sich dort beweisen, möglicherweise verbunden mit einem Ortswechsel, Pendelei und anderen persönlichen Herausforderungen.

Egal, wie gut das ausgeht – früher oder später geht das Drama von vorn los: Die nächste Restrukturierung kommt. Denn diese Form von Change gehört zu den häufigsten Veränderungsprozessen. Dabei reicht das Spektrum von einfachen Prozessoptimierungen bis hin zu wellenartig immer wieder ablaufenden Kostensenkungsprogrammen oder auch Sanierungen. Immer geht es dabei darum, Zeit und Kosten zu sparen und Abläufe zu optimieren.

Wie viele solcher Restrukturierungen gibt es jedes Jahr in Deutschland? Zahlen sind schwer zu finden. Im Stressreport Deutschland der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 2012 kommt zum Ausdruck, dass besonders größere Unternehmen häufig in Restrukturierungsprozessen stecken. Etwa jedes zweite Großunternehmen ist im Durchschnitt betroffen. Neben der Industrie sind vor allem auch Dienstleistungsbranchen wie die Finanzbranche, Transport und Verkehr, die Kommunikationsbranche sowie allgemeine Dienstleistungen von Restrukturierung geprägt.10

Restrukturierungen sind in den meisten Fällen untrennbar verbunden mit dem Einsatz von Unternehmensberatern. Besonders wenn ein Name fällt, geht ein angstvolles Raunen durch die Firmenräume: McKinsey.

Denn die Begegnung mit den schlipstragenden Beratern in ihren gestärkten weißen Hemden und dunklen Anzügen ist für zahlreiche Beschäftigte so ähnlich, als wenn sie einen hungrigen Königstiger in freier Wildbahn treffen. Nicht grundlos, denn ihre Erfahrung zeigt: Wo die »Mackies« durchgehen, sind hinterher die Prozesse glatt und effizient – und die Menschen häufig am Ende ihrer Nerven. Und manche haben womöglich ihr Leben verloren. Nicht das ganze, aber das Arbeitsleben, wie sie es kannten, weil Personal abgebaut wurde.

Falls Sie es noch nicht mit McKinsey zu tun bekommen haben – das kann ja noch kommen. Denn das Unternehmen gehört mit weltweit rund 14 000 Beratern zu den größten Beratungsfirmen.11 Top-Manager holen die Beratergruppe gern ins Haus, um die Kosten runterzufahren und die Effizienz zu steigern.

So geschehen beim führenden dänischen Energieunternehmen Elsam. In einer Publikation von McKinsey wird das Tochterunternehmen Elsam Kraft mit 500 Windmühlen und 27 Kraftwerken als sehr profitables Vorzeigebeispiel für einen typischen Restrukturierungsprozess genannt. Innerhalb von fünf Jahren sank die Zahl der Konzernbeschäftigten um 35 Prozent auf heute 1200 Mitarbeiter. Und gleichzeitig erwirtschaftet das Werk den Löwenanteil des Konzernumsatzes.12

Der Hintergrund für die Restrukturierungsprozesse war bei Elsam die sogenannte Liberalisierung des Energiemarktes, die auch Deutschland betrifft. Bis 1998 lagen die Energiemärkte, also sowohl der Strommarkt als auch der Gasmarkt, noch in staatlicher Hand.13 Danach kam die Wende, die dazu beigetragen hat, dass Sie heute Ihren Energieversorger frei wählen dürfen – freier Wettbewerb also. Das hatte zur Folge, dass sich die Firmen besser aufstellen mussten, in Dänemark wie auch hierzulande. In der McKinsey-Publikation kommt der CEO von Elsam Kraft, Niels Bergh-Hansen, zu Wort: »Als ich 1992 ins Kraftwerk Ensted kam, arbeiteten dort 440 Menschen, im Jahr 2000, als es mit der Deregulierung des Energiemarktes so richtig losging, waren es noch 200.« Weiter heißt es: »Hätte mich damals jemand gefragt, ob man noch mehr Leute einsparen kann, hätte ich das für unmöglich erklärt. Heute sind wir 135 Mitarbeiter, und das Kraftwerk läuft noch immer.« Das Ende der Fahnenstange bei der Reduzierung der Beschäftigtenzahl sei damit jedoch wohl noch immer nicht erreicht.14

Aus dem Mund des Firmenchefs klingt das nach einer echten Erfolgsstory. Denn dem Unternehmen geht es offenbar gut. Wenn Sie zu den wegrationalisierten Mitarbeitern gehören, sieht die Welt natürlich nicht so rosig aus.

