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China ist ein bemerkenswerter Sonderfall. Ausgerechnet eine kommunistisch regierte Bauernnation des Ostens macht praktisch wahr, was der Westen seinen in die Freiheit entlassenen Kolonien als Chance einer Teilnahme an der Staatenkonkurrenz des kapitalistischen Weltmarkts verkaufen wollte: China schafft eine wahrhaft nachholende"Entwicklung", schließt zu den etablierten Nationen auf, wird kapitalistische Weltmacht. Anhänger einer früher antikapitalistisch inspirierten Dritte-Welt-Bewegung können sich heute fragen, ob es das war, wovon sie geträumt haben... Renate Dillmann geht der Frage nach, wie die 30 Jahre Aufbau des Sozialismus und die 30 Jahre Aufbau des Kapitalismus eigentlich zusammenpassen, die in China unter derselben KP-Führung auf die Tagesordnung gesetzt und durchgezogen wurden. Wo ist der rote oder weniger rote Faden? Die zentrale These ihres Buches: Schon in Theorie und Praxis der KP unter Mao ist die Unterordnung aller sozialistischen Ambitionen unter das Ziel der Befreiung, Einigung und schließlich des Aufbaus einer machtvollen chinesischen Nation grundgelegt. Dieses Ziel wird dann unter Deng und den Nachfolgern weiter verfolgt, mit "kapitalistischen Methoden" vorangetrieben und zu erstaunlichen Erfolgen geführt. Die Autorin ist aber weit davon entfernt, ihre Erläuterung der Entwicklung Chinas auf einen simplifizierenden Nenner zu bringen. Ihre anschauliche, mit viel Material angereicherte Schilderung und begriffliche Durchdringung führt den Leser durch die Etappen der jüngeren chinesischen Geschichte. Westliche Freunde und Feinde des "Maoismus" werden dabei ebenso kritisch gewürdigt wie die Urteile der bürgerlichen und linken Öffentlichkeit zur heutigen Volksrepublik.
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Seitenzahl: 781
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Renate Dillmann ist freiberufliche Journalistin. Studium der Politikwissenschaft und Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, Promotion (Staatstheorie) an der Fernuniversität Hagen. Seit vielen Jahren außerdem Lehrbeauftragte an der Evangelischen Fachhochschule Bochum, mehrere Forschungsaufenthalte in China.
Seit der ersten Auflage dieses Buchs sind mehr als zehn Jahre vergangen. In dieser Zeit hat sich China weiter entwickelt: mit seinen Wachstumsbilanzen und mit der Erschließung weiterer Ressourcen, als Teilnehmer am Weltmarkt, als Konkurrent um Einfluss in der Welt. Das sind die Gesichtspunkte, die in der globalen Staatenkonkurrenz zählen. Kein Wunder also, dass viel über China berichtet und ebenso viel gestritten wird.
Schön, dass nun eine ergänzte 4. Auflage zustande kommt. Denn dieses Buch hat sich immerhin zum Ziel gesetzt, das heutige China, das sich nach Maos Tod ökonomisch zum Kapitalismus gewendet hat und damit ungemein erfolgreich ist, ökonomisch und politisch in seinen wesentlichen Zügen zu erklären. Trotz aller Veränderungen, die zu konstatieren sind, braucht die prinzipielle Analyse des Landes, wie sie 2009 vorgelegt wurde, nicht korrigiert zu werden.
Sie enthält unter anderem Antworten auf Fragen, die in aktuellen Diskussionen immer wieder aufkommen:
Was sind die Gründe für den Aufstieg dieses Landes, der in dieser Form von den westlichen Welt- und Großmächten weder erwartet noch gewollt wurde?
Wo liegen Unterschiede zur Sowjetunion und deren Niedergang unter und nach Gorbatschow?
Warum ist der chinesische Sozialismus gescheitert? Oder ist das gegenwärtige China ganz im Gegenteil der erste erfolgreiche Sozialismus der Menschheitsgeschichte?
Wieso ist China gelungen, was viele Entwicklungsländer angestrebt haben? Wieso ist ausgerechnet China die Entwicklung vom ehemals (halb)kolonialen Land zur industrialisierten und technologischen Großmacht gelungen?
Ist das moderne China ein besonders „böser“ Fall von kapitalistischer Ausbeutung samt repressivem Staat? Oder steht China für eine neue, friedliche Variante einer kapitalistischen Großmacht?
Einleitend sollen einige nötige Ergänzungen und Fortschritte festgehalten werden: zur Ökonomie Chinas (Entwicklung der Produktivkräfte, Binnenmarkt, Löhne und Sozialversicherungen, Sozialkreditsystem, Exkurs zur chinesischen Corona-Politik) wie zu seiner Außenpolitik (Neue Seidenstraße, Aufrüstung, Streit um die Inseln im südostasiatischen Meer).
Es folgen ein paar Überlegungen zur Darstellung Chinas in den deutschen Medien, die in den letzten Jahren immer mehr den Charakter eines Feindbildes angenommen hat.
Im Übrigen wurden die Teile Teile „1: Der Sozialismus in der Volksrepublik China“ und „2: Der Kapitalismus in der Volksrepublik China“ unverändert übernommen.
China verfügt heute – mehr als 40 Jahre nach Beginn seiner Öffnungspolitik, die noch von Mao Zedong eingeleitet und von Deng Xiao Ping mit einer neuen Zielsetzung versehen wurde – über enormen materiellen Reichtum, über Produktionskapazitäten in allen wesentlichen Zweigen, über weit entwickelte Produktivkräfte und über den größten Devisenschatz aller Zeiten.
Einige seiner Provinzen sind bereits mit weltweit modernster Infrastruktur ausgestattet. 80 % der chinesischen Städte über 200.000 Einwohner sind mit Hochgeschwindigkeitszügen verbunden. Das Land ist inzwischen in der Lage, Großprojekte autonom und schnell durchzuführen. Exemplarisch steht dafür der neue, letztlich für 72 Millionen Passagiere ausgelegte Groß-Flughafen in Beijing Daxing, dessen Planung 2013 begann und der 2019 bereits eröffnet wurde. China treibt seine Energieversorgung mit regenerativen Energien (inzwischen 26,5 % der Stromerzeugung) und 47 Atomkraftwerken (3,5 % der Stromerzeugung) schnell voran. Es ist die größte Schiffsbau-Nation der Welt, verfügt über moderne Chemie-Standorte, eine Raumfahrttechnik, die gerade eine unbemannte Mondlandung zustande gebracht hat.
Über Jahre hinweg hieß es, dass die Volksrepublik das „beeindruckende Tempo“ ihrer Entwicklung nur mit Hilfe von Industriespionage und der Erpressung von Technologie-Transfer vorantreiben könne. Heute konstatieren zumindest die differenzierteren Stimmen, dass chinesische Wissenschaftler wie Unternehmen bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Patentanmeldungen ganz vorne mitmischen: 2017 kamen der National Science Foundation zufolge aus China mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen als aus jedem anderen Land der Welt; der chinesische Konzern Huawei belegte bereits dreimal den Spitzenplatz der globalen Rangliste der Weltorganisation für geistiges Eigentum, und beim Europäischen Patentamt liegt er ebenfalls vorn.1
Chinas Kommunistische Partei stellt ihre Wirtschaftspolitik2 angesichts unübersehbarer sozialer Härten und ökologischer Zerstörung gerne als lästigen, aber nötigen „Umweg“ auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft dar. Statt weiter den Irrwegen des maoistischen „Armutskommunismus“ zu folgen, sollen mit „kapitalistischen Methoden“ die Produktivkräfte entwickelt und ausreichend materielle Mittel erzeugt werden3, um dann erstmals eine wirklich sozialistische Gesellschaft starten zu können.
Nehmen wir für einen Moment an, diese staatliche Selbstdarstellung sei wahr. Dann sähe die Geschichte der letzten vier Jahrzehnte ungefähr so aus: Die ungemein harten Arbeitsbedingungen in den Fabriken und an den Baustellen, die Lebensmittelskandale chinesischer Unternehmen, die offenbar beschleunigt „reich“ werden wollten und dafür die Vergiftung ihrer kleinen und großen Mitbürger in Kauf genommen haben, die gewaltsamen Enteignungen chinesischer Bauern durch lokale Behörden, die Gewerbegebiete ausweisen wollten, die Zerstörung von Luft, Land und Flüssen als Mittel einer profitablen Produktion – all das wäre die etwas „dornige“ Art und Weise, mit der letztlich „Gutes“ erreicht werden soll. Dieses Ziel wäre nun erreicht! Chinesische Arbeiter_innen hätten sich lange genug abgeschuftet im Dienst an der Produktion billiger T-Shirts und teurer I-Phones. Sie hätten ihrem Land damit die erwünschten Mittel und Produktivkräfte verschafft und könnten ab jetzt die Früchte dieser Jahre genießen …
Ihre eigene Darstellung dementiert allerdings vor allem die chinesische Führung selbst. Gegen das eventuelle Missverständnis, dass sie den Weg zur ersehnten „sozialistischen Gesellschaft“ in etwa so gemeint habe – einige Jahrzehnte harter Arbeit und danach endlich sichere, auskömmliche und behagliche Lebensverhältnisse für alle –, setzt sie regelrecht programmatisch ihre nächste mittel- und langfristige Zielbestimmung: „Der chinesische Staatsrat kündigte im Mai 2015 ,Made in China 2025‘ als nationale Initiative zur Verbesserung der verarbeitenden Industrie an – zunächst bis 2025 und dann bis 2035 und 2049. Das letztendliche Ziel ist die Umwandlung Chinas in eine weltweit führende Produktionsmacht.“4
Weltweit führende Produktionsmacht zu werden – das ist das Ziel, das Chinas Kommunisten sich selbst setzen. Das nimmt an etwas anderem Maß als an einer guten Versorgung und einem angenehmen Leben der eigenen Bevölkerung. Weniger Arbeit, weniger Stress, mehr Lebenssicherheit und mehr Genuss werden nicht angekündigt. Dauernde Sorgen um den Arbeitsplatz und das nötige Geld, um die Gesundheit angesichts der Belastungen an Arbeitsplätzen und im sonstigen Leben mit Lärm, Luftverschmutzung und schädlichen Lebensmitteln gehören auch im heutigen China einfach dazu – ein qualitativer Unterschied zum Leben in den westlichen kapitalistischen Staaten ist nicht zu erkennen. Die regierungsoffizielle Zielvorgabe in dieser Frage sieht vor, dass das Volk sich an Arbeitsplätzen aller Art, deren Zweck sich daran bemisst, dass an ihnen Geld produziert wird, ein Leben lang um „bescheidenen Wohlstand“ mühen darf (Original-Ton der KP).
Angesichts dessen, wie es im Rest der Welt aussieht, hat das in der Tat schon fast den Charakter einer Verheißung. Aber eben auch nur angesichts dessen.
