Clarissas empfindsame Reise - Irene Dische - E-Book + Hörbuch

Clarissas empfindsame Reise Hörbuch

Irene Dische

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Beschreibung

Ein klassischer Anlass zu reisen sind Sorgen. Clarissa ist eine junge amerikanische Emigrantin, die sich dummerweise in den falschen Mann verliebt hat. Mehr als zehn Jahre hatte sie in Europa verbracht, ohne auch nur einmal nach Hause zu fahren, hat ihr Leben sehr genossen und hatte gar keine Zeit, Amerika zu vermissen. Aber Liebeskummer bringt sie dazu, spontan in ein Flugzeug zu steigen, um sich in New York zu kurieren. Sie landet mitten in einem erhitzten Wahljahrsfrühling in Miami und nähert sich auf erstaunlichen Umwegen, immer ausgelöst durch weitere Männer, ihrem eigentlichen Ziel. Sie interessiert sich ganz und gar nicht für Politik, aber der Zufall will es, dass sie tief in die Wahlschlacht hineingerät. Und dabei ist es gerade ihr völliges Desinteresse, das sie Dinge sehen lässt, die niemand anderes wahrnimmt. "Für mich ist eine Liebesgeschichte gut ausgegangen, wenn ich es bin, die Schluss macht, und er trauert. Wenn beide gleichzeitig Schluss machen, wird es ein Martyrium. Aber in meinem Fall war es viel schlimmer. Ich warne Sie - sollten Sie vorhaben, jemanden zu verlassen, in den Sie verliebt sind, lassen Sie sich von ihm bloß nicht in Begleitung seiner Ehefrau zum Flughafen bringen."

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Zeit:4 Std. 26 min

Sprecher:Sibylle Canonica

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Irene Dische

Clarissas empfindsame Reise

Roman

Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser

Hoffmann und Campe Verlag

Für Ori – auf seiner Reise

Prolog

»Für mich ist eine Liebesgeschichte gut ausgegangen, wenn ich es bin, die Schluss macht, und er trauert. Wenn beide gleichzeitig Schluss machen, wird es ein Martyrium. Aber in meinem Fall war es noch viel schlimmer. Ich warne Sie – sollten Sie vorhaben, jemanden zu verlassen, in den Sie verliebt sind, lassen Sie sich von ihm bloß nicht in Begleitung seiner Ehefrau zum Flughafen bringen.«

Das war noch nicht alles, was ich bei meinem Nachbarn im Flugzeug loswerden wollte.

»Schlimm genug, dass mich mein Vater damals zum Flughafen brachte, vor zwanzig Jahren, als ich aus Amerika verschwinden musste – immer stehen überall Väter in meinem Leben herum. Auch damals gab es einen Skandal. Ich war fünfzehn. Jetzt können Sie sich ausrechnen, wie alt ich bin. Da staunen Sie, was? Auch wenn ich viel jünger aussehe – ich bin schon fünfunddreißig. Als ich mich zum ersten Mal verliebte, war ich vierzehn und eingesperrt in einem Internat. Ich war Jugendmeisterin in der Liebe. Ein Wachmann von Pinkerton passte auf uns auf. Ich nannte ihn Pinkie. Meine große Liebe. Als die Schulleitung davon erfuhr, erstattete sie Anzeige. Pinkie wurde wegen Vergewaltigung verurteilt. Er kam ins Gefängnis.«

Die gütigen Augen meines Nachbarn – ich leugne nicht (O Ivan!), dass Güte mich anzieht, vor allem jetzt, wo mein Herz so voller Schmerz ist –, diese großen, braunen Augen blickten mich voller Mitgefühl an, als er fragte: »Und was ist dann aus ihm geworden?«

»Aus wem?«, fragte ich.

