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Gertrud Immler braucht einen Herzschrittmacher. Doch das ist nicht ihr einziges Problem. Seit dem Tod ihres Mannes ist die zweiundachtzigjährige Rentnerin sehr einsam. Ihr einziges Kind - Tochter Annett - hat sich von ihr abgewandt und lebt irgendwo in Afrika - in welchem Land genau, weiß Gertrud nicht einmal. Als sie vor der Operation in der Berling-Klinik liegt, erreicht sie plötzlich ein Anruf: Ihr Enkel Erik ist überraschend nach Deutschland gekommen und möchte sie besuchen. Gertrud ist überglücklich! Doch ist das alles nicht viel zu schön, um wahr zu sein? Dann bittet Erik verzweifelt um Geld ...
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhalt
Der Enkeltrick
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
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Ein skrupelloser Betrüger nimmt eine Patientin der Berling-Klinik ins Visier
Von Caroline Steffens
Gertrud Immler braucht einen Herzschrittmacher. Doch das ist nicht ihr einziges Problem. Seit dem Tod ihres Mannes ist die zweiundachtzigjährige Rentnerin sehr einsam. Ihr einziges Kind – Tochter Annett – hat sich von ihr abgewandt und lebt irgendwo in Afrika – in welchem Land genau, weiß Gertrud nicht einmal.
Als sie vor der Operation in der Berling-Klinik liegt, erreicht sie plötzlich ein Anruf: Ihr Enkel Erik ist überraschend nach Deutschland gekommen und möchte sie besuchen. Gertrud ist überglücklich! Doch ist das alles nicht viel zu schön, um wahr zu sein? Dann bittet Erik verzweifelt um Geld ...
Gertrud Immler saß auf der Kante des Stuhls, der dem Schreibtisch von Dr. Walter Krüger gegenüberstand. Die Knie hielt sie fest geschlossen, ihre Hände hatte sie flach auf ihren grauen Rock gelegt. Ihr war bange vor dem, was er ihr mitteilen würde.
Der Kardiologe sah sie freundlich an.
»Wir haben jetzt sämtliche Untersuchungsergebnisse zusammen und ausgewertet, Frau Immler.«
Gertrud nickte.
»Ihre Herzfrequenz im Ruhezustand liegt im Durchschnitt bei fünfzig Schlägen in der Minute. In Ihrem Alter ...« Er warf einen Blick in seine Unterlagen. »... sollte er bei sechzig bis achtzig Schlägen liegen, eventuell sogar darüber.«
Wieder nickte Gertrud.
»Dazu kommt die zeitweilige Leistungsblockierung zwischen Vorhof und Kammer.«
Sie hätte Dr. Krüger gerne gefragt, was er damit meinte, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das klang alles nicht gut.
»... ist die Indikation für einen Herzschrittmacher gegeben.«
Sie erschrak.
»Für einen Herzschrittmacher?« Gertrud hatte ihre Stimme wiedergefunden.
»Ja.« Er lächelte ihr beruhigend zu. »Das ist heutzutage ein Routineeingriff, und danach sind Sie wieder fit wie vor dreißig Jahren.«
»Aber ... ich bin zweiundachtzig Jahre, Herr Doktor. Ist das nicht gefährlich?« Ein Zittern durchlief sie.
»Liebe Frau Immler, machen Sie sich keine Sorgen. Natürlich beinhaltet jeder Eingriff ein gewisses Risiko. Aber, wenn ich den Vergleich bringen darf, in dem Fall nicht mehr als eine Zahn-OP.«
Unwillkürlich fasste Gertrud an ihre rechte Wange. Es war erst vier Wochen her, da hatte ihr Zahnarzt einen ihrer Backenzähne entfernen müssen. Sie hatte große Angst gehabt, doch es war schnell und schmerzlos erledigt gewesen. Dennoch. Ein Herzschrittmacher war ja wohl was anderes.
»Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«, fragte sie ängstlich.
»Wir könnten einen Defibrillator einsetzen lassen«, erwiderte der Arzt mit unbewegter Miene.
Das wurde ja immer schlimmer.
»Frau Immler, Ihr Herz schlägt zu langsam, Ihnen war in letzter Zeit häufig schwindelig, und Sie sind häufig erschöpft, wie Sie mir mitgeteilt haben«, sprach der Mediziner.
»Also, gerade hab ich richtig Herzklopfen«, protestierte Gertrud mit schwacher Stimme und spürte in sich hinein. So ganz die Wahrheit war das nicht. Oder doch? Sie war nicht sicher. Vielleicht merkte sie ihren Herzschlag auch nur, weil sie sich darauf konzentrierte und nach Gegenargumenten für den Schrittmacher suchte.
