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Das Leben könnte so schön sein, wenn da nicht die ständigen Geldsorgen wären! Als freie Autorin und alleinerziehende Mutter muss Enna jeden Euro zweimal umdrehen, um den Unterhalt für sich und ihren Sohn Simon zu bestreiten. Jede unerwartete Ausgabe bringt sie an ihre Grenzen. Zu allem Überfluss mischt sich auch noch ihre Ex-Schwiegermutter Renate ein - mit gut gemeinten, aber viel zu teuren Geschenken für Simon. Was als Hilfe gedacht ist, wird schnell zum Zündstoff, denn Enna fühlt sich bevormundet. Trotzdem ist sie auf Renates Unterstützung angewiesen. Als Enna schließlich dem einfühlsamen Marco begegnet, schöpft sie neue Hoffnung. Zum ersten Mal seit Langem fühlt sich das Leben wieder leicht an. Doch ein Hilfsangebot droht, das zarte Glück zu zerstören - denn Mitleid ist das Letzte, was Enna von Marco will ...
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Leben auf Sparflamme
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Impressum
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
Weil Liebe und Geborgenheit wichtiger sind als Geld
Von Caroline Steffens
Das Leben könnte so schön sein, wenn da nicht die ständigen Geldsorgen wären! Als freie Autorin und alleinerziehende Mutter muss Enna jeden Euro zweimal umdrehen, um den Unterhalt für sich und ihren Sohn Simon zu bestreiten.
Zu allem Überfluss mischt sich auch noch ihre Ex-Schwiegermutter Renate ein – mit gut gemeinten, aber viel zu teuren Geschenken für Simon. Was als Hilfe gedacht ist, wird schnell zum Zündstoff, denn Enna fühlt sich bevormundet. Trotzdem ist sie auf Renates Unterstützung angewiesen.
Als Enna schließlich dem einfühlsamen Marco begegnet, schöpft sie neue Hoffnung. Zum ersten Mal seit Langem fühlt sich das Leben wieder leicht an. Doch sein Hilfsangebot droht, das zarte Glück zu zerstören – denn Mitleid ist das Letzte, was Enna von Marco will ...
Enna Seiler stand von ihrem Arbeitsplatz im Wohnzimmer auf und ging zum Fenster, um nach ihrem Sohn Simon zu sehen. Der Siebenjährige spielte im Garten ihres kleinen Hauses.
Sie sah, dass er sein heißgeliebtes Fahrrad aus dem Schuppen geholt hatte und nun eifrig damit um den Sandkasten radelte. Durch den Rasen, den sie demnächst mähen musste, zog sich bereits eine sichtbare Spur von der Beschäftigung ihres kleinen Jungen.
Sie hatte das Rad letzten Herbst günstig auf einem Flohmarkt erstanden, der zweimal jährlich in der Turnhalle der hiesigen Grundschule stattfand und ausschließlich Waren für Kinder von null bis etwa zehn Jahren anbot. Der Rahmen des Rads war leuchtend blau, und das Gefährt war noch in sehr gutem Zustand.
Für dreißig Euro hatte sie es gekauft und eine Woche später Simon zum Geburtstag geschenkt. Auf den Gepäckträger hatte sie ein kleines Körbchen gestellt, das mit Süßigkeiten gefüllt gewesen war, und darunter noch ein Buch gelegt, in dem es um einen kleinen Drachen ging, der kein Feuer spucken wollte.
Simon hatte sich unglaublich gefreut, und sie war sehr dankbar gewesen, ihm ein richtig schönes Geschenk für wenig Geld machen zu können. Große Sprünge ließ ihr Etat nie zu.
Enna wandte sich vom Fenster ab, setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und konzentrierte sich auf ihren Text. Sie las den letzten Absatz, den sie geschrieben hatte, noch einmal durch, und ihre Gedanken gingen in die Romanwelt, die sie eben erschuf.
Sie sah eine alte Frau vor sich, die an einem hölzernen Küchentisch saß. Die Frau trug einen gestärkten grauen Rock, der bis zu ihren Knöcheln ging, und darüber eine weiße Schürze. Mit wehmütigem Blick blätterte sie in einem Fotoalbum.
Ennas Finger glitten über die Tastatur des Computers, um das Bild, das sie im Kopf hatte, für ihre Leser auf dem Papier festzuhalten.
»Mama?«, hörte sie das leise Stimmchen ihres Sohnes.
»Hm?«, machte Enna, sah auf und wandte sich um. Im Rahmen der Terrassentür stand Simon. Er hielt drei Kuverts in der Hand.
»Der Postmann war da«, ließ er sie wissen.