»Aus Ihrer großen Liebe, Pinkie …, der ins Gefängnis musste.«

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte ich achselzuckend. »Ich kam nachher selbst ins Gefängnis, in ein viel schlimmeres, nämlich nach Stuttgart. Meine Eltern glaubten, in Europa wäre ein Mädchen vor Männern sicher. Ich quartierte mich bei einem steinalten Ehepaar ein. Diese Leute sprachen dauernd über Achtundsechzig, als wäre es das irdische Paradies gewesen, dessen Tore ihnen seither wieder verschlossen sind. Sie waren strenggläubige Progressive. An einem Wochenende ließen sie mich allein nach Berlin fahren, und ich blieb einfach dort. Verliebte mich bei der ersten Gelegenheit. Sich verlieben können ist eine Begabung, und ich habe sie. Bald hatte ich überall in der Stadt meine Liebesbande geknüpft und mehrere Wohnungen zur Auswahl. Ich hatte kein Verlangen, nach Hause zurückzukehren. Doch dann …«

»Jetzt kehren Sie zurück«, sagte mein Nachbar, und voller Güte berührte er meine Hand und lehnte sich zu mir herüber. Ich sollte leiser sprechen. »Warum kehren Sie zurück?«

Anfangs war mir sein Akzent gar nicht aufgefallen. Ich hatte ihn für einen Amerikaner gehalten – einen lockigen, drahtigen, munteren jungen Amerikaner mit Augen wie Kupfermünzen, meinem Pinkerton-Mann gar nicht so unähnlich und ungefähr so alt wie er damals. Nun aber vernahm ich zu meiner Bestürzung einen unverkennbar skandinavischen Tonfall. Kein Zweifel, ein Däne. Dänen waren immer freundlich, und Lächeln war das Kleingeld ihrer Höflichkeit. Ich antwortete trotzdem.

»Wieder wegen eines Skandals«, sagte ich. »Aber diesmal ist es ein innerer, und das ist viel schlimmer. Ich habe mir erlaubt, mich in den falschen Mann zu verlieben. Er ist verheiratet.« (Eine dürftige Beschreibung von meinem Ivan, aber sie musste reichen.)

Ich verkündete: »Neben Ihnen sitzt eine tiefunglückliche Frau. Ich habe mir New York als Medizin verschrieben. Ich bin dort aufgewachsen, und ich weiß, New York, wenn es stark ist, kann einen hungrigen Löwen derart ablenken, dass er die Beute zwischen seinen Zähnen vergisst. Ich bin genauso, wenn ich stark bin. Aber New York ist im Moment schwach. Die New Yorker haben sich – wie ich mich auch – blamiert. Sie haben einen Krieg verloren, gegen den sie sich nicht gewehrt, den sie sogar gewollt haben, weil sie glaubten, sie würden ihn gewinnen. Jetzt stehen sie unter Schock, und ihnen schlackern die Geldbeutel. Einen Krieg oder all seine Ersparnisse verlieren ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem Verlust einer Liebe, aber ein gemeinsames Klagelied können wir trotzdem anstimmen. Eine Woche dort müsste ausreichen. Ich habe Ivan ewige Liebe versprochen, aber nun will ich ihn für immer vergessen. Er ist Dichter, experimentelle Lyrik, und er stammt aus Minsk, entsetzlich. Wo andere Leute Bankkonten haben, hat er Publikationen und Frauen, lauter nette Frauen, auch Kinder, und dann hatte er noch die Idee, ein Auge auf mich zu werfen, dabei bin ich halb so alt wie er. Und ausgerechnet an diesen Mann habe ich mein Herz verloren. Peinlich. Ich will mich nie wieder in einen Europäer verlieben. Ich will sogar nie wieder mit einem reden. Mein Handy habe ich am Flughafen entsorgt. Zusammen mit meinem iPod. Friede auf Erden. Bloß kann ich jetzt auch kein Radiohead mehr hören.«