Die staatliche Zielbestimmung zielt im Kern jedenfalls auf anderes: In ihr geht es programmatisch um die internationale Konkurrenz kapitalistischer Staaten. Darin will die Volksrepublik China eine führende Rolle einnehmen – auf allen Feldern, die dazugehören, von der Technologieführerschaft bis hin zur Konkurrenz der Militärmächte und der dafür nötigen Aufrüstung.
„Made in China 2025“ zeigt den Stand des bisher Erreichten und Zielsetzung für die nächsten Jahre an. Dieses Programm baut darauf auf, dass die Volksrepublik in den letzten Jahrzehnten bereits sehr weit damit vorangekommen ist, sich selbst international konkurrenzfähige Unternehmen zu verschaffen, sprich: die Abhängigkeit von ausländischem Kapital zu verringern5. Es zeigt zudem, dass der chinesische Staat eine aktive und zielgerichtete nationale Industriepolitik betreibt, auch wenn inzwischen 50 % seiner Unternehmen keine Staatsunternehmen mehr sind.
Einige Beispiele – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Die staatliche Förderung von 15 Megaprojekten im Bereich von KI (Künstlicher Intelligenz) im 13. Fünfjahresplan, der Einbezug von Unternehmensvertretern aus diesem Bereich in die zahlenmäßig kleine, aber einflussreiche Politische Konsultativkonferenz des Volkskongresses, der staatlich initiierte Aufbau von 8.000 Gründerzentren
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Der Aufbau des größten E-Auto-Markts der Welt durch Interventionen der chinesischen Regierung: jährlich steigende Quote für reine Elektro- und Hybridautos (2019); Ende der Zulassung reiner Verbrennungsmotoren für 2035 angekündigt
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; Umrüstung auf E-Bus-Flotten, wie bspw. in Shenzen, wo 16.000 E-Busse fahren. Chinesische Autohersteller wie Baic und Geely erobern durch den Umstieg auf E-Mobilität inzwischen rasch wachsende Marktanteile in China, viele westliche Autohersteller (Buick, Chevrolet, Ford, Citroen, Peugeot, Fiat) verlieren dagegen oder sind bereits ausgestiegen. Umgekehrt wollen Chinas Autokonzerne mit ihren E-Modellen nun auf den europäischen Markt; Batterien für E-Autos muss die deutsche Autoindustrie aus Südkorea oder China beziehen.
Der Aufbau einer konkurrenzfähigen Flugzeugproduktion in China: Comac (Commercial Aircraft Corporation of China) arbeitet seit einigen Jahren daran, die bisher mit Boeing- und Airbus-Modellen ausgerüsteten chinesischen Fluglinien mit „heimischen“ Flugzeugen versorgen zu können. Obwohl noch nicht fertig, liegen bereits 815 Bestellungen von chinesischen Airlines vor.
Diese und ähnliche Interventionen der chinesischen Staatsführung in ihre Wirtschaft werden der Volksrepublik von westlichen Politikern gerne als unlautere Eingriffe in den Wettbewerb zum Vorwurf gemacht; sie vergessen dabei gerne, welche Rolle auch in ihren Ländern staatliche (Kredit-)Hilfen bzw. Staatsunternehmen beim Aufbau konkurrenzfähiger Global Player gespielt haben und auch heute noch spielen (Volkswagen, Airbus, die Energiewirtschaft mit Atomkraftwerken wie alternativen Energien, Landwirtschaft, E-Mobilität, „Industrie 4.0“ – um nur einige deutsche Projekte zu nennen, die mit staatlicher Beteiligung, Staatssubventionen oder -krediten gegründet, reguliert oder gefördert werden)8. Umgekehrt gelten Chinas Staatseingriffe aus linker Perspektive als Anhaltspunkte dafür, dass China doch noch immer eine Art „Planwirtschaft“ sei – was einfach weglässt, welchem Ziel diese Eingriffe dienen. Es geht um den Aufbau von Unternehmen, die in der Weltmarktkonkurrenz erfolgreich abschneiden sollen – das ist das Unterfangen, bei dem die Volksrepublik erfolgreich sein will und das ihre Führung daher umsichtig und „planmäßig“ angeht.
Dass solche staatlichen Interventionen in den kapitalistisch erfolgreichen westlichen Staaten zumindest in der Zeit vor „Corona“ nicht die gleiche Rolle wie in China spielen, sondern in den letzten Jahren eher eine Tendenz zur Privatisierung von Staatsunternehmen vorherrscht, liegt vor allem am zeitlichen Vorsprung, den diese Länder beim Aufbau ihres nationalen Kapitalismus haben. Es wird eine interessante Frage sein, ob die dazu passende ideologische Vorstellung vom Vorteil einer al umfassenden Liberalisierung (Stichwort: Neoliberalismus) angesichts der nach vorne stürmenden chinesischen Konkurrenz ihre besten Zeiten hinter sich hat …
Gerade weil chinesische Unternehmen auf dem Weltmarkt erfolgreich agieren sollen, will Chinas Führung das Land ein Stück weit weniger erpressbar machen und baut seinen Binnenmarkt weiter aus. Die Unternehmen sollen nicht alternativlos angewiesen sein auf internationale Zulieferer und Absatzmärkte, gerade angesichts dessen, dass USA und EU dem Land mit Importzöllen, exklusiven Handelsabkommen und zuletzt unberechenbaren Sanktionen immer mehr Hemmnisse in den Weg legen. Dieses Programm beinhaltet die gerade vorgestellten industriepolitischen Offensiven ebenso wie die staatliche Förderung alternativer Energieerzeugung, mit der die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten vermindert werden soll.
Die Verfügung über zuverlässige Energiequellen zu sichern, gehört zu den elementaren Aufgaben jedes Staats, der seine Wirtschaft kapitalistisch erfolgreich machen und dafür die Abhängigkeit von Lieferstaaten minimieren will , die möglicherweise von seinen Konkurrenten/Gegnern unter Druck gesetzt werden. Darüber hinaus zielt kapitalistische Energiepolitik darauf ab, den Unternehmen möglichst billig möglichst viel Energie als Bedingung für eine möglichst umfangreiche Automatisierung und Digitalisierung ihrer Konkurrenzanstrengungen zur Verfügung zu stellen. Atomkraftwerken sind – insbesondere mit Blick auf Entsorgung und Endlager – nicht unbedingt kostengünstig, aber sie stehen ganz und gar unter der eigenen Regie. Die Gefährlichkeit dieser Art der Stromerzeugung fällt in den staatlichen Kalkulationen deshalb mit schöner Regelmäßigkeit unter den Tisch. Auch China hat sich – sogar nach dem Reaktorunfall Fukushima in seiner unmittelbaren Nachbarschaft und einigen Erdbebenkatastrophen im eigenen Land! – für den weiteren Ausbau seiner AKWs entschieden: 47 Atommeiler sind bereits in Betrieb, weitere sollen gebaut werden. Gibt es Protest dagegen? Durchaus. „Wenn die Anwohner definitiv gegen ein Projekt sind, dann kippen wir es“, lässt sich ein Beamter der obersten Energiebehörde NEA zitieren.(https://www.ausgestrahlt.de/informieren/atomkraft-in-anderen-laendern/atomkraft-china/). Zwei wichtige Bauvorhaben (eine Wiederaufbereitungsanlage in der Nähe von Shanghai und eine Brennelementefabrik in der Provinz Guangdong) wurden nach örtlichen Protesten zurückgezogen.
„Allerdings lässt die Entwicklungs- und Reformkommission auch Sonne, Wind und Wasser in Rekordgeschwindigkeit ausbauen. Im Jahr 2015 hat sie 110 Milliarden Euro in erneuerbare Energien gesteckt, bis 2020 sind Ausgaben in Höhe von 350 Milliarden Euro geplant. Insgesamt sollen dann Windkraft- und Solaranlagen mit einer Kapazität von 320 bis 400 Gigawatt am Netz sein plus mindestens 340 Gigawatt Wasserkraft. Spitzenreiter soll die Kohle bleiben, mit 1.100 Gigawatt. Atomkraft hingegen kommt dem Plan zufolge trotz aller Neubauprojekte nur auf 58 Gigawatt.“1 Der Ausbau der chinesischen Energie-Infrastruktur bietet auch ausländischen Investoren Möglichkeiten – es ist durchaus nicht so, dass China gänzlich auf nützliche Kapitalimporte verzichten will: „Mittlerweile ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Führend dagegen zeigt sich China in puncto erneuerbare Energien. Kein Land der Erde investiert mehr Geld in den Ausbau sauberer Energien. (…) Der chinesische Markt für die Energieinfrastruktur entwickelt sich sehr dynamisch. Digitalisierung und Automatisierung sowie die ambitionierte politische Flankierung eröffnen Chancen für den Einsatz neuer Technologien und forcieren Investitionen in den Ausbau und die Modernisierung des bestehenden Systems. Chancen bestehen zum Beispiel in der digitalen Nachrüstung und Vernetzung bestehender Anlagen. Technologien der Datenerfassungs- und Diagnosesysteme können dabei helfen, die Betriebseffizienz chinesischer Anlagen zu erhöhen. Zugangsmöglichkeiten ergeben sich vor allem in Kooperationen mit chinesischen Anbietern. Dies gilt sowohl für den lokalen Markt als auch die Zusammenarbeit auf Drittmärkten. Kooperationen, zum Beispiel in Form von Joint Ventures, Lizenzvereinbarungen oder Vertriebspartnerschaften bieten sich insbesondere deshalb als geeignetes Markteintrittsvehikel an, da der Energiemarkt sehr stark von Staatsunternehmen geprägt ist. Gerade hier kann die Zusammenarbeit mit chinesischen Partnern, welche in der Regel einen besseren und vereinfachten Zugang zu Staatsunternehmen vorweisen, von Vorteil sein. Deutsche Unternehmen haben in Chinas staatlich dominierten Energiesektor vor allem als Lieferanten von Anlagen und Komponenten eine Chance.“2
Zur Stärkung des Binnenmarkts gehört aus Sicht der Regierung in Beijing auch ihr riesiges, teilweise kapitalistisch noch nicht erschlossenes Land, das sie als „stille Reserve“ weiterer Expansion und Akkumulation ausgemacht hat. Mit kostspieligen und technisch aufwendigen (China besteht zu 33 % aus Gebirgen, zu 21 % aus Wüsten) Infrastruktur-Maßnahmen werden bisher schwer zugängliche Regionen mit Straßen und Eisenbahnen erschlossen9. Im Unterschied zu den meisten kapitalistischen Nationen, in denen ganze Landesteile mit ihren Dörfern und kleineren Städten veröden und irgendwann auch mehr oder weniger „abgeschrieben“ werden, hat die chinesische Zentralregierung (noch) das Ziel, das gesamte Territorium, das ihrer Verfügungsgewalt untersteht, kapitalistisch „in Wert“ zu setzen.
