Computerspiel- und Internetsucht - Klaus Wölfling - E-Book

Computerspiel- und Internetsucht E-Book

Klaus Wölfling

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Beschreibung

Following its inclusion in ICD-11, the addictive use of computer games has now found its way into health care as a recognized new disorder. Other forms of addictive Internet behaviour can now also be coded as diagnoses, at least indirectly. The Outpatient Department for Gambling Addiction in Mainz has a long tradition in the research and treatment of behavioural addictions and has pioneered the development of appropriate interventions. This manual provides scientifically well-based and practical information on diagnosis and treatment and describes a validated form of behavioural therapy treatment in detail. The work is rounded off with case studies and downloadable materials for treatment.

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Inhalt

Cover

Titelei

Geleitwort zur Buchreihe

Übersicht der Zusatzmaterialien

A Theoretische Grundlagen des Therapieprogramms

1 Diagnostik und klinisches Erscheinungsbild

1.1 Formen von Internetnutzungsstörungen

1.2 Diagnostische Kriterien der Störung durch Computerspielen und anderer Internetnutzungsstörungen

1.3 Epidemiologie und Komorbidität

2 Zur Entstehung von Internetnutzungsstörungen

2.1 Lernpsychologische und neurobiologische Erklärungsansätze

2.2 Persönlichkeits-‍, umwelt- und suchtmittelbezogene Risikofaktoren

2.3 Das Integrative Prozessmodell der Internetsucht (InPrIS)

2.4 Kasuistik eines Patienten der Mainzer Ambulanz für Spielsucht

3 Strategisch-therapeutisches Vorgehen bei Computerspiel- und Internetsucht

3.1 Wirksamkeitsüberprüfung des Therapiekonzepts in einer ersten randomisierten klinischen Studie

3.2 Diagnostik

3.3 Motivation und Zielvereinbarung

3.4 Psychoedukation

3.5 Interventionen zur Veränderung des Erlebens und Verhaltens

3.6 Transfer und Stabilisierung

3.7 Art und Umfang der Therapie

3.8 Weitere Problembereiche bei Internetnutzungsstörungen

3.9 Besonderheiten bei der Behandlung von Computerspiel- und Internetsucht

B Praktische Umsetzung des Therapieprogramms

4 Diagnostik

4.1 Diagnostisches Interview und Testverfahren

4.2 Suchtanamnese

4.3 Differenzialdiagnostik und psychische Komorbidität

4.4 Physische Komorbidität

5 Übersicht über das Therapieprogramm

5.1 Einzeltherapeutische Sitzungen

6 Verlauf der Gruppentherapiesitzungen

6.1 Sitzung 1: Kennenlernen, Therapievertrag und Therapieziele

6.2 Sitzung 2: Auslösende und aufrechterhaltende Faktoren des Suchtverhaltens

6.3 Sitzung 3: Ressourcen und Alternativstrategien

6.4 Sitzung 4: Psychoedukation

6.5 Sitzung 5: Entwicklung eines individuellen Entstehungsmodells

6.6 Sitzung 6: Entwicklung eines individuellen SORCK-Schemas I

6.7 Sitzung 7: Entwicklung eines individuellen SORCK-Schemas II

6.8 Sitzung 8: Exposition mit Reaktionsverhinderung

6.9 Sitzung 9: Anerkennung und Selbstwert

6.10 Sitzung 10: Entwicklung und Medienaffinität

6.11 Sitzung 11: Entwicklung und Medienaffinität

6.12 Sitzung 12: Rückfallprophylaxe

6.13 Sitzung 13 und 14: Vertiefende Bearbeitung

6.14 Sitzung 15: Abschlusssitzung

7 Fallbeispiele

7.1 Beispiel eines Patienten mit einer Störung durch Computerspielen

7.2 Beispiel eines Patienten mit einer Internetnutzungsstörung

7.3 Beispiel einer Patientin mit Social Media Abhängigkeit und komplexer Komorbidität

8 Ausblick

C Anhang

Zusatzmaterial zum Download

Literatur

Stichwortverzeichnis

Störungsspezifische Psychotherapie

Herausgegeben vonAnil Batra und Alexandra Philipsen

Weitergeführt vonAnil Batra und Fritz Hohagen

Begründet vonAnil Batra und Gerhard Buchkremer

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/stoerungsspezifische-psychotherapie

Die Autoren

Dr. Klaus Wölfling ist psychologischer Leiter, Ambulanz für Spielsucht Mainz.

Prof. Dr. Manfred E. Beutel ist Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin Mainz und widmet sich der Behandlung von Verhaltenssüchten.

Isabel Bengesser ist Psychotherapeutin der Salus Klinik Friedrichsdorf und widmet sich der Behandlung von Verhaltenssüchten.

Dr. Kai W. Müller ist verantwortlich für Forschung und Diagnostik bei Verhaltenssüchten, Ambulanz für Spielsucht Mainz.

Klaus WölflingManfred E. BeutelIsabel BengesserKai W. Müller

Computerspiel- und Internetsucht

Ein kognitiv-behaviorales Behandlungsmanual

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-037162-0

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-037163-7epub: ISBN 978-3-17-037164-4

Geleitwort zur Buchreihe

Wer in die Vergangenheit blickt, stellt fest: Psychotherapie ist immer im Wandel.