Doch wie ergeht es eigentlich den Mitarbeitern, die nach solchen Reorganisationen weiter im Unternehmen verbleiben?

Darüber hören Sie als Außenstehender nie etwas. Vielleicht, weil es dann nicht mehr nach einer Erfolgsstory aussehen würde. Etwas Licht ins Dunkel bringt hier eine Studie des Instituts für angewandte Innovationsforschung Bochum. Die Forscher nahmen 286 Change-Prozesse in Unternehmen unter die Lupe. Von den befragten Fach- und Führungskräften sagte etwa ein Drittel, dass Zusagen von der Unternehmensleitung nicht eingehalten wurden. Außerdem stellten 90 Prozent der Firmenchefs die Reorganisation als Erfolg dar, während die Mitarbeiter das ganz anders sahen. So akzeptierte die Belegschaft in 54 Prozent der Fälle die Ergebnisse der Veränderungen nicht. Bei 43 Prozent verschlechterte sich auch die Identifikation mit dem Arbeitgeber.

Erschütternd daran finde ich, dass 89 Prozent der Beschäftigten die Zukunft des Unternehmens eigentlich am Herzen lag. Doch wenn Sie sich die Geschichte von Fabian und seinen Kollegen vor Augen halten, dann ist gut nachvollziehbar, wie solch eine positive Grundhaltung durch einen Change-Prozess schnell verlorengehen kann. Und mit jeder negativen Erfahrung sinkt die Bereitschaft für weitere Veränderungen. Die verständliche Befürchtung ist, dass es wieder zum eigenen Nachteil abläuft.

Doch nicht nur das: Der ganze Wandel bringt die Firmen meistens gar nicht wirklich weiter. Laut Bain & Company haben die meisten Umstrukturierungen keine nennenswerten Ergebnissteigerungen zur Folge. Zu diesem Schluss kommt die Unternehmensberatung nach der Betrachtung von 57 Umstrukturierungen zwischen den Jahren 2000 und 152006. Auch wenn diese Analyse schon ein paar Jahre zurückliegt, spiegelt sie doch ein gängiges Meinungsbild wider, wonach viele Change-Prozesse unterm Strich nicht erfolgreich sind.

Doch wieso jagt dann trotzdem ein Change-Prozess den anderen? Irgendetwas müssen sich die Führungsetagen doch dabei denken! Hier kommt ein überraschender Mechanismus zum Tragen, der Ihnen gewiss schon aufgefallen ist: Es liegt voll im Trend, dass die Manager in den höheren Positionen immer schneller wechseln. Dieser Trend trägt enorm zum Veränderungstempo bei – denn jeder neue Chef bringt natürlich seine ganz eigenen neuen Ideen mit.

Und damit beginnen für Sie als Mitarbeiter die bangen Fragen.

Personalkarussell: Ein neuer Chef ist wie ein neues Leben

Wie wird der neue Chef wohl sein? Wird er sich in seinem Büro verschanzen und nur ab und zu mal rauskommen, um uns Aufgaben zuzurufen? Oder ist er eher der gesprächige Typ, der sein ganzes Privatleben über der Abteilung ausbreitet und einen von der Arbeit abhält? Oder vielleicht so einer, der »Management by Helicobacter« macht?

Ja, Sie haben richtig gelesen. Nicht »Management by Helicopter« – was für viele Mitarbeiter schlimm genug ist. Nach dem Motto: Kurz Staub aufwirbeln und dann mit großem Getöse wieder abfliegen. Nein, »Management by Helicobacter«. Das sind die Chefs, die bei Ihnen eine chronische Magenschleimhautentzündung auslösen und damit dieselbe Wirkung haben wie das berüchtigte spiralförmig gewundene Helicobakter-Bakterium im Magen. Denn diese Spezies Chef macht alles anders als der Vorgänger und dreht den Laden um 180 Grad. Und Sie bekommen vor lauter Rotation ein Schleudertrauma.