Mit massiven staatlichen Subventionen nach dem Modell der einstigen Sonderwirtschaftszonen werden deshalb Kapitalanlagen in allen Landesteilen gefördert.
Zu diesen Maßnahmen gehört auch ein neuer Umgang mit den Bauern. Von ihnen gibt es noch etwa 200 Millionen, die allerdings immer schlechter von ihrem Land leben können. Die kleinen Bauern sind der Konkurrenz der inzwischen auch in China existierenden Agrarkapitale nicht gewachsen; die Regierung selbst unterstützt den Prozess, durch größere Betriebsflächen den Einsatz von Landmaschinen zu ermöglichen und so die Produktivität ihrer Landwirtschaft zu steigern. Die bisherige intensive kleinbäuerliche Landwirtschaft gilt zudem als ökologisch nicht sinnvoll, da sie gemäß den Bedingungen kapitalistischer Preiskonkurrenz extrem viel Kunstdünger und Pestizide einsetzt. Den damit absehbar überflüssigen Kleinbauern, insbesondere der jungen Generation, werden Ausbildungsangebote gemacht. Mit einer massiven staatlichen Förderung sozialen Wohnungsbaus werden Umsiedlungen vom Land in die Städte vorangetrieben.
„Fließend Wasser gibt es bei Li Mingxing nicht. Er und seine Familie haben nur das Nötigste zum Leben. Kartoffeln und Mais baut der 23-jährige Li auf den kleinen Feldern in den Hügeln an. Die Mingxings im Westen Chinas gehören zu den über 16 Mio. Chinesen in absoluter Armut. Doch Li Mingxing soll es einmal besser gehen als seinen Eltern. Darum macht er nun eine Ausbildung zum Nudelsuppen-Koch. Heute kümmert er sich um die Brühe für die Suppe. Später soll er lernen, die landestypischen Bandnudeln herzustellen. „Der Dorfvorsteher hat mir von dem Ausbildungsprogramm erzählt. Ich wollte mitmachen, weil meine Familie arm ist und ich hier in der Ausbildung was lerne und verdiene. Ich gebe jetzt meinen Eltern etwas Geld.“
Das Nudelsuppen-Programm ist Teil eines großen Planes. 15.000 junge Menschen will die Provinz-Regierung allein in diesem Jahr ausgebildet und somit aus der Armut geholt haben. Armutsbekämpfung hat derzeit in China ganz hohe Priorität. Die Abendnachrichten des staatlichen Fernsehens berichten regelmäßig von Xi Jinpings Überprüfungsbesuchen. Bis 2020 will der Partei- und Staatsführer alle von der Armut befreit haben. Nicht ganz uneigennützig: Bisher hat stetig wachsender Wohlstand der Bevölkerung der Führung ihre Macht gesichert. Gibt es genügend Essen und Kleidung, fragt er bei jedem dieser Besuche. Ja, antworten die lokalen Beamten. Ihre Bezahlung ist an den Erfolg der Programme geknüpft – so wurde es in der Zentralregierung beschlossen.
775.000 Offizielle wurden demnach zur Armutsbekämpfung in abgelegene Regionen geschickt. Auch zu Li Mingxing, dem angehenden Nudelsuppen-Koch. Wachsen die Kartoffeln bei Ihnen?, fragt der Parteisektretär. Li Mingxing tischt die eigene Ernte auf. Nicht nur wenn das deutsche Fernsehen da ist, auch sonst sind Tür-zu-Tür-Besuche Teil des Programms. Niemand soll bei der Armutsbekämpfung übersehen werden.
Den Kampf gegen Armut führt die Kommunistische Partei auch mit Beton.Überall im Land lässt sie solche Wohnblöcke bauen. Siedelt rund 11 Millionen Menschen um, aus Dörfern in Städte. Hier in Shi Cheng ist Herr Liu zuständig. Mehr als 600 Familien hat er aus dem Hinterland umgesiedelt. „Unser Ziel ist es,sie aus der Armut zu holen“, erklärt Liu Bi Ying vom Amt für Armutsbekämpfung.„Es einfacher für sie zu machen, zum Arzt zu gehen, zur Arbeit oder zur Schule. Zu verhindern, dass sich Armut von Generation zu Generation vererbt. Und dafür zu sorgen, dass sie Wohlstand erlangen.“
Lei Wei Xiu hat daher nun Einbauküche, zwei Zimmer und Balkon. Und dank massiver Subventionen von der Zentralregierung in Peking und der Provinz alles für einen Kaufpreis von umgerechnet nur 1.300 Euro. Das Geld haben ihr Verwandte geliehen. „Vorher in den Bergen habe ich Gemüse angebaut und Feuerholz geschlagen, Geld brauchte ich gar nicht. In der Stadt zu leben heißt aber Ausgaben für Gas und anderes. Da steigen die Lebenshaltungskosten.“ Geld verdient Lei Wei Xiu jetzt in dieser Textilfabrik – von der Partei vermittelt. Wie glücklich sie über die Umsiedlung ist? Offen sprechen kann sie nicht. Interviews gibt es nur unter Aufsicht. „Manchmal vermisse ich die Vergangenheit, ich hänge da noch dran. Aber jetzt ist mein Leben hier besser. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen. Mich umzustellen dauert etwas.“1
Es handelt sich offensichtlich um ein Programm, das gemessen an allen hiesigen Maßstäben (Armutsbekämpfung, aktive Arbeitsmarktpolitik, Integration, sozialer Wohnungsbau, Teilhabe an sozialen Leistungen sichern …) eine ganze Menge leistet. Das wird auch durchaus informativ dargestellt – darin ist dieser Bericht eine Seltenheit! Andererseits darf China natürlich nicht zu viel zugutegehalten werden. Im Unterschied zur deutschen Sozialpolitik passiert all das nämlich nicht selbstlos: „Bisher hat stetig wachsender Wohlstand der Bevölkerung der Führung ihre Macht gesichert.“ (Eine wirklich üble Art der Machtsicherung!). Zudem trauern die chinesischen Menschen, die natürlich nicht „offen sprechen können“, alten, angestammten Verhältnissen nach, selbst wenn die armseliger waren. Was hierzulande ein klarer Fall von „alternativlos“ wäre, spricht in China letztlich doch eindeutig gegen die Regierung und ihren Reformwillen.
Ideologisch rechnet sich Chinas KP den inzwischen fast vollständigen Einbezug des Volks in die kapitalistische Lohnarbeit als „erfolgreiche Armutsbekämpfung“ an. Während 1978 noch rund 700 Millionen chinesische Menschen arm waren – zugrunde gelegt ist die Armutsdefinition der Weltbank, nach der „absolute Armut“ dann vorliegt, wenn ein Mensch über weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag verfügt –, waren es 2012 noch 98,5 Millionen. Bis 2021, dem 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei, soll diese Zahl auf null gedrückt werden; so strebt es jedenfalls das seit 2013 laufende Regierungsprogramm an, für das (s. o.) viel getan wird.
Es ist gut vorstellbar, dass eine solche Staatsaktion alles Mögliche an Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der zu befreienden „Armen“, bürokratischer Idiotie und dazu ein gehöriges Maß an Erpressung aufbringt – gerade wenn sie auch noch mit dem Gedanken, dass zu einem nationalen Feiertag zumindest symbolisch alles bewältigt sein soll, antritt.
Allerdings: Gemessen an den Maßstäben dieser kapitalistisch verfassten Welt ist der Umbau Chinas zu einer modernen Industrienation mit „bescheidenem Wohlstand“ und einer urbanen Gesellschaft ohne Massenelend, städtische Slums und relevante Bevölkerungsteile, die in „absoluter Armut“ verharren, selbstverständlich eine durchaus bemerkenswerte Leistung.
Kein anderes „Entwicklungsland“, kein „Hinterhof“ der westlichen Staaten hat staatliche Anstrengungen dieser Art aufzuweisen, und die Fortschritte bei den UN-Millenniumszielen zur Beseitigung absoluter Armut auf der Welt leben fast ausschließlich von den in China erzielten. Und erinnern wir uns einmal einen Augenblick an den deutschen Planeten. Hier heißt es seit den Hartz-Reformen „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ – was jede Menge Druck, Sanktionen mit existenziellen Bedrohungen und gesellschaftliche Ächtung gegen die mehr als sieben Millionen „Hartzis“ einschließt, die dauerhaft ohne Tafeln und Kleiderkammern nicht überleben können.
Es ist also schon eine gedankliche Glanzleistung, wenn westliche Politiker, die für diese Zustände verantwortlich zeichnen, oder ihre stets konstruktiv-besorgten Journalisten die chinesische „Armutsbekämpfung“ zum Gegenstand von Vorwürfen an die Adresse Beijings machen.
In einigen Provinzen, insbesondere Tibet und Xinjiang, hat dieses Programm neben dem allgemeinen Zweck einer kapitalistischen In-Wert-Setzung des gesamten Landes und seiner Bevölkerung zusätzlich den einer „Integrationsmaßnahme“ (so würde es jedenfalls hierzulande bezeichnet) für die ethnisch-religiösen Minderheiten, die zum Teil noch als Nomaden und Hirten leben. Auch sie sollen in die moderne kapitalistische Industrie und verstädterte Gesellschaft eingegliedert werden (und nicht in „Parallelgesellschaften“ abdriften, wie es hierzulande heißt).
Davon verspricht sich die Beijinger Zentralregierung auch einen Rückgang des religiös-fundierten Autonomie-Bedürfnisses, das es in diesen Provinzen latent immer gegeben hat und das von außen immer wieder berechnend angestachelt wurde: Unterstützung für den Dalai Lama und seine Politik eines „Groß-Tibet“ und die uigurische Exil-Regierung vor allem durch Indien und die Türkei, die USA und Deutschland.
Das Vorhaben der Regierung besteht also in der Unterwerfung aller Bürger unter Markt & Staat – mit allen Härten, die ein solches Programm an sich hat. Falsch wäre es allerdings, das als spezielles (han-chinesisches) Kampfprogramm gegen die dort lebenden Minderheiten, ihre Kultur und ihre hergebrachte Lebensweise zu interpretieren – so als sei es Ziel der chinesischen Regierung, die in ihrem Land lebenden Minderheiten aus ethnischen Gründen zurückzudrängen oder gar zu „vernichten“. Für eine solche Interpretation braucht es eine ziemliche Ignoranz gegenüber den Regelungen der chinesischen Minderheiten-Politik.10
Die Reallöhne in China sind zwischen 2008 und 2017 durchschnittlich um mehr als 80 % gestiegen.11 Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte haben einige Teile Chinas, vorwiegend an der Ostküste und im Umkreis von Beijing, den Status eines Billiglohnlandes hinter sich gelassen. Das ist eine Entwicklung, die die chinesische Führung in Beijing teilweise durchaus unterstützt, z. B. mit demonstrativer Zurückhaltung im Honda-Streik 2010/11, weil sie ihrem Selbstverständnis als potente Nation nach keineswegs auf ewig der „Kuli“ der Welt bleiben will. Es war insofern kein Wunder, dass dieser Lohnkampf in einem japanischen Unternehmen, also beim ideologischen „Hauptfeind“, stattgefunden hat (Japan hatte im 2. Weltkrieg versucht, China als seinen „Lebensraum“ zu erobern; dabei verloren 20 Millionen Chinesen ihr Leben).
