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Dieses Buch dreht sich um die Frage, wer die Welt in Zukunft führen wird. Am 1. Oktober 2049 wird in China gefeiert: Genau 100 Jahre zuvor hatte Mao Zedong die Volksrepublik China ausgerufen. Sein Nachfolge Xi Jinping ist fest entschlossen, das Land, das zu den ältesten Hochkulturen der Menschheit gehört, an die Weltspitze zu bringen. Diesem Plan, das kommunistische China bis 2049 zur "Weltmacht Nummer 1" zu machen, steht im Wesentlichen "nur" ein anderes Land im Wege: die Vereinigten Staaten von Amerika, die heutige "Weltmacht Nummer 1". Es ist ein Wettlauf um die globale Vorherrschaft entbrannt, dem sich kein anderes Land - auch nicht in Europa - entziehen kann. Der Kampf um die Spitze findet auf allen Ebenen statt: politisch, wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Und er findet überall statt: zu Lande (mit den Staaten Europas als "Spielball"), auf und unter dem Meer, in der Luft und zunehmend in einer Art Wettlauf im Weltall und im Internet. Aus dem "Kalten Krieg" mit dem ehemaligen Ostblock ist die USA eindeutig als Sieger hervorgegangen; daran ändert auch der russische Angriff auf Europa 2022 nichts. Aber es ist keineswegs ausgemacht, dass die USA im "Kampf um die Welt" mit China ebenfalls die Oberhand behalten werden.
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Seitenzahl: 263
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Vorwort
Die Frage, wer die Welt in die Zukunft führt
Erster Oktober 2049
G2 auf allen Ebenen
Den Haag spricht China Hoheit in der Region ab
Die Falle des Thukydides
Die Internationalen Institutionen
Das Recht der Völker
Multilateralismus am Ende
Eine neue Weltordnung
Niemand hat den Dritten Weltkrieg ausgerufen
Die UNO als Spielball der Weltmächte
Die Anfänge der UNO
Grundlage für eine bessere Welt
China kommt in den Sicherheitsrat
Der Sicherheitsrat
Die Vetofalle
Nagelprobe Koreakrieg
Der gemeinsame US/UNO-Krieg
China versus US/UNO-Pakt
Der längste Krieg auf Erden
Auf Korea folgte Vietnam
Kampf der Kulturen
Deutschland steht beinahe äquidistant
Das „duale System“, das nicht scheitern wollte
Globaler Wettbewerb der Gesellschaftssysteme
Europa schaut vor allem auf sich selbst
China und die APEC-Staaten
Wettbewerb um die Weltordnung
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Instrumentalisierung der Menschenrechte
Wirtschafts- und Technokrieg
Die demütigende Erfahrung
Der Wirtschaftskrieg hat längst begonnen
US-Börsen ohne China
Chinas Weg zur Spitzentechnologie
Social Scoring für eine bessere Bevölkerung
Kryptowährungen – China geht voran
Welt hat sechs Billionen Dollar Schulden bei China
„Geopolitische“ Kreditvergabe – ein déjà vu?
Die neue Seidenstraße
Der chinesische Traum
Ost-West-Handelsroute der Antike
Das deutsche Wort „Seidenstraße“
Die Skepsis der anderen
Gigantisches Jahrhundertprojekt
Europa fällt Land um Land an China
Italien am Start
Das Riesenreich und die Zwergstaaten Europas
Stärkste Wirtschaftsmacht der Welt
Europas Anti-Seidenstraße
Militärischer Wettlauf
US-Soldaten erwarten baldigen Krieg
USA fallen militärisch zurück
Chinas Militärdoktrin: Westpazifik
USA rüsten Taiwan gegen China
17 plus 1
Raketen gegen China – und zurück
Die Welt rüstet auf
Killer-Roboter im Anmarsch
Wettrüsten im Weltraum
Cyber War – Krieg im Internet
Von „Blackout“ bis „Outbreak“
China, Russland und Nordkorea am aktivsten
USA rüsten zum Cyberkrieg
Staatliche Cyber-Armeen auf dem Vormarsch
Greift China mit Spionagechips an?
WannaCry – Warnung an die Digitalgesellschaft
Der Stuxnet-Angriff auf die Industrie
Regierungen beschuldigen staatliche Hacker
Kein Hack ohne Nordkorea?
Größter Hackerangriff auf die USA in der Krise 2020
Benzinnotstand 2021
Chinas Rolle in der Pandemie
Eine Pandemie entsteht
Die Zurückhaltung der WHO
Krisenmanager Tedros
Die Schuldfrage
Die These des Virus aus dem Labor
Das Desaster in Afghanistan
Eroberungsversuche und ihre Gründe
War on Terror
The Great Game
Afghanistan als Teil der „Weltinsel“
Ist Afghanistan überhaupt regierbar?
Die Rolle des Paschtunwali
Wer sind die Taliban?
Die Lage in Afghanistan
Ausblick in Afghanistan
Krieg um die Ukraine – und Europa
Die Gefahr war seit Jahren absehbar
Russland: Problempartner Chinas wie Nordkorea?
Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit
Die neue Seidenstraße
Ukraine: Rohstofflieferant und Technologiepartner
Russland als Rohstofflieferant und Markt für China
China als Gewinner oder als Verlierer?