Nach einer Phase der methodenspezifischen Diversifizierung spielen in der heutigen ambulanten und stationären Versorgung von Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen störungsspezifische Behandlungsansätze eine zunehmende Rolle. In vielen Fällen sind diese verhaltenstherapeutisch geprägt und multimodal aufgebaut. Dabei werden nicht nur schulenübergreifend wirksame Behandlungskomponenten, sondern auch Erkenntnisse zu Basisvariablen der psychotherapeutischen Arbeit verwendet und integriert.

Die Reihe »Störungsspezifische Psychotherapie« hat die störungsspezifische Entwicklung bereits im Jahr 2004 aufgegriffen und bietet mittlerweile für über 20 Störungsbilder evidenzbasierte Manuale an. Klassische Themen wie die Therapie von Angst- oder Essstörungen, Suchterkrankungen oder Psychosen wurden um störungsspezifische Anleitungen für die Behandlung von Symptomen, Syndromen oder speziellen Fragestellungen (Tourettesyndrom, Adipositasbehandlung, Insomnie, stationäre Behandlungsbesonderheiten u.v.m.) ergänzt und durch einzelne Manuale zu Techniken und verwandten Methoden in der Psychotherapie (Achtsamkeitstraining, Hypnotherapie, Interpersonelle Therapie) erweitert.

Die Reihe »Störungsspezifische Psychotherapie« wurde 2004 begründet von Anil Batra und Gerhard Buchkremer, in der Folge weitergeführt von Anil Batra und Fritz Hohagen und mittlerweile herausgeben von Anil Batra und Alexandra Philippsen. Die Buchreihe wird fortlaufend erweitert und aktualisiert, wobei neue Techniken, alternative Vorgehensweisen und die aktuelle Studienlage berücksichtigt werden. Damit sollen die Bände psychotherapeutisch arbeitenden Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychologen in der praktischen Arbeit neben einer Einführung in die besondere Problematik verschiedener Erkrankungen auch konkrete Anleitungen, online abrufbare praxisnahe Tools sowie Techniken und Vorgehensweisen auch in therapeutisch herausfordernden Situationen zur Verfügung stellen.

Wir hoffen, Ihnen mit dieser Reihe hilfreiche Anregungen für die klinische Praxis geben zu können.

Anil Batra, TübingenAlexandra Philipsen, Bonn

Übersicht der Zusatzmaterialien

Arbeitsblätter

Arbeitsblatt 6.1:Verhaltensprotokoll

Arbeitsblatt 6.2:Hilfreiche Strategien im Umgang mit Verlangen und persönliche Aktivitäten

Arbeitsblatt 6.3:Das individuelle TRIAS-Modell

Arbeitsblatt 6.4:Mikroanalyse (individuelles SORCK-Modell)

Arbeitsblatt 6.5:Craving Skills

Arbeitsblatt 6.6:Notfallkärtchen

Arbeitsblatt 6.7:Entwicklung und Medienaffinität

Arbeitsblatt 6.8:Checkliste für schwierige Situationen und Frühwarnhinweise

Arbeitsblatt 6.9:Notfallplan

Weitere Materialien

InPrIS – Integratives Prozessmodell der InternetsuchtTRIAS-ModellTeufelskreismodellEntscheidungsbilanz – Suchtverhalten oder Abstinenz?Wochenprotokoll (Beispiel)Therapievertrag und ZieleSORCK-Modell (Beispiel)Kennzeichen sozial kompetenten VerhaltensAuslöseschema des SuchtverhaltensNotfallkärtchen (Beispiel)Notfallplan (Beispiel)Entwicklung und Medienaffinität (Beispiel)ProblemlöseschemaStrukturiertes klinisches Interview zu Internetnutzungsstörungen (AICA-SKI:INS)Strukturiertes klinisches Interview zu Internetnutzungsstörungen (AICA-SKI:INS) – HandbuchExplorationsleitfaden zum Strukturierten klinischen Interview Internetnutzungsstörungen (AICA-SKI:INS)

Den Weblink, unter dem die Zusatzmaterialien zum Download verfügbar sind, finden Sie unter ▶ Kap. Zusatzmaterial zum Download

ATheoretische Grundlagen des Therapieprogramms

Mit beeindruckender Geschwindigkeit ist das Internet fester Bestandteil in unser aller Leben geworden. War der Besitz eines eigenen Internetzugangs vor zwanzig Jahren noch eher die Ausnahme, so stellt sich der heutige Stand der Dinge längst umgekehrt dar. Nach Schätzungen betrug im Jahre 2008 die Zahl der aktiven Internetnutzer ca. 1.319 Millionen weltweit (EIAA Mediascope News and Population Stats), heute sind allein in Deutschland 66,6 Millionen Menschen im Internet aktiv (STATISTA 2021). Längst sind es auch nicht mehr nur jüngere Altersgruppen, die von den zahlreichen Möglichkeiten des Internet Gebrauch machen; das Internet ist mittlerweile in allen Altersklassen angekommen, auch wenn sich einzelne Nutzungsgewohnheiten generationenübergreifend teils anders darstellen.