Auch dem Gesichtspunkt, dass eine Förderung der einheimischen Nachfrage nützlich für die Entwicklung des Binnenmarktes ist, kann die chinesische Führung etwas abgewinnen – in dieser Funktion kommt also der angestrebte „bescheidene Wohlstand“ der Massen bei ihrer KP durchaus vor. Dabei behält sie natürlich sofort die andere (und letztlich eben doch ausschlaggebende) Funktion der Löhne im Auge: In Guangdong etwa, der durch die riesige Industriezone Shenzen reichsten Provinz, haben Lohnerhöhungen bereits zu einer Abwanderung ausländischer Unternehmen nach Vietnam und Indonesien geführt – woraufhin die dortige Provinzregierung Lohnerhöhungen vorläufig eingefroren hat.
Insofern ist es kein Wunder, dass parallel zu den schnell steigenden Löhnen in einigen Provinzen andere Regionen, die ihre kapitalistische Erschließung erst noch in Gang setzen wollen, ihre Bewohner nach dem bewährten Erfolgsrezept zu sehr billigen Löhnen anbieten. Mindestlöhne werden von den Provinzregierungen festgesetzt; das handhaben diese als Mittel ihrer Konkurrenz um Kapitalinvestitionen und/oder Arbeitskräfte – je nachdem, was ihnen gerade wichtiger erscheint. Im Resultat variieren die chinesischen Löhne nach Branchen und Regionen massiv.12
Seit den 2000er-Jahren baut China verschiedene sozialstaatliche Strukturen auf, insbesondere die klassischen Sozialversicherungen. In der sozialistischen Etappe der Volksrepublik war die soziale Versorgung des Volks Staatsziel. Dem entsprechend wurde schnell eine rudimentäre Gesundheitsversorgung auf dem Land entwickelt und in der Zeit der Volkskommunen zu einer kollektiven Sicherung ausgebaut – auch wenn man sich das alles schlicht und eher am Überleben orientiert vorstellen muss. Die Staatsbetriebe in den Städten boten ihren Beschäftigten eine ziemlich umfassende Versorgung bei Krankheit, Kinderbetreuung und im Alter – was zwar nur eine Minderheit der chinesischen Bevölkerung betraf, aber als ernsthaftes Ideal für den weiteren „sozialistischen Aufbau“ galt (mehr dazu in Teil 1 des Buchs). All das wurde in den ersten beiden Jahrzehnten der „Systemtransformation“ zerschlagen bzw. aufgegeben; Gesundheitsleistungen wurden weitgehend privatisiert und damit für viele Chinesen unerschwinglich, die Altersversorgung Gegenstand privater Vorsorge bzw. den Familien überlassen. Der Zweck chinesischer Betriebe – ob privat, kommunal oder staatlich geführt – sollte künftig ja die Erzielung von Gewinn und nicht die Versorgung ihrer Belegschaften sein (ausführlich in Teil 2, Kapitel 4).
Inzwischen will die kommunistische Führung die anfallenden Notlagen des kapitalistischen Lohnarbeiterlebens (Arbeitsunfälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Pflegebedürftigkeit) nicht mehr einfach dem Lauf der Dinge bzw. „dem Markt“ überlassen, den sie selbst in Kraft gesetzt hat. Nachdem es ihr mit dem Angebot konkurrenzlos billiger Arbeitskräfte gelungen ist, internationales Kapital ins Land zu locken und nachdem sie damit eine sich dauerhaft selbst verstärkende Akkumulation von Kapital ins Leben gerufen hat, steht sie nun auf dem gut sozialdemokratischen Standpunkt einer „nachhaltigen“ Bewirtschaftung der Ressource Arbeitskraft. Damit reagiert die chinesische KP auch auf eine weit verbreitete Unzufriedenheit ihrer Bevölkerung mit der medizinischen Versorgung in den Krankenhäusern und den Preisen für Medikamente, die die Pharma-Firmen verlangen,13 sowie den zunehmenden praktischen Problemen bei der Versorgung der alten Menschen angesichts von Ein-Kind-Politik und großer Arbeitsbelastung der jüngeren Generation.
An diesem Beispiel wird übrigens deutlich, wie in der Volksrepublik die Berücksichtigung von Problemen und Beschwerden der Bürger vor sich geht. Wenn der Führung des Landes die von ihr wahrgenommene Unzufriedenheit als wirtschafts- bzw. staatsnützlich einleuchtet, zieht sie entsprechende Konsequenzen und leitet Reformen ein – auch ohne die in westlichen Nationen üblichen demokratischen Mechanismen mit Parteien, Wahlen, Opposition, Lobbyismus.
Umgekehrt offenbart das Beispiel, dass die chinesische Regierung – genau wie die westlichen Verwalter kapitalistischer Standorte – die Existenz sozialpolitischer Notlagen als zu ihrer Ökonomie gehörende Erscheinungen unterstellt und anerkennt. Dass die von Lohnarbeit lebenden Menschen auch in ihrem „Sozialismus chinesischer Prägung“ ohne nennenswerte Mittel dastehen, wenn sie krank, arbeitslos oder alt sind, ist für sie so selbstverständlich, dass sie sich gleich den Aufbau mehrerer Sozialversicherungen auf die Tagesordnung setzt, die für das Überleben unter diesen Bedingungen sorgen sollen.14
Bei der Einführung einer Unfall-, einer Kranken-, einer Arbeitslosen- und einer Rentenversicherung orientiert sich China übrigens weitgehend an europäischen Vorbildern. Seine Sozialpolitiker suchen sich aus den verschiedenen Modellen (National Health Service oder Gesetzliche Krankenversicherung; Renten zusammengesetzt aus staatlichem Zuschuss, gesetzlicher Versicherung und Betriebsrente etc.) das heraus, was sie für besonders geeignet halten bzw. mischen die verschiedenen Möglichkeiten. Gleichzeitig ziehen sie aus den finanziellen Engpässen der europäischen Sozialsysteme den Schluss, die systembedingt engen Grenzen der Sozialpolitik von vornherein zu berücksichtigen. Inzwischen existiert eine aus Steuern finanzierte Basis-Gesundheitsversorgung für alle chinesischen Bürger; darüber hinaus sind fast alle in einer gesetzlichen Krankenversicherung erfasst, die für städtische Lohnarbeiter verpflichtend, für Bauern auf dem Land freiwillig ist (ein Angebot, das offenbar massiv wahrgenommen wird).15 Zusätzlich zur gesetzlichen Zwangs-Versicherung, die maximal 80 % eventueller Krankheitskosten und einen Teil des Lohnausfalls abdeckt, können diejenigen, die es sich leisten können, private Versicherungen abschließen. Auch an einem solchen Punkt kommt also die „soziale Differenzierung“ der einst so egalitären chinesischen Gesellschaft vorwärts.
Exkurs zu Corona: Repressiver Staat kann Virus unterdrücken?
Das Corona-Virus Covid 19 ist in China entstanden, besser gesagt: Es wurde dort zum ersten Mal festgestellt (inzwischen gibt es mehrere Nachweise seiner Existenz in Frankreich bzw. Italien vor November 2019 – sein „Ursprung“ ist insofern wissenschaftlich zurzeit ungeklärt). Inzwischen – ein Jahr später – gilt die Pandemie in China wie einigen anderen südasiatischen Staaten als weitgehend „bewältigt“, während Nord- und Südamerika und Europa steigende Infektions- und Todeszahlen aufweisen. Die hierzulande kursierende Erklärung – wenn überhaupt Interesse geäußert wird – kürzt sich im Grunde darauf zusammen, dass in einer Diktatur eben einiges möglich ist, was „wir“ hier nicht wollen. Zwei Beispiele für viele:
„Als sich im Januar 2020 das Coronavirus in Wuhan ausbreitete, stockte der Weltbevölkerung der Atem. Eine Pandemie ausgerechnet in dem Land mit der Milliardenbevölkerung und zahlreichen Millionenstädten. Zur Eindämmung nutzte die chinesische Regierung viele Möglichkeiten eines diktatorischen Systems: Städte wurden abgeriegelt, die Bevölkerung in Hotspots wurde in ihren Häusern eingesperrt und die Armee wurde eingesetzt. Bereits Ende März erklärte das Politbüro die Pandemie für beendet.“16 „Die Propaganda spricht vom ‚Volkskrieg‘, wie schon der Staatsgründer Mao im Kampf für ein kommunistisches China, und die Chinesen machen mit. So bekommt das Land, in dem alles begonnen hat, noch im Frühjahr seine Epidemie in den Griff.“ 17
Auch wenn es manchmal etwas differenzierter zugeht, bleibt die Botschaft dieselbe: Die Erfolge Chinas bei der Eindämmung der Pandemie beruhen darauf, die Freiheit des Individuums nicht zu beachten: kein Datenschutz, keine Intimsphäre.
Stattdessen: abriegeln, einsperren, Armee.
Es fragt sich allerdings, ob man mit staatlicher Unterdrückung ein Virus besiegen kann – wie es die Vorstellung nahelegt und wie es auch die hiesige Wissenschaft bekräftigt: „Chinas Vorteil in der Pandemie-Bekämpfung: Sie können die Menschen einfach zwingen.“ (Nils Grünberg, Mercator Institut18). Zwingen – wozu?
Versuchen wir hier eine vorläufige Richtigstellung.
Im November 2019 wurden in der Stadt Wuhan Lungenentzündungen einer bis dahin unbekannten Art registriert. Die Stadtverwaltung, gerade mit der Ausrichtung eines Parteijubiläums o. ä. befasst, reagierte mit einer Mischung von Ignorieren und Bagatellisieren auf die ersten Meldungen ihrer Mediziner. Einem Augenarzt, Li Wenliang, der seine Warnungen öffentlich machte, wurde Panikmache vorgeworfen und mit schweren Konsequenzen gedroht, falls er keine Ruhe gebe.
So weit, so üblich und so mies.19 Nachdem die staatliche Führung die Bedeutung der Erkrankungen begriffen hatte, reagierte sie allerdings zügig.
Am 31.12.2019 informierte die chinesische Regierung die Weltgesundheitsorganisation WHO, als 41 „atypische Erkrankungen“, aber noch kein Todesfall vorlagen. Taiwan hat darauf alle Flüge nach Festland-China ausgesetzt und mit weiteren Maßnahmen reagiert. Schon am 7.1.2020 übermittelten die chinesischen Wissenschaftler das entschlüsselte Genom des neuen Virus an die WHO.
