Coming-out - Sebastian Goddemeier - E-Book

Coming-out E-Book

Sebastian Goddemeier

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Beschreibung

18 starke Coming-outs, die Mut machen und die Vielfalt queeren Lebens zeigen Melina Sophie • Dominik Djialeu • Drangsal • Ralf König • Bambi Mercury • Aquamarin • David Lovric • Jan Zimmermann • Benjamin Patch • Jolina Mennen • Kevin Kühnert • Matt Stoffers • Marcus Urban • Michael Michalsky • Axel Ranisch • Fabi Wndrlnd • Katharina Oguntoye • Nicolas Puschmann Schwuchtel, Homofürst, Popopirat – das sind Beleidigungen, die auch Stars wie Beauty-Göttin Jolina Mennen, »Prince Charming« Nicolas Puschmann oder SPD-Vize Kevin Kühnert zu hören bekommen. Warum? Weil sie nicht heterosexuell sind. Die Prominenten, mit denen Sebastian Goddemeier gesprochen hat, sind bisexuell, lesbisch, schwul, transident. In diesem Buch erzählen sie, wie sie ihr Coming-out erlebt haben und wie sie trotz aller Widerstände gelernt haben, sich selbst zu akzeptieren und zu lieben. Coming-out ist ein Buch über Erfahrung, Kraft und Hoffnung und für alle, die ihr Coming-out noch vor oder vielleicht auch schon hinter sich haben.

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SEBASTIAN GODDEMEIER

COMING OUT

QUEERE STARS ÜBER DEN WICHTIGSTEN MOMENT IN IHREM LEBEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

2. Auflage 2021

© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Desirée Šimeg

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: CPI books GmbH, Leck

ISBN Print 978-3-7423-1655-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1352-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1353-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Vorwort

Melina Sophie

Dominik Djialeu

Drangsal

Ralf König

Bambi Mercury

Aquamarin

David Lovric

Jan Zimmermann

Benjamin Patch

Jolina Mennen

Kevin Kühnert

Matt Stoffers

Marcus Urban

Michael Michalsky

Axel Ranisch

Fabi Wndrlnd

Katharina Oguntoye

Nicolas Puschmann

Danksagung

FÜR ALLE, DIE AUF DER SUCHE NACH SICH SELBST SIND.

VORWORT

»Du, ich muss dir etwas sagen …«

 

Als ich ein Teenager war, hingen an meinen Wänden Poster von Jeanette Biedermann und Mariah Carey. Beide sind mehr oder weniger Gay Icons, aber heterosexuell. In den Medien gab es zu dieser Zeit, also in den Nullerjahren, keine queeren Menschen, mit denen ich mich hätte identifizieren können. Erst recht nicht in meinem privaten Umfeld.

Ich bin im Münsterland aufgewachsen, zwischen heterosexuellen Fußballjungs und Pferdemädchen. Im Kindergarten verkleidete ich mich im Karneval als Erdbeere, in roter Strumpfhose und mit rotem Tutu. Die anderen Jungs gingen als Fußballer oder Zorro. Ich spielte mit Autos und mit Barbies. Ich trug Pokémon-Oberteile und heimlich High Heels und Kleider. Damit passte ich weder in die Kategorie »Fußballjungs« noch in die Kategorie »Pferdemädchen«. Die anderen Kinder merkten, dass ich anders war – ich wurde ausgegrenzt. Was war falsch mit mir? Wieso passte ich nirgends rein? Ich zweifelte an mir und fühlte mich isoliert. Schlimmer wurde es, als ich in die Schule kam. In der Grundschule wurde ich »Mädchen« genannt, ab der Sekundarstufe »Schwuli« und »Schwuchtel«. Ich wurde geschlagen, bedrängt und verfolgt. Als Jugendlicher habe ich mich nicht gewehrt, ich hatte weder den nötigen Mut noch das Selbstbewusstsein. Außerdem dachte ich: Sie haben Recht! Ich bin wirklich anders. Vielleicht habe ich es verdient, so behandelt zu werden.

Hätte ich queere Vorbilder gehabt, wäre mir die Auseinandersetzung mit meiner Sexualität und meiner Identität sicher leichter gefallen. Vor allem wenn das Thema Homosexualität im Mainstream sichtbarer gewesen wäre. Stattdessen wurden homosexuelle und besonders transidente Menschen in den Medien, vor allem in den Nachmittags-Talkshows, als Zirkusclowns dargestellt, als Menschen am Rande der Gesellschaft. Irgendwie peinlich, asozial und abnormal. Natürlich ist das totaler Schwachsinn.

Mit Anfang 20 dachte ich, ich hätte die Beleidigungen aus meiner Jugendzeit hinter mir gelassen. Als offen schwuler Mann lebte ich mittlerweile in Berlin, ging auf Dates, tanzte in Schwulenclubs und dachte, ich wäre frei. Es brauchte aber mehr als das. Ich funktionierte immer noch auf der Basis alter Botschaften und Muster. Ich musste mir bewusst machen, wer ich eigentlich war und was ich wirklich wollte. Dafür musste ich mich meinen Ängsten stellen und lernte dabei: Ich habe Liebe verdient – auch wenn mir als Kind und Jugendlicher das Gegenteil vermittelt wurde.