Auf seinem kleinen Gesicht erkannte sie einen ängstlichen Ausdruck. Simon streckte den Arm aus, um ihr die Briefe zu geben.
»Komm doch bitte her, mein Schätzchen«, sagte Enna freundlich.
Ihr Sohn kam zu ihr, und sie nahm ihm die Post ab. Rasch blickte sie auf die Absender. Ein Brief war von den Stadtwerken. Darin ging es vermutlich um die von den Medien bereits angekündigte Erhöhung des Strompreises.
Der zweite Brief kam von ihrem Autohändler. Auch hier ahnte sie schon jetzt, worum es ging. Der Kundendienst bei ihrem Wagen stand an. Der Händler, der eine hauseigene Werkstatt hatte, erinnerte sie regelmäßig an die Wartung.
Der letzte Brief war von der Firma Sanitär Geblein. Im Kuvert würde die Rechnung für den Austausch des durchgerosteten Siphons vom Küchenwaschbecken sein. Vor einer guten Woche war der Handwerker da gewesen, und seither graute ihr vor der Forderung.
»Ist da was dabei, wo du wieder viel Geld bezahlen musst?«, fragte Simon sorgenvoll.
»Ich weiß es nicht, ich muss die Briefe erst aufmachen«, wich Enna aus.
Für Geblein ganz sicher. Auf ihre Frage, wie teuer der Austausch kommen würde, hatte der Handwerker mit den Schultern gezuckt und gemeint, so schlimm würde es nicht werden. Etwa hundert Euro, vielleicht hundertzwanzig, hatte er gemeint. Das war viel Geld für Enna, zumal sie wusste, dass der Betrag sich erfahrungsgemäß auf das Material bezog. Dazu kamen die Mehrwertsteuer, die Fahrtkosten und der Stundenlohn des Handwerkers.
Doch sie wollte ihren kleinen Jungen nicht noch mehr mit ihren Geldsorgen belasten. Simon schob die Hände hinter den Rücken.
»Kannst du mir trotzdem das Geschenk für Luca kaufen, damit ich auf seinen Geburtstag kann? Auch, wenn du wieder viel bezahlen musst?«, fragte er bekümmert. Mit Luca, der in seine Klasse ging, war Simon seit Kindergartenzeiten befreundet.
»Aber selbstverständlich, mein Kleiner«, beruhigte Enna ihren Sohn.
Irgendwie würde sie es möglich machen. Glücklicherweise waren Lucas Eltern recht bodenständig. Von Lucas Mutter wusste sie, dass ihr Sohn sich ein ganz bestimmtes Buch über Lokomotiven wünschte, das knapp zehn Euro kostete. Das wollte sie am Wochenende zusammen mit Simon besorgen und eine Tüte Gummibärchen dazu.
»Mama?«, unterbrach ihr Sohn ihre Gedanken. »Der Postmann hat gesagt, er hat einen Fahrradkorb für mich. Darf ich den haben? Er will ihn morgen mitbringen.«
Enna lächelte. Herbert Weigel stand kurz vor der Rente. Er war Großvater von zwei Jungen und einem Mädchen und hatte Simon, schon als er noch ein Kleinkind gewesen war, gerne gelegentlich etwas mitgebracht, woran seine Enkel nicht mehr interessiert gewesen waren. Förmchen für den Sandkasten zum Beispiel oder ein einfaches Memory-Spiel mit nur wenigen Bildpaaren.
»Natürlich, Simon.« Sie strich ihm über die zarte Schulter. Sie würde dem gutmütigen und sympathischen Herrn Weigel ein Schälchen ihrer selbst hergestellten Kräuterbutter zum Dank geben. Sie wusste, wie sehr er sie mochte.
»Au ja!« Ihr Junge strahlte jetzt. »Dann kann ich zum Einkaufen fahren, und alles in meinen Korb legen. Wenn du mir das Geld gibst, kann ich das Buch für Luca kaufen.«
»Wir fahren zusammen einkaufen«, dämpfte Enna seine Aufregung. Alleine wollte sie ihn nicht in die Innenstadt radeln lassen, die gut zwei Kilometer entfernt lag. In dem Wohngebiet, in dem ihr Haus stand, gab es keine Einkaufsmöglichkeiten.
»Na gut.« Simon legte den Kopf schief. »Dann kaufe ich eben im Garten ein. Blätter für einen Salat oder Sand für einen Kuchen. Der ist dann das Mehl.«
»Das ist eine prima Idee«, lobte Enna. »Aber jetzt muss ich noch ein bisschen arbeiten.«
»Bekomm ich später Nudeln? Mit roter Soße?«, bat Simon, ohne auf ihren Hinweis einzugehen.
