Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Gegen Ende des Lebens macht man sich Gedanken: über eigenes wie fremdes Erleben, über besondere Vorkommnisse, über den allgemeinen Lauf der Welt und die eigene, persönliche Stellung und Rolle in diesem so schwer fassbaren großen Ganzen, über Erreichtes und Verpasstes, über Vergessenes und plötzlich wieder Erinnertes, über das Wie und warum alles gerade so und nicht anders gekommen ist, und ob diesem Ganzen wohl irgendein Sinn oder doch Folgerichtigkeit abzugewinnen ist. Solche und ähnliche Fragen treiben Luc Ciompi um. Ihn verlangt es, Antworten zu finden. Dass sich dabei allgemeine und wissenschaftliche Probleme auch mit allerhand Persönlichem mischen, ist ein Gewinn für die Leserschaft. Sie wird Zeugin eines reichen Lebens und Geistes.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Luc Ciompi
Ciompi reflektiert
Wissenschaftliches, Persönliches und Weltanschauliches aus der Altersperspektive
Mit einer Abbildung
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Bildcollage unter Verwendung einer Fotografie von Philippe Ciompi und eines Aquarells von Luc Ciompi © Carsten Schild
Abbildung 1: Mandelbrot Set Image 03 by Aokoroko.jpg https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/37/Mandelbrot_Set_Image_03_by_Aokoroko.jpg?uselang=de
Das Bild ist im Sinne der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0 lizenziert: Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported. Um eine Kopie der Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de. Am Bild wurden keine Änderungen vorgenommen.
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-99995-1
Vorbemerkung
PERSÖNLICHES
Schreiben und Wandern
Ich bin kein Philosoph
Ein Durchschnittsmensch
Meine verrückte Mutter
Mein Vater, dieser windige Kerl
Unser aller Lebensaufgabe: Vater und Mutter integrieren
Goldiwil
Frühes Erleben von Schönheit
Sprachprobleme
Die Berge, der Eiger
Zeichen des Zerfalls
Die Sichelernte
Christian liegt im Sterben
Christians Tod
Das Beinhaus zu Naters
Zunehmender Kontrollverlust
Bald ist Schluss
Claire
Res und die Pfadfinderei
Drogenerfahrungen
Träume
WISSENSCHAFTLICHES
Das Ameisengleichnis
Die Peitgenbilder
Das Rätsel der Schizophrenie
Ist Schizophrenie überhaupt eine Krankheit?
Mein Lebenswerk: die Affektlogik – Erfolg oder Misserfolg?
Eine faszinierende Idee, aufgetaucht im Gespräch mit Wolfgang Tschacher
Emotionen, systemtheoretisch betrachtet
Ein Freud-Zitat zu »es denkt«
Embodiment
Extremereignisse, systemtheoretisch betrachtet
Natürliche Selbstverständlichkeiten und das Bild vom Streichholz auf dem Mond
Die Berner SPK
Synergetik und Schizophrenie – und noch viel mehr: Zum 90. Geburtstag von Hermann Haken
ALLGEMEINES UND WELTANSCHAULICHES
Das Fischgleichnis oder: Eine kleine Erleuchtung zur Sinnfrage
Spaziergang im Nebel
Jäten
Altersgedanken zu Tod und Sterben
Was ist »gut« und was ist »böse«?
Über Spiritualität und Wissenschaft
Sensoren und Agenten des großen Ganzen
Ein Vortrag von Karlfried Graf Dürckheim
Über Religion oder: das große Ganze
Disput mit einem Kreationisten
Zur Evolution des Geistes
Weiter zum Wesen des Geistigen
Ein kritischer Kommentar zu Thomas Nagel »Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist« (2013)
Zu meinem Begriff von Liebe im weitesten Sinn, und zur Sinnfrage
Brauchen wir Gott?
Weltvernunft?
Kleine Betrachtung über Schönheit
Schwarz in schwarz
Beunruhigender Zeitgeist
Was wollen wir eigentlich?
Eine Vision
Kleines Nachwort: Coronavirus
Dank
Literatur
Die meisten der nachfolgenden Texte sind in den letzten fünf Jahren, also ungefähr zwischen meinem 85. und 90. Lebensjahr, spontan immer dann entstanden, wenn mir eine Begegnung, ein Gespräch, eine Idee oder eine plötzlich aufgetauchte Erinnerung so bedeutsam erschien, dass ich sie schriftlich festhalten wollte. Wissenschaftliches und Weltanschauliches vermischt sich dabei oft mit Persönlichem. Vieles dreht sich, entsprechend meiner beruflichen Herkunft, um psychiatrische und psychologische Fragen, insbesondere um das Rätsel der Schizophrenie, mit welchem ich, wie man sehen wird, von klein auf konfrontiert war. Ein wiederkehrendes Thema ist ebenfalls die Affektlogik, meine über Jahrzehnte entwickelte Theorie des Zusammenwirkens von Fühlen und Denken und dessen Zusammenhänge mit der Evolution des Geistes. Auch über Tod und Sterben macht man sich im hohen Alter natürlich Gedanken und über die Frage, wie und warum alles im Leben gerade so gekommen ist, wie es eben kam, und ob all dem wohl irgendein Sinn oder doch eine gewisse Folgerichtigkeit abzugewinnen ist.
Mehrere dieser Texte sind unter dem Titel »Ciompi reflektiert« auch schon im Rahmen eines Blogs und Podcasts erschienen, der aus Anlass meines 90. Geburtstags vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht veröffentlicht wurde. Der große Anklang, den diese Reflexionen fanden, ist mit ein Grund dafür, sie nun, überarbeitet, ergänzt und thematisch gruppiert, in Buchform einem weiteren Publikum zugänglich zu machen. Ich hoffe, dass auch Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, daran Gefallen finden und wünsche Ihnen bei der Lektüre viel nachdenkliches Vergnügen.