In Wuhan und der gesamten Provinz Hubei (58,5 Millionen Einwohner) wurde der Gesundheits-Notstand ausgerufen. Die Grenzen der Provinz wurden geschlossen, um eine weitere Ausbreitung ins Rest-Land zu verhindern; Ausgangssperren erlassen, die Versorgung der Stadt (11 Millionen) wurde staatlich organisiert.
„Der Staat organisiert die Versorgung der Bevölkerung. Jene, die draußen arbeiten müssen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Medizin und Nahrungsmitteln zu gewährleisten, tragen eine komplette Schutzausrüstung: Maske, Brille, Handschuhe, Ganzkörperanzug. Alle Straßenzüge wurden großflächig desinfiziert. Ein 24-Stunden-Dienst aus lokalen Kadern der kommunistischen Partei und Hausverwaltungsbeamten überwacht die Einhaltung der Regeln.“1 „Vom 17. Februar 2020 an galten für die gesamte Provinz Hubei weitere verschärfte Maßnahmen, die der Eindämmung der Epidemie dienen sollten. Insgesamt verhängte die Provinzregierung durch Erlass 15 Beschränkungen. Alle nicht wesentlichen öffentlichen Orte werden geschlossen, Massenveranstaltungen untersagt. Apotheken und Supermärkte bleiben geöffnet, müssen aber bei jedem Eingelassenen die Körpertemperatur bestimmen. Zusätzlich müssen von jedem Käufer von Husten- oder Fiebermitteln alle Personaldaten erfasst werden. In der gesamten Provinz werden die Zufahrten zu allen Dörfern und Gemeinden gesperrt, um Ausreisen zu kontrollieren und Externen den Zugang zu verwehren. Der Betrieb aller Fahrzeuge ist untersagt mit Ausnahme von Transport-, Feuerwehr-, Rettungs- und Polizeifahrzeugen. Zeitgleich lief eine dreitägige Tür-zu-Tür-Erfassungsaktion in allen Gemeinden an, mit dem Ziel, ausnahmslos alle bisher unerkannten Fälle zu identifizieren und aufzunehmen. (…) Eine wissenschaftliche Studie prüfte im April 2020 die Effektivität der Eindämmungsmaßnahmen und glich auch die aus China gemeldeten Daten mit dem in der Studie verwendeten mathematischen Modell ab. Die Autoren schrieben, die chinesischen Fallzahlen würden plausibel den Verlauf des Ausbruchs wiedergeben und seien in sich kohärent. Die Modellrechnung ergab, dass ab dem 7. Februar die Zahl der durch das System nicht erfassten Neuinfektionen einen Höhepunkt erreicht habe und somit die Ausbreitung entscheidend gebremst wurde. Die Forscher nannten die Maßnahmen effektiv und ursächlich für die Entwicklung der Fallzahlen; man könne allerdings keine Aussage über die Effektivität von Einzelmaßnahmen treffen, weil die Maßnahmen ‚paketweise‘ implementiert wurden.“2
„Auf Bannern, die in der Öffentlichkeit aufgehängt wurden, wurden die Menschen aufgefordert, Masken zu tragen, ihre Wohnung verstärkt zu lüften und regelmäßig die Hände zu waschen und diese möglichst auch zu desinfizieren. Dazu der Appell: Hört auf die Wissenschaft und nicht auf irgendwelche Gerüchte. Und man konnte sehen, dass die Leute das ernst nahmen. Wir (in Beijing, Zusatz d. Verf.) hatten keinen Lockdown wie in Wuhan, trotzdem ging kaum noch einer auf die Straße. Anders als zurzeit in Deutschland war es in Beijing nicht verpflichtend, im Supermarkt eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Es haben aber trotzdem fast alle gemacht. Selbst auf der Straße trugen bald 85 bis 90 Prozent der Menschen eine Maske. Weil den Leuten einfach klar war, dass das vernünftig ist.
Es war dann auch sehr schnell so, dass alle, die irgendwo einen Eingang zu bewachen hatten, also zum Beispiel Rezeptionisten in Büro- oder Hochhäusern oder die Kontrolleure an den Zugängen zur U-Bahn, schnell mit elektronischen Fieberthermometern ausgestattet wurden. Diese haben dann bei jedem die Temperatur am Handgelenk gemessen. Das gleiche in Parks, die alle ein Tor haben und von Parkwächtern betreut werden. Und wer nur etwas erhöhte Temperatur hatte, wurde aufgefordert, sich testen zu lassen.
Sofort wurden auch die Nachbarschaftskomitees mobilisiert. Das sind die Graswurzelorganisationen der Kommunistischen Partei. Deren Mitglieder gingen von Wohnung zu Wohnung, fragten, ob alle gesund seien und verteilten Handzettel mit Informationen. Gleichzeitig haben sie halb Beijing durchdesinfiziert, die öffentlichen Toiletten in der Altstadt, die Nahverkehrsmittel usw.3
„Entgegen der Meinung der WHO haben die Chinesen Wuhan im Januar mit einem ‚travel ban‘ und einer Ausgangssperre lahmgelegt. Ich erspare es mir, auf die anderen Maßnahmen einzugehen, welche in China getroffen worden sind. Nach Meinung internationaler Forschungsteams hat China mit diesen früh und radikal einsetzenden Maßnahmen Hundertausenden von Patienten das Leben gerettet.“4
„Washington – Die Ausgangssperre in der chinesischen Stadt Wuhan hat einer Studie zufolge womöglich 700.000 Ansteckungen verhindert und die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus signifikant verzögert.Die drastischen Maßnahmen in Wuhan, das als Epizentrum der Pandemie gilt, innerhalb der ersten 50 Tage hätten anderen Städten im Land wertvolle Zeit zur Vorbereitung eigener Beschränkungen verschafft“, schreiben Forscher aus China, den USA und Großbritannien in einem gestern in der Fachzeitschrift Science (2020; doi; 10.1126/eabb6105) veröffentlichten Beitrag.
„Unsere Analyse legt nahe, dass es ohne das Reiseverbot in Wuhan und die nationale Notfallreaktion bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 700.000 bestätigte COVID-19-Fälle außerhalb von Wuhan gegeben hätte“, erklärte Christopher Dye, Wissenschaftler der Universität von Oxford. „Chinas Kontrollmaßnahmen scheinen gewirkt zu haben, indem sie die Übertragungskette erfolgreich durchbrochen haben.“5
Für die nötige Gesundheitsversorgung in Wuhan wurden im Eiltempo zwei neue Krankenhäuser gebaut und weitere 12 Notfallkrankenhäuser eingerichtet. Alle Infizierten wurden in besonderen Aufnahmezentren untergebracht, auch wenn sie keine Behandlung brauchten, da sich herausgestellt hatte, dass die meisten Infektionen (75 %) in häuslicher Umgebung stattfinden. In diesen Zentren konnten sich positiv Getestete (bei nicht schwerem Verlauf) Gesellschaft leisten. Nicht erkrankte Menschen schickten die Behörden in eine streng überwachte häusliche Quarantäne. Für die Behandlung der Erkrankten wurde medizinisches Personal aus dem gesamten Land zusammengezogen (mehr als 40.000 Ärzte und Pfleger)
20
.
Es wurde auf eine strikte Trennung der Corona-Tests und Behandlung von Infizierten vom restlichen Gesundheitsdienst geachtet (das galt „nach Wuhan“ in ganz China); aufwendige Schutzkleidung für das medizinische Personal, dessen Arbeitszeit auf 6 Stunden (!) beschränkt wurde, um Infektionen durch nachlassende Konzentration zu vermeiden
21
.
Nach dem chinesischen Neujahrsfest (24.1.2020) wurde ein landesweiter Lockdown verhängt, bei dem Schulen geschlossen und ein nicht unerheblicher Teil der Produktion des Landes stillgelegt wurden, soweit die Arbeiten nicht zur weiteren Versorgung notwendig waren: „Dass China seine Wirtschaft mit einer Leistung von rund 13 Billionen Euro (Deutschland: 3,4 Billionen Euro) nach der massenhaften Verbreitung des Corona-Virus mal eben fast einen ganzen Monat lang auf nahezu null heruntergefahren hat, Geschäfte geschlossen, Arbeiter und Angestellte in Quarantäne gesteckt und Transport- und Reiseverbindungen gekappt hat, sei in der Geschichte der Welt ohne Beispiel, sagt Andrew Batson vom Pekinger Analysehaus Gavekal Dragonomics.“ (FAZ 12.3.2020)
Diese Maßnahme sollte einerseits dafür sorgen, dass nicht Hunderte Millionen gleichzeitig mit Flugzeug, Bahnen und Bussen zu ihren Arbeitsstätten zurückkehrten
22
, andererseits das Arbeiten in den riesigen, engen Fabriken in der ersten Phase der Pandemie verhindern.
Entlassungen wurden den betroffenen Staatsbetrieben untersagt. Bei privaten Betrieben, die zu denselben Maßnahmen aufgefordert wurden, galt: Wer in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hatte, aber noch nicht anspruchsberechtigt war, erhielt 6 Monate Arbeitslosengeld
23
.Es gab einmalige (allerdings nicht sonderlich hohe) staatliche Unterstützungen für Wanderarbeiter, die ein „Kleinst- oder ein Familienunternehmen“ führen. In wieder eröffneten Betrieben sollten massive staatliche Kontrollen bezüglich Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz für Infektionsschutz sorgen; bei Verstößen wurde das Unternehmen unverzüglich stillgelegt.
Engere Taktung des öffentlichen Nahverkehrs, um mehr Platz und Abstand für die Fahrgäste zu schaffen.
Gesundheitspolitisch galt flächendeckend Maskenpflicht im öffentlichen Raum. Überall wurde per Thermoscanner Fieber gemessen, Desinfektionsmittel zur Verfügung gestellt und großzügig zum Einsatz gebracht (Verkehrsmittel etc.).
Es wurden sehr schnell Massentests durchgeführt, wenn neue Infektionen auftraten: 10 Millionen Tests in Wuhan im Juni 2020 mitmiettl dem Ergebnis, dass 300 symptomlose Infektionen festgestellt wurden; 1 Million in Quingdao nach 8 festgestellten Fällen; 4 Millionen in Kashgar.
Entwicklung einer Corona-App, die laut DW so funktioniert: „Vor dem Betreten vieler öffentlicher Orte müssen die Chinesen einen Gesundheits-Code auf ihrem Handy vorzeigen. Ein QR-Code in den Farben Grün, Gelb oder Rot gibt Auskunft darüber, ob sich der Handynutzer an Orten mit einem hohen Infektionsrisiko aufgehalten hat oder Kontakt zu einem Infizierten hatte.“
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Weil viele Restaurants und Parks, aber auch Arbeitgeber und Verkehrsbetriebe das Vorzeigen der „grünen“ Ampel verlangen, ist die App faktisch Pflicht geworden, wenn man am öffentlichen Leben teilnehmen will.
