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Annelie Krämer liebt ihre kleine Familie. Doch mit Sara, der Cousine ihres Mannes und Patentante ihrer kleinen Tochter Helena, gerät sie immer wieder aneinander. Mit ihren vermeintlich hilfreichen Ratschlägen mischt sich Sara ungebeten in die Erziehung ein - was Annelie als übergriffig empfindet. Als Sara eines Tages stolz mit einem Lastenrad auftaucht, das sie für gemeinsame Ausflüge mit Helena gekauft hat, ist für Annelie eine rote Linie überschritten. Sie will das Gefährt auf keinen Fall in der Nähe ihrer Tochter wissen, denn sie hält es für viel zu gefährlich. Doch Sara lässt sich nicht beirren - mit fatalen Folgen ...
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Ein gefährliches Geschenk
Vorschau
Impressum
Ein gefährliches Geschenk
Warum ein Lastenrad für Annelie zum Verhängnis wird
Von Caroline Steffens
Annelie Krämer liebt ihre kleine Familie. Doch mit Sara, der Cousine ihres Mannes und Patentante ihrer kleinen Tochter Helena, gerät sie immer wieder aneinander. Mit ihren vermeintlich hilfreichen Ratschlägen mischt sich Sara ungebeten in die Erziehung ein – was Annelie als übergriffig empfindet.
Als Sara eines Tages stolz mit einem Lastenrad auftaucht, das sie für gemeinsame Ausflüge mit Helena gekauft hat, ist für Annelie eine rote Linie überschritten. Sie will das Gefährt auf keinen Fall in der Nähe ihrer Tochter wissen, denn sie hält es für viel zu gefährlich. Doch Sara lässt sich nicht beirren – mit fatalen Folgen ...
Dr. Julia Holl stieg aus der Dusche, trocknete sich ab, wickelte das große, rosafarbene Badetuch um sich und steckte eine Ecke über der Brust fest. Behutsam frottierte sie ihre langen, dunkelblonden Haare, hängte anschließend das feuchte Handtuch über den Badheizkörper, der mollige Wärme abgab, und cremte sich das Gesicht ein. Im Regal stand die Flasche mit ihrer Lieblings-Bodylotion.
Julia löste das große Handtuch von ihrem Körper und hängte es ebenfalls über die Heizung. Sie griff nach der Lotion und schnupperte genießerisch an dem Lotus-Duft, ehe sie sich sorgfältig eincremte. Zuerst die Arme, wie immer. Dann Hals und Dekolleté und danach die Brust. Julia stutzte und fuhr noch einmal mit den Fingern der linken Hand über ihre rechte Brust. Hier, genau an der Stelle, meinte sie eben einen kleinen Knoten ertastet zu haben. Hatte sie sich geirrt? Julia stellte die Bodylotion auf den Rand des Waschbeckens und berührte erneut die rechte Seite ihrer Brust.
Da war was, eindeutig. Eiskalt überlief es sie, trotz der angenehmen Wärme im Bad. Sie überprüfte die Stelle noch einmal. Nein, sie hatte sich nicht geirrt. In ihrer Brust befand sich ein Knoten. Erschüttert setzte sie sich auf den Rand der Badewanne, auf der ebenfalls ein Handtuch lag.
Das konnte doch nicht wahr sein. Das war ein Albtraum, aus dem sie jeden Moment aufwachen würde.
»Julia?«, hörte sie ihren Mann Stefan durchs Haus rufen.
Es schnürte ihr die Kehle zu, und sie meinte, jemand hielte ihr den Mund zu.
»Julia?« Stefans Stimme kam näher. Offenbar war er die Treppe heraufgekommen und ging nun über den Flur Richtung Schlafzimmer und Bad. Mit zitternden Knien stand sie vom Rand der Wanne auf und schlüpfte rasch in ihren blütenweißen Bademantel.
Es klopfte.