Luc Ciompi
Belmont sur Lausanne, im Frühjahr 2020
Schreiben ist für mich schon immer eine Art von Passion gewesen. Bereits in der Sekundarschule und vor allem dann im Gymnasium schrieb ich gern Aufsätze, zuweilen auch kleine Geschichten oder Gedichte. In der Adoleszenz wähnte ich mich eine Zeit lang sogar, von Rilke, Hesse und Thomas Mann schwärmend, zum Schriftsteller oder Dichter berufen. Doch kaum dass ich nach der Matura dann tatsächlich ein Literaturstudium begonnen hatte, wurde mir über der scheinbaren Beliebigkeit und Uferlosigkeit der Geisteswissenschaften richtiggehend schwindlig. Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und wechselte nach knapp einem Semester fluchtartig zur Medizin.
Zu Recht? Wer kann das wissen? Was wäre aus mir geworden, wenn ich damals mehr Ausdauer gezeigt und dann – vermutlich – auch in der Literatur allmählich Tritt gefasst hätte? Jedenfalls bereue ich meine Kehrtwende nicht. Die Naturwissenschaften, die Medizin und darin dann vor allem die Psychiatrie haben mich reich beschenkt und entschädigt, obwohl natürlich auch sie mein ständiges Fragen nach dem Menschen und dem großen Ganzen nicht zu stillen vermochten.
Allerdings dachte ich mir insgeheim schon damals, dass sich meine Freude am Schreiben, wenn dies denn meine Bestimmung wäre, so oder so irgendwie durchsetzen würde. Und tatsächlich griff ich in der Folge insbesondere dann immer wieder zur Feder, wenn ich quälende Unklarheiten schreibend überwinden oder plötzlich erlangte Klarheiten schwarz auf weiß festhalten wollte. So füllten sich im Lauf der Jahre Tausende von Seiten mit Notizen bald mehr wissenschaftlicher und bald mehr persönlicher oder (im weiten Sinn) philosophischer Art. Diese Notizen wurden mehrfach auch zum Nährboden für größere Buchprojekte; im Buch »Außenwelt – Innenwelt« (1988a) habe ich Auszüge sogar direkt in meine Texte eingebaut.
Obwohl kein Schriftsteller aus mir geworden ist, ist Schreiben für mich doch so etwas wie ein Lebenselixier geworden. Ich feile gern wochenlang an schwierigen Texten herum, suche tagelang nach einem passenden Ausdruck oder Wort und empfinde die Freude, wenn ein kleiner Passus oder auch ein größeres Werk dann endlich befriedigend »zur Sprache gebracht« (und damit auch »mitgeteilt«, d. h. mit einer potenziellen Leserschaft geteilt ist), immer neu als beglückendes Fallen in eine Stimmigkeit.
Schreiben ist auch eine Art von Gehen oder Wandern. Man fängt irgendwo an, ist dann lange bei wechselndem Wetter unterwegs und kommt schließlich, wenn alles gut geht, müde aber glücklich am Ziel an.
Meine andere Passion ist in der Tat das Wandern. Wie viel bin ich doch immer wieder gewandert, bald in den Bergen oder am Meer, mehrfach in Umbrien oder auf Kreta, immer wieder auch in meinen geliebten Calanques zwischen Marseille und Cassis und noch in den letzten Jahren, soweit mein Hinkebein dies zuließ, in Etappen auf dem Jakobsweg quer durch die Schweiz von Konstanz bis Genf. Vielfach allein, manchmal auch in Gesellschaft, immer aber berückt vom Zauber des langsamen Vorankommens, Schauens und Entdeckens auf neuen oder auch altbekannten Wegen.
Schreiben und Wandern ergänzen sich vorzüglich. Fuß- und Denkwege haben viel gemeinsam: Hier wie dort gibt es schwierige Passagen, unverhoffte Abkürzungen, Umwege und Holzwege. Nicht selten löst sich ein mühsamer Schreibknoten im langsamen Rhythmus des Gehens wie von selbst, oder es kommt plötzlich eine treffende Wendung, ein guter Übergang oder ein überraschender Durchblick in Sicht.
Erst jetzt, beim Abfassen dieser Zeilen ist mir klar geworden, dass meine Schreib- und Denklust seit jeher auch im Dienst der Identitätsbefestigung stand. Dies und jenes habe ich erlebt, getan oder gedacht, diese Stellung bezogen und jene verworfen, das bin »ich«. Im Hintergrund rumort offenbar selbst noch im hohen Alter die ewige Kindheits- und Jugendfrage in meinem Kopf herum, wer ich eigentlich bin, wo ich hingehöre und was ich hienieden zu suchen habe.
Ich bin – leider – weder ein »g’studierter Philosoph« (wie wir hierzulande sagen) noch Theologe. Dennoch haben mich schon von klein auf die gleichen Grundfragen ständig beschäftigt, die sich auch die professionellen Denker seit jeher stellten: Wer und wo bin ich? Wo komme ich her und wo gehe ich hin, und wie und warum und mit welchen Zielen? Und ebenfalls: Was kann ich eigentlich wissen und erkennen, oder vielmehr: Kann ich überhaupt irgendetwas sicher wissen? Und wie steht es mit dem Glauben? An einen Gott, an die Natur, oder an was sonst?
Warum die Frage, wer ich bin? Vielleicht weil ich während meiner ersten fünf Lebensjahre aus Gründen, die mir noch heute nur zum Teil klar sind, alle paar Wochen oder Monate zwischen Italien und der Schweiz – oder besser gesagt: zwischen der Toskana und dem Emmental – hin- und hergeschoben wurde und deshalb nie recht wusste, wer ich war und welcher dieser beiden gegensätzlichen Welten ich eigentlich angehörte. War ich Italiener oder Schweizer? Gehörte ich eher zu dem (meist abwesenden) italienischen Vater und seiner ebenfalls kaum je präsenten Familie, oder zu der für mich schon immer irgendwie unheimlichen »Mamma« aus der Schweiz? An keinem ihrer ständig wechselnden Aufenthaltsorte, von Pontedera, Florenz, Pisa, Rimini, Riccione und Cattolica bis Mercantino Conca (ein kleines Nest in der Provinz Pesaro, wo mein Vater eine Zeit lang als Gemeindearzt oder medico condotto tätig war), zwischen denen Mamma meine Schwester und mich ständig hin- und herschleppte, hatte ich Wurzeln schlagen können.