Treffen wir uns 2049 wieder
Ziel: Quadratur des Kreises
China ist nicht der „neue Ostblock“
Über den Autor
Bücher im DC Verlag
Quellenangaben und Anmerkungen
„Die Ära der westlichen Dominanz endet… Die Pandemie könnte den Startpunkt für das asiatische Jahrhundert markieren… Die neue Weltordnung kann paradoxerweise sogar eine demokratischere sein… China will sein Modell nicht exportieren. Es kann sehr gut mit einer multipolaren Welt leben. Das anbrechende asiatische Jahrhundert muss nicht notwendigerweise unangenehm für den Westen oder den Rest der Welt sein.“
Kishore Mahbubani
Ehem. Präsident des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
Am 1. Oktober 2049 wird in China gefeiert: Genau 100 Jahre zuvor hatte Mao Zedong die Volksrepublik China ausgerufen. Sein Nachnachnachnachnachnachnachnachnachnachnachfolger Xi Jinping1 ist entschlossen, das Land, das zu den ältesten Hochkulturen der Menschheit gehört (schriftliche Aufzeichnungen der chinesischen Kultur reichen 3.500 Jahre zurück), bis dahin an die Weltspitze zu bringen.
Diesem Plan, das kommunistische China bis 2049 zur „Weltmacht Nummer 1“ zu machen, steht im Wesentlichen „nur“ ein anderes Land im Wege: die Vereinigten Staaten von Amerika, die heutige „Weltmacht Nummer 1“. Es ist ein Wettlauf um die globale Vorherrschaft entbrannt, dem sich kein anderes Land – auch in Europa nicht – entziehen kann. Der Kampf um die Spitze findet auf allen Ebenen statt: politisch, wirtschaftlich, technologisch und möglicherweise auch militärisch. Und er findet überall und auf allen Wegen statt: zu Lande (mit den Staaten Europas als „Spielball“), auf und unter dem Meer, in der Luft und zunehmend in einer Art Wettlauf im Weltall.
Beide Länder sind mit 9.596.960 (China) bzw. 9.833.517 (USA) Quadratkilometer Fläche ungefähr gleich groß, aber das Bruttosozialprodukt als Gradmesser von Größe und Bedeutung der USA liegt mit 21,43 Billionen Dollar rund 50 Prozent über dem Chinas (14,34 Billionen). Mit 1,4 Milliarden Einwohnern ist China den USA (328 Millionen) bei der Bevölkerung etwa um das Vierfache überlegen. Doch es geht beim Wettlauf zwischen den beiden Supermächten weniger um Zahlen als vielmehr um Einfluss und Dominanz – und zwar weit über das eigene Land hinaus.
Es geht um die Frage, wer die Welt in Zukunft führen wird. Da eine „friedlich Einigung“ darüber wohl ausgeschlossen werden kann, ist es nicht übertrieben, von einem neuen „Kalten Krieg“ zwischen China und den USA zu sprechen. Im Grunde können wir nur hoffen, dass dieser Krieg tatsächlich „kalt“ bleibt – sicher ist das nicht. Immerhin stand der letzte Kalte Krieg zwischen dem westlichen Block unter der Führung der USA auf der einen Seite und dem Ostblock unter Führung der Sowjetunion auf der anderen Seite mehrmals kurz davor, die halbe oder sogar die ganze Welt zu vernichten, wenn man sich das atomare Vernichtungspotential beider Seiten vor Augen hält. Diesen Machtkampf „USA versus UdSSR“ haben die Vereinigten Staaten von Amerika eindeutig gewonnen (manche sagen, vorläufig). Der Sowjetblock ist im Grunde implodiert, er hat sich von innen heraus aufgelöst – und dadurch die USA als Siegermacht zurückgelassen (mit dem Versuch eines „Comebacks“ seit 2022). Das bedeutet keineswegs, dass die USA aus dem „Kampf um die Welt“ mit China ebenfalls als Sieger hervorgehen werden. Der „Kalte Krieg 2.0“ hat bereits begonnen.
Der amerikanische Wissenschaftler John Mearsheimer vergleicht die aktuelle Situation in seinem Buch The Tragedy of Great Power Politics2 (Die Tragödie der Großmachtpolitik) mit der Situation vor dem Ersten Weltkrieg. Damals stieg Deutschland wirtschaftlich und politisch auf. Das wurde von Großbritannien, der damals dominierenden Weltmacht, frühzeitig als Bedrohung angesehen, der militärisch zu begegnen sei.
Tatsächlich bieten sich verblüffende Parallelen der Ausgangssituation, nur hoffentlich nicht auch im daraus folgenden Verlauf der Schlussfolgerungen. Auf der vorletzten Seite seines Werkes warnt Mearsheimer:
„Weder das wilhelminische Deutschland noch das kaiserliche Japan, noch Nazideutschland, noch die Sowjetunion hatten auch nur annähernd so viel latente Macht wie die Vereinigten Staaten während ihrer Konfrontationen ... Aber wenn China sich zu einem riesigen Hongkong entwickeln würde, hätte es wahrscheinlich etwa viermal so viel latente Macht wie die Vereinigten Staaten, was China einen entscheidenden militärischen Vorteil gegenüber den Vereinigten Staaten verschaffen würde.“
Entsprechend erklärte US-Außenminister Anthony J. Blinken in seiner Antrittsrede im März 2021: „China ist das einzige Land, das über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, um das stabile und offene internationale System ernsthaft in Frage zu stellen – all die Regeln, Werte und Beziehungen, die dafür sorgen, dass die Welt so funktioniert, wie wir es wollen, weil es letztlich den Interessen und Werten des amerikanischen Volkes dient.