»Julia? Bist du im Bad? Ist alles in Ordnung?«, fragte Stefan. Er klang besorgt. Als ob er einen siebten Sinn für sie hätte.
Sie öffnete die Tür und zwang sich zu einem Lächeln.
»Alles in Ordnung«, versicherte sie. Es war völlig unmöglich, ihm jetzt sofort von ihrer entsetzlichen Entdeckung zu berichten. Sie musste erst einmal selbst damit klarkommen, und sie musste noch etliche Male über ihre Brust tasten, um ganz sicher zu gehen. Vielleicht hatte sie sich ja doch geirrt! Dann erschreckte sie ihn völlig unnötig.
»Ich muss in die Klinik, Liebes.« Stefan betrachtete sie, und sie fürchtete, er könnte in ihr Innerstes blicken und erkennen, worüber sie noch nicht sprechen wollte. »Du siehst wundervoll aus.« Stefan senkte die Stimme, obwohl sie allein im Haus waren.
Die Zwillinge Marc und Dani lebten inzwischen in ihrer eigenen Wohnung nahe der Uni, wo sie studierten, der fünfzehnjährige Chris und die elfjährige Juju waren in der Schule. Nur noch wenige Tage, dann begannen die Osterferien. Cäcilie, ihre Haushälterin, hatte heute frei.
Julia hielt ihren Bademantel über der Brust zusammen. Ihr Hals war so trocken, dass es schmerzte. Stefan hob die Hand und wickelte eine ihrer feuchten, lockigen Haarsträhnen um einen Finger. Er beugte sich zu ihr und küsste sie sanft.
»Schade, dass ich so gar keine Zeit mehr habe«, sagte er leise, ohne die Lippen von ihren zu nehmen. Sein Atem duftete nach einer Mischung aus Minze und Kaffee, die Berührung seines Mundes war warm und zärtlich. Stefan legte die Arme um sie, löste seine Lippen von ihren und lächelte sie liebevoll an. »Vielleicht kann ich heute Abend etwas eher nach Hause kommen«, sprach er weiter. »Was hältst du davon, wenn wir essen gehen? Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.«
Unmöglich. Völlig unmöglich, sie war einfach nicht in der Verfassung.
Ehe sie antworten konnte, fuhr er fort: »Nein. Ich habe eine bessere Idee. Wir bestellen etwas. Lasagne. Oder Pizza. Für dich deine Lieblingssorte mit Champignons und Spinat, und für mich die mit Thunfisch. Dazu gemischten Salat und eine Flasche Rotwein. Was hältst du davon?«
Julia rang sich ein Lächeln ab.
»Das ist eine wundervolle Idee«, stimmte sie zu. In ihrer Kehle war es eng.
»Schön.« Stefan lächelte sie an und hauchte einen Kuss auf ihren Hals. »Du duftest fantastisch«, ergänzte er. »Bis heute Abend, Liebes. Hab einen angenehmen Tag.«
Mit brennenden Augen sah Julia ihrem Mann nach, der den Flur entlanglief und die Treppe hinuntereilte. Als unten die Haustür zuschlug, schob sie eine Hand unter ihren Bademantel und berührte mit den Fingerspitzen die Stelle, die pures Entsetzen in ihr ausgelöst hatte, das nicht weichen wollte. Der Knoten war noch immer da.
***
Annelie Krämer nahm die Thermoskanne mit dem frisch gebrühten Kaffee und verließ damit die Küche. Im Wohnzimmer, am gedeckten Tisch, saßen ihr Mann Torben und ihre Kinder, der vierzehnjährige Leon und seine kleine Schwester Helena, die vier Jahre alt war. Und Sara. Sara war Anfang vierzig, unverheiratet und kinderlos, und sie war die Cousine von Torben. Außerdem war sie Helenas Patentante. Vor allem aber war sie Annelie ein Dorn im Auge, ein steter Störfaktor in ihrer sonst so harmonischen Familie.