Oder war ich eigentlich in der zwar immer gleich behäbigen, aber wegen der ungewissen Dauer meiner dortigen Aufenthalte dennoch unbeständigen Schweizer Dorfwelt von Worb am Rand des Emmentals zu Hause – bei der liebevollen Großmutter (die bezeichnenderweise sogar die Angestellten nur »ds Muetti« nannten), den vielen gemütlichen Großtanten und dem geschäftigen Onkel Gottfried (dem »Unggi«) und seinen freundlichen Angestellten im Käseexportgeschäft, dessen Leitung er nach dem frühen Herztod seines Vaters als Zwanzigjähriger hatte übernehmen müssen?
Für die Worber Dorfjungen (und sicher auch für manche Erwachsene) blieb ich lange, bis ich schließlich Mittel und Wege fand, ihnen zu imponieren, bloß der »Tschinggu«, ein vom italienischen cinque (»fünf«) abgeleiteter Spottname für Italiener. In Italien dagegen galt ich (wenn ich überhaupt irgendetwas galt, denn ich hatte außerhalb der Familie praktisch keine Kontakte) als der Fremde, lo Svizzero – eine höchst prekäre Situation, die mir indessen, wie mir erst viel später bewusst wurde, auch mancherlei Gewinn eingebracht hat: Ich musste mich immer wieder neu anpassen; ich musste ständig umlernen, nicht nur sprachlich, sondern ebenfalls im ganzen Lebens- und Umgangsstil, und wurde dadurch wahrscheinlich früh schon besonders wendig und eigenständig sowohl in meinem krausen kindlichen Denken wie, gezwungenermaßen, bald einmal auch im Handeln.
Denn bei den Erwachsenen fand ich, wie mir im Rückblick scheint, kaum Hilfe. Eher im Gegenteil, ihr Verhalten verwirrte mich zusätzlich – so wie etwa jener Kari (Karl), ein Büroangestellter meines Onkels, der mich jedes Mal, wenn ich aus Italien wieder in Worb eintraf, zu fragen pflegte, wo es mir besser gefalle, in Italien oder der Schweiz. Als ich einmal ganz wider seine Erwartung antwortete: »in Italien«, nahm er mich bedeutungsvoll beiseite und erklärte mir, dass ich, um gut angeschrieben zu sein, in der Schweiz immer sagen müsse, hier gefalle es mir am besten, während ich in Italien das Gegenteil versichern solle. Eine Welt brach in mir zusammen, hatte man mir doch beigebracht, dass Lügen eine Sünde sei. Dass ein so respektabler Erwachsener wie der Kari mich unverblümt dazu aufforderte, die Unwahrheit zu sagen, gab mir unendlich zu denken: Offenbar sprachen die Erwachsenen eine doppelte Sprache. Wie sollte ich denn einem bisher als Freund eingestuften Menschen wie dem Kari noch trauen, wenn er mich gleichzeitig zum Lügen anstiftete?
Ein ganz anderes Erlebnis aus jener Zeit, das mir bedeutsam scheint, war die Entdeckung, dass Schmerz wie durch Zauberei verschwinden kann: Auf den parkartigen Wegen rund um die herrschaftliche Jugendstilvilla in Worb, wo ich unter der Obhut von Onkel und Großmutter meine kurzen Schweizer Aufenthalte verbrachte, waren zwei Arbeiter im Begriff, grobkörnigen Kies zu verteilen, auf dem barfuß zu laufen äußerst schmerzhaft war. Dennoch wagte ich mich einmal, baren Fußes vorsichtig auf den Kieselsteinen balancierend, bis zur Straße beim Parkeingang vor, wo ein paar Jungen meines Alters herumstanden, mit denen ich gern Kontakt aufgenommen hätte. Doch kaum war ich in ihre Nähe gelangt, so fingen sie an, mich zu hänseln und drohten sogar, mich zu verprügeln, wenn ich mich nicht schleunigst aus dem Staube mache. Worauf ich voller Angst in gestrecktem Galopp über den ganzen Kiesplatz bis zum sicheren Hauseingang fegte – und erst dann mit Staunen bemerkte, dass meine Füße den groben Kies überhaupt nicht gespürt hatten.
Dieses überraschende Erlebnis hat sich mir wohl nicht nur deshalb tief ins Gedächtnis eingegraben, weil in mir dabei zum ersten Mal eine Spur von Stärke und Robustheit statt der gewohnten Schwächlichkeit zum Vorschein kam. Es führte mir auch erstmals drastisch vor Augen, dass die Wahrnehmung ein und derselben Wirklichkeit je nach Gefühl und Situation enorm variieren kann.
Dazu kommen mir grad noch die farbigen Fensterscheiben auf dem Balkon des Hofmatt-Stöcklis1 in der Nähe unseres Hauses in den Sinn, durch die ich bei meinen gelegentlichen Besuchen bei zwei alten und von allen »Tante Elise« und »Tante Anna« genannten Schwestern mit immer neuem Staunen die Welt in radikal verschiedenen Färbungen und Stimmungen wahrnehmen konnte: In blau bekam sie etwas Feenhaftes, in grün etwas merkwürdig Verzerrtes, und in rot fast etwas Unheimliches. Ich glaube, nicht fehlzugehen, wenn ich in diesen schon damals sehr bewusst bedachten Erlebnissen erste Keime zu meiner viele Jahrzehnte später entwickelten Theorie der Affektlogik vermute.