Damit hatte ich meinen Vorrat an Gehässigkeit erschöpft und fühlte mich entsprechend müde. Der Jetlag kündigte sich an. Ich sank in meinen Sitz zurück und ein wenig zur Seite, und langsam rutschte mein Kopfpolster nach unten, auf die breite Dänenschulter zu. Bald glitt mir ein Arm um den Rücken, und ich fühlte mich ermutigt, den Kopf weiter sinken zu lassen, bis er sich bequem an den Hals meines Nachbarn schmiegte. Tief atmete ich den Duft seiner Haut ein; er gefiel mir und erinnerte mich wieder an meinen Kummer, an das Versprechen, das ich mir gegeben hatte: Ivan niemals zu vergessen. Im wohligen Dämmer ging dieser Gedanke in einen anderen über. Dieser Däne war zu hübsch und zu nett, um sich für Frauen zu interessieren. Also ergab sich aus meiner aktuellen Lage auch kein Risiko für meine Vorsätze.

Und dann flüsterte er mir ins Ohr: »Aber wenn Sie sich in New York kurieren wollen, warum fliegen Sie dann nach Miami?«

Miami

Der amerikanische Zoll trennte mich von dem schönen Dänen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich seine Anwesenheit in der ersten Klasse nicht hinreichend gewürdigt hatte. Er hatte auf der anderen Seite des Gangs gesessen, allein. Stunden früher hätte ich mich zu ihm setzen sollen, statt über den öden Lyrikbänden zu brüten, die mir Ivan zum Abschied geschenkt hatte. Ich mag Geschenke, aber ein Buch, das man auch noch selbst geschrieben hat, ist ein vergiftetes Geschenk – vergiftet mit Ansprüchen. Ivan hatte mich oft dafür gelobt, dass ich so höflich sei, selbst keine Gedichte zu schreiben. Es sei schiere Aufdringlichkeit, unbedingt etwas veröffentlichen zu wollen und dann zu erwarten, dass andere es lesen. Für ihn selbst galt das natürlich nicht. Er müsse schreiben, sagte er. Er sei der Sklave seiner verrückten Leser, die es von ihm verlangten. Für sich selbst eine Ausnahme zu machen ist natürlich die Regel. Es gefiel ihm, dass ich mich offen weigerte, seine Sachen zu lesen, denn daraus schloss er, dass ich ihn wegen seines Körpers liebte. Trotzdem glaubte er offenbar, dass nur seine Gedichte, nicht seine Schönheit, dauerhaft Bestand haben würden. Aber vielleicht waren die Lyrikbände auch eine Idee seiner rachsüchtigen Frau gewesen. So blätterte ich darin und sah mir gleichzeitig einen Hollywood-Thriller nach dem anderen an. Dem Dänen hatte ich mich erst gewidmet, nachdem ich mir im Gang die Füße vertreten und eine unerwartete Turbulenz mich in den Sitz neben ihm geworfen hatte. Deshalb begann unsere gemeinsame Zeit leider erst kurz vor dem Landeanflug auf Miami. Als ich dann beim Aussteigen zu meinem Platz zurückkehrte, verlor ich wertvolle Sekunden damit, Ivans Bücher in den Gratiskulturbeutel zu stopfen, den man auf dem Sitz liegen lassen darf, und der Däne glitt an mir vorüber. Ich hatte nur Handgepäck, und es wäre einfach zu peinlich gewesen, seinetwegen noch am Gepäckband herumzulungern. Außerdem machte mich das Englisch um mich herum irgendwie benommen. Die Wörter kamen mir vertraut und gleichzeitig unheimlich vor, wie ein Gesicht, das man jahrelang nicht gesehen hat. Die Kassiererin hinter dem Bankschalter fragte mich: »Was kann ich für dich tun, Honey?«

Honey. Seit Ewigkeiten hatte mich niemand mehr so freundlich angesprochen. Vielleicht fand sie mich ja attraktiv. Obwohl ich mich überhaupt nicht für Frauen interessiere, sprach mein Herz sofort darauf an, und ich händigte ihr alle meine hübschen Euros aus. Mir fiel ein, dass ich in Miami kein einziges Hotel kannte und nicht mal wusste, welches Stadtviertel überhaupt in Frage kam, und mein Mann, auf dessen praktische Ratschläge in solchen Fragen ich mich immer verlassen konnte, war Tausende Meilen weit weg, in Berlin, und schlief wahrscheinlich längst. Einen Moment lang fehlte er mir. Es wäre schön gewesen, wenn er mich am Flughafen abgeholt hätte. So viele Monate hatte er auf mich gewartet – darauf, dass Ivan genug von mir hatte oder ich von ihm. Geduld war seine taktische Waffe.