Aus diesem Grund ist Coming-out entstanden: Ich möchte queeren Menschen Rollenvorbilder zeigen, die von ihren Erfahrungen, aber auch von ihrer Kraft und ihren Hoffnungen berichten. Menschen, die oft schlimme Erfahrungen durchgemacht haben und diese in etwas Positives umwandeln konnten. Dieses Buch handelt von Selbstakzeptanz, von Freundschaft und von Familie – aber vor allem handelt es von Liebe. Doch Liebe für sich selbst und Liebe für andere Menschen erlernen queere Menschen leider allzu oft erst im Erwachsenenalter.

»WIR SIND EIN TEIL DIESER GESELLSCHAFT UND WIR HABEN DIESELBEN PRIVILEGIEN VERDIENT. WIR WOLLEN NICHT NUR TOLERANZ, WIR WOLLEN AKZEPTANZ.«

Mein Ziel mit diesem Buch ist es, jedem – und ich meine wirklich jedem – Einblicke in die Schwierigkeiten zu geben, die queere Menschen in den letzten Jahrzehnten überwinden mussten, und welche Kraft und Stärke die Community eigentlich hat. In Polen und Russland werden queere Menschen verfolgt. In Deutschland steigen die Zahlen der gemeldeten homofeindlichen Angriffe jedes Jahr. Außerdem werden Nicht-Heterosexuelle wie Menschen zweiter Klasse behandelt: Schwule Männer dürfen nur unter strengen Auflagen Blut spenden, transidente Menschen werden durch das Transsexuellengesetz von 1981 diskriminiert und das Thema Adoption … sagen wir es mal: Heterosexuelle genießen hier Privilegien, die queere Menschen nicht haben.

Queer bedeutete schon immer, zu kämpfen und sich für Menschenrechte einzusetzen: 1969 wurde mit den Stonewall-Aufständen in New York der Christopher Street Day geboren. Damals kämpften schwule Männer gegen die Polizei. Seither gehen jedes Jahr queere Menschen für ihre Rechte und ihre Sichtbarkeit auf die Straße. Die Message: Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft und wir haben dieselben Privilegien verdient. Wir wollen nicht nur Toleranz, wir wollen Akzeptanz. Und darum geht es auch in diesem Buch.

Beim Schreiben ist mir aufgefallen, dass es sehr viele Gemeinsamkeiten in den Lebensgeschichten der 18 Protagonist*innen in diesem Buch gibt: So unterschiedlich queere Menschen wirken, die meisten haben sich als Teenager allein gefühlt. Sie sind durch Zeiten der Einsamkeit gegangen, haben ehrlich über sich reflektiert, nach Gleichgesinnten gesucht und sind am Ende bei sich selbst angekommen.

Bei der Auswahl der Protagonist*innen – oder sollte ich sie vielleicht besser Held*innen nennen? – war es mir besonders wichtig, auf Diversität zu achten: Benjamin Patch berichtet über seine Probleme als Schwarzes Adoptivkind in einer weißen, religiös geprägten Umgebung. Jolina Mennen erzählt von den Herausforderungen bei ihrer Selbstfindung als trans Frau. Melina Sophie spricht über ihre Zweifel als lesbische Frau und Bambi Mercury über den Wunsch, eine eigene Familie zu gründen.

Ich hatte mir eine möglichst breite Palette an Charakteren vorgestellt, doch nicht all meine Wünsche haben sich erfüllt. Lesbische Frauen zum Beispiel sind in diesem Buch unterrepräsentiert. Nicht weil es zu wenige lesbische Frauen in der Öffentlichkeit gäbe, sondern weil sich nur wenige von ihnen zurückgemeldet haben – und das leider meist mit einer Absage. Umso dankbarer bin ich für die Zusagen von Melina Sophie und Katharina Oguntoye. Sie sorgen für Sichtbarkeit und hoffentlich auch dafür, dass mehr lesbische Frauen sich trauen, sich öffentlich zu äußern und offener zu sprechen.

Queere People of Color und Personen mit Migrationshintergrund waren schwer zu finden und noch schwerer zu überzeugen, sich zu öffnen. Hier hat mir dieses Projekt gezeigt: Diversität ist nicht nur im Mainstream ein Problem, sondern auch in der queeren Community. Eigentlich sollte man meinen, dass wir aufgrund unserer eigenen Erfahrungen mit Ausgrenzung und Mobbing offener sind für Andersartigkeit – doch allzu oft ist offenbar das Gegenteil der Fall. Dominik Djialeu berichtet zum Beispiel, wie er als Schwarzer Mann in der schwulen Community sexualisiert und ausgegrenzt wird. Menschen, die selbst ausgegrenzt wurden, grenzen andere Menschen aus, was ich sehr schade finde.

Transidentität war mir ebenfalls ein großes Anliegen. Jolina Mennen hat ihre Geschichte sehr offen und ehrlich erzählt. Sie ist aber auch die einzige transidente Person in diesem Buch. Ein trans Mann wäre toll gewesen, aber auch hier kamen leider nur Absagen. Vielleicht wird es ein Coming-out 2.0 geben: mit mehr transidenten Menschen, mit mehr People of Color und mit mehr lesbischen Frauen.