1Ein »Stöckli« ist eine kleine Alterswohnung, die im Emmental traditionell neben den großen bernischen Bauernhöfen steht.
Ich bin ein Durchschnittsmensch, ein uomo qualunque (beliebiger Mensch), und als solcher möchte ich auch beschreiben, wie es im Alter ist, oder sein kann. Denn durchschnittlich heißt ja auch: irgendwie repräsentativ.
Aber repräsentativ wofür? Und Durchschnitt wovon? Bin ich ein durchschnittlicher alter Mann von heute? Ein durchschnittlicher Psychiater oder emeritierter Universitätsprofessor und -forscher? Ein durchschnittlicher Familienvater und Ehemann? Vielleicht ein durchschnittlicher Schweizer (oder vielmehr »Papierlischweizer«, wie mir der Spottname plötzlich durch den Kopf schießt, mit dem die »echten« Schweizer in meiner Jugend naturalisierte Ausländer wie mich zu betiteln pflegten)? Oder verkörpere ich vielleicht so etwas wie einen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert stammenden und merkwürdigerweise vom Krieg verschonten Westeuropäer, den es wider Erwarten noch weit ins einundzwanzigste Jahrhundert hinein verschlagen hat?
All das stimmt ein Stück weit, nichts ist ganz falsch – und doch ist nichts von all dem einfach Durchschnitt. Der Durchschnittsmensch ist ein fiktiver Mittelwert aus allen nur möglichen Über- und Unterdurchschnittlichkeiten. Jeder Mensch ist auf seine Weise einzigartig. Und somit bin auch ich durchschnittlich einzigartig. Und wie ich lebe und denke oder schreibe mag zwar in irgendeiner Weise repräsentativ sein – aber für etwas, das ich nicht genauer zu fassen vermag.
Meine Mutter, Klara Ciompi geb. Lehmann, am 16. September 1902 in Langenthal auf die Welt gekommen und gestorben am 19. Februar 1974 in der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau bei Bern, Mamma genannt, war verrückt, Diagnose: schleichende Schizophrenie, wie in der Krankenakte, die ich als junger Assistenzarzt in ebendieser Klinik anno 1957 einmal heimlich studiert habe, zu lesen war.
Wer war diese »Mamma« in Wirklichkeit? – Nach Fotos zu schließen, war sie eine ausgesprochen schöne, feinfühlige und etwas schwermütig wirkende Frau mit großen dunklen Augen. Sie war lange als Einzelkind der Liebling ihres Vaters, bis sie siebenjährig von ihrem Bruder Gottfried (*1909) und zwei Jahre später auch noch von ihrer Schwester Elisabeth (genannt Bethli, *1911) entthront wurde – ein offenbar schlecht verwundenes Trauma, denn einerseits soll sie »das Gottfriedli« abgöttisch geliebt und gepflegt, ihm andererseits aber auch mehrfach explizit den Tod gewünscht und ihn tatsächlich einmal lebensgefährlich vernachlässigt haben.
Jedenfalls galt »das Kläry« allen Berichten gemäß schon immer als etwas eigentümlich und unberechenbar bis exzentrisch: Sie trieb Sport und fuhr Ski schon in den Zwanzigerjahren und verbrachte Jahre in exklusiven Haushalts- und Sprachschulen, ohne (wie das bei Töchtern aus gutem Haus damals üblich war) je »etwas Rechtes« zu lernen. Als sie ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt war, brachte sie mein Großvater Gottfried Lehmann senior, ein Bauernsohn aus dem Emmental, der sich nach einer kaufmännischen Lehre und einer glücklichen Erbschaft zum erfolgreichen Käseexporteur mit weit verzweigter internationaler Kundschaft aufgeschwungen hatte, zum Sprachstudium zu Geschäftsfreunden nach Florenz. Das Kläry habe damals, gleich wie die ganze Familie, einen richtigen Italienfimmel gehabt, in Florenz mit italienischem Jungvolk ein lustiges Leben geführt und dort dann meinen Vater Manlio Ciompi, einen hübschen, schlanken und um sechs Jahre jüngeren Medizinstudenten kennengelernt. Nach anfänglichem Zögern sollen insbesondere die Schweizer Eltern auf Heirat gedrängt haben, offenbar in der Hoffnung, ihre immer etwas unstabile Tochter dadurch zu festigen. 1928 heirateten Klara Lehmann und Manlio Ciompi, im Oktober 1929 wurde ich in Florenz geboren und anderthalb Jahre später folgte meine Schwester Lill (Liliana).
In diese Zeit müssen verschiedene traumatische Ereignisse gefallen sein, denen die verletzliche und in keiner Weise auf eine komplizierte Ehe vorbereitete Frau nicht gewachsen war, darunter nicht nur die prekäre Partnerschaft mit einem um sechs Jahre jüngeren Medizinstudenten, der chronische Geldmangel und die zwei rasch aufeinanderfolgenden Schwangerschaften, sondern offenbar auch eine vorübergehende Liebesaffäre meines Vaters mit einer nahen Verwandten Mammas kurz vor Lills Geburt. Jedenfalls soll Mamma nach den zwei Schwangerschaften immer auffälliger geworden sein; mich soll sie schon als kleines Kind, wie die jüngere Schwester meines Vaters wiederholt berichtet hat, schwer vernachlässigt haben. Sie hätte mich oft stundenlang schreien lassen und sei, statt mir die Brust zu geben, einfach spazieren gegangen. Auch hätte sie seit Anfang der 1930er Jahre eine krankhafte Bakterienangst entwickelt und fortwährend (woran auch Lill und ich uns noch sehr gut erinnern) alles Mögliche – Möbel, Gegenstände und insbesondere Türklinken – mit dem Desinfektionsmittel Lysoform gereinigt. In ihren absonderlichen Verhaltensweisen konnte sie unbändige Energien entfalten, die alle Widerstände brachen und die Umgebung zur Verzweiflung trieben. Daneben aber war sie, wie ebenfalls einige Fotos bezeugen, auch eine passionierte Skifahrerin und Sportlerin, die – wie es hieß – mit Geld nicht umzugehen wusste, mit verschiedenen Skilehrern befreundet war und unstet von Hotel zu Hotel zog.