Unsere Beziehung zu China wird wettbewerbsorientiert sein, wenn sie es sein sollte, kooperativ, wenn sie es sein kann, und feindselig, wenn sie es sein muss.“3
Damit griff er eine Warnung von Richard Nixon auf, der in seinen Erinnerungen warnte: Die USA müssten sich China „in den nächsten Jahrzehnten widmen, es fördern und entwickeln, noch während es seine Stärke und sein Potenzial als Nation entfaltete. Anderenfalls wären wir eines Tages mit dem beachtlichsten Gegner konfrontiert, den es in der Weltgeschichte je gab.“ 4
Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es umfasst ausdrücklich nicht die über jahrtausendalte Hochkultur, die ihre Anfänge in der heutigen Provinz Henan unter der Xia-Dynastie (ca. 2000 v. Chr.) hat und die ersten Piktogramme auf Orakelknochen als Vorläufer der heutigen chinesischen Schriftzeichen hervorgebracht hat. Es beleuchtet nicht den Mythos der drei Urkaiser: Fuxi, Shennong und schließlich den Gelben Kaiser Huang Di als eigentlichen Kulturschöpfer, und auch nicht die ihnen vorangegangenen 16 irdischen sowie himmlischen Kaiser. Die bis über 3.500 Jahre zurückreichenden schriftlichen Aufzeichnungen über die chinesische Kultur haben keinen Eingang in das vorliegende Buch gefunden. Es dreht sich weder um das Kaiserreich noch um die Mao-Revolution und die Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949.
Vielmehr ist das vorliegende Buch ganz der Zukunft Chinas auf dem Weg zum 100-jährigen Jubiläum der Volksrepublik China im Jahr 2049 gewidmet. Historische Bezüge werden nur genommen, soweit sie für die heutige und vor allem die künftige Entwicklung von unmittelbarer Bedeutung erscheinen. Das gilt insbesondere für den verstärkten Multilateralismus nach 1945 und den Niedergang eben dieser staatenübergreifenden Verständigungsform in den letzten zehn oder mehr Jahren.
Wollte man die Geschichte Chinas vollumfänglich erzählen, wäre das vorliegende Buch mindestens fünf- bis zehnmal dicker geworden. Doch dabei wären die Kernaussagen dieses Werkes möglicherweise untergegangen.
Daher konzentrieren sich die Autoren des vorliegenden Werkes bewusst auf die Analyse der heutigen geopolitischen Lage, die wirtschaftlichen, technologischen, gesellschaftlichen und militärischen Optionen der heutigen Volksrepublik China und die mutmaßlichen Aussichten bis zum Jahr 2049.
Dr. Horst Walther
et al.
An diesem Werk haben zahlreiche namhafte Mitglieder der UNO-Denkfabrik Diplomatic Council mitgewirkt, vornehmlich durch fachliche, technische, visionäre, wissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Beiträge. Das vorliegende Buch stellt in diesem Sinne ein Gemeinschaftswerk „et alii“ bzw. „et aliae“ dar. Diesen Gemeinsinn will die Autorengemeinschaft mit dem bibliografischen Kürzel „et al.“, also „und andere“, ausdrücken
Über Jahrzehnte hinweg ist das Handeln der chinesischen Regierung auf einen Stichtag ausgerichtet: den 1. Oktober 2049. An diesem Tag feiert die Volksrepublik China ihren 100. Geburtstag. Staatspräsident Xi Jinping ist entschlossen, sein Land bis dahin zur Nummer 1 auf der Welt zu machen: wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Um sein Ziel zu erreichen, bleiben ihm also knapp 30 Jahre, in denen es ihm gelingen muss, die USA zu überrunden, um den Sieg davonzutragen. Angesichts des historischen Datums vor Augen wird China keine Maßnahmen scheuen, seinen Weltmachtanspruch durchzusetzen. Wer die chinesische Entwicklung analysiert, muss sich stets über diese unbeugsame Zielsetzung, der sich in China alles unterzuordnen hat, im Klaren sein.
Die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Volksrepublik China am 1. Oktober 2019 zeigten je nach Blickwinkel eindrucksvoll die Strategie: Niemand könne „das chinesische Volk und die chinesische Nation auf dem Weg nach vorne stoppen“, deklamierte Staatschef Xi Jinping auf seiner Festrede am Tiananmen-Platz in Peking. Keine Macht könne den Fortschritt des chinesischen Volks und der Nation aufhalten. Um den Anspruch zu untermauern, verband er die 70-Jahr-Feier mit der bis dato größten Waffenschau in der Geschichte.