»Einverstanden«, stimmte sie zu, da sie ohnehin noch nicht gewusst hatte, was sie heute kochen wollte.
»Ich helfe dir auch«, versicherte Simon. »Ich mach fast alles ganz alleine, dann kannst du mehr arbeiten. Nur den Topf musst du auf den Herd stellen, der ist mit Wasser darin zu schwer.«
»So machen wir das«, bejahte sie das Angebot.
»Bis dann, Mama.« Simon rannte aus dem Zimmer. Sorgfältig zog er die Terrassentür hinter sich zu.
Enna wartete, bis er außer Sichtweite war, dann öffnete sie ihre Post. Die Stadtwerke hatten tatsächlich den Strompreis erhöht, jedoch so gering, dass sie beschloss, es sich nicht zu Herzen zu nehmen. Die Autowerkstatt erinnerte, wie vermutet, an den Termin zur Wartung und bot auch gleich neue Fußmatten an, mit zehn Prozent Preisnachlass, wenn der Wartungstermin innerhalb der nächsten vierzehn Tage vereinbart wurde.
Neue Fußmatten waren das Letzte, was Enna brauchte.
Sie schlitzte mit dem Brieföffner das Kuvert von Sanitär Geblein auf, zog die Rechnung heraus und klappte sie auf. Zweihundertfünfundzwanzig Euro achtzig, zahlbar sofort. Mit etwa hundertachtzig Euro hatte sie gerechnet. Nun waren es noch mal fünfundvierzig Euro mehr.
Zusammen mit den in den kommenden Tagen anstehenden Abbuchungen für die Stadtwerke, die Telefonrechnung und den vierteljährlichen Zahlungen für die Grundsteuer reichte das Geld auf ihrem Konto wieder nicht. Sie musste zum x-ten Mal auf ihr zusammenschmelzendes Sparguthaben zurückgreifen. Viel war auch da nicht mehr vorhanden.
Enna legte sämtliche Schreiben in die rechte obere Schublade ihres Schreibtisches. Sie beschloss, das zahlbar sofort für ein paar Tage zu ignorieren, und widmete sich wieder ihrem Roman. War er fertig und an den Verlag geschickt, stand kurz darauf ein Zahlungseingang an. Wenn sie sparsam wirtschaftete, konnte sie davon vielleicht doch die Rechnung für Geblein bezahlen, ohne ihre Rücklagen zu schmälern.
♥♥♥
Renate Seiler hielt mit ihrem dunklen Sportwagen gegenüber der Grundschule und stellte den Motor ab. Noch lag der Schulhof verlassen in der Mittagssonne, doch in wenigen Minuten, wenn der Gong das Ende der vierten Unterrichtsstunde verkündete, würden die Jungen und Mädchen, für die der Schultag für heute beendet war, aus dem Gebäude drängen.
Renate nahm ihre Sonnenbrille ab und legte sie ins Handschuhfach. Simon mochte es nicht, wenn sie sie trug. Er meinte, er könne sie dann nicht richtig angucken. Der Schulbus kam, wendete und hielt an der Bushaltestelle.
Ein melodischer Gong ertönte, und gleich darauf wurde die breite, zweiflügelige Eingangstür vom Hausmeister geöffnet und mit zwei keilförmigen Türstoppern am Wiederzuklappen gehindert. Die ersten Schüler schoben sich an ihm vorbei.
Renate beobachtete die Kinder. Es wurden immer mehr, Simon war nicht darunter. Die meisten liefen zum Bus, einige machten sich zu Fuß auf den Heimweg. Zwei weitere wurden ebenfalls abgeholt. Die Kinder wurden weniger, Simon war noch immer nicht aufgetaucht.
Renate trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Sorgen machte sie sich nicht. Simon trödelte gelegentlich. Abermals ging ihr Blick zum Schulhof und zur Eingangstür des Gebäudes. Jetzt waren keine Schüler mehr zu sehen. Nun wurde sie doch unruhig. Eben überlegte sie, auszusteigen und sich im Gebäude umzusehen, als Simon mit gesenktem Kopf durch die Tür trottete. Mit schlurfenden Schritten und ohne aufzublicken, tappte er über den Hof, kickte gegen etwas, was Renate sich als Kieselsteinchen erschloss, und schob die Daumen in die Hosentaschen.
Ob er eine schlechte Note geschrieben hatte? Oder sich mit einem Mitschüler gezankt hatte? Simon trat durchs Tor, und jetzt sah er auf. Renate winkte ihm zu und lächelte. Ihr Enkel verzog keine Miene und erwiderte auch den Gruß nicht. Ordnungsgemäß sah er nach links und rechts, ehe er die Straße überquerte und zur Beifahrertür ging. Dort lag seine Sitzerhöhung auf dem Sitz.