Einer der ungezählten Betroffenen ist der Marketingmitarbeiter Gerald aus einer Bank. Als in seinem Unternehmen ein neuer Chef einrückte, war im Vorfeld nur durchgedrungen: Der Neue sollte frischen Wind reinbringen. Was das konkret bedeuten sollte, wusste erst einmal niemand. Und dann war er eines Tages da. Gerald und seine sieben Kollegen fanden sich in gespannter Erwartung im Besprechungsraum ein.

»Guten Morgen, mein Name ist Jochen Wenger. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit euch. Ist es okay, wenn wir gleich zum Du übergehen? Ich bin Jochen.« Er schaut aufmunternd in die Runde. Lockerer Typ, denkt Gerald und mustert ihn. So jemanden hatten sie hier noch nie. Lila-gelb kleingemustertes Karo-Hemd. Große Hornbrille. Dichte, nach links gegelte Haartolle. Kurzer, gepflegter Vollbart. Dunkelblaue Jeans. Bisschen unkonventionell, der Gute – heißen diese Typen heute nicht Hipster? Na ja, warum nicht? Scheint ja ganz umgänglich zu sein. Zu Abwechslung mal einer, mit dem ich glatt privat ein Bier trinken würde. Gerald schätzt ihn Mitte 40 – nicht weit von seinem eigenen Alter entfernt. Und so nickt er zustimmend auf die Frage nach dem »Du«. Alle anderen auch, mit unterschiedlichen Begeisterungsgraden.

»Prima«, freut sich Jochen. »Ich habe viel mit euch vor. Wir werden hier mal die verkrusteten Strukturen freipusten und mit neuen Strategien und Kampagnen die Kunden begeistern. Die ganze Klaviatur des Marketing-Mix. Ich war bisher bei verschiedenen Kommunikationsagenturen tätig und bringe daher Erfahrungen aus vielen Projekten mit, die uns hier künftig helfen werden.« Aufbruchstimmung geht durch den Raum. Seine Euphorie elektrisiert die Mitarbeiter.

»Klingt gut. Was stellst du dir denn genau vor?«, will Gerald neugierig wissen. Er merkt, dass sein Chef große Pläne hat. Ihm scheint es nicht schnell genug losgehen zu können – da hat er doch bestimmt einen konkreten Plan in der Tasche. Ganz hibbelig wirkt er, wie er da vor ihnen am Ende des großen ovalen Besprechungstisches steht. Aber was hat er vor?

»Wir werden in der nächsten Zeit ein grundlegendes Konzept machen, wie hier künftig die Post abgeht. Macht euch auch gleich mal Gedanken, was wir besser machen können. Ihr seid ja erfahrene Leute, wie ich weiß. Wir müssen viel kreativer werden. Innovative Ansätze fahren. Uns von den anderen Banken abheben. Eine echte Customer Experience schaffen.«

Und das war’s. Mehr sagt er heute nicht zu dem Thema. Denn jetzt will er endlich sein Team näher kennenlernen. Jeder soll sich vorstellen. Danach ist die erste Begegnung auch schon zu Ende.

Doch in den Büros gibt es danach noch einen regen Austausch unter den Kollegen: »Weißt du, was der vorhat?«, fragt Gerald seine Kollegin Marion. »Das waren doch nur Worthülsen.« Sie schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Irgend so ein Change-Konzept halt.« Und so geht es auch den anderen Kollegen, wie sich in Tür- und Angelgesprächen herausstellt. Eine gewisse Ratlosigkeit herrscht vor. Warten wir also ab, denkt sich Gerald. Der muss ja noch konkreter werden mit seinen Plänen. Was sollen wir denn sonst umsetzen?

Doch in den nächsten Wochen kommt kein Licht ins Dunkel. Gerald fragt bei einem der nächsten Teammeetings erneut nach. Doch als Antwort bekommt er nur:

»Ihr seid doch alle Fachleute. Entwickelt ein Konzept. Bringt mal eure Ideen ein. Ich bin doch hier nicht die Mutti. Wer von euch kann einen ersten Entwurf machen und sich drum kümmern?« Die Blicke der Kollegen richten sich plötzlich gen Zimmerdecke oder Laminat-Fußboden. Keiner hat Lust, diesen Auftrag zu übernehmen. Gerald geht es auch so. Das ist alles so schwammig. Und so meldet er sich zu Wort.