Mit dem Hinweis, die militärische Ausrüstung sei „komplett selbst produziert“, stellte das chinesische Militär klar, dass man nicht auf technologische Unterstützung aus dem Ausland angewiesen ist. Es sollte die „unabhängige Innovationsfähigkeit“ der chinesischen Verteidigungsindustrie demonstrieren. Vor allem: „Das chinesische Militär wird resolut die nationale Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen verteidigen.“5
G20, G8, G7 – faktisch läuft es bereits seit einiger Zeit auf G2 zu, die Vereinigte Staaten von Amerika gegen China – bis sich 2022 Russland als „Dritter im Bunde“ zurückmeldete. Indes ist unübersehbar, dass vor allem China und die USA auf einen Zweikampf zusteuern – politisch, wirtschaftlich und letztlich wohl auch militärisch. Beispielhaft für das Potenzial eines bewaffneten Konflikts steht ein Vorfall aus dem Dezember 2018.
Kurz vor Weihnachten 2018 kreuzte ein Zerstörer der US Navy, die „Decatur“ im Südchinesischen Meer, wenige Meilen von einem Riff entfernt, das China als sein Territorium beansprucht und einem waffenstarrenden Stützpunkt ausgebaut hat. Auf einmal näherte sich ein Lenkwaffenzerstörer der chinesischen Marine, die „Lanzhou“, auf Kollisionskurs. Die Chinesen funkten „Sie sind auf gefährlichem Kurs. Wenn Sie den Kurs nicht ändern, haben Sie die Folgen zu tragen“. Die Amerikaner antworteten „Wir sind auf friedlicher Durchfahrt“. Die beiden Kriegsschiffe hielten Kurs und die chinesische Besatzung begann, Fender über die Reling zu hängen, um ihr Schiff auf einen Zusammenprall vorzubereiten. Bei nur noch rund 40 Metern Abstand gab der amerikanische Kapitän klein bei und wich in letzter Minute nach Steuerbord aus. Hätte er Kurs gehalten, geschossen oder die US-Luftwaffe zu Hilfe gerufen, hätte dies der Anfang des nächsten Weltkriegs sein können. Die in Hongkong erscheinende South China Morning Post, die als seriöse Zeitung gilt, schrieb: „Wenn das letzte Stadium der geopolitischen Rivalität eine militärische Konfrontation ist, dann könnte der Startschuss bereits gefallen sein.“ Denn der Beinahezusammenstoß auf halber Strecke zwischen Vietnam und den Philippinen war kein Einzelfall – allein zwischen 2016 und 2018 wies das US-Verteidigungsministerium insgesamt 18 „gefährliche Zwischenfälle“ aus. Das Ausweichen durch den Kapitän der „Decatur“ im Dezember 2018 mag ein Akt der Vernunft gewesen sein, vielleicht auch der Wunsch, nicht ausgerechnet zur Weihnachtszeit den Dritten Weltkrieg zu beginnen. Aber für die geopolitische und damit auch militärische Haltung der USA war das Ausweichmanöver nicht exemplarisch. „Die USA werden weiterhin kreuzen, fliegen und navigieren, wo immer es das internationale Recht erlaubt“, stellte der damalige US-Verteidigungsminister James Mattis angesichts des „Decatur“-Vorfalls klar. Und US-Vizepräsident Mike Pence ließ bereits einen Monat zuvor auf dem Weg zu einer Konferenz in Singapur die „Air Force Two“ 50 Meilen an den Spratley-Inseln vorbeifliegen, die von China beansprucht werden. Dazu kommentierte er: „Imperiales Verhalten und Aggression haben keinen Platz im indopazifischen Raum. Wir werden nicht nachgeben.“ Prompt konterte Chinas Staatschef Xi Jinping, er werde „keinen Zoll“ chinesischen Territoriums aufgeben. Seinen Offizieren befahl er, sich darauf vorzubereiten, „einen Krieg zu führen. Hierzu gab er Anweisung „alle komplexen Situationen“ in Betracht zu ziehen, „Notfallpläne“ auszuarbeiten und die „Kampfbereitschaft“ der Truppe zu verstärken. Was er damit meinte, wurde drei Jahre später deutlich.
Am 12. Juli 2021 teilte Chinas Militär mit, man habe ein US-Kriegsschiff am Montag aus den Gewässern nahe den Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer „vertrieben“. Der Zerstörer „USS Benfold“ sei ohne Erlaubnis in das Gebiet gefahren. Die USA hätten damit die Souveränität Chinas verletzt und die Stabilität im Südchinesischen Meer gefährdet. „Wir rufen die Vereinigten Staaten dazu auf, solche provokativen Aktionen umgehend zu stoppen“, teilte ein Kommando der chinesischen Streitkräfte mit. 6 Der Zeitpunkt des Vorfalls war wohl kein Zufall – der 12. Juli 2021 markierte den fünften Jahrestag eines Urteils zu Chinas Gebietsansprüchen in der Region. Der Ständige Schiedshof in Den Haag hatte 2016 befunden, dass die Volksrepublik keine Hoheitsansprüche in der Region hat. China fordert mehr als 80 Prozent des drei Millionen Quadratkilometer großen Gebietes für sich – obwohl die Inseln und Riffe teils deutlich dichter vor den Küsten anderer Staaten liegen. Die Volksrepublik begründet das mit der sogenannten „Neun-Striche-Linie“, einer Markierung auf einer Karte aus den 1940ern, die bis weit gen Süden reicht. Peking hatte den Schiedsspruch bereits 2016 nicht akzeptiert und das Urteil für „null und nichtig“ erklärt.7 Unter dem Meer werden reiche Öl- und Gasvorkommen vermutet. Außerdem ist es für den Fischfang wichtig. Die chinesischen Gebietsansprüche bereiten anderen Ländern auch Sorge, weil wichtige Schifffahrtsrouten durch das Südchinesische Meer verlaufen. Doch weit über diese rationalen Überlegungen hinaus geht es vor allem den USA zweifelsohne darum, China und der Staatengemeinschaft klarzumachen, dass es nur eine einzige Weltmacht gibt, die überall praktisch alles tun darf: die Vereinigten Staaten von Amerika. Das sieht die Volksrepublik China indes völlig anders.