Schließung der chinesischen Grenzen für ausländische Touristen. Geschäftsreisende, die ein Visum bekommen, müssen sich einer 14-tägigen Quarantäne in dafür ausgewiesenen Hotels unterziehen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten:
Auch in der Volksrepublik setzt die staatliche Führung Gesundheitsmaßnahmen für ihr Volk stets in ein Verhältnis zum Wirtschaftswachstum. Die lokalen Behörden haben auf die ersten Fälle von Covid-19-Infektionen mit Ignoranz und Bagatellisierung reagiert: Eine Krankheit stört das erwünschte Wirtschaftswachstum und die staatliche Erfolgsbilanz. Sobald die pandemische Bedeutung erkannt war, hat die chinesische Führung auf eine konsequente Eindämmungs-Strategie25 gesetzt. „Eindämmungs-Strategie“ bedeutet, dass tatsächlich mit aller Konsequenz versucht wurde, die Zahl der Infizierten auf null zu bringen26. Der Grund dafür liegt einerseits in den Erfahrungen, die China (und die asiatischen Länder) mit den Vorgänger-Epidemien Sars und Mers gemacht hatten; andererseits in der staatlichen Einschätzung, dass ein harter und durchaus kostenintensiver Lockdown (das Wirtschaftswachstum fiel im 1. Quartal auf -7 %, die Exporte in Januar und Februar 2020 auf -24 % bzw. -27 %!) letztlich günstiger ausfallen würde als andere Varianten. In der Folge hat die chinesische Politik alle Mittel angestrengt, die sie zur Verfügung hatte – insofern sind gesundheitspolitische Entscheidungen dieser Art bei Staaten, die im Prinzip alle dasselbe Verhältnis von Volksgesundheit und Wirtschaftswachstum aufmachen, wesentlich eine Frage der jeweiligen nationalen Bedingungen (die ihrerseits zu einem großen Teil auf frühere staatliche Entscheidungen zurückgehen). Zu diesen gehören in China
ein Gesundheitswesen, das bei allen vorher erwähnten Mängeln durch Privatisierung der Krankenhäuser und der Pharmaindustrie offenbar immerhin viele gut ausgebildete Mediziner und Pflegekräfte hervorgebracht hat; die Fähigkeit, Notfallkrankenhäuser extrem schnell zu bauen/zu organisieren;
die sofortige Verfügung über Schutzkleidung, Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken (Bestände, die auch auf Basis der Sars- und Mers-Epidemien angelegt worden waren) bzw. die Produktionskapazitäten dafür und für eine große Menge an Testmaterial (z. T. eine positive, aber ungeplante Folge „globaler Arbeitsteilung“ mit der VR China als „Werkbank der Welt“);
ein zentralstaatlicher Entscheidungsapparat, dem im Großen und Ganzen sowohl die Provinzen gefolgt sind wie die staatlichen Betriebe; gesellschaftliche Organisationen (vor allem solche der Kommunistischen Partei), die wesentliche Funktionen in den Quartieren und im öffentlichen Raum übernommen haben (alle Haushalte aufsuchen, befragen und informieren, Menschen in Quarantäne versorgen);
ein Volk, das schon vorher ziemlich viel Wert auf seine Gesundheit gelegt hat und dem viele Maßnahmen – bei durchaus vorhandener Kritik an Behörden und Regierung – insgesamt sinnvoll erschienen und das seine Bedenken gegenüber staatlichen Überwachungsmaßnahmen nicht ausgerechnet im Fall einer Pandemie-Bekämpfung geltend gemacht hat.
Selbstverständlich ist bei all dem staatlicher Zwang (in Form der gesetzlichen Vorschriften und ihrer Durchsetzung beim Lockdown, beim Sperren von Grenzen, bei Quarantäne-Maßnahmen für Einheimische wie Ausländer usw.) festzustellen – qualitativ allerdings nicht anders, als das in westlichen Staaten auch gehandhabt wurde (bei den Ausgangssperren in Spanien, Italien und Frankreich, der Durchsetzung der ab Ende April in Deutschland eingeführten Maskenpflicht, beim Isolieren der Alten in ihren Heimen, im Fall überraschender Grenzschließungen durch einzelne Staaten, bei Polizeieinsätzen gegen feiernde Jugendliche).
Das kann auch nicht groß verwundern, sind doch in kapitalistischen Ökonomien alle Akteure dem Diktat der Konkurrenz unterworfen, so dass sie ohne staatlichen Zwang kaum Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit bzw. die ihrer Beschäftigten nehmen können. Deshalb muss – insbesondere im Fall von Seuchen – die nötige Vorsicht (eigentlich ein Gebot der Vernunft im Hinblick auf die eigene Gesundheit und die der Mitmenschen) in dieser Art von Gesellschaft tatsächlich mit sanktionsbewehrten Verordnungen gegen alle durchgesetzt werden. Und was die staatliche Datenerfassung über die sogenannte „Gesundheits-App“ betrifft: Es ist kaum anzunehmen, dass China, seine asiatischen Nachbarn ebenso wie die westlichen Staaten bei dem, was sie über ihre Bürger erfahren wollen, ausgerechnet auf eine Pandemie angewiesen sind … Im Unterschied zu den westlichen Ländern fällt auf, wie sehr die chinesische Regierung in vielerlei Hinsicht ihre Bürger dabei unterstützt, gesundheitsbewusst zu handeln bzw. die unangenehm-einschränkenden Seiten der Pandemie-Politik durchzustehen. In westlichen Ländern wurde dagegen von Anfang an betont, dass es in der Eigenverantwortung der Menschen liegt, die Infektionszahlen zu senken, vor allem durch Unterlassen privater Mobilität und Einschränken privater Kontakte. Masken bzw. medizinische Schutzkleidung kostenlos zu verteilen (vgl. die im Januar 2021 gerade laufende Debatte darüber, dass Hartz-Bezieher sich die nun vorgeschriebenen FFP2-Masken nicht leisten können), Aufklärungssendungen über deren korrekte Handhabung, Arztpraxen bei der Trennung von Covid-Behandlungen vom Rest der Fälle zu unterstützen, die Arbeitszeit der Ärzte und Pflegekräfte unter den erschwerten Bedingungen zu senken, Quarantäne-Quartiere einzurichten (z. B. in den Hotels, die schließen mussten), Menschen, die allein leben, alt sind oder selbst nicht klarkommen, ausfindig zu machen und zu versorgen, im öffentlichen Raum und Transportwesen Fieber zu messen – alles sinnvolle und einsehbare Maßnahmen, die übrigens auch nichts mit Einschränkungen von Freiheitsrechten zu tun haben, finden dagegen nicht statt.
Auf Basis dieser Maßnahmen sind die Corona-Fälle in China massiv eingedämmt worden. China zählt bis heute (31.1.2021) ca. 100.000 Infizierte und unter 5.000 Todesfälle. Würde man die deutschen Zahlen auf die chinesische Bevölkerung hochrechnen, dann hätte China etwa 38 Millionen Infizierte und 960.000 Tote; nähme man die amerikanischen Zahlen, wären es mehr als 100 Millionen Infizierte und 1,7 Millionen Tote.
Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Verstädterungsgrad bei einer Pandemie eine wichtige Rolle spielt und dieser in China mit 60 % geringer liegt als der in Deutschlands (77 %) und den USA (82 %), sind das enorme Unterschiede.
Und auch dann, wenn Chinas Meldungen über die Zahl der (Nicht-)Infizierten und Todesfälle geschönt sind (was nicht auszuschließen ist), sind sie jedenfalls nicht entscheidend falsch: „Es gibt sicherlich eine unbekannte Dunkelziffer und nicht öffentlich gemachte Fälle, aber ich glaube nicht, dass wir uns da in den Zehntausenden bewegen. Das wäre bei aller Zensurkapazität nicht möglich. Allein schon wegen der vielen im Ausland lebenden Chinesen mit guten Kontakten ins Land“, berichtet das MERICS-Institut, das ansonsten kaum ein gutes Haar an China lässt. 27 In vielen anderen asiatischen Ländern (Japan, Taiwan, Südkorea, Vietnam, Singapur28) wurden ähnliche Maßnahmen in Kraft gesetzt und ähnliche Erfolge bei der Eindämmung erzielt; es ist allerdings auffällig, wie wenig öffentliches Interesse an Information und Diskussion dieser und insbesondere der chinesischen Erfahrungen im „aufgeklärten“ und „wissensorientierten“ Westen besteht. Einige Mediziner mögen sich über die Grenzen hinweg austauschen; ansonsten aber steht das Urteil über diesen Staat, den man als „systemischen Konkurrenten“ betrachtet, fest: China hat uns das Virus und seine üblen Folgen beschert29; es macht mit berechnenden Hilfsangeboten Politik (Italien, Spanien, Serbien) und bringt damit Unfrieden nach Europa. Von China etwas lernen oder gar übernehmen, das ist unter diesen Vorzeichen natürlich schlicht indiskutabel.30 Der Beijinger FAZ-Korrespondent Mark Siemons bezeichnet das als „Dünkel, der so viele im Westen davon abhielt, in der Pandemie von Ostasien zu lernen“ (FAZ 29.3.2020), der Schweizer Arzt Paul Vogt nennt das westliche, speziell das europäische Verhalten „arrogant, ignorant und besserwisserisch“.31 Es ist dies das Selbstbewusstsein von Staaten und ihren nationalistischen Anhänger_innen, die für sich in Anspruch nehmen, dass ihr ökonomischer und politischer Erfolg in der Welt von Geschäft und Gewalt damit zusammenfällt, dass sie in allen Fragen richtig liegen – in der Herrschaftsausübung, bei den Werten, in der Kultur.
Indes schwindet die Grundlage für dieses Selbstbewusstsein westlicher Nationalisten etwas: Weltweit sind die ausländischen Direktinvestitionen (FDI) laut UNCTAD im vergangenen Jahr wegen der ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie um 42 Prozent auf geschätzte 859 Milliarden US-Dollar gefallen. China war 2020 mit 169 Mrd. US-Dollar erstmals das größte Empfängerland für ausländische Direktinvestitionen; davor hatten die USA diese Spitzenposition über Jahrzehnte inne. Dort brachen die FDI um 49 Prozent auf rund 134 Mrd. US-Dollar ein, in Deutschland sogar um 61 Prozent.32 Dass der unangenehme Konkurrent aus Asien mit seiner raschen Bewältigung von Corona der einzige größere Staat ist, der für 2020 ein Wirtschaftswachstum aufzuweisen hat (und damit übrigens deutsche Exporterfolge trotz Krise ermöglicht) und mit seinem für 2021 prognostizierten Wachstum weiter die „Weltkonjunkturlokomotive“ sein wird, wird die Meinung über ihn nicht verbessern – im Gegenteil.