Gerade unter den sog. »Digital Natives«, also jüngeren Menschen, die mit dem Internet als eine selbstverständliche Ressource aufgewachsen sind, ist es zu einer deutlichen Veränderung der Kommunikationsgewohnheiten und der Freizeitgestaltung gekommen (Feierabend et al. 2019). Es darf vermutet werden, dass auch das Freundschaftskonzept von jungen Menschen nicht mehr auf Face-to-Face-Kontakte beschränkt ist, sondern innerhalb von sozialen Netzwerken eine Vielzahl von Kontakten, potenziellen Freunden, erreicht wird und virtuelle Kontakte etabliert werden, auch ohne diesen Menschen jemals in der offline Welt begegnet zu sein. Darüber, inwieweit diese virtuellen Sozialkontakte ähnliche Qualitätsmerkmale aufweisen wie realweltliche Freundschaften, kann nach wie vor lediglich spekuliert werden, konkrete empirische Untersuchungen existieren kaum.

Neben kommunikationsbasierten Plattformen bietet das Internet natürlich etliche weitere Möglichkeiten. Ein wesentlicher Bereich betrifft das Thema Unterhaltung, beispielsweise in Form von internetbasierten Computerspielen. Wurden bis in die 1990er Jahre diese zumeist noch über Spielkonsolen oder als Single-Player-Games am PC konsumiert, eröffnet das Internet Spielenden die Gelegenheit, nicht länger allein gegen vom Computer generierte Gegner anzutreten, sondern über Server mit tausenden Gleichgesinnten in virtuellen Umwelten zu interagieren, zu kooperieren und zu wetteifern. Gegenwärtig geben knapp zwei Drittel der deutschen Jugendlichen an, täglich oder doch zumindest mehrmals pro Woche Computerspiele zu nutzen (Feierabend et al. 2020), was demonstriert, dass das Internet nicht nur den sozial-kommunikativen Bereich beeinflusst, sondern auch unsere Freizeitkultur entscheidend verändert (z. B. die frühen, jedoch nach wir vor aktuellen Überlegungen hierzu in Bergmann und Hüther 2006).

Es ist sicherlich unstrittig, dass das Internet eine ganze Menge von Vorteilen einbringt, angefangen bei Erleichterungen in der täglichen Lebensführung, etwa dadurch, dass der Zugang zu Informationen erheblich vereinfacht wird oder die Möglichkeit der orts- und zeitungebundenen Onlinekommunikation, die durchaus eine Vergrößerung des unmittelbar verfügbaren Sozialkontaktes mit allen verbundenen Vorteilen bedingen kann (Amichai-Hamburger und McKenna 2006). Auch die Nutzung von Computerspielen kann mit positiven Effekten einhergehen (z. B. Trepte et al. 2012). Sie kann auch überhaupt keine nennenswerten Auswirkungen zeigen. Es können aber auch deutlich nachteilige Folgen auftreten – und diese rücken gerade in der klinischen Psychologie seit Jahren immer stärker in den Blickpunkt. Bereits früh fanden sich Hinweise, dass eine intensive Internetnutzung zu einer Abnahme der intrafamiliären Kommunikation und einer Verkleinerung des sozialen Netzes führen kann und hiernach mit erhöhten Einsamkeitsgefühlen verbunden ist (Kraut et al. 2000). In einer Pionieruntersuchung von Kraut et al. (2002), welche unmittelbar nach der erstmaligen Verfügbarmachung des Internets durchgeführt wurde, führte gerade bei Menschen mit hoher Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals Introversion eine intensive Onlinekommunikation zu einer Abnahme des psychosozialen Wohlbefindens, wohingegen extrovertierte Nutzende über eine Steigerung des Wohlbefindens berichteten. Dieses sog. »The Rich get Richer Model« deutet darauf hin, dass der Interaktion zwischen personalen Merkmalen und Internetangeboten einige Bedeutung hinsichtlich zu erwartender Effekte beizumessen ist, was heutzutage auch in vielen Störungsmodellen zur Erklärung der Entstehung einer Internetsucht als Gedanke inhärent ist (z. B. im InPrIS Modell von Müller und Wölfling 2017). In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass eine einseitige Betrachtung der Auswirkung einer Nutzung unzureichend ist und der Komplexität der zugrunde liegenden Zusammenhänge keinesfalls gerecht werden kann.

Was die klinische Relevanz der weiter zunehmenden Digitalisierung anbetrifft, so zeichnet sich nun schon seit vielen Jahren ein besorgniserregender Trend ab. Nicht nur im deutschen Versorgungssystem tauchen immer mehr Jugendliche und Erwachsene auf, die über eine ausufernde, suchtartige Nutzung von Computerspielen, zunehmend aber auch von anderen Internetanwendungen, wie etwa Online-Pornografie und sozialen Netzwerken klagen (Wessel et al. 2009; Beutel et al. 2011a; Müller et al. 2014b; Thorens et al. 2014). Internationale Prävalenzschätzungen weisen aus, dass zudem von einer hohen Dunkelziffer in der Allgemeinbevölkerung auszugehen ist. Viele Betroffene bzw. Symptomträger kommen aus verschiedenen Gründen also gar nicht im Hilfesystem an, obgleich ihr Nutzungsverhalten längst psychosoziale Probleme bedingt und sowohl mit einer hohen Funktionsbeeinträchtigung als auch psychopathologischen Symptomen einhergeht (z. B. Rumpf et al. 2013; Cheng und Li 2014; Müller et al. 2017b). Ergänzend zeigen Studien an klinischen Stichproben, dass unter Patientinnen und Patienten, die sich wegen anderer psychischer Störungen in Behandlung befinden, die Rate komorbider Internetnutzungsstörungen besonders hoch ausfällt (z. B. Müller et al. 2012; Floros et al. 2014; Kuss und Lopez-Fernandez 2014; Scherer et al. 2021). Zunehmend beschäftigt sich auch die Forschung mit diesem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln. War die Forschungslage noch vor etwa zehn Jahren eher spärlich, so existieren mittlerweile solide Befunde zur Epidemiologie, Diagnostik, klinischen Merkmalen, Risikofaktoren und neurowissenschaftlichen Charakteristiken.