Wenn eine Großmacht zu einer anderen aufgeschlossen hat, kam es häufig in der Geschichte zum Krieg. Der Harvard-Politologe Graham Allison nennt diese Konstellation die „Falle des Thukydides“ in Anspielung auf den großen Geschichtsschreiber der griechischen Antike. Es reicht vom Widerstand Spartas gegen das aufstrebende Athen bis zum Aufeinanderprallen des Britischen Empire und des Deutschen Reichs vor 1914.
Ob die Falle zwischen der Weltmacht Nummer 1 und dem erstarkenden China wirklich zuschnappt, ist nicht zwangsläufig ausgemacht. Im Unterschied zu früheren Zeiten sind heutzutage nämlich alle Weltwirtschaften derart eng miteinander vernetzt, dass jede politische Konfrontation etwa durch Sanktionen oder gar militärische Maßnahmen zwangsläufig zur direkten Rückkopplung auf das eigene Land führen.
Doch wie stark sich China darauf vorbereitet, die Führung der Welt von den USA zu übernehmen, verdeutlichte Staatschef Xi Jinping in seiner Rede auf dem wegen der Corona-Pandemie virtuell abgehaltenen Weltwirtschaftsforum 2021. Dabei präsentierte er sich als globaler Verteidiger des Rechts, der Freiheit und der Demokratie. Während US-Präsident Joe Biden 2021 mit den Worten „Ich denke, dass wenn wir in einem Krieg enden werden – einem echten Krieg mit einer Großmacht – dass es wahrscheinlich als Folge eines Cyberangriffs von großer Tragweite sein wird, und die Wahrscheinlichkeit nimmt exponentiell zu“8 ernsthaft mit Krieg drohte, erklärte Xi Jinping „Wir sollten uns dem Völkerrecht verpflichtet fühlen, anstatt die eigene Vormachtstellung anzustreben“. Das war ein zentraler und aus dem Mund des chinesischen Staatschefs bemerkenswerter Satz. Im alten China, sagte Xi Jinping, sei „das Recht die wahre Grundlage des Regierens“ gewesen. Das habe auch heute und in der Weltpolitik zu gelten. Nicht das „Recht des Dschungels“ dürfe die Beziehungen zwischen Staaten bestimmen, sondern Regeln und Konsens. „Der Starke soll nicht den Schwachen schikanieren“, so Xi Jinping. Und weiter: Nicht das „Winken mit einer großen Faust“ darf den Ausschlag geben. Die Charta der Vereinten Nationen sei die Basis der internationalen Gemeinschaft, deklamierte der chinesische Staatschef auf dem Weltwirtschaftsforum 2021. US-Präsident Biden stand also als Kriegstreiber dar, während sich Xi als Bewahrer des Friedens auf Grundlage des Völkerrechts und Verfechter des Multilateralismus positionierte.
Damit war klar, dass China keineswegs bereit ist, sich von den USA in die „Rolle des Schurken“ drängen zu lassen. Vielmehr will es seine globale Ausbreitung als eine mit dem internationalen Völkerrecht übereinstimmende Entwicklung verstanden wissen. Es ist einerseits eine Absage an die Vorstellung vom „Kalten Krieg 2.0“ und andererseits der Versuch, in genau dieser Blockbildung („China versus USA“) möglichst viele Staaten und insbesondere Europa auf die eigene Seite zu ziehen oder jedenfalls äquidistant zu beiden Polen zu halten.
Exemplarisch dafür stand ein Telefonat Chinas Präsident Xi Jinping mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai 2022, in dem der Chinese seine wachsende Besorgnis über die europäische Annäherung an die USA im Zuge des Krieges in der Ukraine äußerte. Europa „soll seine Sicherheit in die eigenen Hände nehmen“ und „China unterstützt Europas strategische Autonomie“ soll Xi Jinping gesagt haben.
Eine maßgebliche Rolle spielen dabei die Internationalen Institutionen, allerdings nicht als Friedensstifter, sondern als Machtmanipulatoren, wie im folgenden Kapitel erläutert wird.
Zwischenstaatliche Konflikte sind älter als das Konzept der Nationalstaaten – früher waren es Stammesfehden, religiöse Obsessionen oder Machtkämpfe zwischen Herrscherhäusern. Aus diesen häufig blutigen Auseinandersetzungen hat sich über mehrere Jahrhunderte hinweg die Idee einer friedlichen Zusammenarbeit entwickelt, um Konflikte sozusagen geordnet beizulegen, bevor sie zum Krieg führen. Heute spricht man von „Internationalen Institutionen“, in denen die Staaten bei strittigen Fragen nach Lösungen suchen, die von allen Parteien akzeptiert werden können. Lange Zeit galt der Multilateralismus, also die Kooperation in einer Staatengemeinschaft – über den Bilateralismus zwischen nur zwei Ländern hinausgehend – als Weg in eine friedliche Welt. Die Vereinten Nationen, die United Nations Organisation (UNO), stehen für diesen globalen multilateralen Ansatz wie keine andere Weltorganisation.