Ich hoffe, dass dieses Buch dir sinnvolle Vorbilder vermitteln kann, dir Stärke, Kraft und Hoffnung gibt und dein Coming-out erleichtert. Das Wichtigste ist aber: Egal, wo du hingehst, du nimmst immer dich selbst mit. Du hast keine Kontrolle darüber, in welches Umfeld du hineingeboren wirst, ob du später in der Schule gemobbt wirst oder ob deine Eltern immer zu dir stehen. Erst als Erwachsener hast du die Kontrolle – allerdings nur über dich selbst. Du allein bist die Person, die du ändern und an der du arbeiten kannst. Genau darum geht es meiner Meinung nach bei einem Coming-out: Du stehst zu dir selbst.

Ich bin fest davon überzeugt, dass Ehrlichkeit mit sich und anderen die Lösung für die meisten Probleme ist. Daraus resultiert Akzeptanz. Um dich selbst kennenzulernen und zu erforschen, braucht es allerdings andere Menschen: Bezugspersonen, Vorbilder, Helden. Menschen, die dich und deine Lebensrealität widerspiegeln, damit du das, was in dir ist, besser verstehen und annehmen kannst.

Queere Menschen – wir! – sind ein fester und sehr wichtiger Teil dieser Gesellschaft. Wir sind normale Menschen, die lieben und geliebt werden möchten. Die sich mit sich selbst auseinandersetzen müssen, zu sich selbst finden und einfach glücklich sein wollen. So wie jeder heterosexuelle Mensch auch. Ich wünsche mir, dass Sexualität eine Selbstverständlichkeit ist und keine Heimlichkeit. Doch das Coming-out ist heute immer noch ein Thema und immer noch ein Tabu. Und es wird vermutlich noch sehr lange eins sein. Also müssen wir weiter darüber sprechen, immer und immer wieder, loud and proud!

Sebastian Goddemeier

MELINA SOPHIE

»Oute dich vor den Leuten, vor denen du dich outen willst. Mach alles so, wie dein Bauchgefühl es sagt. Das wird dir den Weg zeigen, glaub mir. Be proud! Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest.«

 

»Ich bin lesbisch«, sagt Melina Sophie in einem YouTube-Video mit dem Titel »Coming out«. Sie trägt dunkelbraune Haare und dunkelroten Lippenstift, hinter ihr nur eine weiße Wand. »YouTube ist ein sehr großer Teil meines Lebens und so seid auch ihr ein sehr großer Teil meines Lebens«, beginnt sie und versucht Worte für das zu finden, was sie heute mit ihrer Community teilen möchte: ihr lebenslanges Geheimnis. »Es hat mich verdammt viel Zeit gekostet, es zu akzeptieren. Ich wollte es vor mir selbst verheimlichen und wegpushen und verstecken.«

Am 31. Juli 2015 outete sich Melina Sophie vor ihren Abonnent*innen. Mehrere Millionen Menschen sahen das Video, das ihr Leben veränderte. Im YouTube-Universum war sie zu diesem Zeitpunkt bereits ein Superstar. Nun ein lesbischer Superstar. Und somit ein Vorbild für queere Teenager, die diese großen Worte noch vor sich haben: »Ich bin gay.« Zuvor stellte sie bereits Lifestyle-Videos online, nahm Fans mit auf Reisen und erzählte aus ihrem Leben.

Melina wurde an der Ostsee geboren. Als sie vier Jahre alt war, zog ihre Familie nach Nordrhein-Westfalen. Einige Jahre später trennten sich ihre Eltern und Melina pendelte zwischen Vater und Mutter hin und her. »Mein Vater ist in ein anderes Dorf gezogen. Ich bin trotz der Trennung weiterhin zwischen Feldern und Wäldern aufgewachsen«, lacht sie beim Interview 2020, als sie wieder in ihrer Heimat bei ihren Eltern zu Besuch ist.

Wenn sie auf ihre Kindheit zurückblickt, fällt ihr auf, dass ihr schon sehr früh klar war, dass sie Frauen liebt. »Rückblickend wusste ich schon im Kindergarten, dass ich lesbisch bin. Ich habe mich damals nach Frauen umgedreht, nicht nach Männern. Damals fehlte mir aber noch das Bewusstsein.« Auf dem Land gab es allerdings keine lesbischen Vorbilder, keine alternativen Lebensrealitäten zur heteronormativen. »Es ist auf dem Dorf auf jeden Fall schwieriger, sich als lesbische Frau zu finden. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich outen konnte.«

Melina beginnt, ihre Kindheit durchzugehen und sucht nach Punkten, an denen sie rückblickend festmacht, dass sie schon als kleines Mädchen lesbisch war. »Ich fand die Praktikantin im Kindergarten richtig toll! Da war ich fünf Jahre alt. Die Praktikantin war 14 oder so. Eine Grundschullehrerin fand ich ein paar Jahre später auch besonders toll.« Diese kleinen Schwärmereien waren damals nichts Besonderes für Melina. Sie sah diese als enge Verbindung, als Freundschaft, als Bewunderung an. Heute weiß sie es besser: Sie war verknallt.