Mein Hans! Ihm gehört der größte Teil meines Herzens. Hans ist ein Engel, ein schlankes, hochgewachsenes Geschöpf mit sonnengelben Locken auf dem Kopf, aber erdbraunen Augen. Sie sind das einzige Überraschende an ihm. Dazu ein Gesicht, das aussieht, als hätte ein Illustrator es für eine Kinderbibel gezeichnet – Nase und Mund geometrisch vollkommen, schneeweiße Zähne, obwohl er sie kaum zur Schau stellt, wenn er lacht. Statt Engelsflügeln trägt er teure Anzüge. Er ist stets glatt rasiert, und seine sauberen Hände überzieht ein Geflecht von dicken, himmelblauen Adern. Beruf: Gutverdiener. Professor. Handchirurg, auf minimal-invasive Behandlungsverfahren spezialisiert. Ständig blickt er schönen Frauen auf die Hände, das Übrige sieht er nur, wenn sie etwas von japanischen Holzschnitten aus der Meiji-Zeit verstehen. Er ist Sammler. Die Wände in seiner Praxis hängen voll mit dem Zeug, größtenteils blutrünstige Szenen aus dem Chinesisch-Japanischen Krieg. Ich selbst habe mir nie etwas daraus gemacht, aber abgesehen von dem spürbaren Wunsch, ich möge meine Ahnungslosigkeit für mich behalten, nimmt er es mir nicht übel, dass ich seine zweite Leidenschaft nicht teile. Ich bin und bleibe seine erste. Wir sind nun schon sechs Jahre verheiratet, und seiner Begeisterung für mich konnten diese Jahre nichts anhaben. Hätte er mich jetzt sehen können, er hätte mich in die Arme genommen und vor Zärtlichkeit fast erdrückt. Er hatte mir das Erste-Klasse-Ticket nach Amerika gekauft und zugelassen, dass Ivan mich zum Flughafen brachte. Er würde später versuchen, mich anzurufen, um zu hören, ob ich gut angekommen sei. Er war sehr geduldig mit mir, in vielerlei Hinsicht. Seine Strategie mir gegenüber war ebenfalls minimal-invasiv. Manchmal träumte ich davon, er würde mich vor die Tür setzen.

»Warum nach Miami?«, hatte mich der Däne gefragt. Die Antwort war einfach: Ich wollte das Ankommen in New York abfedern, ich wollte die Stadt mit meiner Heimkehr beglücken, nicht erschrecken. Seit Jahrzehnten war ich nicht zu Hause gewesen. Außerdem war ich vor enttäuschter Liebe ganz blass, in jeder Hinsicht, und brauchte ein bisschen Bräune im Gesicht. Ich hatte Ivan geschworen, ich würde seinetwegen ewig unglücklich sein, aber deswegen musste ich ja nicht gleich todkrank aussehen. Ich beschloss, meinem Mann bei der ersten Gelegenheit ein liebes E-Mail zu schreiben. Bestimmt hatte er mir auch geschrieben. Neun quälende Stunden lang hatte ich nicht nach meiner Post gesehen.

Die Tasche voll grün-grau uniformierter Dollarscheine, marschierte ich in die Hitze hinaus und bestieg das erstbeste öffentliche Verkehrsmittel, das in Sicht kam. Ein Ofen auf Rädern. Ein Bus mit kaputter Klimaanlage. Dies war nicht das Amerika, an das ich mich erinnerte – ein Land, in dem eine defekte Klimaanlage mit dem gleichen Ernst behandelt wurde wie ein Fall von akuter Atemnot. Aber an vieles erinnerte ich mich nicht mehr und war auch nicht auf den Spuren der Erinnerung unterwegs. Im Unterschied zu den meisten Menschen, die ich kenne, pflege ich keine empfindsamen Beziehungen zu meiner Kindheit. Wie man sich dahin zurückwünschen kann oder auch nur zurückblicken will, ist mir unbegreiflich.