»Das mag sein, weil Sie ein wenig aufgeregt sind. Insgesamt gesehen sind die Symptomatik und die Diagnostik aber eindeutig«, antwortete der Doktor.
Gertrud hielt den Blick gesenkt. Ohne aufzusehen, merkte sie, dass er sie betrachtete. Es schnürte ihr die Luft ab, und ihre Handflächen wurden feucht.
»Darf ich für Sie einen Termin in der Berling-Klinik machen lassen?«, sprach der Arzt sanft weiter. Darum musste sich wohl Hilde kümmern, seine erste Sprechstundenhilfe. Außer ihr arbeitete noch Marlene für ihn, aber nur halbe Tage. Und Claudine, die Auszubildende. Ein aufgewecktes Mädchen, fand Gertrud. Hätte sie selbst eine Enkeltochter gehabt, hätte sie sich diese wohl so vorgestellt wie Claudine.
Sie nickte stumm auf die Frage des Arztes.
»Setzen Sie mir das Gerät ein?«, erkundigte sie sich mit leiser Stimme und sah nun doch wieder auf.
»Nein. Ich denke, das übernehmen Frau Doktor Hegemann oder Herr Doktor Kovac. Bei beiden sind Sie in besten Händen.«
Sie kannte die beiden Ärzte nicht. Doch wenn Dr. Krüger für seine Kollegen sprach, so mochte es stimmen. Sie war seit Jahren bei ihm und hatte volles Vertrauen. In der Berling-Klinik war sie bisher nur zu Besuch gewesen, als Erich damals die Lungenentzündung hatte.
»Kann ich noch etwas für Sie tun, liebe Frau Immler?«, fragte Dr. Krüger freundlich.
Gertrud verstand. Mit dieser Frage wies der Mediziner stets dezent darauf hin, dass ihr Termin für diesmal beendet war.
»Nein. Vielen Dank, Herr Doktor.« Sie griff nach ihrer Handtasche und erhob sich. Ihre Knie waren ganz zittrig.
»Hilde ruft Sie an, wenn der Termin in der Klinik vereinbart ist«, sagte Dr. Krüger. Auch er stand auf und reichte ihr über den Schreibtisch die Hand. »Alles Gute, Frau Immler. Sie werden sehen, der Eingriff ist keine große Sache, und in ein paar Wochen sind sämtliche Ihrer Beschwerden kein Thema mehr.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. Er meinte es gut. Doch ihr lastete viel mehr auf der Seele als ihre Gesundheit. Wenn jetzt nur Annett dagewesen wäre. Sie fehlte ihr so.
***
Gertrud zog am Türknauf und drehte behutsam den Schlüssel. Das Schloss klemmte schon eine Weile, und der Handwerker, den sie angerufen hatte, hatte ihr einen Rückruf versprochen zwecks Terminvereinbarung. Leider wartete sie darauf jetzt schon über zwei Wochen. Es war so schwierig geworden, einen Handwerker zu bekommen. Früher hatte man angerufen, und ein oder zwei Tage später war jemand vor der Tür gestanden.
Noch ging das Schloss, wenn auch nur mit dem Trick des Heranziehens und behutsamen Aufsperrens. Doch wenn auch das nicht mehr funktionierte, so hatte sie ein Problem. Sie drückte die Tür auf und betrat den Flur. Durch die Stille ihres kleinen Hauses drang das Klacken der Pendeluhr. Das einzige Geräusch, das sie empfing.
Durch die offen stehende Küchentür konnte sie den Korb mit der Bügelwäsche sehen, der auf dem Tisch stand. Bügeln strengte sie zunehmend an, deswegen schob sie es oft vor sich her.
Die Sonne des Augusttages fiel durch den Glaseinsatz der Haustür und erhellte den Flur. Gertrud sah zu Boden. Die Sonnenstrahlen brachten an den Tag, was bei trübem Licht nicht so sehr auffiel: Sie musste durchwischen. In den Ecken sammelten sich Staub und Krümel. Woher letztere kamen, war ihr schleierhaft. Die Ecken waren besonders mühselig zu reinigen, dazu musste sie auf die Knie, sonst wurde es nicht so, dass sie zufrieden war. Früher war das geschwind erledigt gewesen. Jetzt nicht mehr, jetzt wurde ihr das alles zu viel.