»ICH HATTE SO GROSSE ANGST VOR DEN KONSEQUENZEN. WEIL ICH WUSSTE, DASS HOMOSEXUELLE IMMER NOCH NICHT SO AKZEPTIERT WERDEN, WIE ES EIGENTLICH DER FALL SEIN SOLLTE.«

Mit 18 kam Melina zum ersten Mal auf den Gedanken, dass sie lesbisch sein könnte. Das ist sehr viel Zeit, die sie in ihrer Entwicklung verpasst hat. »Mein Gedankengang war: Vielleicht bin ich lesbisch, aber das kann nicht sein, das will ich nicht, das darf ich nicht, das soll nicht sein. Ich hatte so große Angst vor den Konsequenzen. Weil ich wusste, dass Homosexuelle immer noch nicht so akzeptiert werden, wie es eigentlich der Fall sein sollte.« Homosexuelle wurden in den Medien als andersartig und aussätzig dargestellt. Dadurch machte sie sich vor allem Sorgen, wie die Menschen in ihrem Umfeld reagieren würden. »Ich hatte Angst, dass sich meine Freundinnen von mir abwenden würden, weil sie denken würden, dass ich was von ihnen will.« Melina verleugnete ihre Sexualität ihre gesamte Jugend lang und versuchte bis ins Erwachsenenalter jemand zu sein, die sie nicht war: ein heterosexuelles Mädchen. Sie scheiterte. »Ich hatte Boyfriends, klar. Mir war überhaupt nicht bewusst, dass ich lesbisch war. Ich dachte die ganze Zeit, ich hätte noch nicht den Richtigen gefunden. Außerdem hatten alle meine Freundinnen auch Freunde. Ich wollte genauso sein.« Doch sie war nicht wie ihre Freundinnen. Sie datete Jungs, drehte sich aber heimlich immer wieder nach Frauen um. Zwischen ihr und den Männern war nichts – keine Magie, kein Funke, keine Anziehung. »Ich habe bereits damals sehr schnell Gefühle für Frauen entwickelt, obwohl wir gar nicht romantisch miteinander involviert waren. Das fühlte sich ganz anders an als mit Männern. Mit Männern hatte ich nie diesen Wunsch nach Nähe. Das Intensive. Man kennt’s halt: das Verknalltsein.«

Hätte es queere Vorbilder und Lebensrealitäten gegeben, mit denen sie sich hätte identifizieren können, hätte sie als Teenager vielleicht nicht solche Probleme gehabt, sich selbst zu akzeptieren und zu sagen: Ich bin lesbisch. »Es gab niemanden, der sich geoutet hat, mit dem ich mich identifizieren konnte. Erst mit YouTuber*innen wie Troye Sivan und Ingrid Nilsen wurde es besser. Ich habe ihre Coming-out-Videos bestimmt fünf Millionen Mal geschaut.« Zu diesem Zeitpunkt war Melina allerdings schon eine erwachsene Frau. Ihre innere Stimme wurde immer lauter: Stand sie auf Frauen? Wieso drehte sie sich nach Frauen um? Wieso war die Bindung zu einer Frau so viel intensiver? Wieso gingen ihr diese Fragen immer und immer wieder durch den Kopf?

Mit 19 zog Melina nach Köln. Auf YouTube hatte sie sich bereits einen Namen gemacht: Ihre Abonnenten begleiteten sie beim Weihnachtsbaumkauf und auf Taxifahrten. 500 000 Menschen rufen ihre Videos auf. In der Stadt am Rhein lebte sie in einer Wohngemeinschaft mit Sängerin und Vloggerin Shirin David. »Ich habe den Mut, mich zu outen, erst bekommen, als ich nach Köln gezogen bin – Köln, ne? Gay city number one!«, zwinkert sie in die Kamera ihres iPhones. »Dort habe ich Menschen kennengelernt, die auch homosexuell sind. In Bars und Clubs zum Beispiel. Das hat mir Sicherheit gegeben. Ich konnte mich endlich identifizieren.«

Irgendwann konnte sie der Wahrheit nicht mehr länger aus dem Weg gehen. Nach einigen Wochen in Köln fuhr Melina für einen Besuch in ihre Heimat. »Ich habe mich dort das erste Mal vor den Spiegel gestellt und zu mir selbst gesagt: Ich bin lesbisch. Das zu sagen, war die größte Überwindung. Aber es hat einfach Klick gemacht. Direkt danach habe ich mich geoutet: bei meiner Familie, bei meinen Freunden, bei allen.« Das war vier Tage vor ihrem öffentlichen Coming-out auf YouTube.

Angst hatte Melina nicht, aber Zweifel. »Das ist ein kompletter Identitätswechsel. Diesen zu machen ist schon sehr schwer – für mich und für alle Menschen in meinem Leben.« Sie wusste, wenn sie die Worte einmal ausgesprochen hätte, könnte sie sie nicht wieder zurücknehmen. Sie würde einen Teil von sich preisgeben, den sie jahrelang unterdrückt und versteckt hatte. Aber sie war bereit.

Durch die neu gewonnenen Identifizierungsmöglichkeiten in Köln hatte Melina den Mut gefasst, zu sich selbst zu stehen. Sie wollte allen zeigen, wer sie wirklich ist. »Ich habe alle total schnell abgeklappert, damit ich mein Coming-out-Video für YouTube machen kann. Ich war so überzeugt von diesen Gefühlen. Ich dachte mir: Wenn du es jetzt nicht machst, dann wirst du es nie tun.« Zuerst öffnete sie sich gegenüber ihrer besten Freundin aus ihrer Heimatstadt. Das Gespräch war recht kurz und verlief in etwa so:

Melina: »Ich bin lesbisch«.