Zu diesem Thema ist in der deutschen Öffentlichkeit vorwiegend eines zu hören: Dass es sich um neues, digitales und immer perfekteres Instrument der Unterdrückung handelt. „Die totale Kontrolle“ (FAZ), „IT-Diktatur“ bzw. „irres Kontrollsystem“ (BILD), „Orwell“ (SZ) usw. Eine Kommunistische Partei mischt sich, wie es sowieso ihre Art ist, in alle privaten Angelegenheiten ein, trägt noch mehr persönliche Daten zusammen als bisher schon. Sie eröffnet auf der Basis von Big Data, mit einem ausgeklügeltem Punktesystem und neuartigen Sanktionen endlich die Erziehungsdiktatur, die sie schon immer haben wollte. Soweit die feindselige Wahrnehmung, die schnell fertig ist mit ihrer Erklärung. Um was aber geht es bei dieser neuartigen Regierungsmaßnahme?
Einerseits um gar nicht so viel Neues. Chinas Regierung konstatiert, dass die chinesischen Menschen mit den von ihr erlassenen Gesetzen und Vorschriften ziemlich lax umgehen. Wenn möglich (insbesondere wenn kein staatlicher Aufpasser zu sehen ist) ignorieren sie diese, wo sie ihren eigenen Interessen in die Quere kommen oder ihnen lästig sind. Die Rauchverbotskampagne in Beijing etwa brauchte drei Anläufe, um durchgesetzt zu werden, weil sich bei den beiden ersten trotz angedrohter Geldstrafen kaum irgendjemand daran hielt (was übrigens das Bild von der totalitären Diktatur ebenso wie das des obrigkeitshörigen Asiaten etwas ankratzt).33 Im städtischen Verkehr geht es ziemlich rüde und rücksichtslos zu; im geschäftlichen Umgang gibt es die üblichen Betrügereien, die durch den Online-Handel noch zunehmen – auf Seiten der Verkäufer bezüglich Zuverlässigkeit und Qualität ihrer Produkte ebenso wie auf der der Käufer bezüglich ihrer Zahlungsmoral; nicht wenige Staats- und Parteifunktionäre sind – allen Kampagnen zum Trotz – immer noch korrupt. In dieser Hinsicht handelt es sich also um das alltägliche (und keineswegs nur in China vorkommende) Verhalten, das zu einer Gesellschaft allseitiger Konkurrenz um Geld notwendig dazu gehört – ein Resultat, das die chinesische KP mit der Einführung des Kapitalismus selbst herbeigeführt hat (Teil 2, Kapitel 7). Die massive Entwicklung des Internet-Handels hat dieses Problem noch vergrößert. Schon lange hat es deshalb die entsprechenden Ermahnungen zu mehr Gesetzestreue und Rücksichtnahme gegeben; auch das 2005 noch unter Hu Jintao ausgegebene Leitbild der „harmonischen Gesellschaft“, die man anstrebe, zeugt davon (mehr dazu in Teil 2, Kapitel 9 Politisches Bewusstsein).
Das neue „Sozialkreditsystem“ zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es die vielen Daten, die bei verschiedensten Gelegenheiten heute über jeden gesammelt werden (wiederum längst nicht nur in China!) zusammenführt und daraus eine Art Sündenregister verfertigt, dessen (Punkte-)Stand der einzelne durch nachgewiesenes soziales Wohlverhalten auch wieder verbessern kann. Gelingt das dauerhaft nicht, drohen materielle Konsequenzen: Man wird vom Ticketverkauf für Hochgeschwindigkeitszüge oder Flüge ausgeschlossen, die Kreditwürdigkeit herabgestuft. Das alles läuft automatisiert ab – ein Algorithmus rechnet auf Basis der zusammengeführten Daten – und die Ergebnisse sind öffentlich zugänglich: Jeder kann sich über sein Gegenüber und dessen Integrität informieren. Die neue chinesische Maßnahme ist also zunächst einmal eine gesellschaftliche Erziehungskampagne, die erstens den fortgeschrittenen Stand der Technik nutzt und zweitens darauf setzt, dass das allgemeine Bewusstsein von Pflicht und Anstand und schlimmstenfalls die Drohung mit materiellen Konsequenzen Wirkung auf die „schwarzen Schafe“ entfalten wird.
Soweit dieses System die „kleinen Leute“ und ihre Delikte betrifft, kann man festhalten, dass vieles davon auch bei uns erfasst wird, allerdings von getrennten Behörden (Flensburg) bzw. privaten Datensammlern (Schufa). Auch Fehlverhalten wird hierzulande oft mit ähnlichen Sanktionen belegt (Führerscheinentzug, Herabsetzung der Kreditwürdigkeit mit negativen Konsequenzen beim Mieten oder Kaufen).
Interessant ist aber, dass Chinas Führung mit dem neuen System auch auf Unternehmen zielt – und mit „Wohlverhalten“ anscheinend auch wesentlich mehr gemeint ist als das bisher Dargestellte34 (statt „Sozialkreditsystem“ wird die Regierungsinitiative deshalb in einigen Analysen auch mit „Gesellschaftliches Bonitätssystem“ übersetzt).
Zunächst ist bemerkenswert, was bei Unternehmen in die Bewertung einbezogen wird. Bei ihnen wird unter „Einhaltung staatlicher Vorschriften“ aufgezählt: „Sicherheit am Arbeitsplatz/Produktionssicherheit, Steuerzahlungen, Energiesparen/Umweltschutz, geistiges Eigentum“35, auch Einhaltung staatlicher Investitionsvorschriften und Beiträge zu den Sozialversicherungen werden geprüft.
Die staatliche Kontrolle trägt dabei Daten zusammen, die die Möglichkeit von Falschauskünften minimieren sollen (z.B. durch direkte Messung des Energieverbrauchs oder der Emissionen). Positiv zu Buche schlagen kann für die Unternehmen, wenn sie industriepolitischen Vorgaben in besonderer Weise entsprechen (etwa: E-Mobilität fördern, alternative Energien einsetzen, Recycling), was sich in besonders guten Kreditbedingungen niederschlagen kann.
„Letztlich könnte das Gesellschaftliche Bonitätssystem zu einem effektiven, Big-Data-gestützten Instrument werden, mit dem das Verhalten von Marktteilnehmern überwacht, bewertet und in eine politisch gewünschte Richtung gelenkt werden kann: Ein Unternehmen, das die für seine Branche gesetzten Investitionsziele für eine neue Technologie nicht erfüllt, wird mit schlechten gesellschaftlichen Bonitätsbewertungen (wie es etwa im Falle der Elektroauto-Quote vorgesehen ist) bestraft. Hierdurch wird das Unternehmen gedrängt, die politischen Ziele einzuhalten und Ressourcen in Technologien zu stecken, in die es – aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht – nicht investieren würde.“36
Die möglichen negativen Konsequenzen für Unternehmen sind vielfältig und gehen über den stets zitierten Ausschluss vom Ticketverkauf für Hochgeschwindigkeitszüge weit hinaus. Die deutsche Politikberatung warnt die deutschen Investoren in diesem Zusammenhang eindringlich davor, die Bedeutung zu unterschätzen: Zugang zu öffentlicher Auftragsvergabe, Subventionen, Kreditbedingungen, Zugang zu Handelsplattformen. Ausländische Unternehmen werden dabei „wie die chinesischen behandelt“; es sind also keine Privilegien für sie vorgesehen, was ebenfalls offenbar Anlass zu einiger Besorgnis ist. Vieles ist bei diesem Regierungsvorhaben noch nicht ganz klar. Das betrifft z.B. die Stellen, die berechtigt werden, Daten zu sammeln – dabei ist die Rede von verschiedenen Ebenen (Provinzregierungen, aber auch privaten Anbieter, teilweise von einem regelrechten neuen „Marktsegment“). Wie in China üblich, wird mit der Idee auch einfach mal experimentiert und ermittelt, welche (staats-)nützlichen Resultate dabei herauskommen oder eben nicht. Es kann sein, dass es sich – neben der oben behandelten volkserzieherischen Absicht – im Wesentlichen um eine Art staatlich betreuter „Schufa“ handelt, also einer Prüfanstalt bezüglich der Kreditwürdigkeit; so etwas gab es in China bisher nicht. Es kann aber auch sein, dass sich die Volksrepublik mit ihrem „Gesellschaftlichen Bonitätssystem“ eine neue und effiziente Methode der Marktsteuerung und Marktanpassung schafft.
Angesichts dessen, dass die nationale Akkumulation mehr und mehr in den Händen privater Investoren liegt37, bastelt sich die Kommunistische Partei eventuell einen neuartigen Hebel, eine „materielle Stimulation“ (wie es in den Zeiten sozialistischer Wirtschaftsplanung einmal hieß), um ihre Vorstellungen davon, was eine national erfolgreiche Geschäftstätigkeit berücksichtigen soll, zum Zug zu bringen – automatisiert, ohne Einfluss eventuell bestechlicher Beamter, per Änderung des Algorithmus jederzeit im Sinne einer neuen Problematik veränderbar.
„Das Gesellschaftliche Bonitätssystem verkörpert Chinas Vision, ein extrem leistungsfähiges und zugleich anpassungsfähiges Wirtschaftssystem unter politischer Führung zu schaffen. Wird das System wie geplant umgesetzt, kann es zu einem hoch komplexen und ausgefeilten Modell für eine IT- und Big-Data-gestützte Marktregulierung werden. Dies würde zum einen zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der chinesischen Wirtschaft führen. Zum anderen erhielten die Entscheidungsträger in China hiermit ein Instrument, mit dem sie auf anstehende soziale und umweltpolitische Herausforderungen sowie auf neue Technologien und industrielle Entwicklungen wirksam und schnell reagieren können. Die chinesische Regierung wird versuchen, das Gesellschaftliche Bonitätssystem dazu zu nutzen, Investitionen in innovative Technologien zu lenken und Unternehmen zu einem Verhalten zu bewegen, das für die Lösung von sozialen und umweltrelevanten Problemen hilfreich ist. Dies wiederum könnte dazu führen, dass Entwicklungsstufen übersprungen, innovative Geschäftsaktivitäten forciert und die Fähigkeit der chinesischen Gesellschaft gestärkt wird, sich schnell an nicht vorhersehbare Veränderungen anzupassen. Im Vergleich dazu würden westliche Marktwirtschaften träge und hochgradig fragmentiert wirken mit einer geringen Beweglichkeit und Durchsetzungsfähigkeit sowie fehlender langfristiger Strategien. Dieser Vision der chinesischen Führung entsprechend, würden liberale Marktwirtschaften letztlich nicht mit Chinas einseitig ausgerichtetem Ansatz konkurrieren können.“38
Hier hört man jedenfalls deutlich die Befürchtung des deutschen Konkurrenten, dass man irgendwie ins Hintertreffen geraten könnte. Angst also, ein neues Erfolgsinstrument zu verpassen, und auch ein wenig Neid – das übersetzen Journalisten fürs Volk in die Horrordarstellung vom „irren Kontrollsystem“ …
Umfragen zufolge ist die chinesische Bevölkerung übrigens mehrheitlich für die Einführung dieses Systems. Das ist kein Wunder, denn in der Tugend, die Mitmenschen zu mehr Anstand zu erziehen – eine Tugend, die mit der zunehmenden Verfestigung einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft immer mehr gefragt ist! – steht die chinesische Bevölkerung der deutschen sicher in wenig nach. Und wenn den Staatsbeamten mehr auf die Finger geguckt und diese Figuren auch einmal abgestraft werden, freuen sich sowieso alle Untertanen dieser Welt. Dass aber auch die Unternehmer staatlich kontrolliert und gegängelt werden sollen – mit dieser Auffassung scheint Chinas Volk doch immer noch arg sozialistisch geprägt!