»Hallo, Oma«, murrte er, stopfte seine Schultasche und seinen Turnbeutel in den Fußraum und kletterte auf seinen Platz.
»Hallo, mein Junge. Hattest du Ärger?«, fragte Renate und musterte sein kleines Gesicht.
»Nö«, behauptete Simon. Er legte den Sicherheitsgurt an. »Nur der Tom ist doof.«
»Weil?«, forschte sie weiter und ließ den Motor an.
»Er hat gesagt, meine Turnschuhe sehen voll doof aus und sind uncool«, stieß Simon hervor, und sein Stimmchen wackelte jetzt.
Renate ließ den Motor an. Zu dem Thema hätte sie jetzt eine Menge sagen können, doch was konnte der Junge dafür, dass ihre Schwiegertochter Enna sich immer nur das Billigste leisten konnte, weil sie sich der brotlosen Kunst des Schreibens widmete. Wobei sie in ihrem eigentlichen Beruf als Bürokauffrau wohl auch nur gerade so ihr Auskommen gehabt hätte. Sie war einfach keine Frau, die nach Höherem strebte, sehr zu Renates Leidwesen. Sie setzte den Blinker und fuhr nach einem Blick in den Rückspiegel an.
»Das war nicht nett von Tom«, sagte sie statt der Worte, die ihr auf der Zunge lagen.
Simon schniefte und rieb sich mit dem Unterarm über die Augen.
»Was hältst du davon, wenn wir in der Stadt zu Mittag essen?«, schlug sie vor, um den Jungen von seinem Kummer abzulenken. Von dem vorbereiteten Hackbraten konnte sie einen Teil einfrieren und den anderen Teil morgen essen.
»Beim Pizzamann?«, fragte Simon und klang hoffnungsvoll.
»Wenn du möchtest.« Sie hatte zwar an das Restaurant Maries Speisestube in der Fußgängerzone gedacht, die erstklassige Küche anbot, doch hauptsächlich ging es darum, Simon aufzumuntern.
»Ja, das mag ich«, sagte ihr Enkel und sah nun aus dem Fenster.
»Hast du viele Hausaufgaben?«, erkundigte Renate sich. Wenn sich die Hausaufgaben im Rahmen hielten, konnten sie nach der Pizza in die Stadt gehen und in diverse Schuhgeschäfte sehen. Bestimmt fanden sich ein paar schöne Turnschuhe für den Jungen.
»Geht so. Bekomm ich eine Cola dazu?«, fragte er.
Mit »geht so« konnte sie nichts anfangen. Sie würde sich die anstehenden Aufgaben zeigen lassen, ehe sie zu Antonios Pizzeria gingen.
»Ja, aber nur eine kleine Cola«, stimmte Renate zu. Das Zuckerzeug war doch sehr ungesund. Zumindest in dem Punkt waren ihre Schwiegertochter und sie sich einig.
Wenige Minuten später parkte sie unweit der Pizzeria in einer Seitenstraße. Auf ihre Bitte hin zeigte Simon ihr, was er bis zum nächsten Tag erledigen musste. Zwei Rechenaufgaben waren zu lösen, ein kurzes Gedicht mit nur vier Zeilen sollte er auswendig lernen, und ein paar Fragen zu Heimat- und Sachkunde auf einem Arbeitsblatt beantworten.
Das war problemlos zu schaffen, ehe Enna ihren Sohn um siebzehn Uhr dreißig bei ihr abholen würde. Renate würde mit ihrem Enkel nach dem Essen in die Stadt gehen und ihm angemessene Turnschuhe kaufen.
♥♥♥
Enna lief den schmalen, mit hellen Pflastersteinen belegten Weg entlang, der von der Gartenpforte zur Haustür des großzügigen Anwesens ihrer Schwiegermutter verlief. Der Rasen war wie immer perfekt geschnitten. Dies erledigte seit geraumer Zeit ein Rasenmäh-Roboter, der für Ennas Empfinden beständig über das Grundstück zockelte. Jetzt sah sie das kleine Gerät nirgends. Der Garten wurde zur Straße hin von einer halbhohen Mauer begrenzt. An ihr entlang wuchs Flieder in den Farben Weiß, Lila und Hellblau. Er verströmte seinen betörenden Duft, den Enna so mochte.
Die Rosenranke, die sich an einer Ecke des Hauses emporreckte, trug reichlich Knospen, doch noch waren sie nicht aufgebrochen.