Das vorliegende Behandlungsmanual beschreibt sowohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch das in der Grüsser-Sinopoli Ambulanz für Spielsucht entwickelte Behandlungskonzept bei Internetnutzungsstörungen. Nach Vorstellung der theoretischen Grundlagen der Erkrankung wie

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Störungsmodell

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Epidemiologie

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Komorbidität

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Methoden der störungsspezifischen Diagnostik

werden eingehend störungsspezifische therapeutische Interventionen praxisnah und anwendungsbezogen beschrieben. Die einzelnen Interventionen sind als Behandlungsmodule konzipiert, welche je nach Bedarf und Problemlage der Patientinnen und Patienten individuell kombinierbar und anwendbar sind. Sie umfassen

·

psychoedukative Elemente

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konkret veränderungsorientierte Behandlungsstrategien auf kognitiv-behavioraler Basis wie z.  B.

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das Führen von Wochenprotokollen

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Erstellen von Mikroanalysen des Problemverhaltens

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Aufbau von Emotions- und Problembewältigungsstrategien

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Etablierung alternativer Freizeitaktivitäten

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Übungen zum psychischen Wohlbefinden

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Stärkung der Kompetenzerwartung und insbes. sozialer Kompetenzen

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Expositionstrainings

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Rückfallprophylaxe

Die vorgestellten therapeutischen Interventionen wurden in der Mainzer Ambulanz für Spielsucht im ambulanten einzel- und gruppentherapeutischen Setting erprobt und mittels einer multizentrischen klinischen Studie erfolgreich evaluiert (Wölfling et al. 2019). Sie sind jedoch nicht auf den o. g. Rahmen beschränkt, sondern können auch stationär oder in einer rein einzeltherapeutisch ausgerichteten Behandlung durchgeführt werden. Illustriert ist das Manual mit zahlreichen individuellen Fallbeispielen sowie Materialvorlagen für die Therapie.

Auf den folgenden Seiten wird nicht durchweg von Patientinnen und Patienten oder Klientinnen und Klienten gesprochen, sondern auch das generische Maskulinum genutzt. In diesem Fall sind stets sowohl weibliche als auch männliche und diverse Personen angesprochen. Ganz grundsätzlich ist allerdings festzuhalten, dass im klinischen Versorgungssystem nach wie vor Männer deutlich häufiger wegen Internetnutzungsstörungen Hilfe suchen als Frauen und dies, obwohl die Prävalenzraten in der Allgemeinbevölkerung zwischen beiden Geschlechtern annähernd gleich hoch ausfallen. Somit basiert ein großer Teil der verfügbaren klinischen Erfahrung auf der Diagnostik und Behandlung männlicher Patienten.

1 Diagnostik und klinisches Erscheinungsbild

1.1 Formen von Internetnutzungsstörungen

Der im Jahre 2021 von einer Task Force geprägte Begriff der Internetnutzungsstörungen, welcher synonym zum Begriff Internetsucht oder internetbezogene Störung verwendet wird, beschreibt kein einheitlich definiertes Phänomen, sondern umfasst verschiedene Erscheinungsformen der süchtigen Nutzung des Internets (Rumpf et al. 2016; Rumpf et al. 2021). Er stellt damit eine eher unscharfe Sammelbezeichnung dar und bezieht sich auf die suchtartige Nutzung von z. B. (Online-)‌Computerspielen, Onlinepornografie, sozialen Medien bzw. sozialen Netzwerken, Online-Einkaufsportalen etc.

Das Attraktions- und Suchtpotenzial scheint die spezifische Internetaktivität aus verschiedenen strukturellen sowie angebotsspezifischen Faktoren zu erreichen, jedoch ist die Forschung zu diesem wichtigen Thema unglücklicherweise noch nicht zu eindeutigen Antworten gelangt. Allein die ständige Verfügbarkeit und Ortsungebundenheit bei gleichzeitig geringem Nutzungsaufwand trägt zu einer zeitlich ausgedehnten Nutzung des Internets bei, was eine Grundvoraussetzung für einen späteren exzessiven oder gar der Entwicklung einer suchtartigen Nutzung darstellt. Darüber hinaus bietet das Internet eine unendliche Fülle an Informationen, Kontakt- und Spielmöglichkeiten, welche ein Versinken und sich Verlieren in die virtuelle Welt begünstigen. Es gibt stets noch etwas zu entdecken, noch etwas zu recherchieren, noch eine Aufgabe zu bewältigen, noch ein Video zu sehen etc. Die hohe Stimulationsfrequenz, die Angebotsvielfalt und -unendlichkeit bewirkt somit ein verdichtetes Zeiterleben bei gleichzeitig erweitertem Raumerleben. Die Zeit verfliegt, kaum dass man es mitbekommt. Per Internet kann man sich jederzeit weltweit mit anderen Menschen vernetzen, kommunizieren und in Spielen gegen- oder miteinander antreten. Die Interaktivität als neue Medienqualität hat damit völlig neue Unterhaltungsangebote und Kommunikationsmöglichkeiten entstehen lassen und vermittelt ein intensiv erlebtes Gefühl der Anwesenheit, Kontrolle und Einflussnahme im System. Dies alles geschieht bei gleichzeitig physischer Isolation und Anonymität der Nutzenden, sozusagen aus einem »sicheren sozialen Abstand« heraus. Nutzende müssen sich nicht zu erkennen geben oder können sich geschönt und idealisiert präsentieren. Kontakte können schnell eingegangen, aber bei Bedarf ebenso schnell wieder abgebrochen werden.