Melinas Freundin: »Wirklich? Cool! Ich freue mich, dass du mir das erzählst.«

Das war’s.

Die zweite Person war Dagi Bee, eine gute Freundin und ebenfalls YouTuberin. »Sie meinte: ›Oh Gott, wie süß. Ich finde das voll schön.‹« Melina bekam durchweg positives Feedback, nach jedem Coming-out fiel es ihr leichter, das nächste Gespräch anzugehen. »Es gab keine Person in meinem Leben, die mich als lesbische Frau nicht supportet hat.« Nach den Freunden folgten ihre Eltern. »Ich weiß noch, dass meine Mutter in ihrem Schlafzimmer war. Es war mitten am Tag. Ich bin da rein, habe mich auf die Bettkante gesetzt und gesagt: ›Mama, ich glaube, ich weiß, wieso das mit Jungs nicht klappt.‹ Sie hatte sich immer gewundert, wieso meine Beziehungen nie hielten. In dem Moment konnte ich nicht sagen, ›Ich bin lesbisch‹, also habe ich gesagt: ›Ich glaube, ich stehe auf Frauen‹.«

Melina brach in Tränen aus. Schock, Angst vor der Reaktion ihrer Mutter und Erleichterung vermischten sich in diesem einen Moment. »Meine Mama hat mich in den Arm genommen und mich gefragt, wieso ich weine. Es sei doch ganz normal, lesbisch zu sein. No big deal.« Damit war das Coming-out vor einem Elternteil geschafft. Wie Melinas Mutter gesagt hatte: Es war keine große Sache, alles lief gut. Melinas Vater war an diesem Tag auf Reisen. Sie musste ihn anrufen. »Er hat sehr süß reagiert. Als ich ihm sagte, dass ich auf Frauen stehe, meinte er erst einmal: ›Gott sei Dank!‹ Mein Vater wollte mich immer vor bösen Jungs beschützen. Dann meinte er noch, wenn ich Unterstützung bräuchte, wenn ich reden möchte, dass er da ist.«

Melina begriff, dass ihre Angst ein Scheinriese war: Sie war lange Zeit vor der Angst, sich zu outen, weggelaufen, die dadurch nur noch größer geworden war. Jetzt platzte bei ihr endlich der Knoten. »Ich wollte mich vor niemandem mehr verstecken. Nicht vor meinen Freunden, meiner Familie und schon gar nicht vor meiner Community.« Melina wollte Freiheit. »Ich dachte: Wenn ich in Köln mit einer Frau Hand in Hand durch die Stadt laufen würde, würde ich blöde Blicke bekommen. Das wollte ich nicht. Deswegen musste ich es rausschreien – damit ich privat und öffentlich ich selbst sein konnte.« Deswegen saß sie am 31. Juli 2015 in ihrem Zimmer und outete sich vor einem Millionenpublikum.

Zu diesem Zeitpunkt war Melinas öffentliches Coming-out ein Spektakel. »Damals war das ein Thema, das auf YouTube noch kaum Beachtung fand. Deswegen hat das Video so viele Klicks generiert. Das ist nun fünf Jahre her, seitdem hat sich so viel getan.« Vor allem für Melina selbst: Das Video war so wichtig für sie, damit sie ihr Leben authentisch leben konnte – als lesbische Frau. »Ich habe das so lange mit mir herumgetragen, ich wollte diese Last nicht mehr.«

Nachdem Melinas Coming-out im Privaten so reibungslos verlaufen war, geriet sie bei ihrem öffentlichen Bekenntnis etwas ins Stolpern. Unter ihrem Video entlud sich Hass ungefiltert in den Kommentaren: »Geh dich erhängen, das ist nicht normal, ich schlage dich zusammen – ganz, ganz schlimme Sachen. Gott sei Dank habe ich auch positives Feedback bekommen. Und das hat überwogen.« Außerdem lernte Melina durch diese Erfahrung, die negativen Stimmen auszuschalten. »Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mich die negativen Kommentare damals überhaupt nicht beeinflusst haben. Ich war endlich ganz ich selbst, das war mir wichtiger.« Ihre neu gefundene Selbstliebe übertrumpfte den Hass der Internet-Trolle. Melina hatte durch ihr Coming-out Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein gewonnen: Was andere sagten, war ihr von nun an egal.

»MEINE MAMA HAT MICH IN DEN ARM GENOMMEN UND MICH GEFRAGT, WIESO ICH WEINE. ES SEI DOCH GANZ NORMAL, LESBISCH ZU SEIN. NO BIG DEAL.«

Dabei wartete auf Melina nach ihrem Coming-out die eigentliche Herausforderung: Frauen kennenlernen, daten, sich verlieben. »Ich war 19 Jahre alt und hatte noch gar keine Erfahrungen! Das hat mir so viel Anxiety gegeben. Ich habe gedacht: Vielleicht bin ich doch nicht lesbisch – weil ich so viel Angst hatte. Aber klar, das war super aufregend!«

Ein Teil war besonders spannend, machte Melina aber auch besonders viel Angst: »Ich hatte auf einmal richtige romantische Gefühle für einen anderen Menschen. Ich habe etwas gefühlt! Das war der Punkt, der mich vorangetrieben hat. Endlich wusste ich, wie sich Liebe anfühlt!« Es wurde ernst. Wenn Liebe im Spiel ist und man sich einer anderen Person öffnet, wird man auch verletzlich. Mit jedem Date wuchs Melina, wurde erwachsener, stabiler und erfahrener.