Enna blieb vor der Haustür stehen. Sie war aus dunklem Holz und mit einer bogenförmigen Schnitzerei versehen. Über Kopfhöhe waren in Kursivschrift die Initialen der Eigentümer eingebrannt.
R. + G. Seiler
R stand für Renate, G für ihren verstorbenen Mann Gustav, wusste Enna. Man hätte aber auch denken können, dass das G für ihren Sohn Georg stand.
Enna drückte auf den runden, messingfarbenen Knopf der Klingel rechts neben der Tür.
»Oma! Die Mama ist da!«, hörte sie ihren kleinen Jungen von innen rufen.
Ihr Blick ging zum gekippten Fenster der Küche. Das Fenster wurde geschlossen, ohne, dass Renate hinaussah. Ob und was sie antwortete, konnte Enna nicht hören. Sie wartete darauf, dass geöffnet wurde. Es dauerte gefühlt endlos, bis die Tür aufging.
Renate blickte sie mit unbewegter Miene und ohne jedes Lächeln an. »Hallo, Enna«, sagte sie nur.
»Hallo, Renate«, erwiderte Enna, ebenso zurückhaltend. Simon drängte sich an seiner Großmutter vorbei.
»Mama, Mama, ich hab ...«
Renate legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. »Simon hat alle seine Hausaufgaben ganz alleine gemacht«, vollendete sie für das Kind den Satz. Simon sagte nichts mehr.
Enna wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr etwas anderes hatte mitteilen wollen, was Renate eben noch verhindert hatte. Bestimmt erzählte es ihr ihr Kleiner auf dem Heimweg.
»Wunderbar, mein Schatz«, lobte sie Simon.
Renate legte den Arm um die Schultern des Kindes und drückte es an sich. »Es war ein sehr schöner Nachmittag, nicht wahr, mein Schatz?«, sagte sie.
Der Junge nickte, sprach aber jetzt nicht mehr.
»Hol deine Sachen, Simon. Wir sehen uns am Samstag«, fuhr Renate fort, an den Jungen gewandt.
»Das geht nicht, Oma. Da bin ich bei Luca, auf seinem Geburtstag.«
»Was?« Empört sah Renate Enna an. »Warum weiß ich davon nichts? Das ist mein Nachmittag!«
»Ich mag aber zu Luca, Oma. Ich komm dich ja wieder besuchen«, versicherte Simon. Er wandte sich ab, lief zur Treppe und in den ersten Stock hinauf. Dort befand sich unter anderem das ehemalige Kinderzimmer von Georg, seinem Vater. Das hatte Renate schon vor Langem ihrem Enkel zur Verfügung gestellt.
»Enna? Wann wolltest du mir sagen, dass der Samstagnachmittag ausfällt?«, regte ihre Schwiegermutter sich auf.
Enna stand noch immer auf der Treppenstufe vor der Haustür. Renate machte keine Anstalten, sie hereinzubitten, doch auch das war nichts Neues.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich war sicher, Simon hätte es dir erzählt.«
»Hat er nicht.« Renate verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann komme ich am Sonntag zum Kaffee zu euch«, beschloss sie.
»Am Sonntag mache ich mit Simon einen Ausflug«, ließ Enna sie wissen. Ein paar Sekunden rang sie mit sich. »Du kannst gerne mitkommen«, ergänzte sie schließlich. Leicht fiel ihr das Angebot nicht, so ablehnend, wie Renate sich ihr gegenüber meist verhielt.
»Wohin möchtest du?«, fragte ihre Schwiegermutter, ohne eine Miene zu verziehen.
»Mit den Rädern ins Schwimmbad und dort picknicken«, gab sie Auskunft.
Renate verdrehte die Augen. »Da mag am Sonntag stehender Betrieb sein, bei dem herrlichen Wetter, welches angekündigt ist«, entgegnete sie. »Und dazwischen toben Kinder allen Alters rum. Das ist nichts für mich. Kannst du den Ausflug nicht verschieben?«
»Nein. Simon freut sich schon darauf«, erwiderte Enna. Sie gestand sich ein, dass es ihr durchaus recht war, den Nachmittag alleine mit Simon zu verbringen.
Der Junge kam die Treppe herunter. Über seiner Schulter hing sein Turnbeutel, in der rechten Hand trug er die Schultasche, an der er schwer zu schleppen hatte. Enna registrierte, dass die Tasche ausbeulte, als steckte ein größerer Gegenstand darinnen. Das war am Morgen noch nicht der Fall gewesen. Wahrscheinlich hatte Renate Simon wieder etwas aus der Kindheit von Georg überlassen, was er mit nach Hause nehmen wollte.