»... solltet da wirklich mehr darauf achten«, hörte sie Sara auch nun wieder kritisieren.
»Worauf sollten wir mehr achten?«, fragte Annelie, ehe Torben etwas sagen konnte. Sie stellte die Thermoskanne mittig auf den Tisch.
»Sara sagt, mein Kakao ist nicht gesund«, ließ Helena ihre Mutter wissen. Ihr kleiner Körper bewegte sich vor und zurück. Sie schwang eindeutig wieder ihre Beinchen unter dem Stuhl. Auf ihrer Oberlippe saß ein brauner Rand von ihrem Lieblingsgetränk.
»Allerdings«, sprach Sara weiter. »In dem Zeug ist viel zu viel Zucker drin. Ihr wisst anscheinend nicht, dass der Konsum von zu viel Zucker bei Kindern enormen Schaden anrichten kann. Ihr solltet euch besser informieren.«
Annelie zwang sich, ruhig zu bleiben, obwohl in ihr schon wieder der Ärger brodelte. Sara konnte es einfach nicht lassen. Immer wieder versuchte, sie ihre Ansichten in Bezug auf Helena durchzusetzen. Dabei konnte es um den Freundeskreis der Kleinen genauso gehen wie um ihre Ernährung oder die Wahl des Kindergartens.
»Wir sind gut informiert, Sara«, erwiderte Annelie beherrscht. »In dem Kakao, den wir kaufen, ist eine sehr geringe Zuckermenge. Ich habe bei Stiftung Warentest ...«
»Ach was.« Sara winkte ab, ohne Annelie anzusehen. »Zucker fördert nicht nur Karies, sondern auch Übergewicht, Diabetes und ...«
»Nun lass es gut sein, Sara«, unterbrach Torben seine Cousine. »Ich habe als Kind auch oft Kakao getrunken, und der enthielt mit Sicherheit viel mehr Zucker als der, den wir kaufen.«
»Du hattest ja auch als Teenager Übergewicht«, hielt Sara spitz dagegen.
Torben grinste. »Ja und? Siehst du noch was? Ich war damals einfach zu faul, mich zu bewegen. Als ich mit Fußball angefangen habe, ist das ruckzuck weggewesen.«
»Bekomm ich Kuchen?«, fragte Helena und sah sehnsüchtig zu dem Marmorkuchen, der mit einem Guss aus Vollmilchschokolade überzogen war.
»Natürlich, Lenchen.« Annelie stand auf, um ihrer Tochter ein Stück abzuschneiden. Sara betrachtete auch den Kuchen missbilligend, sagte aber nichts mehr.
»Ach, da fällt mir ein«, begann sie wieder zu sprechen, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Maike, meine Nachbarin, hat für ihre Zwillinge einen Fahrradanhänger gekauft. In dem sitzen die Kleinen, wenn sie zum Beispiel zum Einkaufen fährt.«
»Ah ja«, sagte Annelie nur. Sie kannte Maike nur flüchtig. Soweit sie wusste, waren deren Zwillinge noch sehr klein, höchstens zwei Jahre alt. Fahrradanhänger für Kinder lehnte sie grundsätzlich ab. Sie fand sie viel zu gefährlich. Was, wenn ein Auto von hinten auf den Anhänger fuhr? Sie wollte es sich gar nicht vorstellen.
»Ich finde das eine ganz tolle Sache. Ich glaube, ich kaufe mir auch einen. Dann kann ich mit Helena Ausflüge machen«, fuhr Sara fort und trank von ihrem Kaffee.
»Was?« Erschrocken sah Annelie zu ihr. »Das kommt überhaupt nicht infrage.«
»Aber wieso denn nicht? Sie sitzt doch gut und sicher darin. Und ich fahre schon fast mein ganzes Leben mit dem Rad«, erwiderte Sara verblüfft.
»Auf keinen Fall. Ich hätte keine ruhige Minute«, sagte Annelie entschlossen.