Auch in der Auseinandersetzung zwischen China und den USA spielen die Internationalen Institutionen eine Rolle – allerdings nur eine kleine, keineswegs die Hauptrolle. Die Geschehnisse nach dem Zweiten Weltkrieg haben gezeigt, dass sowohl die USA als auch China die UNO eher als Spielball für eigene Intrigen denn als moralische oder gar machtpolitische Instanz akzeptieren.
Wer die heutige Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltmächten verstehen will, muss um die Ereignisse rund um die Vereinten Nationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wissen und das Schwächeln des Multilateralismus seit 2015 berücksichtigen.
Der Gedanke einer Staatengemeinschaft ist nicht neu. Der Begriff „Völkerrecht“ fand erstmals 1625 in dem Buch „Über das Recht des Krieges und des Friedens“ des niederländischen Rechtsgelehrten Hugo Grotius Erwähnung. Der Philosoph Immanuel Kant beschrieb 1795 in seinem Buch „Zum ewigen Frieden“ ausführlich die Idee einer „durchgängig friedlichen Gemeinschaft der Völker“. Die Aufklärung brachte im 19. Jahrhundert eine erste internationale Friedensbewegung hervor, die zu den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 führte.
Ziel war die Entwicklung von Grundsätzen für die friedliche Regelung internationaler Konflikte. Die Idee dahinter ist großartig: die Abschaffung des Krieges als Mittel der Auseinandersetzung zwischen Völkern und stattdessen die Etablierung eines Rechtsweges zur Lösung von Konflikten.
Es ist damals nicht gelungen, es ist mit dem Völkerbund nicht gelungen und mit derzeit rund 20 Kriegen jährlich lässt sich nur schwerlich argumentieren, dass die UNO heute erfolgreicher sei. Der „Kalte Krieg 2.0“ zwischen China und den USA lässt eine friedliche Einigung in einer Abstimmung mit der internationalen Staatengemeinschaft und im Sinne des Multilateralismus nicht einmal am Horizont auftauchen.
Man muss wohl feststellen, dass der Multilateralismus nicht erst seit 2022 und nicht nur in der EU auf der Kippe steht und im Grunde versagt hat. Seitdem die USA 2016 mit einer rigorosen America-First-Politik das Primat des Nationalstaats ausgerufen haben, waren viele andere Länder gefolgt. In Europa hat die seit dem Jahr 2015 schwelende Flüchtlingskrise schon lange die Einheit der EU gefährdet. Der Austritt Großbritanniens Anfang 2020 nach 47 Jahren EU-Mitgliedschaft war eine Zäsur, die zuvor kaum jemand für möglich hielt. Die Pandemie 2020/21 hätte ein heilsamer Schock sein können, doch stattdessen hat sie zu Zerwürfnissen allenthalben geführt.
Der Antritt der US-Regierung unter Präsident Joe Biden Anfang 2021 ließ immerhin die Hoffnung aufkeimen, dass es bei der vermutlich nächsten großen Herausforderung für die Menschheit, der Abwendung der Klimakatastrophe, mehr internationalen Zusammenhalt geben wird. Doch ob es dabei über die Hoffnung hinausgeht, scheint fraglich. In der Pandemie haben die USA jedenfalls unter Biden über Monate hinweg ein striktes Exportverbot für Impfstoffe aufrecht erhalten, auch für solche Impfstoffe, für die in den USA selbst gar keine Zulassung vorlag.9 China bot hingegen weltweit Impfstoff an – den allerdings viele Länder aufgrund von Zweifeln an der Wirksamkeit ablehnten.10 Diese Situation aus dem Jahr 2021 verdeutlichte einmal mehr, wie sich China als Global Player darstellte, der beinahe der ganzen Welt mit viel Verantwortungsgefühl helfen will – der Beginn einer neuen Weltordnung.
Schon auf dem Weltwirtschaftsforum 2019 in Davos plädierte die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel für eine neue Weltordnung.11 Ihr Appell ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Die Fragmentierung der Weltordnung lasse sich nur verhindern, wenn Reformen dafür sorgten, dass die Institutionen die aktuellen Kräfteverhältnisse widerspiegelten, nicht mehr nur die des Zweiten Weltkriegs. Viele Institutionen hätten sich als sehr schwerfällig erwiesen. So sei etwa die 2018 beschlossene Kapitalerhöhung der Weltbank längst überfällig gewesen, weil sich die wirtschaftlichen Gewichte verschoben haben.