Die zeitlich versetzt verlaufende Kommunikation bietet einen verminderten Handlungsdruck. Es besteht damit im Gegensatz zum Face-to-Face-Kontakt eine maximale Kontrolle über die soziale Interaktion. Dies

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gibt Sicherheit

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mindert Ängste

·

lässt Hemmungen sinken

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erleichtert das Ausprobieren neuer Rollen-‍, Verhaltens- und Kommunikationsmuster, ohne dass (weitreichende) Konsequenzen erwartet werden müssten

Gleichzeitig berichten viele (gefährdete) Nutzende über eine tief erlebte Intimität und Bindung mit virtuellen Interaktionspartnern: Aus dem sicheren Schutz der Anonymität heraus ergeben sich eine leichtere oder geschönte Selbstöffnung sowie ein weiter Raum an Projektionen und Idealisierungen die virtuellen Partner betreffend. Dieser sog. Online Social Perception Bias (Müller et al. 2013) stellt nur eine von zahlreichen kognitiven Verzerrungen dar, die in der störungsspezifischen Psychotherapie anzugehen sind.

Bei Onlinerollenspielen bilden sich zudem häufig über längere Zeit bestehende, stabile soziale Gefüge, welche sich über gemeinsam bewältigte Aufgaben und Erlebnisse stark verfestigen können und zu einem Gefühl enger Verbundenheit beitragen. Das Internet bietet schnelle, einfach zu erreichende Erfolgserlebnisse, Flow-Erleben und Gratifikationen wie soziale Anerkennung und Bindung (z. B. Brand et al. 2016). Dies alles führt zu einer (intermittierenden) positiven Verstärkung des Verhaltens. Nutzende werden angeregt, sich diese positiven Gefühle wieder und wieder zu holen, verlieren dabei Zug um Zug den Blick dafür, dass ebensolche Gefühle auch in anderen Kontexten vorhanden sind, wenn auch vielleicht mit mehr Aufwand und bisweilen höherem Risiko.

Bei vorausgegangenen unbefriedigenden Lebensbedingungen kann dies darüber hinaus das Bedürfnis hervorrufen, der realen Welt mit all ihren Sorgen und Schwierigkeiten durch das Eintauchen in die virtuelle Welt zu entfliehen. Kommen ungünstige Persönlichkeitsmerkmale sowie mangelnde Bewältigungsressourcen hinzu, kann dies zu einem ausgeprägten Eskapismus führen, bei dem die aktuellen, realen Probleme völlig ausgeblendet und aufgeschoben werden und Teufelskreise einsetzen, die die Betroffenen immer mehr in den Sog der virtuellen Welt ziehen.

1.1.1 Störung durch Computerspielen (Gaming Disorder)

Im Jahre 2020 ist Computerspielen längst eine breite, weitgehend alters- und schichtunabhängige Freizeitbeschäftigung geworden. Natürlich weisen Computerspiele, egal ob online oder offline, gerade für Jugendliche ein besonders hohes Attraktionspotenzial auf. Vor dem Hintergrund dieser ausgeprägten Beliebtheit ist wenig verwunderlich, dass mittlerweile immer mehr Spielgenres und -modelle entstehen. Wie bereits weiter oben angeführt, können Computerspiele ohne Zweifel positive Effekte haben; hierzu gibt es Studienergebnisse genug. Da sich dieses Buch jedoch mit dem klinischen Phänomen der suchtartigen Nutzung auseinandersetzt, sei es den Autoren nachgesehen, wenn wir uns vorwiegend auf die negativen Effekte berufen.