So anfänglich auch noch in Grindelwald im Berner Oberland, wohin sie Lill und mich im Winter 1938/39 richtiggehend verschleppt hatte. Nach mehrfachem Umzug landeten wir in der Pension Eigerblick ganz hinten im Dorf, wo sie im Lauf des folgenden Jahres immer stiller und stiller wurde, bis sie schließlich, ins Leere starrend, nur noch tagaus tagein auf immer derselben kleinen Holzbank vor einer Scheune in der Nähe der Pension saß und sich um Lill und mich praktisch überhaupt nicht mehr kümmerte – abgesehen davon, dass sie uns ab Frühsommer 1939 streng verbot, zur Schule zu gehen. Es begann eine herrliche, mehr als anderthalb Jahre währende schulfreie Zeit, die wir beide, zunehmend ungebunden und selbstständig, zu unendlichen Spielen und Streifzügen kreuz und quer durch die Berge ausnutzten, ohne dass uns, allen Gefahren zum Trotz, je etwas Ernsthaftes passiert wäre.
Eine Begründung für ihr sonderbares Verhalten gab Mamma nicht, alles ging in der Folge für jedermann einfach auf das Konto ihrer Verrücktheit. Dass so lange niemand eingriff, hatte sicher viel damit zu tun, dass rund um die Schweiz Krieg herrschte, alle waffenfähigen Männer mobilisiert waren und Behörden wie Nachbarn ebenso wie die ferne Worber Familie zweifellos Wichtigeres zu tun hatten, als sich um zwei Kinder zu kümmern, die irgendwo in den Bergen nicht mehr zur Schule gingen. Erst lange nach dem Krieg und dem tragischen Unfalltod unseres Vaters – er wurde im Februar 1944 auf dem Weg zu seinen Patienten in der Nähe von Pontedera bei Pisa auf seinem Fahrrad von einem deutschen Militär-Lkw überfahren und tödlich verletzt – kam indes an den Tag, dass Mamma uns offenbar deshalb so tief in den Bergen versteckt und nicht mehr zur Schule geschickt hatte, weil sie ständig, und zwar zu Recht, eine Kindesentführung durch meinen Vater oder vielmehr durch jesuitische Helfershelfer aus der Schweiz nach Italien befürchtet hatte. Jedenfalls gab die Schwester des Vaters Lill gegenüber später mehrfach unmissverständlich an, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr 1940 die Vorbereitungen zur Aufnahme von Lill und mir in Pontedera schon so weit gediehen waren, dass zwei frisch bezogene Betten für uns bereitstanden.
Im Übrigen fürchteten Lill und ich Mamma mehr als dass wir sie liebten, wenn sie auch in einigen ganz seltenen lichten Momenten plötzlich mal überraschend lieb und sogar weich sein konnte. Für gewöhnlich aber war sie eigentümlich starr, ernst und eigentlich fast ausschließlich verbietend. An irgendwelche Zärtlichkeiten, wie etwa je auf den Schoß genommen, umarmt oder auch nur zärtlich berührt worden zu sein, kann ich mich jedenfalls in keiner Weise erinnern, auch nicht in früher Kindheit. Eingeprägt hat sich mir dagegen, wie Mamma nicht selten im zweiten Stock der elterlichen Villa, wo wir ab 1943 im Anschluss an ihren Klinikaufenthalt zu dritt in einer chaotischen Notwohnung wohnten, mit wuchtigen und das ganze Haus erschütternden Schritten im Korridor auf und ab ging und Unverständliches vor sich hin schimpfte. Einmal stürmte sie sogar ins schöne, mit Perserteppich und Lüstern ausgestattete »große Zimmer« neben den Büroräumen im Erdgeschoss hinunter, das ihrem Bruder als Empfangs- und Konferenzraum für noble Kunden diente, und sagte dem erschrockenen Mann vor einer Gruppe von belgischen Geschäftsfreunden mit gewaltiger Stimme Unsägliches.
Zumeist aber lag sie völlig passiv bei verdunkelten Fenstern und zusammengerollten Teppichen in ihrem Zimmer im Bett, oder vielmehr in einem der drei Zimmer der Wohnung, die sie, kaum hatten Lill und ich uns in einem von ihnen halbwegs wohnlich eingerichtet, nacheinander gewaltsam mit Beschlag belegte. Überall hortete sie in Schubladen und Taschen verfaulende Esswaren vermischt mit Geld und Abfällen. Etwas Sinnvolles im Haushalt getan oder gar gekocht hat sie nach meiner Erinnerung nur ein einziges Mal, nämlich am Tag unseres Einzugs in diese Wohnung, den sie dank ihrer unglaublichen Hartnäckigkeit gegen die Skepsis von Verwandten und Ärzten hatte durchsetzen können. Lill und ich (vor allem Lill) besorgten während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, bis ich nach bestandener Maturitätsprüfung 1949 endlich ausziehen konnte, den Haushalt völlig selbstständig, vom Kochen und Einkaufen und Einteilen des knappen Haushaltgeldes (300 Schweizer Franken pro Monat) und der im Krieg streng rationierten Lebensmittel bis zum hektischen Putzen der Wohnung, wenn alle paar Monate einmal der Besuch des Vormunds aus Bern oder alle zwei Jahre eine Kontrolle durch die örtliche Vormundschaftsbehörde angesagt war. Weil wir uns Mammas und der grausigen Verhältnisse im Dachgeschoss dieser vornehmen Dorfvilla mit Park zutiefst schämten, verrieten wir niemandem ein Sterbenswort davon, wie es bei uns in Wirklichkeit zuging.