Ich suchte mir einen Platz im vorderen Teil des Busses, setzte ein ansprechendes Gesicht auf und wartete auf den männlichen Fahrgast, der demnächst einsteigen und sich den Platz neben mir aussuchen würde. Ich wollte meine Muttersprache ausprobieren. Die junge Frau, die sich schließlich auf den Sitz neben mir sacken ließ, kannte ich. Sie war in der Maschine aus Frankfurt gewesen, aber hinter mir eingequetscht, in der business class, und hatte ebenfalls nur Handgepäck dabei. Ihr Gesicht besaß die amerikanische Vollkommenheit – kleine, zierliche Nase, perfekte Zahnreihe und schwarzes Haar, das glänzte wie heißer Teer. Seufzend griff sie sich mit einer völlig unamerikanischen, melodramatischen Geste an die Brust. Aha, dachte ich, der gleiche Kummer wie bei mir.

»Was führt Sie nach Miami?«, fragte ich.

»Brustvergrößerung«, sagte sie und tätschelte ihren Busen. »Morgen früh werden die Fäden gezogen.« Sie sprach mit einem breiten russischen Akzent. Er erinnerte mich an meinen Ivan.

»In Deutschland gibt es keine zuverlässigen Ärzte«, verkündete sie. »Wir gehen alle nach Miami. Zu Doktor Haimowitz. Ich bleibe eine Nacht, dann fliege ich zurück.«

»Sind Sie jüdisch?«, rief ich überrascht.

Sie lachte genüsslich über meine Frage, tippte sich an die Nase und sagte: »Die stammt auch von Doktor Haimowitz.«

Sie nannte ihren Namen, Ivana, und empfahl mir ein Hotel am Strand, das von einem russischen Ehepaar betrieben wurde. Trotzki habe in den Vierzigern ein paar Tage dort verbracht. Dort werde sie wohnen.

Nachdem Ivana festgestellt hatte, dass wir beide fünfunddreißig waren, zwei Schönheiten, deren Horoskope zueinander passten, die den gleichen Blackberry benutzten und beide langes Lockenhaar hatten (meines »kupferrot«, frisch aufgelegt), machte sie den Vorschlag, wir könnten uns doch ein Zimmer teilen. So würden wir Geld sparen und nicht allein sein. Sie war gerührt, als sie hörte, es sei meine erste Heimkehr seit zwanzig Jahren.

»Du musst tief eintauchen und so lange unten bleiben, wie du kannst«, erklärte sie. »Wenn wir im Hotel sind, kümmerst du dich erst mal um deine Mails. Aber dann sehen wir uns Game Shows an. Einen besseren Einstieg nach Amerika gibt es nicht. Wir lassen den Fernseher die ganze Nacht laufen, dann stört uns der Ozean nicht. Der macht einen ziemlichen Lärm in diesem Hotel. Und morgen frühstücken wir zusammen – sie nennen es breakfast bar, aber Alkohol servieren sie keinen, den müssen wir selbst mitbringen.«

Sie fügte hinzu: »Neben mir im Flugzeug saß ein Banker. Er sagte, ich solle mein ganzes Geld lieber heute als morgen von der Bank und der Börse nehmen und in die Matratze stopfen. Demnächst würde die Weltwirtschaft zusammenbrechen. Ich sagte ihm, ich hätte eine bessere Idee, was ich mit meinem Geld machen könnte.« Sie legte ihre Hände an die Wangen und schob sie nach oben.

Sonderbarer Zufall, dachte ich später. Da laufe ich einem Ivan davon und verbringe meine erste Nacht in Amerika in einem Kingsize-Bett mit einer Ivana – die in ihrer Betthälfte schon bald so schnarchte wie Ivans alter sowjetischer Rasierer. Bestimmten Fügungen entkommt man nicht. Sie sind stärker als jede Wahrscheinlichkeit. Über dem Fernsehen vergaß ich das Internet. Und um meinen Schönheitsschlaf nicht zu verpassen, schluckte ich ein paar Rohypnol.