Gertrud streifte ihre Schuhe ab und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Sie würde gleich nochmal bei der Firma Klemens anrufen und wegen des Termins für das Türschloss nachfragen.
Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging ins Wohnzimmer, wo das Telefon auf einem Beistelltisch neben dem Sofa stand. Sie sah zur Kommode. Darauf hatte sie eine Reihe gerahmter Fotos gestellt. Momente ihres Lebens. Sie trat näher. Wehmütig betrachtete sie die Aufnahmen. Ganz links war ein Bild von Erich und ihr, als sie frisch verlobt gewesen waren. Sie hielt ihm das Gesicht zugewandt, und er blickte ihr zärtlich in die Augen. Es war so schön gewesen. Ganz rechts stand ein Foto von ihnen beiden als Brautpaar. Strahlend blickten sie in die Kamera.
Was waren sie jung und glücklich gewesen, so voller Erwartung auf alles, was sie erhofften und was vor ihnen lag. Ein Leben in Liebe, gemeinsame Kinder, Zusammenhalt, füreinander da sein.
Mittig, zwischen Verlobungs- und Hochzeitsbild, standen etliche Bilder von Annett, ihrer Tochter. Als Baby, im Kindergartenalter, bei der Einschulung, im Urlaub an der Ostsee und so weiter. Lange Zeit hatten Erich und Gertrud auf ein weiteres Babyglück gehofft. Doch sie war nicht mehr schwanger geworden. So war Annettchen ein Einzelkind geblieben, dem es an nichts hatte mangeln sollen. Niemals hätte Gertrud es für möglich gehalten, dass es eines Tages zu einem Bruch zwischen ihr und ihrem einzigen Kind kommen würde. Einem Bruch, der hart und endgültig war. Über zwanzig Jahre war es her, seit sie zuletzt von Annett gehört hatte. Anfangs hatte sie es nicht glauben können. Sie war sicher gewesen, ihre Tochter würde wieder auf sie zukommen. Nicht unbedingt reumütig, aber doch mit dem Wunsch, Frieden zu schließen. Irgendwann war Gertrud klar geworden, dass ihr Kind sich für immer von ihr abgewandt hatte.
Das Schrillen des Telefons riss sie aus ihren Erinnerungen. War es Annett? Annett, die spürte, dass sie an sie dachte? Die ahnte, dass es ihrer Mutter nicht gut ging und die einen ärztlichen Eingriff vor sich hatte, der sie ängstigte? Es wäre zu schön gewesen. Sie eilte an den Apparat. Auf dem Display erkannte sie die Nummer der Kardiologie-Praxis Krüger.
***
Jannik Gerber ließ die elektrische Heckenschere sinken und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. Die Sommersonne schien vom klarblauen Himmel, und der Tag war sehr warm. Nicht ideal zum Schneiden einer Hecke. Die Arbeit hier war ohnehin ein Knochenjob. Es gab wahrlich weniger anstrengende Möglichkeiten, zu Geld zu kommen. Nur waren diese Möglichkeiten risikobehaftet.
Jannik legte das Gerät auf den Boden und beschloss, sich eine Pause zu gönnen. Sein Chef, Hubert Kleinbauer, war nicht da. Er wollte heute erst am späten Nachmittag kommen, wie so oft. Das war ihm sehr recht.
Sein Blick glitt über die Gräber hinter der Kapelle. Es gab einige, bei denen er sich um eine neue Bepflanzung kümmern musste und die im Schatten großer Laubbäume lagen. Sich mit ihnen zu beschäftigen, war weniger schweißtreibend. Er würde die Hecke morgen weiterschneiden – da war bewölkt gemeldet. Heute würde er nach seiner wohlverdienten Pause Lavendel, Steinkraut und Fleißiges Lieschen auf die Ruhestätten setzen.
Jannik griff wieder nach der Heckenschere. Das Ding war ziemlich schwer. Er schleppte es zum Gärtnerhaus hinter der Kapelle und brachte es in den Schuppen. Sorgfältig schloss er die Tür ab, ließ den Schlüssel einmal um seinen Zeigefinger kreisen und betrat das Gärtnerhaus. In ihm war das Büro untergebracht, eine winzige Küche und die Personaltoilette. Diese Räumlichkeiten erreichte man über einen düsteren, schmalen Flur. An der Rückseite des Gebäudes befand sich eine weitere Toilette für die Besucher des Friedhofs.