Sara seufzte. »Deine Gedanken möchte ich nachvollziehen können. Du gibst deiner Tochter eine Zuckerbombe zu trinken, aber wenn ich mit ihr an die frische Luft will, könnte ja was passieren«, mäkelte sie.
Annelie sah zu Torben, in der Hoffnung, er würde sie unterstützen, doch ihr Mann konzentrierte sich auf seinen Kuchen. Leon, der sich bisher noch gar nicht am Gespräch beteiligt hatte, rollte mit den Augen. Annelie war nicht sicher, ob er von ihr genervt war oder von Sara. Helena drückte ein Fingerchen auf die Schokoladenkrümel auf ihrem Teller und schleckte sie ab.
»Es geht nicht um die frische Luft«, nahm Annelie das Gespräch wieder auf. »Das weißt du auch.«
Sara schüttelte missbilligend den Kopf, sagte aber nichts mehr.
***
Stefan saß Julia gegenüber. Sie hatte eine apricotfarbene Decke auf den Tisch gelegt und ihn mit dem weißen Geschirr mit dem geschwungenen Rand gedeckt. Die Lasagne, die sie bestellt hatten, duftete köstlich. Unter einer dicken Schicht zerlaufendem Käse quoll eine cremige Schmand-Auflage hervor. Der Kopfsalat, angerichtet in separaten Schüsseln, war frisch und knackig. Zwischen den saftig-grünen Blättern lagen halbierte Kirschtomaten, Gurkenstückchen und Maiskörner.
In den noch leeren Weingläsern spiegelte sich das Licht zweier schlanker weißer Kerzen.
»Du hast alles sehr schön vorbereitet«, sagte Stefan und blickte über das Arrangement.
»Danke.« Julia lächelte ihm zu. »Juju hat mir geholfen. Sie schläft übrigens heute bei Emma.«
»Ich weiß. Sie hat es mir heute Morgen erzählt, als du im Bad warst«, erwiderte Stefan. »Und Chris ist auf der Besprechung für das Handball-Turnier?«
»Richtig. Er wird vermutlich in etwa einer Stunde zu Hause sein. Er nimmt den Bus«, sagte Julia.
Stefan schenkte den Wein ein und hob sein Glas. »Nun, dann haben wir ja noch ein wenig Zeit nur für uns. Prost, mein Schatz.« Er lächelte ihr zu. Sie erwiderte das Lächeln, doch es schien ihm verhalten. Irgendetwas bedrückte sie. Er hatte es heute Morgen schon gemerkt, aber gehofft, sie würde sich ihm von sich aus mitteilen – was bisher nicht der Fall gewesen war. Er trank einen Schluck von seinem Wein und stellte das Glas ab.
»Es kommt mir so vor, als würde dich etwas beschäftigen«, begann er ein Gespräch.
»Ich bin nur ein wenig müde«, erwiderte Julia und lächelte erneut.
Stefan bekam ein eigenartiges Gefühl, das er nicht recht einsortieren konnte. Er und Julia waren eine Einheit. Zwischen ihnen herrschte tiefes Vertrauen, wie es bei anderen Paaren seinesgleichen suchte. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte er sich oft gefragt, wie es möglich war, dass ihnen beiden ein solches Glück zuteilwurde. Das war wahrhaftig nicht in allen Beziehungen so, er hatte es im Bekanntenkreis und bei vielen Patienten erlebt. Doch heute schien etwas in Schieflage geraten zu sein, und er ahnte nicht im Geringsten, was es war.
»Wie war dein Tag?«, fragte er, weil Julia ihre Müdigkeit nicht begründete.
»Ausgefüllt.« Sie stach mit ihrer Gabel in eine der Kirschtomaten, aß sie aber nicht. »Ich war in der Stadt und habe mich mit Gerlinde getroffen.«
»Gerlinde? Hat sie nicht mit dir Abitur gemacht?«, fragte er und hoffte noch immer, Julia würde von sich aus ansprechen, was bedrückend und greifbar im Raum hing, er jedoch nicht erkennen konnte.