In meiner ersten didaktischen Psychoanalyse (auch Lehranalyse genannt, 1958–60) war dann freilich von Mamma viel die Rede; besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein Traum von einer riesigen grünlichblauen Gletscherfläche unter grauem Himmel ganz ähnlich der »Plaine Morte« (»tote Ebene«) oberhalb von Montana, die wir einmal auf einer Schulreise überquert hatten. Nur ganz tief am Horizont gab es einen hellen und freundlich warm schimmernden Streifen. Dieses Traumbild war in der Analyse für mich ganz klar ein Symbol der »Mamma«. Und tatsächlich gibt es, wie schon angedeutet, in meiner Erinnerung auch einige freundlichere Momente, die diesem Silberstreifen entsprechen mögen: Zum Beispiel trank Mamma ein- oder zweimal eines Nachmittags mit uns Tee und erzählte dabei lustige Geschichten von früher, vor allem von ihrem geliebten Vater. Einmal sang sie sogar ein kleines russisches Liedchen, das ihr »der Vati« von einer seiner Russlandreisen (wohl noch vor dem Ersten Weltkrieg) heimgebracht hatte. Von Italien, von Grindelwald, von der Klinik und von ihrer verunglückten Ehe dagegen war nie die Rede. Aber gelegentlich ertappte ich sie bei der Lektüre von Dantes »Divina commedia«, die sie mir aus meinem Bücherregal stibitzt hatte. Und ganz selten einmal kam es zu einer Art von Gespräch rund um Dinge, die die Moral oder Religion betrafen. »Man muss Gott danken, dass man ein Dach über dem Kopf hat«, war eine ihrer stehenden Redensarten.
Verwirrlich war, dass Mamma trotz ihrer angeblichen Schizophrenie, von ihren abwegigen Verhaltensmustern einmal abgesehen, immer voll geordnet und ohne klar psychotische Symptome wie Wahn oder Halluzinationen war. Wenn es darum ging, gegen den Widerstand von Ärzten oder Familie etwas durchzusetzen, so konnte sie mit ihrer scharfen Argumentierkunst sogar zur gefürchteten Widersacherin werden. Nur in ihren letzten Jahren, als sie nach dem Verlust einer Wohnung wiederum fast so unstet wie früher von einer Pension zur anderen zog und schließlich erneut in eine psychiatrische Klinik aufgenommen werden musste, sprach sie hin und wieder vage wahnhaft von Italienern, die sie auf der Straße beobachten und bedrängen würden. Mit zweiundsiebzig Jahren verstarb sie 1974 in der Klinik Waldau bei Bern unerwartet an Herzschwäche – nicht ohne dass sie bei meinen letzten Besuchen kurz zuvor mehrfach durch zwei, drei rätselhafte und vorher nie beobachtete plötzliche Beugebewegungen von Rumpf und Rücken quasi angedeutet hatte, dass etwas in ihr am Zerbrechen sei.
Ich muss gestehen, dass ich über Mammas Tod nicht nur traurig, sondern auch erleichtert war, denn zeitlebens war sie für Lill und mich vorwiegend eine unheimliche Last und vor allem ein nie lösbares praktisches Problem gewesen. Das Bild des unermesslichen Gletschers mit dem hellen Streifen weit weg am Horizont entspricht noch heute dem Grundgefühl, das mir von unserer armen, gestörten und zugleich doch auch so starken und kompromisslos gradlinigen Mutter geblieben ist.
Ungerecht zweifellos, aber dieses bittere Gefühl befällt mich unweigerlich noch heute jedes Mal, wenn ich an meinen Vater denke. Dieser windige Kerl! Obwohl meine italienische Großmutter und Papas Schwester Leda immerzu bloß von seiner hohen Intelligenz und Güte sowie von der unendlichen Verehrung gesprochen hatten, die seine Patienten wegen seines unermüdlichen ärztlichen Einsatzes für ihn empfunden hätten. Und sogar meine Schwester Lill hat von unserem Vater vor allem das Bild eines sehr lieben und freundlichen Menschen im Gedächtnis bewahrt.
Dennoch: Meine letzte und zugleich prägendste Erinnerung an ihn, aus meinem fünften Lebensjahr, ist, wie er – als meine Mutter finster entschlossen um drei Uhr morgens mit Lill und mir in Mercatino Conca aufbrach, um den Autobus nach Rimini und von dort den Zug in die Schweiz zu besteigen und nie mehr zurückzukehren – eine Zigarette im Mundwinkel schlapp im Doppelbett des spärlich erleuchteten Elternschlafzimmers liegen blieb und zum Abschied bloß schwächlich murmelte: »Meinethalben könnt ihr ja gehen, wenn ihr bloß wieder zurückkommt.«
Und Faschist ist er auch gewesen, ein geschniegelter Faschist mit brillantinegeglättetem Schwarzhaar. Schon als Fünfzehnjähriger soll er an Mussolinis berühmt-berüchtigtem »Marsch auf Rom« teilgenommen haben, der im Oktober 1922 zur Machtübernahme durch die Faschisten geführt hatte. Einmal schenkte mir mein Vater gar eine schwarze, mit einem goldenen Doppeladler geschmückte Balillamütze (die Balillas waren eine faschistische, der Hitlerjugend vergleichbare Jugendorganisation) und versprach mir dazu noch ein Schwarzhemd genauso wie es einige Jungen im Dorf trugen. Nie vergessen werde ich auch, was er mir auf der Fahrt im Fiat Topolino zu einem Patienten hoch in den Bergen oberhalb von Mercatino erklärte, zu der er mich – ich war etwa fünf – zu meiner Freude mitgenommen hatte: nämlich dass ich mich ohne Zögern kopfvoran in das riesige ausgetrocknete Bachbett des Flusses Conca neben unserem Haus zu stürzen hätte, wenn Mussolini dies befehlen würde. Und in einem viele Jahre später von Tante Leda in Pontedera erhaltenen und auf der Zugfahrt zurück in die Schweiz geöffneten Paket mit alten Briefen Papas an seine Mutter entdeckte ich ein Schreiben über allerhand lokale Opponenten gegen seine erhoffte Übernahme des Postens in Mercatino. Der Brief war gespickt mit dunklen Andeutungen, man müsste denen halt mal die Schwarzhemden mit Rizinusöl auf den Hals schicken, um ihren Widerstand zu brechen. – Es war bekanntlich eine beliebte Kampfmethode der italienischen Faschisten, ihren Gegnern gewaltsam große Dosen von Rizinusöl einzuflößen, was bestenfalls zu schweren Durchfällen oder, schlimmstenfalls, sogar zu einem qualvollen Tod führen konnte. – Vor Scham und Wut warf ich diesen Brief damals kurzerhand aus dem Fenster des fahrenden Zuges.