Auch in dieser Sphäre haben wesentliche Veränderungen stattgefunden. Kurz zusammengefasst beinhalten diese:
Das Wachstum des chinesischen Kapitals beruht auf Krediten der großen Banken, der staatlichen Haushalte und der sogenannten „Schattenbanken“. Die Bedeutung der Schattenbanken (und damit die Rolle privater Kreditgeber) hat dabei stark zugenommen: Es handelt sich um Banken außerhalb des regulären Bankensystems (damit auch außerhalb staatlicher Vorgaben und Kontrollen), die ihre Kredite vor allem an private Unternehmen vergeben und bei denen sich McKinsey zufolge etwa 30 % der chinesischen Schuldforderungen versammeln.
Im Unterschied zu den ersten Jahren seiner „Systemtransformation“, in denen der Kapitalimport auf produktive Anlage beschränkt wurde, lässt China inzwischen ausländische Finanzanlagen an seinen Börsen in Shanghai und Shenzen zu.
Die chinesischen Bezahldienste Alipay (520 Millionen Nutzer) und Wechatpay (300 Millionen Nutzer) lösen Bargeldzahlungen in China mehr und mehr ab.
Die chinesische Währung darf inzwischen an einigen Finanzplätzen gehandelt werden, z. B. in Frankfurt am Main für die Eurozone, aber auch in Tokio.
China bereitet die Herausgabe einer staatlichen Krypto-Währung vor und experimentiert damit zurzeit in den Städten Shenzen und Suzhou. Die Analyse dieser Entwicklungen und ihrer Bedeutung (unter anderem: begriffliche Bestimmung einer staatlichen Krypto-Währung, der Krisenträchtigkeit des heutigen chinesischen Kredit- und Finanzsystems, der Staatenkonkurrenz in Sachen Kredit und Kreditgeld/Währung) soll allerdings vorläufig auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden – unter anderem deswegen, weil in diesem Bereich noch vieles „in der Schwebe“ ist.
China hat sich in nur vierzig Jahren vom Exportland für Textilien und Spielzeug über Haushaltsgeräte und Fernseher inzwischen zum Hochtechnologieland fortentwickelt, das den bisherigen führenden westlichen Kapitalen auf einigen Zukunfts-Feldern (E-Mobilität, Smartphones, 5-G-Technologie) bereits ebenbürtig wenn nicht voraus ist. Aus den einstigen Inseln kapitalistischer Produktion, den Sonderwirtschaftszonen, hat Chinas Regierung eine fast flächendeckende Akkumulation gemacht, die sie unter Einsatz der im Export verdienten Mittel zielstrebig ausweitet und vorantreibt. 775 Millionen Erwerbstätige stehen schon jetzt täglich an den Baustellen, Werkbänken oder in den Büros im Dienst am Profit ihren Mann bzw. ihre Frau.
China wird die USA in wenigen Jahren nicht nur nach Kaufkraftparität, sondern in absoluten Zahlen als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen; seine durch die schnelle Bewältigung der Pandemie erhöhte Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen (mit 169 Mrd. US-Dollar war China in 2020 erstmals das größte Empfängerland) beschleunigt diesen Trend noch.
Die Abhängigkeit ihrer Ökonomie vom Exportgeschäft hat die chinesische KP nach der Finanzkrise von 2007 erfolgreich vermindert. Den Höchstwert von etwa 36 % Anteil des Exports am BIP im Jahr 2004 hat sie inzwischen auf unter 17 Prozent im Jahr 2018 gedrückt.39
Chinas außenpolitische Agenda ergibt sich aus seinen heutigen ökonomischen Zielen (die grundsätzlichen Bestimmungen werden in Teil 2, Kapitel 10 behandelt). Seine Unternehmen brauchen für ihr Wachstum den sicheren Zugriff auf Rohstoffe und Absatzmärkte; die chinesische Führung sichert diesen Bedarf diplomatisch, handelspolitisch und geostrategisch ab.
Seit 2013 hat Xi Jinping die Initiative „Neue Seidenstraße“ (Belt And Road Initiative, BRI) ausgerufen. Mit dem Namen soll an die mittelalterlichen Handelswege und ihren großen Nutzen für alle – Kaufleute wie Länder – erinnert werden.
In den USA und bei den Führungsmächten der EU wird die chinesische Offensive nicht nur nicht begrüßt. Sie ist vielmehr einer der Gründe dafür, China als ernsthaften Konkurrenten einzustufen, dem mit neuer Härte entgegengetreten werden muss. An der „Neuen Seidenstraße“ und den Reaktionen der westlichen Nationen darauf lässt sich viel über den aktuellen Stand der weltpolitischen Auseinandersetzung ablesen.
Die „Neue Seidenstraße“ ist das größte Infrastruktur-Projekt der Weltgeschichte, geplante Kosten: 900 Milliarden bis eine Billion US-Dollar. Es geht zunächst um einen umfassenden Ausbau von Verkehrswegen – das kann man als die Ebene 1 des Projekts bezeichnen. Die Neue Seidenstraße soll Asien mit Europa mittels mehrerer neuer Eisenbahnlinien, zum Teil durch Hochgeschwindigkeitszüge, verbinden. Dazu gehört der Bau neuer Umschlagplätze wie Khorgos an der kasachisch-chinesischen Grenze ebenso wie der Ausbau alter Häfen. Die „maritime“ Seidenstraße wiederum soll Transportwege in Afrika und Mittel- und Südamerika entwickeln: Straßen, Autobahnen, Pipelines. Um das zu finanzieren, hat die chinesische Regierung 2013 eine Bank gegründet (AIIB Asieninfrastrukturinvestitionsbank), die Kreditgeber aus aller Welt unter ihrer Führung einlädt, daran zu verdienen – eine Aufforderung, der zum großen Ärger der USA alle westlichen Länder bis auf Japan gefolgt sind.
Mit seiner BRI will China die Handelsströme sichern, auf die es als inzwischen kapitalistische, auf erfolgreiches Wachstum orientierte Macht angewiesen ist: die Ex- und Importwege seiner Waren und Rohstoffe. Das ist, analytisch gesehen, die Ebene 2 des Seidenstraßen-Projekts und diese ist strategischer Natur. Sie zielt darauf, sich gegenüber absehbaren Störversuchen insbesondere der USA, ihrer Seestreitkraft und ihrer engen Alliierten, unangreifbarer zu machen (Südostasiatisches Meer, Straße von Malakka, Suez-Kanal). Daher der Ausbau der vielen landgestützten Verbindungen zwischen Asien und Europa, aber auch das Großprojekt eines zweiten Kanals, des Managua-Kanals in Mittelamerika, um dem US-beherrschten Panama-Kanal auszuweichen.
Zudem legt China im eigenen Interesse – ökonomisch, um sein Geschäft voranzubringen und politisch als potenzielle Unterstützung in der Auseinandersetzung mit den USA – Wert auf freundschaftliche, stabile Beziehungen zu möglichst vielen anderen Nationen. Die muss es sich, als aufsteigende Großmacht, erst einmal erwerben bzw. absichern und kennt deshalb aus strategischen Gründen tatsächlich ein Moment von positiver Bezugnahme auf deren Interessen. China baut in Afrika Staudämme, Straßen und Eisenbahnen zu vorteilhaften Konditionen40; es vergibt Kredite günstiger als jene der Weltbank und anderer Anbieter; es bietet den durch die ökonomische Konkurrenz ruinierten Staaten Europas Alternativen zu den EU-Sparprogrammen (Beispiele Griechenland, Italien).
Keine Frage, dass auch chinesische Politik da, wo es ihr im eigenen Interesse nötig erscheint, zu mehr oder weniger heftigen Erpressungen greift und dafür die Mittel einsetzt, die sie sich in den letzten Jahren erworben hat: die ökonomischen Abhängigkeiten anderer Staaten, die chinesische Waren oder Kredite brauchen oder an China verkaufen müssen. Keine Frage auch, dass es deshalb Unzufriedenheit mit den geschäftlichen Konditionen oder dem „arroganten“ Auftreten der Chinesen gibt. Das gibt das Material dafür ab, China für seinen „neuen Imperialismus“ anzuklagen. Allerdings: Das ist das übliche Geschäftsgebaren in einer Welt konkurrierender Kapitale und Staaten. Erneut gilt hier, dass die Beschwerden über ein China, das nicht anders handelt als die etablierten Macher der geltenden Weltordnung, weniger die Besonderheit des chinesischen Aufstiegsprojekts als die Anspruchshaltung von USA und EU charakterisieren: Sie wollen die Nutznießer der globalen Konkurrenz sein und verlangen unbedingte politische Gefolgschaft der Nationen, die sie sich in ihren ökonomischen und politischen Bündnissen zugeordnet haben. Und es ist auf alle Fälle das, was es braucht, wenn ein Staat auf dem Weltmarkt erfolgreich sein und in dieser Ordnung Weltmacht sein will; die USA machen es schließlich täglich vor. Auch die EU und insbesondere ihre ökonomische Führungsmacht Deutschland verfahren nach demselben Rezept, haben sich Ost- und Südeuropa untergeordnet und können es überhaupt nicht leiden, wenn Beijing diesen Staaten auch nur bessere Verhandlungsmöglichkeiten gegen die „alternativlosen“ Ansagen aus Brüssel und Berlin beschert.
China will das momentan geltende Resultat dieser Weltordnung, die die USA nach 1945 zu ihrem Vorteil eingerichtet und nach 1990 als alleinige Weltmacht vollendet haben, zu seinen Gunsten verändern. Mit seiner Neuen Seidenstraße will es die Bedingungen des weltweiten Geschäfts für die kommenden Jahrzehnte zu seinem Nutzen festklopfen. So will das frühere „Reich der Mitte“ endlich die „ihm gebührende“ Weltmachtstellung wiedergewinnen – das ist die Ebene 3 des Projekts. Dieses Verlangen ist eine ernsthafte Kampfansage an die USA als Hegemon der bisherigen Weltordnung – auch wenn es aus der Position der schwächeren Nation heraus bescheiden in den Antrag auf eine „multilaterale Welt“ gekleidet wird.