„Wenn ein bestehendes System zu langsam darauf reagiert, ist die natürliche Folge, dass sich andere mit neuen Institutionen bemerkbar machen“, sagte Angela Merkel in Davos. Sie verwies auf die Asiatische Investitionsbank und andere neue Formate mit China im Zentrum. So etwas verstehe sie als „Warnschuss“. Die Notwendigkeit einer neuen Ordnung ergebe sich auch aus ganz neuen Aufgabenstellungen. Als besondere Herausforderungen nannte sie die Digitalisierung, besonders die Künstliche Intelligenz, und den Umgang mit privaten Daten, aber auch Gentechnik und Bioethik. Darauf fehlten bisher Antworten. Es gehe jetzt darum, eine neue Architektur zu entwickeln, um diesen neuen Entwicklungen gemeinsam begegnen zu können. „Das setzt aber voraus, dass wir die bestehende Ordnung nicht so weit ruinieren, dass kein Mensch mehr an neue Leitplanken glaubt“, sagte Angela Merkel. Es gebe zu einer multilateralen Ordnung keine gute Alternative. Die Bundeskanzlerin sprach 2019 an, was schon zu dieser Zeit längst keine Neuigkeit mehr war, aber sich in der Pandemie 2020/21 deutlicher als je zuvor gezeigt hatte: Es gibt seit Jahrzehnten eine Krise des Multilateralismus.
Bereits 2018 hatte der deutsche Außenminister eine „Allianz der Multilateristen“ ausgerufen. Im Herbst 2019 war die rund 50 Staaten zählende Runde am Rande der UNO-Generalversammlung in New York erstmals zusammengekommen. Es war der verzweifelte Versuch, durch einen informellen Kreis dem schwindenden Einfluss internationaler Organisation sowie der bröckelnden Geltung weltweiter Regeln etwa im Handelsbereich entgegenzuwirken. Es war zugleich ein Eingeständnis, dass multilaterale Institutionen wie die Vereinten Nationen an Bedeutung verlieren. Der 2021 ins Amt gekommene US-Präsident Joe Biden hat zwar zügig den Wiedereintritt seines Landes in die internationalen Institutionen, die sein Vorgänger Donald Trump verlassen hatte, bewirkt, aber gleichzeitig unmissverständlich die Führungsrolle der USA betont. 12 Man könnte es so formulieren: Während Trump den Tisch des Multilateralismus schlichtweg verlassen hatte, nahm Biden wieder Platz, allerdings am Kopfende, um klarzustellen, wer am Tisch das Sagen hat.
In der letzten Dekade wurde der Multilateralismus schwer beschädigt. Manche sagen mit Blick auf die jahrzehntelangen Schwächen der UNO, er sei nie ernsthaft Wirklichkeit geworden. Die Welt ist heute nationaler, egoistischer und gefährlicher als zuvor. In der Dekade der 2020er und mutmaßlich darüber hinaus gilt das Recht des Stärkeren. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass das trotz aller Versuche, eine friedliche Welt zu erschaffen, im Grunde nichts Neues ist.
Nach dem ersten Weltkrieg mit 20 Millionen Toten gründete die internationale Staatengemeinschaft den Völkerbund mit dem einzigen Ziel, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Der Völkerbund versagte. Rund 20 Jahre später begannen die Vorbereitungen für den Zweiten Weltkrieg, der weit über 50 Millionen Menschenleben kostete. Die Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organisation) wurde ins Leben gerufen, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. Ist ihr das bislang gelungen? Darüber mag man streiten. Tatsächlich hat bisher niemand einen Dritten Weltkrieg ausgerufen.
Aber Krieg herrscht schon seit Jahren und er ist, schlimmer noch, sogar eher auf dem Vormarsch. Heute toben weltweit mehr Kriege als je zuvor. Auf fünf von sieben Kontinenten herrscht Krieg. Die Zahl der militärischen Konflikte steigt weltweit seit Jahren stetig an, ebenso wie die Zahl der Opfer und der Flüchtlinge, die den Kriegen entkommen und ihr Leben retten wollen. Selbst in der bislang größten globalen Katastrophe des 21. Jahrhunderts, der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus, ist es der UNO über mehrere Monate hinweg nicht gelungen, auch nur eine verbindliche Resolution über einen weltweiten Waffenstillstand zu verabschieden. Ganz im Gegenteil steht die Idee des Multilateralismus, also das abgestimmte gemeinsame Handeln der Staatengemeinschaft, seit Beginn der 2020er Jahre stärker in Frage als zu Zeiten des Kalten Krieges – oder sollte man sagen zu Zeiten des „Ersten Kalten Krieges“, wenn man die Front zwischen China und den USA als den „Zweiten Kalten Krieg“ einordnet? Zur Begriffsklärung: Der Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 ist kaum als „kalt“ zu bezeichnen, obgleich auch hieraus eine Verhärtung der Fronten zwischen dem US-geführten Westen einerseits und Russland andererseits abzuleiten ist, die einmal die Bezeichnung „Zweiter Kalter Krieg“ für sich beanspruchen könnte. Die Kriegsfront zu China wäre laut dieser Zählweise der „Dritte Kalte Krieg“.
Dabei ist bei der Bewertung der Internationalen Institutionen im „Kalten Krieg 2.0 oder 3.0“ zu berücksichtigen, wie geradezu schamlos die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Vereinten Nationen umgegangen sind und wie fintenreich sie dabei den damaligen Sowjetblock und auch China ausgetrickst haben, wie es im nächsten Kapitel erläutert wird.