Frauen lernte sie auf Partys und durch Freunde kennen, manchmal wurde sie auch von Fans und Zuschauer*innen erkannt. »Man kann schon selektieren, ob jemand ein Fan ist oder ob jemand wirklich ein Date möchte. Letzten Endes ist das auch egal, es geht immer um die Intention, wieso man jemanden treffen möchte – da verlasse ich mich ganz auf mein Bauchgefühl. Und ich bin da offen. Wenn mir eine Frau gefällt, wieso nicht – das kann auch bei einem Fan-Event passieren.«

Tatsächlich kommt es hin und wieder vor, dass Melina bei Fan-Events angebaggert wird. Eine Geschichte ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben. Bei einem Meet and Greet kam ein Mädchen zu ihr und meinte, sie wolle gar kein Foto, sondern gab Melina einfach ihre Nummer. »Da habe ich gemerkt, dass sie wirklich Interesse hat. Solche Aktionen finde ich schon beeindruckend, wenn sich jemand traut, mich so direkt anzusprechen.«

»WENN ICH HEUTE GEFRAGT WERDE, WAS MIT MÄNNERN GEHT, SAGE ICH: ›MIT MÄNNERN NICHTS, ABER MIT FRAUEN SEHR VIEL.‹«

Melina probierte auch Dating-Plattformen aus: »Ich habe eine Zeit lang Tinder benutzt. Mittlerweile lernt man aber – und das höre ich auch aus meinem Freundeskreis – die meisten Leute über Instagram kennen. Das ist zur Dating-Plattform geworden.« Dort sei schließlich alles vorhanden: Bilder, persönliche Infos, Interessen, gemeinsame Bekannte.

Durch ihr Coming-out, ihr öffentliches Leben als lesbische Frau und die neu gewonnenen Dating-Erfahrungen wurde ihre Sexualität eine Selbstverständlichkeit für Melina. »Wenn ich heute gefragt werde, was mit Männern geht, sage ich: ›Mit Männern nichts, aber mit Frauen sehr viel.‹ Solche Coming-outs habe ich sehr oft. Das ist aber nicht schlimm.« Im Gegenteil: Melina fühlt sich jedes Mal gestärkt, wenn sie wieder eine Gelegenheit bekommt, zu sich selbst zu stehen und authentisch zu sein.

Für ihre heutige Stärke ist zum Teil auch YouTube verantwortlich. Ihr Coming-out-Video hat sie stärker gemacht und die dadurch ausgelösten Hass-Kommentare haben ihr gezeigt, wie wichtig es auch heutzutage noch ist, öffentlich über Homosexualität und Queerness zu sprechen. »Ich finde es so wichtig, Menschen, die noch vor ihrem Coming-out stehen, Mut zu geben. Deswegen möchte ich diese Themen auch immer wieder ansprechen: LGBTQI+, Coming-out, Homosexualität. Natürlich gibt es auch Menschen, die meinen, man müsse über diese Themen nicht mehr sprechen. Ich finde aber, dass wir noch lange nicht an diesem Punkt angekommen sind. Sehr viele Leute brauchen noch Mut für ihr Coming-out, so wie ich damals.« Und genau dafür möchte Melina stehen: für Mut. »Ich möchte auch für die ganzen Vollidioten, die immer noch meinen, Homosexualität sei nicht normal, öffentlich über dieses Thema sprechen.« Immerhin hat sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahren genau in diese Richtung entwickelt: Homosexualität wird immer sichtbarer – in TV-Sendungen, im alltäglichen Leben, in der Musik und in der Literatur. »Wir sind in Deutschland aber noch lange nicht an einem Punkt, an dem man nicht mehr darüber sprechen muss. Es gibt immer noch Homofeindlichkeit und Hass. Das muss sich ändern.«

Um Homofeindlichkeit entgegenzutreten, redet sie öffentlich über ihr Lesbischsein. »Ich muss mich immer wieder outen. Aber das ist okay, ich finde das gut. Nur so erzeugt man Sichtbarkeit.« Eine gewisse Sichtbarkeit bringt manchmal aber auch unangenehme Gefühle mit sich – vor allem wegen der Homofeindlichkeit, gegen die Melina vorgeht. Melinas Wunsch ist es, dass sich niemand darum schert, wer wen liebt, dass jeder Mensch lieben darf, ohne dass es andere kümmert oder besondere Aufmerksamkeit erregt. Oder dass ihre Sexualität sexualisiert wird. »Männer drehen sich oft nach mir und meiner Freundin um und pfeifen uns hinterher. Wir werden oft nach einem Dreier gefragt. Das passiert unendlich oft. Man wird als lesbische Frau von heterosexuellen Männern sexualisiert. Das ist nicht okay.« In solchen Situationen fühlt sich Melina in ihrer Identität nicht ernst genommen. Frauen liebende Frauen werden behandelt, als wäre ihre Sexualität ein Scherz. »Ich bekomme fast täglich Nachrichten wie: ›Würdest du mit mir schlafen, würde ich dich umdrehen.‹ Oder: ›Du hattest einfach noch nicht den richtigen Kerl.‹ Die Männer sind oft so überzeugt von sich. So funktioniert das aber nicht.« Doch nicht nur im Internet, auch im realen Leben muss sich Melina immer wieder mit solchen Fragen auseinandersetzen.