Im Zusammenhang mit einem Suchtverhalten weisen, wenn auch leider bislang noch zu wenige, Studienergebnisse darauf hin, dass es offensichtlich bestimmte Spielmerkmale sind, die ein erhöhtes Bindungspotenzial erzeugen können und dass eben jene Merkmale in manchen Spielen stärker, in anderen wiederum weniger prominent ausgeprägt sind. So sind es nach wie vor insbesondere Onlinerollenspiele bzw. Massive Multiplayer Online Role-Playing Games (Massen-Mehrspieler-Onlinerollenspiel, MMORPGs) oder auch Multiplayer Online Battle Arena (Mehrspieler Kampfarenen Spiele; MOBA), die aufgrund ihrer spielimmanenten Faktoren deutlich häufiger mit Kernsymptomen einer Suchterkrankung, wie etwa Kontrollverlust, gedankliche Eingenommenheit und Toleranzentwicklung einhergehen, als bspw. Simulations- oder Sportspiele (z. B. Müller et al. 2014a; Stetina et al. 2011). Dieses spezielle Spielgenre, welches in dieser Form erst durch das Internet entstehen konnte, zeichnet sich dadurch aus, dass einzelne Spielende nicht länger gegen vom Computer generierte Gegner antreten, sondern sich mit anderen, realen Gegnern weltweit messen. In zumeist mystisch gestalteten und komplex angelegten Fantasiewelten besteht die Aufgabe darin, einen zuvor eigens kreierten virtuellen Spielcharakter (sog. »Avatar«), durch endlose Spielwelten zu steuern und verschiedene Herausforderungen (sog. »Quests«) zu meistern. Mit jeder bestandenen Aufgabe und jedem gelösten Rätsel erfährt der Avatar eine Stärkung der eigenen Fähigkeiten oder erhält zusätzliche Ausrüstungsgegenstände und Trophäen. Die Spiele sind häufig so angelegt, dass gerade zu Anfang die Aufgaben vergleichsweise schnell gelöst werden können. Rasch ergeben sich erste Erfolgserlebnisse. Im weiteren Spielverlauf verändert sich dieser Verstärkerplan jedoch: Die Aufgaben werden zusehends komplexer und kosten erheblich mehr Zeit. Zwar steigert sich die Stärke des Avatars im Vergleich zum Anfangsstadium, dennoch ist es ab einem gewissen Punkt nicht mehr möglich, die gestellten Herausforderungen allein zu bewältigen. Ab diesem Zeitpunkt kommen Spielende nur weiter, wenn sie sich einem größeren Verband (Gilde bzw. Clan), anschließen. In diesen Spielerverbänden agieren viele verschiedene Spielertypen mit ganz unterschiedlich befähigten Avataren. Oftmals bilden solche Gilden relativ stabile soziale Verbände, bleiben über längere Zeiträume in der annähernd gleichen Besetzung aktiv, sodass genügend Zeit zur Verfügung steht, um ein komplexes Sozialgefüge mit eigenen sozialen Normen zu entwickeln.

Psychophysiologische Untersuchungen zu MMORPGs zeigen, dass sich dieses Genre insofern von herkömmlichen Computerspielen unterscheidet, als der Erregungsfaktor (Arousal) bei den Spielenden im Vergleich zu anderen Spielgenres deutlich erhöht ist (Johnston et al. 1990). Gleichzeitig zeigen aktuelle Erhebungen, dass Patienten mit einem suchtartigen Computerspielverhalten in der Mehrzahl der Fälle MMORPGs nutzen (Beutel et al. 2011b). In einer von mittlerweile zahlreichen psychophysiologischen Untersuchung wiesen Thalemann et al. (2004) in einem EEG-Experiment nach, dass computerspielsüchtige Personen im Vergleich zu gesunden regelmäßigen Spielern bei der Wahrnehmung von computerspielbezogenen Reizen (Screenshots aus MMORPGs) eine vergleichsweise tiefe emotionale kortikale Verarbeitung zeigten. Dieses gefundene Muster legt den Schluss nahe, dass für computerspielsüchtige Personen das Spiel eine viel höhere (teilweise vorbewusste) emotionale Einfärbung erfährt und somit auch mit einer erhöhten (automatischen) Motivation einhergeht, das Spiel zu nutzen. Entsprechende Ergebnisse konnten bei alkoholabhängigen Probanden beim Anblick von alkoholischen Getränken nachgewiesen werden, sodass anzunehmen ist, dass ähnliche kortikale Verarbeitungsmuster bei Alkohol wie bei Computerspielsucht involviert sind (z. B. Wölfling et al. 2020).

Weitere Erhebungen deuten darauf hin, dass Computerspielsucht mit einem veränderten Zeiterleben einherzugehen scheint: Süchtige Spieler sind schlechter in der Lage, die Dauer ihrer Spielzeiten objektiv zu beurteilen bzw. neigen dazu, diese systematisch zu unterschätzen. Neben Onlinerollenspielen zeigen sich süchtige Entgleisungen der Nutzung insbesondere auch bei Online-Ego-Shootern sowie Strategie-Spielen.

Bei der Störung durch Computerspielen (Gaming Disorder) handelt es sich um die häufigste Form einer Internetnutzungsstörung. Hierüber ist es auch zu erklären, dass die WHO diese Form explizit als neue Abhängigkeitsdiagnose in das ICD-11 aufgenommen hat. Das folgende Fallbeispiel aus der Ambulanz für Spielsucht soll einen klinischen Eindruck zu dieser Störung vermitteln.

»Ich sitze eigentlich nur noch vor dem Rechner und spiele, oft auch buchstäblich rund um die Uhr und sogar darüber hinaus. Ich bin mittlerweile nicht nur lustlos, ich bin auch ziemlich ›lebenslos‹.« Mit diesem Eindruck stellt sich ein 26-jähriger Student der Biologie in einer auf Internetsucht spezialisierten Ambulanz vor. Der junge Mann wirkt äußerlich jünger, als man es bei seinem biologischen Lebensalter erwarten würde, er ist schlank, trägt legere Freizeitkleidung und zerschlissene Turnschuhe. Auf Fragen antwortet er prompt, jedoch fällt auf, dass seine klar und eloquent artikulierten Antworten mit eher monoton wirkender Stimme vorgebracht werden. Den Blickkontakt vermeidet er zwar nicht, jedoch wirkt er bisweilen in sich gekehrt und richtet den Blick sehr häufig auf den Boden zwischen seinen Füßen.