Ausgenutzt, missachtet, missbraucht – so lässt sich der Umgang der Vereinigten Staaten von Amerika mit den Vereinten Nationen über Jahre hinweg beschrieben. Die UNO wurde aus gutem Grund, man kann sagen dem Besten aller Gründe, aus der Taufe gehoben, nämlich um Menschenleben zu retten. Doch sie wurde schnell zum „Spielball“ der Weltmächte: den USA, der Sowjetunion und nicht zuletzt China. Man muss die Motive hinter der Gründung der Vereinten Nationen und die Ränke um die vermeintliche mächtigste Organisation der Welt verstehen, um zu begreifen, warum die UNO im Konflikt „China versus USA“ im Grunde keine Rolle spielt. Dabei ist sie eigentlich genau für diese Art von Krisen ins Leben gerufen worden.
Knapp 20 Millionen Menschen verloren im Ersten Weltkrieg ihr Leben, darunter circa 9,7 Millionen Soldaten und etwa 10 Millionen Zivilisten. Im Zweiten Weltkrieg wurde alles noch schlimmer, viel schlimmer. Die Kampfhandlungen begannen, abgesehen von einzelnen Scharmützeln an der deutschpolnischen Grenze, am 1. September 1939, als das Linienschiff „MS Schleswig-Holstein“ das Feuer auf die Westerplatte bei Danzig eröffnete. Sie endeten am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr. Das sind 2077 Tage oder 49.842 Stunden und 16 Minuten. In dieser Zeitspanne starben in jeder Stunde rund 1.000 Menschen. Insgesamt forderte der Zweite Weltkrieg das Leben von 66 Millionen Menschen, darunter 27 Millionen Soldaten und etwa 39 Millionen Zivilisten. Andere Schätzungen gehen sogar von bis 80 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg aus.13
Weit mehr als 100 Millionen Tote und Verletzte in zwei Weltkriegen binnen rund 30 Jahren. Soldaten, Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, zerstörte Leben, verlöschte Hoffnungen, unbeschreibbare Gräuel, unendliches Leid – im Angesicht dieser gigantischen Zerstörungswut wollte die Weltgemeinschaft mit einer „weltweiten Friedensorganisation“ alles daransetzen, um ein weiteres Töten zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Schon nach dem Ersten Weltkrieg gründete die internationale Staatengemeinschaft den Völkerbund mit einem einzigen Ziel: einen Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Der Völkerbund versagte leider. Rund 20 Jahre später begannen die Vorbereitungen für den Zweiten Weltkrieg.
Die Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organisation) wurde ins Leben gerufen, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern.
„Mr. chairman and delegates to the United Nations conference on international organisation: Oh what a great day this can be in history!” Mit diesen Worten eröffnete US-Präsident Harry S. Truman die Konferenz zur Gründung der Vereinten Nationen.14
Hierzu hatten sich am 24. April 1945 in San Francisco Diplomaten aus 50 Ländern zur Gründungskonferenz getroffen. Mit 850 Delegierten, Beratern und sonstigem Personal – insgesamt 3.500 Personen – galt sie als die bis dato größte internationale Konferenz ihrer Zeit. Die Gigantomanie des Multilateralismus nahm ihren Lauf.
Am 26. Juni 1945 wurde die Charta der Vereinten Nationen von den 50 Gründungsstaaten feierlich unterzeichnet. US-Präsident Harry S. Truman sagte auf der Schlussversammlung: „Die Charta der Vereinten Nationen, die Sie soeben unterzeichnet haben, ist eine solide Grundlage, auf der wir eine bessere Welt errichten können. Die Geschichte wird Sie dafür ehren. Zwischen dem Sieg in Europa und dem letzten Sieg in diesem zerstörerischsten aller Kriege haben Sie einen Sieg gegen den Krieg selbst erzielt… Mit dieser Charta kann die Welt einer Zeit entgegenblicken, in der es allen würdigen Menschen offensteht, ein anständiges Leben als freie Menschen zu führen.“15
Die Worte drückten die Hoffnungen der damaligen Zeit nach mehr als 60 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg aus. Ein solches Massaker sollte sich nie mehr wiederholen. Allerdings wies Truman darauf hin, dass es nicht nur auf die schönen Worte in der Charta ankäme, sondern vor allem auf die Umsetzung, also die Anwendung der Charta: „Wenn wir sie ungenutzt lassen, verraten wir all jene, die dafür gestorben sind, dass wir uns hier in Freiheit und Sicherheit versammeln können, um sie auszuarbeiten. Wenn wir versuchen, sie eigennützig, zum Vorteil eines einzelnen Staates oder einer kleinen Gruppe von Staaten einzusetzen, machen wir uns ebenfalls des Verrats schuldig.“16 Mehr als 75 Jahre später klingen diese Worte wie eine düstere Prophezeiung, denn genau daran, an der Umsetzung, ist die UNO über all diese Jahrzehnte hinweg wieder und wieder gescheitert – maßgeblich auch am Eigennutz einzelner Staaten, nämlich der Vetomächte, allen voran die USA, die Sowjetunion und China.
Die „Gründungsväter“ der Vereinten Nationen – Roosevelt, Churchill und Stalin – bildeten gelinde gesagt nicht gerade einen „Freundschaftsbund“, sondern wollten die Weltordnung der Nachkriegszeit nach ihren machtpolitischen Vorstellungen gestalten und einen zweiten „Fall Deutschland“, wo auch immer auf der Welt, unter allen denkbaren Umständen verhindern.