»Aber ich finde es schwierig, ein Konzept zu machen, wenn ich gar nicht einschätzen kann, was du vorhast. Was schwebt dir denn vor? Du hast ja von deinen ganzen Erfahrungen mit solchen Dingen gesprochen.«

»Na, was ich gesagt habe. Innovativer Auftritt. Kreativ querdenken. Die Möglichkeiten voll ausschöpfen. Die ganzen Kanäle bespielen.«

Gerald ist frustriert. Was ist das denn? Der klingt mit seinen wolkigen Reden ja wie ein Politiker. Wirft nur markige Schlagworte und Allgemeinplätze in den Raum, zu denen jeder prinzipiell ja sagen kann. Glaubt der wirklich, dass jemand so einen flachen Impuls freiwillig aufnimmt und dabei noch »Hurra« brüllt? Mit einer vagen Idee ist es bestimmt nicht getan, wenn sich hier etwas tun soll. So wird das nichts mit der Veränderung, denkt Gerald und beginnt seine Meinung von Jochen zu korrigieren: Kein Macher, der Mann.

Im Team gärt es. Die Unzufriedenheit wächst. Die Zusammenarbeit mit dem neuen Chef kommt nicht in Gang. Einige Kollegen im Team suchen auch das Vieraugengespräch mit Jochen. Doch auch dabei kommt nichts Konkretes heraus, und es verändert sich nichts. Bei einem Teammeeting prallen schließlich die Fronten aufeinander, als Jochen sagt:

»Denkt doch mal auf der grünen Wiese. Ihr seid alle so gefangen in euren tausend Regeln.«

»Wir haben uns die ganzen Regeln ja nicht ausgedacht. Als Bank haben wir einfach auch gesetzliche Regularien zu beachten«, versucht Gerald die Situation zu erklären. Doch er spürt bei seinem Chef null Bereitschaft, sich mit den Bedingungen des Unternehmens auseinanderzusetzen. Er scheint einfach nicht zu verstehen, dass es hier anders läuft als in seiner Agenturwelt. Er kann die Situation kaum noch ertragen. Und so fasst er sich ein Herz: »Wir haben hier ein ernsthaftes Kommunikationsproblem. Wir verstehen nicht, was du von uns willst. Wie sollen die Veränderungen aussehen?« Er weiß, seine Kollegen stehen voll hinter ihm.

»Nein, wir haben überhaupt keine Probleme«, fährt ihn Jochen scharf an, der schon längst nicht mehr die Bierkumpel-Mentalität vom ersten Treffen ausstrahlt. »Die Richtung ist glasklar. Ihr müsst jetzt einfach mal anfangen, euren Job zu machen, und konzeptionell arbeiten. Wer von euch ein Problem damit hat, der kann gern woanders sein Glück suchen.«

Die Ansage sitzt. Damit ist jedes weitere Gespräch vom Tisch gewischt. Dialog ist hier unerwünscht.

Für Gerald ist in diesem Moment klar: Ich bewerbe mich weg. Ich schmeiße hier alles hin. So ein Spinner! Der weiß nur, was er nicht will – nämlich alles, was jetzt ist. Lösungen hat der keine. Soll er doch zurückgehen in seine blöde Agenturwelt, wenn da alles besser ist.

In der nächsten Zeit merkt Gerald, wie sich die Stimmung im Team ändert. Die Luft ist raus. Frust und Resignation machen sich breit. Eine Schande, denkt er. Wir waren ein so gut eingespieltes Team. Eine gute Mischung der Altersgruppen, Männer, Frauen, verschiedene Erfahrungslevel. Jeder wusste, was er kann, und hat sich gern eingebracht. Und jetzt, nach knapp drei Monaten mit dem Neuen, bricht hier alles zusammen. Jetzt werden hier einfach Aufgaben in die Luft geworfen, die keiner versteht. Jeder soll alles machen. Es gibt keine festen Zuständigkeiten, jeder soll auf Abruf alle Arbeiten erledigen können. Das macht alles überhaupt keinen Sinn so.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.