»WIR SIND IN DEUTSCHLAND ABER NOCH LANGE NICHT AN EINEM PUNKT, AN DEM MAN NICHT MEHR DARÜBER SPRECHEN MUSS. ES GIBT IMMER NOCH HOMOFEINDLICHKEIT UND HASS. DAS MUSS SICH ÄNDERN.«

Am schlimmsten ist es für sie, wenn Menschen aus ihrem nahen Umfeld sie infrage stellen: »Ich wurde schon gefragt, ob ich mir sicher sei, dass ich gay bin. Von einer Person, die mir sehr nahesteht. Das hat mich sehr sauer gemacht.« Heterosexuelle Menschen werden nie gefragt, ob sie sich sicher seien, dass sie gegengeschlechtlich orientiert sind. »Da kommt oft auch ein Spruch wie: ›Vielleicht bist du nur sexuell verwirrt?‹ Ich denke mir dann: Bist du dir sicher, dass du straight bist? Oder ist das auch nur eine Verwirrung?« Oft stammen solche Fragen von älteren Menschen, die mit queeren Themen nicht so vertraut sind wie jüngere Generationen. »Dieselbe Person hat auch gesagt, dass es Bisexuelle nicht gebe. Dass das nur eine Verwirrung sei. Drei Tage lang war ich so sauer. Die Person denkt das heute noch.« Melina hat mittlerweile erkannt, dass man manche Menschen eben nicht ändern kann, weil deren Denken zu festgefahren ist. Aber sie weiß auch, dass es sehr wohl möglich ist, Homosexualität weiter zu normalisieren. Dafür braucht es noch mehr Menschen, die wie sie selbst öffentlich über das Thema sprechen.

Menschen, die ihr Coming-out noch vor sich haben, rät Melina vor allem: »Hört auf euer Gefühl!« Sie weiß, dass das Bauchgefühl den Zeitpunkt, den Ort, die Menschen und alles andere vorgibt. »Es gibt Menschen wie mich, die es rausschreien – das heißt nicht, dass das der richtige Weg ist.« Stattdessen sollte man es vielleicht lieber so angehen: »Oute dich vor den Leuten, vor denen du dich outen willst. Mach alles so, wie dein Bauchgefühl es sagt. Das wird dir den Weg zeigen, glaub mir. Be proud! Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest.« Diese Lektion hat Melina selbst gelernt: Viel zu lange hat sie ihre wahren Gefühle unterdrückt und war deswegen viel zu lange unglücklich. Ihr Coming-out war der erlösende Befreiungsschlag. Heute ist Melina zufrieden und glücklich mit sich selbst. Und das wünscht sie sich auch für andere. »Der beste Fall wäre, wenn es irgendwann keine Coming-outs mehr geben würde. Wenn jeder so akzeptiert würde, wie er oder sie ist. Aber das kann ich nicht voraussetzen.«

Stattdessen hofft sie, dass Homosexualität immer mehr normalisiert wird, weiter in die Mitte der Gesellschaft vorrückt und man irgendwann nur noch beim Daten klarmachen muss: Ich möchte eine Frau, einen Mann oder eine Person dazwischen oder außerhalb dieser Grenzen treffen. Dafür braucht es weiterhin starke Vorbilder, die sich öffnen, sich zeigen und über LGBTQI*-Themen sprechen. Vor allem wünscht sich Melina aber Unterstützung von einer Gruppe: »Auch heterosexuelle Menschen müssen über queere Themen sprechen und uns unterstützen. Bis wir so weit sind, haben wir noch sehr viel zu leisten.«

DOMINIK DJIALEU

»Ich wusste sehr früh, dass ich auf Jungs stehe. Ich habe das nie als Problem empfunden, sondern eher als spannend, richtig und natürlich. Aber mein Umfeld hat das anders zurückgespiegelt.«

 

Dominik Djialeu sitzt auf einer Couch im Café Dujardin im Berliner Stadtteil Wedding, die Hipster auf Ebay Kleinanzeigen vermutlich als »vintage« bezeichnen würden. Hinter ihm eine kupferfarbene Stehlampe von Ikea, vor ihm ein Ingwertee und eine Kürbissuppe. Er trägt ein buntes Sweatshirt in Batikdesign. Der Rest seines Outfits ist in Schwarz gehalten.