»Ja. Sie hat mir heute Vormittag eine Nachricht geschrieben, ob ich ein bisschen Zeit hätte. Wir waren im Restaurant Zum Strauß Mittagessen«, berichtete Julia. Sie streifte die Tomate von ihrer Gabel und teilte ein Stück von der Lasagne ab. »Es geht ihr nicht so gut. Sie fürchtet, Roland, ihr Mann, will sich von ihr trennen.«
»Tatsächlich?« Stefan überlegte, ob Gerlindes private Kümmernisse Julia zu schaffen machten. Sie waren früher eng befreundet gewesen, doch als die Freundin, die auch Ärztin war, aus beruflichen Gründen nach Kiel gezogen war, hatte sich der Kontakt immer weiter gelöst. Andererseits hatte er ja heute Morgen schon den Eindruck gehabt, dass sie etwas bedrückte. Das war noch vor dem Treffen mit Gerlinde gewesen.
»Ja.« Julia schob ein winziges Stück Lasagne in den Mund.
»Und warum?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Das Übliche. Er macht viele Überstunden, ist oft nicht erreichbar, wenn Gerlinde ihn auf dem Handy anruft, und so weiter.«
Stefan nickte, was Julia, die den Blick auf ihren Teller gesenkt hielt, wohl nicht merkte.
»Richtig übel aber ist«, fuhr sie fort, »dass er angeblich letzten Monat auf einer Fortbildung in Hannover gewesen sein will. Ein paar Tage nach der angeblichen Fortbildung hat Gerlinde einen Anruf von einem Hotel in Lübeck bekommen – von einem der Angestellten dort.«
»Und?«, erkundigte sich Stefan.
»Roland hatte eine seiner Krawatten im Hotel vergessen. Der Angestellte hatte ihn nicht auf seinem Handy erreicht, seine Festnetznummer im Internet gesucht und bei Gerlinde nachgefragt, ob er ihm die Krawatte nach Hause schicken soll oder ob er sie aufbewahren soll, bis sie beide in zwei Wochen wiederkommen«, berichtete Julia.
»Sie beide?«
»Richtig. Er muss also mit einer anderen Frau dort gewesen sein«, sagte Julia.
»Das klingt nicht gut«, stimmte Stefan zu.
»Sehe ich auch so. Gerlinde ist jedenfalls am Boden zerstört. Sie hat es bisher nicht geschafft, ihn darauf anzusprechen, weil sie Angst vor seiner Antwort hat.«
Stefan konnte Gerlinde zwar verstehen, wusste aber auch, dass solch ein Zustand der Ungewissheit für ihn unerträglich wäre.
»Gerlinde bleibt jetzt ein paar Tage in München. Sie braucht Abstand und möchte einige Freunde von früher besuchen«, ergänzte Julia.
»Wollt ihr euch auch noch einmal treffen?«, fragte Stefan.
»Wir haben es vor, ja, aber noch nichts Konkretes vereinbart«, erwiderte Julia. »Und wie war dein Tag?«
Stefan beschloss, nicht weiter nachzufragen. Er war sicher, es lag ihr etwas auf der Seele. Ebenso war er sicher, sie würde sich ihm mitteilen, wenn sie bereit dazu war. Dass sie diesmal nicht umgehend mit ihm über ihre Sorgen sprach, beschäftigte ihn allerdings schon.
***
Julia stand im Bad vor dem Spiegel und kämpfte mit den Tränen. Der Abend mit Stefan hätte so wundervoll sein können, wenn sie nicht beständig an das Unheil hätte denken müssen, das in ihrer Brust saß. Das Unheil, von dem sie nicht wusste, ob es vielleicht doch harmlos war – oder eben nicht. Sie hatte permanent gemeint, es unter ihren Fingerspitzen zu spüren, egal, ob sie ihr Besteck in den Händen hielt oder ihr Weinglas.