Die Luft hier war stickig. Jannik kippte das Fenster des Büros. In dem beengten Raum stand Kleinbauers Schreibtisch mit dem Computer und Bergen von Papieren, die wild durcheinander lagen. Es gab ein Regal, aus dem schmuddelige, alte Akten herauszufallen drohten, und einen kleinen Esstisch, an dem Jannik mittags seine Brotzeit machte. Oder sich eine inoffizielle Pause gönnte, so wie jetzt.
Er setzte sich und schraubte seine Thermoskanne mit dem Kräutertee auf. Aus seinem Rucksack, der unter dem Tisch stand, nahm er eines seiner Salamibrote. Er schob seinen Stuhl ein Stück nach hinten und legte die Beine auf den Tisch. Herrlich. Für einen Moment stellte er sich vor, er wäre hier der Chef und hätte das Sagen.
Es musste fantastisch sein, selbst darüber entscheiden zu können, ob und wann man arbeiten wollte. Am besten, man delegierte alles an die Angestellten. Der Chef sein, das wäre es!
Noch während er in der Vorstellung schwelgte, fiel ihm ein, über was Kleinbauer alles zeterte. Die Rechnungen von säumiger Kundschaft zum Beispiel. Nun, denen würde er jederzeit auch mit Nachdruck klar machen, dass sie zu zahlen hatten. Die Steuererklärung, die jedes Jahr gemacht werden musste und die Kleinbauer stets den letzten Nerv kostete, weil er nie die nötigen Unterlagen beisammen hatte. Und seine Frau hatte ihn auch verlassen, weil er angeblich zu viel arbeitete und keine Zeit für sie hatte. Jannik fragte sich, wann Kleinbauer zu viel arbeitete. Er war jedenfalls keine acht Stunden am Tag im Büro oder auf dem Friedhof. Aber das war ihm nur recht. So konnte er sich ein paar kleine Freiheiten nehmen. Jannik schenkte sich Tee nach.
Wenn er es genau bedachte, war die Selbständigkeit vielleicht doch nicht das Richtige für ihn. Er hatte zwar keine Frau, die ihn verlassen konnte, aber eine Steuererklärung wollte er auf keinen Fall machen. Er wusste ja gar nicht, was man da so reinschreiben musste. Es war wohl besser, er arbeitete weiter als Angestellter bei Kleinbauer und verdiente sich gelegentlich etwas dazu.
Jannik war mit seinem zweiten Salamibrot beschäftigt, als er die Eingangstür zum Gärtnerhaus quietschen hörte. Er verschluckte sich beinahe an seinem Bissen, nahm mit Schwung die Füße vom Tisch und stopfte das Brot, wie es war, in den Rucksack. Hastig würgte er hinunter, was er noch im Mund hatte. Er merkte, wie sein Gesicht heiß wurde, und schon stand Kleinbauer ihm gegenüber. Er runzelte die Stirn und sah vielsagend auf die Wanduhr mit dem Coca-Cola-Logo, die er vor Jahren bei einem Skatturnier gewonnen hatte. Es war halb elf am Vormittag.
»Was ist los, Jannik? Ich bezahl dich nicht fürs Rumsitzen«, erinnerte er ihn, hörbar schlecht gelaunt und ohne Begrüßung.
»Morgen, Chef.« Endlich hatte er den Mund leer. »Sorry, ich musste mich kurz setzen und was trinken. Der Kreislauf, bei der Wärme, Sie wissen schon.«
»Na, meinetwegen. Geht's jetzt wieder?« Verärgert musterte Kleinbauer ihn.
»Klar.« Eilig schraubte er seine Thermoskanne zu. Auf dem Tisch lagen ein paar Brotkrümel. Er überlegte, was auffälliger war: Sie liegen zu lassen oder sie mit einer Hand zusammen zu fegen und in den Papierkorb zu werfen.
»Dann mach schon«, wies der Chef ihn an, setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Offenbar hatte er die Absicht, im Büro zu bleiben.
Jannik stand auf. »Ich mach die Gräber«, ließ er seinen Chef wissen. »Die, die im Schatten liegen. Wegen meinem Kreislauf. Und die Hecke mach ich dann morgen.«
»Hm«, machte Kleinbauer geistesabwesend und bewegte die Maus. Jannik fegte rasch mit der Handkante über den Tisch, sodass die Krümel auf den Boden fielen, und trottete aus dem Büro.