Ebenso wenig glorreich ist die schon erwähnte Tatsache, dass Papa nach den Enthüllungen, die Tante Leda mehrfach gegenüber meiner Schwester Lill gemacht hatte, uns lange durch Jesuiten in der Schweiz hatte ausspionieren lassen und 1940 einen sehr konkreten Plan gefasst hatte, um Lill und mich nach Pontedera zu entführen. Manches von Mammas merkwürdigem und immer nur ihrer Verrücktheit zugeschriebenem Verhalten um diese Zeit – einschließlich ihrer abrupten Flucht nach Grindelwald und ihrer ständigen Angst, wir könnten auf dem Schulweg gekidnappt werden –, erscheint vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht: Bei einem guten Teil ihrer ganzen als »schleichend schizophren« abgestempelten Verhaltens dürfte es sich in Wirklichkeit um die depressiven Reaktionen einer starken und sicher seltsam rigiden, aber auch feinfühligen, verletzlichen und aus guten Gründen verängstigten Frau auf Erlebnisse gehandelt haben, die wohl nicht nur sie überfordert hätten.
Zu einer Problematisierung der Figur meines Vaters und gleichzeitigen Relativierung von Mammas Krankheit passt ebenfalls, dass mir meine italienische Großmutter Delfina, eine strenge und gradlinige, mir immer ein wenig aristokratisch vorkommende Toskanerin, zum Verhalten Mammas, so befremdlich dieses zeitweise auch gewirkt hätte, mehrfach ernsthaft versichert hat, »la Klary« (von »Clara«) sei in allem, was sie getan habe, voll zu respektieren. Was genau sie damit sagen wollte, hat sie freilich nie präzisiert. Vermutlich spielte sie dabei nicht nur auf Mammas Flucht in die Schweiz, sondern auch auf eine frühere und ähnlich abrupte Reise nach England an, die gemäß Tante Ledas Angaben im Zusammenhang mit der Affäre zwischen Papa und einer nahen Verwandten Mammas zurzeit von Mammas zweiter Schwangerschaft und Entbindung stand. Versteckte Hinweise auf diese Affäre fanden sich auch in den genannten Briefen Papas an seine Mutter. Fest steht jedenfalls, dass Papa in Frankfurt am Main, wo er als Student um 1930 für einige Monate zu einem Studienaufenthalt weilte, diese Schweizer Verwandte einmal heimlich getroffen hat. Und Mammas damals knapp zwanzigjähriger Bruder Gottfried – unser geliebter »Unggi«, der für Lill und mich zeitweise eine Art von Vaterrolle gespielt und vorher mit Papa jahrelang eine freundschaftliche Beziehung unterhalten hatte – soll darüber in eine derartige Wut geraten sein, dass er gedroht habe, nach Italien zu reisen, um den Schwager mit seiner Offizierspistole zu erschießen. – Wie viele vor Lill und mir von jedermann jahrzehntelang sorgsam gehütete Geheimnisse, wie viele nie geklärte Familientabus! Jedenfalls genug, um unserer sensiblen Mutter viel, unendlich viel zu denken zu geben – und vielleicht genug, um sie mit der Zeit richtiggehend verrückt zu machen.
Zur Verblüffung mancher Patienten oder anderer Gesprächspartner, die einen Elternteil oder gar beide heftigst ablehnen, habe ich immer wieder behauptet, dass eine der zentralsten Lebensaufgaben – hinter allen vordergründigeren Reifungsprozessen – für uns alle die Integration beider Elternfiguren ist.
Dass wir körperlich eine Kombination von Vater und Mutter (und über sie hinaus auch all unserer Vorfahren) sind, ist eine Tatsache, die niemand bestreiten kann (»die Augen vom Vater, Nasen- und Mundpartie mehr von der Mutter« und so weiter). Ebenso wenig ist zu bezweifeln, dass diese Kombination immer wieder zu etwas Neuem führt, das es vorher nicht gegeben hat. Dass indes etwas Analoges auch im seelischen Bereich vorliegt, wird merkwürdigerweise immer wieder übersehen (nicht aber von Goethe mit seinem berühmten Vers: »Vom Vater habe ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Vom Mütterchen die Frohnatur, / Und Lust, zu fabulieren« – Goethe, 1827/1966, S. 712). Wie könnte es auch anders sein, sowohl biologisch wie (wenn auch oft über Umwege) psychologisch betrachtet?
Was mich selbst betrifft: Meine ebenso feinfühlige wie gradlinige, eigensinnige und schließlich verrückte Mutter aus dem Emmental mit dem windig-wendig-weichlichen und vielleicht allzu intelligentflexiblen Vater aus der Toskana zu integrieren erscheint auf Anhieb als eine nicht ganz leichte Aufgabe, verkörperten sie doch beide fast so etwas wie zwei absolute Gegensätze. Dass ich von klein auf (und ein Stück weit, hinter allen möglichen Fassaden und Verkleidungen, wohl auch heute noch) latent an gewissen Identitätsproblemen litt, ist somit wohl nicht sehr verwunderlich.