»Ich habe mich schon als Jugendlicher sehr für Computerspiele aller Art begeistert. Das war bestimmt schon ein Versäumnis meiner Eltern. Bei denen konnte ich eigentlich immer alles durchsetzen, auch dass ich schon mit elf oder so eine eigene Spielkonsole und bald darauf einen eigenen voll ausgestatteten Gamer-PC bekommen habe.« In der weiteren Ausführung schildert der Patient, dass er zwar schon als Jugendlicher zu Spielexzessen geneigt habe, dass er aber dennoch immer genügend Struktur erlebt habe, um nicht die Kontrolle über das Verhalten zu verlieren. Er habe immer Freunde gehabt, sei später auch Teil einer größeren Clique gewesen und habe mit großer Begeisterung in der Schulmannschaft Fußball, später auch Bogenschießen betrieben. Abgesehen von den schon damals durchweg hohen Spielzeiten von durchschnittlich etwa vier Stunden pro Tag sei die Jugend des Patienten unauffällig verlaufen. Erst im Alter von 17 Jahren, als die Computerspielzeiten zunehmend exzessiv wurden und sich der Patient aus anderen Lebensbereichen (Freundeskreis, Sport) allmählich zurückzuziehen begann, sei ein akuter Handlungsbedarf erwachsen. In der Schule sei es zusätzlich zu einem massiven Leistungsabfall gekommen, der Patient habe hohe Fehlzeiten im Unterricht aufgewiesen und hierdurch sei das Abitur akut in Gefahr gewesen, was einen massiven Konflikt mit den Eltern zur Folge gehabt habe. Nach Absprache mit der Schulleitung wurde sich darauf geeinigt, das Schuljahr zu wiederholen, um das Abitur doch noch zu absolvieren. Als Auflage wurde mit dem Patienten besprochen, sich wegen der exzessiven Computerspielnutzung in psychosoziale Beratung zu begeben. Unter dem Druck der Eltern, sowie des zuständigen Sozialarbeiters an der Schule habe der Patient eingewilligt, ein Erstgespräch zur Abklärung einer vermuteten Computerspielsucht wahrzunehmen. »Ich habs aber eigentlich nicht eingesehen. Meine Freunde haben ja auch immer alle gespielt, auf die Schule, mit Abi und so hatte ich damals einfach keine Lust. Ich bin da nur hin, um wieder meine Ruhe zu haben – das war, wenn ich mir das Heute angucke, wohl nicht so schlau.« Nach dem Erstgespräch wurde eine Empfehlung für die Teilnahme an einem ambulanten Beratungsprogramm wegen exzessiver Computerspielnutzung ausgesprochen, welches der Patient jedoch nach drei Sitzungen abgebrochen habe. Dennoch sei es ihm in der Folge unter der Mithilfe seiner Eltern gelungen, die Computerspielzeiten zumindest zu reduzieren und das Abitur zu absolvieren.