Ich sehnte mich danach, die Luft der Freiheit zu atmen. Ich hätte es mit dem Dänen probieren sollen. Ich hätte ihm ein bisschen Glück schenken können.

Vorbestimmung

Wenn man reist, tritt sie zutage. Manchen Leuten ist es vorbestimmt, im Leben groß zu gewinnen oder zu verlieren. Wenn sie verreisen, kommen der Airline unweigerlich ihre Koffer abhanden, aber im Flugzeug sitzen sie neben jemandem, der sich als nützlich erweist und mit einem guten Vorschlag ihr Leben zum Besseren wendet. Mein Schicksal ist es, von Juden umgeben zu sein. Ich bin schon unter ihnen zur Welt gekommen, und wenn ich jetzt auf Reisen bin, laufe ich ihnen ständig über den Weg. Ich könnte zum Nordpol reisen – bestimmt würde ich dort auf einen Juden treffen. In Deutschland hat es mir schon deshalb so gut gefallen, weil ich ihnen dort nicht ständig begegnet bin. Und dann gelang es mir auch noch, einen deutschen Handchirurgen mit Turmschädel zu heiraten. Aber mit der Zeit fand ich auch Freunde, und ohne dass ich irgendetwas dazu beigetragen hätte, ergab es sich, dass alle meine Freunde jüdisch waren. Es ist natürlich betrüblich, wenn die Juden in Deutschland derartig zusammenglucken, dass sie sich nicht nur ihre Freunde, sondern auch ihre ärgsten Feinde in den eigenen Reihen suchen. Mein Ivan zum Beispiel wurde von einem jüdischen Kritiker verfolgt. Das ärgerte ihn dermaßen, dass er sich einen Atlas vornahm, und nachdem er festgestellt hatte, dass Schottland in Europa das Land mit den wenigsten Juden war, plante er eine Reise dorthin, um seine Nerven ein bisschen zu beruhigen. Aber auf dem Schiff lief ihm dann schon wieder einer über den Weg – nämlich ich. Er hatte den Fehler begangen, mir seine Reisepläne zu verraten. Wir hatten eine herrliche Zeit.

Hätte ich gewusst, dass Ivan jüdisch war, hätte ich meine erste Begegnung mit ihm bestimmt nicht so leicht genommen. Er hatte eine Lesung, und eine meiner zahllosen Freundinnen bat mich mitzukommen, weil sie gelegentlich mit ihm schlief und seine Frau auch dort sein würde. Natürlich tat ich Alice den Gefallen. Ihr war es vorbestimmt, sich in berühmte Männer zu verlieben. Sie war fünfundzwanzig, als sie mir sagte, falls sie jung sterben müsse, dann, bitte, bitte, lieber Gott, in den Armen eines berühmten Mannes. Mir gefiel ihre Aufrichtigkeit in dieser Frage, und ich kam gern mit, um seine Frau zu begutachten und das eheliche Verhältnis unter die Lupe zu nehmen. Da er mir gleichgültig war, würde ich objektiv urteilen können.

Wie sich herausstellte, war dieser Ivan ein Star. Der Buchladen war brechend voll – lauter Leser, die ihn sich einfach mal anschauen wollten. Dabei gab es gar nicht viel zu sehen. Ein kleiner, älterer Herr, anscheinend überrascht von der großen Aufmerksamkeit, die ihm entgegenschlug, trat zögernd ein, als würde er am liebsten gleich wieder kehrtmachen.