Und doch scheint mir zumindest beruflich eine Art von Integration beider Elternfiguren durchaus gelungen zu sein: Zum einen bin ich, wenn auch über einige Umwege, Arzt geworden wie mein Vater und auch schon mein italienischer Großvater, und zum anderen bin ich, vom Arztberuf ausgehend, zum Psychiater und schließlich – wiederum über Umwege – zum Schizophreniespezialisten geworden. Und das Rätsel der Psychose, das mich auch heute noch zutiefst interessiert und fasziniert, ist zugleich das Rätsel meiner Mutter.
Wie sieht es mit dieser Integration in körperlicher, in psychischer und charakterlicher Hinsicht aus? Kopf und Gesicht, vor allem die Augen, habe ich zweifellos vom Vater (die »Ciompi-Augen« mit den überhängenden Oberlidern), den zähen und robusten Körper dagegen von der Mutter. Von ihr habe ich wahrscheinlich auch meine beträchtliche Energie und Hartnäckigkeit geerbt, vom Vater dagegen die Wendigkeit und Flexibilität bis zuweilen vielleicht gar hin zum feigen Opportunismus (der dann allerdings gern unter dem Deckmantel des weisen Maßhaltens segelt).
Neu ist in meiner »Eigenkonstruktion« wohl vor allem meine erstaunliche körperliche Gesundheit, und neu ist vermutlich auch eine Art von Lebensakrobatik oder Gleichgewichtssinn, früh erworben im ewigen Hin und Her zwischen Italien und der Schweiz und, in den Worber Jahren während Mammas Erkrankung, dann auch im Hin und Her zwischen meiner Mutter und Großmutter. Denn Mamma hatte meiner Schwester und mir damals ja jeglichen Umgang mit ihrer eigenen, im gleichen Haus lebenden Mutter aus undurchsichtigen Gründen strengstens verboten. Indes suchten und fanden wir heimlich doch immer wieder Zuflucht und Trost bei unserem jederzeit lieben »Muetti«. Auch das ständige Verstecken von Mammas Krankheit und überhaupt von unseren ganzen misslichen Familienverhältnissen vor jedermann und insbesondere vor den Dorfleuten und Schulkameraden in Worb und Bern bis zu den Lehrern, Behörden und (zum Beispiel militärischen) Vorgesetzten, ja das Verstecken selbst noch von gewissen überlegenen Fähigkeiten oder Denkweisen vor meinen Kameraden und Kollegen, um ja nicht irgendwie aufzufallen, sondern weiter dazuzugehören, war (und ist es vielleicht irgendwie noch heute) ein Teil dieses ewigen Gleichgewichtsspiels.
So richtig abgeschlossen scheint die besagte Integrationsarbeit in der Tat noch immer nicht zu sein. Irgendwo in der Tiefe sitzt offenbar nach wie vor etwas von derselben Scham über beide Eltern, die während der ganzen Kindheit an mir genagt hatte. Warum denn sonst habe ich erst mit 65 Jahren – nämlich anlässlich meiner Abschiedsvorlesung von der Universität – zum ersten Mal gewagt, öffentlich etwas von der Krankheit meiner Mutter verlauten zu lassen? Das positive Echo darauf hat mich überrascht. Offensichtlich war diese schwierige Erbschaft für manche Zuhörer, die Ähnliches zu verkraften hatten, viel mehr ein Trost denn ein Makel. Und dass ich mich auch meines Vaters (den ich ja eigentlich kaum gekannt habe) noch heute irgendwie schäme, gebe ich erst jetzt zum ersten Mal preis – einerseits einfach um der Wahrheit willen, und andererseits auch, weil mir mit der Zeit klar geworden ist, dass gewisse fachliche und vielleicht auch menschliche Kompetenzen, darunter sicher mein besonderes Psychosenverständnis und vermutlich auch ein gutes Stück allgemeines Menschenverständnis, mir höchst wahrscheinlich gerade aus diesen schwierigen Eltern- und Kindheitsverhältnissen erwachsen sind.
Zu den Schlüsselerlebnissen, die rückblickend zu einer fast sprunghaft erfolgten Wandlung von einem schwächlichen und ängstlichen Kleinkind zu einem recht forschen, selbstbewussten und, wenn nötig, sogar kämpferischen Jungen beitrugen, gehört ein dreiwöchiger Ferienaufenthalt mit Mamma und meiner anderthalb Jahre jüngeren Schwester Lill auf einem Bauernhof, als ich etwa fünfeinhalb Jahre alt war. Dabei ist, soweit ich mich erinnern kann, in diesen drei im Dörfchen Goldiwil im Berner Oberland »zur Erholung« eingeschobenen Ferienwochen eigentlich gar nichts Besonderes passiert, außer dass es jeden Morgen zur Stärkung einen angeblich enorm gesunden Haferbrei zu essen gab, und dass Lill und ich viele Stunden spielend in einem alten, gelben und »ds Kutschli« genannten abgetakelten Tramwagen verbrachten, der dort merkwürdigerweise mitten auf der Wiese neben dem Bauerngarten stand.
Doch, ja, eine wichtige Rolle bei der Überwindung meiner chronischen Lebensangst spielte zweifellos mein Erlebnis mit einer riesigen Muttersau – einer »Fährlimohre«, wie es im Dialekt heißt – und ihren etwa zwölf winzigen Jungtieren. Ich erinnere mich jedenfalls genau, wie die Bäuerin meine Schwester und mich gegen Abend des ersten Tages zu sich rief, um der Fütterung dieser Mohre und ihrer Ferkel in einem langen, den Tieren von ihrem Verschlag aus zugänglichen blechernen Futtertrog zuzuschauen, in den sie ein grobes Gemisch von, glaube ich, Magermilch und Speiseresten geschüttet hatte. So etwas hatte ich noch nie gesehen: eine solch ungeheure, schmatzende und grunzende Sau, und dazu all diese kleinen, quietschenden