Und sie wusste, dass Stefan wusste, dass sie etwas quälte, und dass er wiederum ratlos und vielleicht auch verletzt sein mochte, weil sie ihm nicht sagte, was es war. Doch es ging einfach nicht. Noch nicht. Erst musste sie wissen, ob von dem Knoten Gefahr drohte. Dazu brauchte sie einen Termin bei ihrem Frauenarzt, Doktor Hellbrich. Heute hatte sie es nicht geschafft, in der Praxis anzurufen. Nicht etwa aus Zeitnot. Nein, weil dann erschreckend real wurde, was außer ihr noch niemand wusste. Dass sie möglicherweise schwer krank war.
Julia hörte, dass Stefan sich im Bett umdrehte. Sie hatte so gehofft, er würde einschlafen, ehe sie aus dem Bad zu ihm kam. Doch offenbar wartete er auf sie. Sie dachte an sein Bedauern heute Morgen, dass er keine Zeit mehr für Zweisamkeit gehabt hatte. Womöglich wünschte er sich, diese jetzt nachzuholen. Und auch das ging jetzt einfach nicht.
Leise verließ Julia das Bad und knipste das Licht hinter sich aus. Auch unter der Tür von Chris' Zimmer, das am Ende des Flures lag, drang kein Lichtschimmer mehr durch. Chris war pünktlich um neun zu Hause gewesen und gleich auf sein Zimmer gegangen. Er mochte bereits schlafen.
Julia betrat das dunkle Schlafzimmer. Stefan hatte die Nachttischlampe schon ausgeschaltet. So geräuschlos wie möglich schlüpfte Julia unter ihre Bettdecke. Stefan neben ihr bewegte sich nicht. Ihr Herz schlug bis in die Kehle. Auf Schritt und Tritt hatte sie heute begleitet, was sie plagte. Doch irgendwie war es ihr gelungen, die mögliche Katastrophe ein wenig auf Abstand zu halten, so präsent sie auch war. Jetzt ging das nicht mehr, in der Stille und Dunkelheit des Schlafzimmers. Stefan rutschte auf ihre Bettseite und legte die Arme um sie. Seine Lippen glitten über ihre Wange, suchten und fanden ihren Mund. Sie ließ seinen Kuss zu. Sein Arm war gefährlich nahe an ihrer Brust, in der der Knoten saß. Behutsam schob Julia ihn von sich.
»Gute Nacht, Stefan«, flüsterte sie. Ihre Zähne drohten, aufeinanderzuschlagen. Stefan gab keine Antwort, ließ jedoch von ihr ab. Er legte sich neben sie. Sekundenlang hing die Stille schwer über ihnen. Dann fasste er nach ihrer Hand.
»Was bedrückt dich, Liebes?«, fragte er leise.
»Nichts. Ich bin nur müde.« Schamvolle Hitze durchlief sie. Sie hatte ihn noch nie angelogen. War sie dabei, das Band aus Liebe und Vertrauen zwischen ihnen zu zerstören? Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Das durfte nicht sein.
»Ich bin immer für dich da, das weißt du«, sprach Stefan weiter. Er klang ernst. Noch immer hielt er ihre Hand.
»Das weiß ich.« Es gelang ihr überraschenderweise, ruhig zu antworten. »Mach dir keine Gedanken.«
Stefan hob ihre Hand, küsste sie, ließ sie los und wandte sich ab. Es dauerte lange, bis Julia an seinen gleichmäßigen Atemzügen hörte, dass er eingeschlafen war. Sie selbst fand keine Ruhe.
***
Die kleine Helena saß am Küchentisch und malte konzentriert braune, gelbe und rote Ovale auf ein Blatt. Ihr Bruder Leon, der gerade in die Küche kam, sah ihr über die Schulter.