***
Gertrud lief langsam zwischen den Gräberreihen über den Kiesweg bis zur Ruhestätte von Erich. Ihr heller, leichter Mantel war für den Tag zu warm, und auch das orangefarbene Tüchlein, das sie um ihren Hals gelegt hatte, hätte sie zu Hause lassen können. Doch so gekleidet wie jetzt fühlte sie sich wohl und gepflegt, für den Fall, dass sie jemanden traf. Allerdings traf sie selten jemanden. Ihre Freunde und Bekannte waren mit den Jahren immer weniger geworden. Das mochte auch daran liegen, dass sie sich, seit Erich und Annett nicht mehr da waren, mehr und mehr zurückgezogen hatte.
Gertrud blieb vor dem Grab ihres Mannes stehen. Sie legte den frischen Blumenstrauß aus roten und gelben Gerbera auf den Randstein und zog die Steckvase aus der Erde, um frisches Wasser zu holen.
Ein paar Minuten später stand die Vase wieder an ihrem Platz, und Gertrud drapierte ihren Strauß hinein. Hübsch sah das aus. Sie richtete ihren Rücken gerade. Der zwickte auch. Gertrud faltete die Hände und hielt stumme Zwiesprache mit ihrem Mann. Sie überlegte, ob sie ihm von der anstehenden Operation erzählen sollte oder lieber nicht, damit er sich keine Sorgen machte. Andererseits wusste Erich bestimmt längst davon. Er war ja irgendwie immer bei ihr.
In Gertruds Kehle wurde es eng. Er fehlte ihr so.
Sie hörte Schritte über den Kiesweg kommen und sah auf.
»Gerti«, vernahm sie die überraschte Stimme einer Frau, die nur wenig jünger als sie sein mochte.
»Herta.« Gertrud zog die Mundwinkel zu einem Lächeln auseinander, so gut es ihr in ihrem Kummer möglich war. Seit Herta Schuster, die früher bei ihr in der Nachbarschaft gewohnt hatte, zu ihrem Sohn nach Feldmoching gezogen war, hatten sie einander nicht mehr gesehen. Es mochte schon drei Jahre her sein. »Wie geht es dir?«, fuhr Gertrud fort.
»Das wollte ich dich fragen«, erwiderte Herta und reichte ihr die Hand.
»Nicht so gut«, entschlüpfte es Gertrud, die eigentlich mit der üblichen Floskel antworten wollte, dass alles bestens sei.
»Was ist los?« Aufmerksam betrachtete die ehemalige Nachbarin sie.
Gertrud zögerte.
»Komm.« Herta legte ihr die Hand auf den Arm. »Setzen wir uns einen Moment!« Sie zeigte zu einer Bank, die nur wenige Schritte entfernt von Erichs Ruhestätte stand. Hinter ihr trennte eine mannshohe Buchsbaumhecke mit saftig grünen Blättern die Reihen der Gräber voneinander.
Gertrud nickte. Beinahe trieb ihr die freundliche Anteilnahme von Herta die Tränen in die Augen.
»Nun sag, was quält dich?«, fragte Herta noch einmal.
»Es ist ... einfach alles«, stieß Gertrud hervor, die gar nicht wusste, wovon sie zuerst sprechen sollte, und brach in Tränen aus.
»Ach, Gerti.« Herta streichelte ihren Arm.
»Erich fehlt mir so und Annett ... Ich kann es einfach nicht fassen, dass sie wirklich den Kontakt zu mir abgebrochen hat«, sagte sie schluchzend.
»Ich weiß«, sagte Herta voller Mitgefühl.
»Jeden Tag denke ich an sie. Über zwanzig Jahre hab ich nichts mehr von meiner Tochter gehört! Das muss man sich mal vorstellen.« Gertrud konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. »Alles wegen dieser ... Geschichte. Ich weiß ja längst, dass ich einen Fehler gemacht habe. Einen großen Fehler. Aber ich kann nichts mehr tun, verstehst du?« Sie nestelte ein Papiertaschentuch aus ihrer Manteltasche und trocknete sich das Gesicht. »Ausgerechnet nach Afrika musste sie gehen. Weiter weg geht es ja kaum.«
Ein Anflug von Verbitterung stieg wieder in ihr auf. Rasch verdrängte sie dieses Gefühl. Es stand ihr nicht zu.
»Ich sehe ja ein, dass sie ihr eigenes Leben leben muss«, sprach sie weiter. »Aber ich habe absolut nicht damit gerechnet, dass sie eines Tages ins Ausland gehen könnte. Noch dazu so kurz nach dem Tod ihres Vaters. Gerade mal ein halbes Jahr später.«
»Du hast dich alleingelassen gefühlt«, stellte Herta fest.
»Ja«, gab Gertrud zu.
»Und Björn war auch nicht der Schwiegersohn, den du dir gewünscht hättest«, fuhr Herta fort.