»Hier mag ich es lieber als in Neukölln. Der Wedding ist authentischer. Ich mag die Ruhe und das Unverbrauchte«, erzählt er. Seine Wahl, im Berliner Stadtteil Wedding zu leben, hat aber noch andere Gründe: Hier fällt der Afrodeutsche mit kamerunischen Wurzeln aufgrund seiner Hautfarbe einfach weniger auf als in Charlottenburg oder Schöneberg. »Ich habe mich bewusst für einen migrantischen Stadtteil entschieden. Unter nicht weißen Menschen fühle ich mich wesentlich wohler.«

Von klein auf machte er im Alltag immer wieder Erfahrungen mit Rassismus, erlebte direkte Angriffe und unterschwellige Feindlichkeit. »Ich merke das doch recht schnell, wenn ich anders behandelt werde. Auf Ämtern zum Beispiel – das ist der Klassiker. Die Tonart der Beamt*innen verändert sich auf einmal, wenn sie merken, dass ich fließend Deutsch spreche.« Letztens ist es wieder zu so einem Vorfall gekommen: Auf dem Amt setzte er sich aus Versehen an den falschen Tisch. »Die Beamtin fragte mich, was ich dort wolle, und hat mich total angepampt. Ich habe ihr freundlich auf Hochdeutsch erklärt, dass ich die Art, wie sie mit mir spricht, unverschämt finde. Da hat sich ihr Ton um 180 Grad gewendet.«

Dominik wird oft unterschätzt und stigmatisiert – und das nur wegen seiner Hautfarbe. »Ich habe gelernt, das nicht in mich reinzufressen. Das hängt natürlich auch von dem jeweiligen Tag ab und wie ich mich fühle. Aber Grenzen sind sehr wichtig, damit befreie ich mich ein Stück weit und habe ein besseres Gefühl.« Dominik behält damit außerdem ein Stück weit die Kontrolle.

In seiner Kindheit fehlte ihm hingegen ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit. »Ich habe in meinem Leben nie lange an einem Ort gelebt. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater kommt aus Kamerun. Ich bin in Kassel geboren, meine Eltern haben sich aber getrennt, als ich vier Jahre alt war. Ich bin dann mit meiner Mutter nach Göttingen gezogen.« Seine Mutter lernte einen neuen Mann kennen, die Patchworkfamilie zog aufs Land, 20 Kilometer von Göttingen entfernt. »Die Situation zu Hause war nicht die beste, ich habe mich nicht mit meinem Stiefvater verstanden.« Dominik einigte sich mit seiner Mutter darauf, im niedersächsischen Dassel auf ein Internat zu gehen, um der Situation zu Hause zu entkommen.

»ICH HATTE PHASEN, IN DENEN MICH MEINE IDENTITÄTSFINDUNG ÜBERWÄLTIGTE. ICH FING AN ZU REBELLIEREN, MACHTE MEINE EIGENEN REGELN, BRACH DIE REGELN DER ANDEREN, WOLLTE ANDERS SEIN.«

Im Internat lebte er ein paar Jahre, bis er im Teenageralter von der Schule flog. »Ich hatte Phasen, in denen mich meine Identitätsfindung überwältigte. Ich fing an zu rebellieren, machte meine eigenen Regeln, brach die Regeln der anderen, wollte anders sein, nahm Drogen – die man im Internat übrigens sehr leicht bekam.« Auf der einen Seite wollte er den Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, nicht entsprechen. Auf der anderen Seite befand er sich im Clinch mit sich selbst. »Ich wusste sehr früh, dass ich auf Jungs stehe. Ich habe das nie als Problem empfunden, sondern eher als spannend, richtig und natürlich. Aber mein Umfeld hat das anders zurückgespiegelt.« Er erlebte Homofeindlichkeit und hörte, wie Klassenkamerad*innen über Schwule redeten. »Schwuchtel« war ein Schimpfwort und Schwule galten in der Gesellschaft als abnormal.

Und dann war da noch seine Hautfarbe, die für ihn oft das viel größere Problem darstellte, besonders in seiner Jugend auf dem Land sowie in der Akademikerstadt Göttingen. »Ich fühlte mich als Schwarzer Junge nicht zugehörig. Nie. Die anderen in meinem Umfeld waren alle hetero und weiß. Mir haben Vorbilder und Identifikationsfiguren in meiner Kindheit gefehlt«, fasst Dominik seine Jugend in den Neunzigerjahren zusammen. Damals konnte er das Gefühl der Leere nicht benennen, heute kann er die Problematik reflektiert einordnen.

Das erste Mal fand er so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl, als er das Musikvideo zu Jay-Zs »Hard Knock Life« sah. »Das war Ende der Neunziger. Dieser kleine Junge läuft durch New York. Ich habe ihn gesehen und dachte mir: Der Junge ist wie ich, cool. Ich habe mich ihm auf einmal sehr nah gefühlt.« Zur selben Zeit fand er Zuflucht in der Musik, vor allem im R&B und im Hip-Hop. Er entdeckte Künstler*innen, mit denen er sich identifizieren konnte. »Das waren natürlich keine queeren Menschen, dafür waren es aber Schwarze Menschen, die gefeiert wurden. Das waren somit sehr positive Beispiele für mich, die mir in meiner Heimat fehlten.«

Mit elf wurde Dominik klar, dass er schwul ist. Trotzdem versuchte er, bei Mädchen zu landen, und wollte eine Freundin haben. »Meine Freunde waren alle hetero. Ich wollte auch so sein wie sie und dazugehören.« Doch er spielte auch Doktorspiele mit den anderen Jungs im Internat. »Dafür haben wir uns am nächsten Tag geschämt und konnten uns nicht in die Augen sehen.« Während er mit Mädchen zusammen war und mit Jungs im Dunkeln herumspielte, wurde für ihn klar, was er bevorzugte. »Ich merkte, dass ich mich eher von männlichen Körpern angezogen fühle. Ich habe mir damals auch lieber die nackten Jungs als die nackten Mädels in der Bravo angesehen.«