Die Dichtergattin ging knapp hinter ihm. Sie wirkte noch befangener als er – als wären alle ihretwegen gekommen. Neben ihm verströmte sie den Charme eines Bürohauses, das Haar hatte sie zu einem grauen Turm aufgestülpt. Er sah sich ständig nach ihr um, mit einer besorgten Miene, die sie nicht zur Kenntnis nahm. Während sie sich einen Platz im hinteren Teil des Ladens suchte, trippelte er allein nach vorn, wo ein Podium errichtet war. Noch einmal blickte er zu seiner Frau hinüber, die auf die Uhr schaute. Ich sah Alice an und machte das Siegeszeichen. Alices Geschmack war mir zwar rätselhaft, aber die Gattin war kein Problem.

An jenem Abend las der Dichter, der wenig später meiner werden sollte, ungefähr fünfundvierzig Minuten lang aus seinem Werk. Er saß auf einem Stuhl, der Oberkörper von einem unsichtbaren Strick gefesselt, die Schultern krumm, die Hände an sein Buch geklammert. Er las Deutsch, eine Übersetzung. Trotzdem verstand ich kein Wort. Die Schwerkraft presste meine Knochen gegen die Oberfläche eines Stuhls, der mit jeder Minute härter wurde. Ich war Alice zu einem Platz in der Mitte einer Reihe gefolgt. Eingemauert von anderen Zuhörern, die sich in der gleichen hoffnungslosen Lage befanden, musste ich meinen Fluchtreflex unterdrücken.

Plötzlich erhob sich die Gattin, quetschte sich zwischen den Stuhlreihen hindurch und ging hinaus. Ivan unterbrach seinen Vortrag und sah ihr nach. Dann las er weiter. Sein Körper schien sich zu lockern, als hätte seine Frau den Strick mitgenommen. Er lehnte sich zurück und lächelte. Wenig später bat er um Entschuldigung und zündete sich eine Zigarette an. Er fühlte sich jetzt richtig wohl.

Nach der Lesung stellte sich Alice bei den Autogrammjägern an. Sobald sie an der Reihe war, blickte er sich in dem Pulk von Verehrern um, und als er feststellte, dass seine Frau sich nicht unter ihnen befand, nahm er Alices Hand und drückte sie. Dann wanderte sein Blick zu mir, und er ließ ihre Hand wieder los. O Ivan, du Miststück!

Später erfuhr ich, dass seine Frau nach Hause gefahren war, um mit Hilfe ihrer beiden ältesten Töchter seinen Schreibtisch und seine Aktentasche zu filzen und herauszufinden, wo sich sein Herz in letzter Zeit aufhielt. Ein Dichter aus Minsk verliebt sich nicht einfach, um Sex zu haben oder sich in irgendwelche Dramen zu verwickeln, wie man meinen könnte. Nein, er verliebt sich, um Liebesgedichte zu schreiben.

Ivan war so umsichtig gewesen, seinen Schreibtisch abzuschließen. Mutter und Tochter waren so raffiniert, ihn mit einem Schraubenzieher aufzubrechen. Doch dann stellte sich heraus, dass der Schreibtisch leer war, weil Ivan in seiner Zerstreutheit vergessen hatte, sein Notizbuch hineinzuschieben. Er hatte es in die unverschlossene Aktentasche gesteckt, wo es die Damen dann auch bald fanden – vollgestopft mit fein gedrechselten metrischen Angaben über Alice. Der Laptop hingegen erwies sich als undurchsuchbar. Nachdem sie ihn eingeschaltet hatten, wussten sie nicht, wie sie die Programme öffnen sollten und, noch schlimmer, wie sie ihn wieder ausschalten konnten, sodass auch noch der Student von nebenan zu Hilfe gerufen werden musste. Als Ivan nach Hause kam, machte ihm seine Frau eine Szene à la Russe, warf ihm erst Beschimpfungen und dann sein zerfetztes Notizbuch an den Kopf. Er beteuerte, mit Alice sei es aus. Das stimmte. Es hatte mit mir angefangen. Beim Frühstück war das Familienleben wieder im Lot. Frauen aus Minsk sind nur pro forma eifersüchtig.