»Über die Zusage des Studienplatzes habe ich mich eigentlich gefreut und auch darauf, auszuziehen und was Eigenes zu machen, eben selbständig zu sein. Ein halbes Jahr hat das auch ganz gut geklappt – und dann kam mir das Computerspielen wieder in die Quere.« Nach Aufnahme des Erststudiums (Chemie) und dem Bezug einer eigenen Einzimmerwohnung in einer anderen Stadt, gelang es dem Patienten nicht, sich an die veränderten Lebensumstände anzupassen. Die Hochschulabläufe erschienen dem Patienten intransparent, Gefühle der Überforderung entstanden, vertiefte Kontakte zu Kommilitonen konnten nicht geknüpft werden und auch der zuvor gefasste Plan, sich passende Angebote aus dem Sportangebot der Universität herauszusuchen wurde nicht umgesetzt. »Mir war alles zu viel. Ich saß dann nach dem Uni-Tag in meiner Wohnung und wusste nichts mit mir anzufangen. Manchmal kamen mir auch einfach die Tränen, wenn ich auf meinem Bett saß – keine Ahnung warum, das war wohl alles zu viel Umbruch für mich oder so. [...] Am Anfang hatte ich meine Accounts für Online-Spiele ja alle deaktiviert, aber die lassen sich ja immer wieder herstellen und mein großer Fehler war, dass ich dann genau das gemacht habe.« In der Folge seien die täglichen Spielzeiten wieder rasch auf ein exzessives Maß angestiegen. Der Patient habe sich ausschließlich zwischen seiner Wohnung und dem Campus bewegt, die wenigen neugeknüpften Sozialkontakte habe er schleifen lassen und keine Anstalten mehr unternommen, im neuen Umfeld Fuß zu fassen. In der Universität besuchte er nur noch Seminare mit Anwesenheitspflicht, in der Annahme, den übrigen Stoff eigenständig zu Hause aufarbeiten zu können. Die Lehrbücher und Skripte hätten sich jedoch ungelesen in einer Ecke seines unfertig eingerichteten Apartments gestapelt. Nach dem Nichtbestehen einiger Klausuren entschloss sich der Patient, das Semester abzuschreiben und die Besuche an der Universität vorläufig ganz einzustellen. Seinen Eltern gegenüber gab er an, dass er gut vorankomme und alle Scheine des ersten Semesters erhalten habe. Finanziell wurde er von den Eltern durch monatliche Überweisungen versorgt und da er nicht viel Geld brauchte, genügte ihm dies, um über die Runden zu kommen. Das vorzeitig beendete Semester und die momentane Freiheit von allen Pflichten rechtfertigten für den Patienten das Computerspielen nun nochmals zu intensivieren. »Ich sagte mir, dass ich sowieso nichts anderes zu tun hätte und dann ebenso gut etwas machen könnte, das mir Spaß macht. Das Problem ist, dass ich irgendwann gemerkt habe, dass das Spielen eigentlich nur noch selten Spaß macht – es war eher die Erinnerung daran, dass es mal schön war, die mich bei der Stange hielt – und Frust darüber, dass ich keinen Schritt weitergekommen war, meine Eltern belog und eigentlich nichts aus mir machte.« Im zweiten Semester brach der Patient das Studium ab und schrieb sich stattdessen für Biologie ein. In der Zeit bis zum Beginn des neuen Semesters veränderte sich nicht viel, die Spielzeiten beliefen sich zu diesem Zeitpunkt auf bis zu zwölf Stunden pro Tag. Er spielte bis tief in die Nacht hinein, schlief oft bis in die Nachmittagsstunden und verließ sein Apartment nur für Einkäufe. Zu Beginn des neuen Semesters gelang es dem Patienten, sich – auch nach einem klärenden Gespräch mit seinen Eltern über die veränderte Situation – wieder zu einer geregelten Tagesstruktur »zu zwingen«. Er besuchte alle Lehrveranstaltungen, verspürte Motivation für das Studium und hatte insgesamt das Gefühl, dass er nun besser angekommen war. »Mit den Kommilitonen lief es trotzdem nicht wirklich rund. Ich war zwar schon immer eher etwas zurückhaltend, aber nun habe ich mich regelrecht sozial eingerostet gefühlt. Das hat es nicht gerade leichter gemacht.« Einen Rückschlag in seinen Bemühungen erlebte der Patient, als er die Anmeldefrist für ein Praxisseminar versäumt hatte, wodurch er für einige weiterführende Seminare des Folgesemesters nicht zugelassen wurde. Als Reaktion hierauf wurden die zuvor reduzierten Computerspielzeiten erneut exzessiver und es erfolgte ein neuerlicher sozialer Rückzug. Der Entschluss, sich in der psychosozialen Beratungsstelle der Universität vorzustellen wurde gefasst, nachdem der Patient bemerkt hatte, dass er sich zunehmend weniger auf studienrelevante Inhalte konzentrieren konnte, Lernpausen immer mehr ausdehnte und mit längeren Spielrunden füllte sowie gedanklich nicht mehr vom Spiel abschalten konnte.

Unter Personen, die wegen des Suchtverhaltens psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, ist die Störung durch Computerspielen die mit Abstand häufigste Form einer Internetnutzungsstörung. Von gibt es zu ihr auch die meisten Studien und klinischen Erfahrungswerte.

1.1.2 Suchtartige Nutzung von sozialen Medien und sozialen Netzwerken (Soziale Netzwerke Nutzungsstörung)

Großer Beliebtheit erfreuen sich neben den beschriebenen Computerspielen auch rein kommunikationsbezogene Internetanwendungen wie soziale Medien (Social Media) und soziale Netzwerke. Ähnlich wie Computerspiele erweitern auch diese die Bandbreite menschlichen Kommunikationsverhaltens erheblich. Gleichzeitig stellen sie eine Art virtuelle Visitenkarte dar, bieten Usern also die Möglichkeit, das eigene Leben und bisherige Erfahrungen in Profilen auf unterschiedlichste Art und Weise zu portraitieren bzw. zu akzentuieren oder auch zu optimieren. Darüber hinaus erlauben sie, unzählige freundschaftliche bzw. freundschaftsähnliche Bande mit anderen Usern zu knüpfen, die man im wirklichen Leben zuvor niemals zu Gesicht bekommen haben muss. Die Hintergrundforschung zu dieser Form der Kommunikation legt nahe, dass gerade die Möglichkeit, aus »sicherer Distanz« und mit größtmöglicher Kontrolle mit anderen zu kommunizieren, für gefährdete Personen, beispielsweise ausgesprochen introvertierten Individuen oder solchen mit einer ausgeprägten sozialen Unsicherheit, eine gewisse Gefahr der Suchtentwicklung bedeutet (Suler 2004; Müller et al. 2016b).

Es lassen sich auch hinsichtlich der Wirkung sozialer Medien Parallelen zu Computerspielen finden. Psychophysiologische Laborstudien legen nahe, dass Nutzende während des Surfens auf sozialen Netzwerken ein erhöhtes psychophysiologisches Arousal erleben, ganz ähnlich wie es auch beim Spielen eines komplexen Computerspiels gefunden wurde (Mauri et al. 2011). Für manche Nutzende scheint sich somit ein immersives Flow-Erleben durch die Nutzung einzustellen, was einen begleitenden Belohnungseffekt darstellen mag.