Seither widerfuhr mir alles, was meine Vorbestimmung vorgesehen hatte, und ich litt, weil ich mich einmal zu oft verliebt hatte. Alice dagegen litt nicht lange. Sie war jung und hübsch und fand leicht einen anderen alten Promi, den sie sich mit seiner Ehefrau teilen konnte. Mir allerdings verzieh sie nie. Aber das machte mir am allerwenigsten aus.

Während der ersten Nacht, die ich wieder in Amerika verbrachte, hatte ich durchgeschlafen, ungestört vom hustenden, würgenden Ozean. Als mir die ersten Sonnenstrahlen über das Gesicht harkten, wachte ich auf und hatte wie immer Ivans Namen auf den Lippen. Ich wusste nicht, wo ich war. Ja, ich wusste kaum, wer ich war. Bloß immer Ivan, Ivan, Ivan.

Clarissa, sagte ich zu mir – Clarissa, steh auf!

Wenn man verrückt vor Liebe ist, finde ich es wichtig, dass man seinen eigenen Namen so oft wie möglich ausspricht, damit die Prioritäten klarbleiben. Clarissa, du hast schon wieder verschlafen! Und wo diesmal? Ich sah mich im Zimmer um. Die Vorhänge waren aufgezogen. Hotelmobiliar. Ein großes Bett, halb leer. Miami, Ivana, gestern Abend Fernsehen. Und Ivan war für immer aus meinem Leben verschwunden. Ich richtete mich auf. Meine Bettgenossin war genauso abwesend. Aber sie hatte einen Zettel auf dem geschlossenen Klodeckel hinterlassen.

»Guten Morgen. Bye-bye. Ivana.«

Ich machte mich sorgfältig zurecht, zog das schlichte weiße Hemdkleid an, das meine Wespentaille und die wohlgeformten Beine zur Geltung bringt, bürstete meinen kupferroten Schopf zu einem Schlafzimmerlook und ging frühstücken. Ich war fest entschlossen, mir ein bisschen Bräune auf die Wangen zu holen und meine Reise nach New York dann möglichst rasch fortzusetzen.

Miami Frühstück

Nichts erfüllt mich so sehr mit Panik wie die Ungewissheit, was das nächste Frühstück bringen wird. In einem amerikanischen Hotel braucht man sich deshalb aber keine Sorgen zu machen. In diesem hier hatte man in der Lobby eine Festtafel aufgebaut, mit reinem, weißem Toast, silbernen Schälchen voller Rahmkäse und rubinroten voller Marmelade, dazu einer riesigen Platte seidig glänzender Donuts, jeder von ihnen ein Ruhekissen für die müde Zunge. Auf einem Beistelltisch reihten sich, hübsch wie Brautjungfern, Gläser mit Cornflakes. Überall standen Karaffen mit orangeroten und rosa Säften und weißer Milch, überragt von einem schweren, silberfarbenen Kaffeespender. Feierlicher Muzak rieselte aus Lautsprechern von der Decke. Ich schritt den Mittelgang entlang. Welche Freude: Selbstbedienung! In diesem Punkt bin ich mit meiner Freundin, der Gräfin M***, ganz einer Meinung. Wenn es ums Essen geht, verlasse ich mich nicht gern auf fremde Hände. Sie können gefährlich langsam sein und sind imstande, mit Tellern zu erscheinen, auf denen winzige Portionen dekorativ, wie für die Ewigkeit, zu einem Stillleben angeordnet sind. Im alten Europa, wo selbstquälerische Essgewohnheiten vorherrschen, gilt es als tugendhaft, sich bei Tisch zu unterhalten, statt zu essen, wenn man hungrig ist. Ich glaube nicht ans Fasten. Leute, die sich absichtlich etwas, nach dem es sie verlangt, vorenthalten, bloß um einem natürlichen Verlangen Widerstand zu leisten, haben in meinen Augen keinerlei Recht, sich moralisch überlegen zu fühlen. Ich weise Speisen nur zurück, wenn ich nicht bei Bewusstsein bin. Essen macht mich nicht dicker, nur freundlicher. O Ivan, ein Jahr lang warst du so stolz auf meine Figur.