Coq Rouge - Jan Guillou - E-Book
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Jan Guillou

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Beschreibung

Graf Hamilton alias »Coq Rouge« ist Millionär aus adeligem Hause, überzeugter Linker und erfahrener Spionage-Profi. Er ist schnell, intelligent - und bei den Frauen begehrt. Sein erster Auftrag führt Hamilton quer durch Skandinavien bis in den Nahen Osten. Dort gerät er nicht nur zwischen die politischen Fronten, sondern auch zwischen zwei Frauen: Die eine steht in Diensten der Palästinenser, die andere auf Seiten der israelischen Regierung. Mit seiner »Coq Rouge«-Serie avancierte Jan Guillou zu einem der meistgelesenen Thriller-Autoren Schwedens. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt.

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Für Birger E., I. und F.

Übersetzung aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass

ISBN 978-3-492-98023-4

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2013 © 1986 Jan Guillou Titel der schwedischen Originalausgabe: »Coq Rouge. Berättelsen om en svensk spion«, Norstedts Förlag, Stockholm 1986 © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 1988 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © ostill / Shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

4. Auflage 2006

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1

Das Geschoß war durch das rechte Brillenglas des Opfers in den Kopf gedrungen, hatte das Auge durchschlagen, den oberen Teil des Stammhirns durchquert und sich dann beim Aufprall auf den Schädelknochen des Hinterkopfes gedreht. Daher gab es kein gewöhnliches Austrittsloch, sondern einen Krater im Hinterkopf, und die Druckwelle hatte etwa ein Drittel der Gehirnsubstanz hinausgepreßt.

Die starke Verunreinigung des Brillengestells durch Ruß- und Korditreste deutete darauf hin, daß der Schuß aus einer Entfernung von weniger als zwanzig Zentimetern abgefeuert worden war. Es gab keinerlei Spuren eines Kampfes.

Schon der bloße Tathergang hätte genügt, um sofort umfassende polizeiliche Ermittlungen in Gang zu setzen. Aber dies war in jeder Hinsicht ein Mord, der weit über das Alltägliche hinausging.

Die meisten Morde, die sich in Schweden ereignen, knapp zehn im Monat, sind triste Geschichten, die in der eigentlichen Bedeutung des Wortes nicht aufgeklärt werden müssen, weil Täter und Opfer sich kennen und sich in betrunkenem Zustand entweder totschlagen oder einander mehr oder weniger versehentlich erstechen; oder aber ein Ehemann ist der Meinung, sein Leben sei zu Ende, weshalb er seine Frau und schlimmstenfalls auch seine Kinder ermorden müsse. Dann packt ihn die Reue in dem Augenblick, in dem er Selbstmord begehen will; diese Mörder stellen sich selbst oder werden in der Regel betrunken am Tatort oder ganz in dessen Nähe festgenommen. Sie sind verwirrt und von tiefer Reue erfüllt. In gut der Hälfte aller Fälle kommt man zu der Ansicht, sie litten an einer psychischen Abnormität, die einer Geisteskrankheit gleichzustellen sei, was einen kürzeren oder längeren Aufenthalt in einer sogenannten geschlossenen psychiatrischen Anstalt nach sich zieht.

Die meisten schwedischen Mörder werden im Lauf eines Jahres von dieser Therapie befreit, wobei die Dauer der Therapie gewöhnlich mit der gesellschaftlichen Stellung des Mörders zusammenhängt. Bei Minderbemittelten ist man so gut wie ausnahmslos der Ansicht, daß sie einen längeren Anstaltsaufenthalt benötigen als Wohlhabende. All dies geschieht mit dem stillen Einverständnis der Gesellschaft, und außerhalb des Bezirkes, in dem der Mord begangen wurde, wird die Angelegenheit nie Aufsehen erregen.

In diesem Fall jedoch war alles anders, ausgenommen vielleicht der Tod selbst. Aber genau besehen war diesmal auch der Tod anders, da er sofort eingetreten war.

Der Mord hatte zwischen sieben Uhr morgens, dem ungefähren Zeitpunkt, an dem das Opfer seine Wohnung verlassen hatte, und acht Uhr morgens stattgefunden, als man den Mann in seinem Dienstwagen an Manillavägen auf Djurgården fand, dreihundertvierzig Meter von der Brücke an Djurgårdsbrunns Värdshus entfernt. Der Ermordete hatte die Villa in Bromma demnach wie gewöhnlich verlassen und sich in seinen Wagen gesetzt. Daraufhin war er in die Stadt gefahren, hatte irgendwo den Mörder aufgelesen, und dann hatte die anschließende Autofahrt irgendwo auf Djurgården ihr Ende gefunden.

Die Mordwaffe lag noch im Auto, im Seitenfach der Tür neben dem Beifahrersitz. Der Mörder war nach dem Schuß noch sitzengeblieben, vielleicht um Fingerabdrücke oder andere Spuren zu entfernen. Dann hatte er die Waffe in das Seitenfach der Tür gesteckt, war ausgestiegen und weggegangen. Der Waffentyp war in der schwedischen Kriminalgeschichte noch nie aufgetaucht. Es war eine 7,62mm Tokarew m/59 mit einem achtschüssigen Magazin, eine Standardwaffe der Roten Armee.

Der Reichspolizeichef erhielt die Nachricht, als er fünf Minuten nach neun in seinem Wagen zum Flughafen Arlanda unterwegs war. Bei der nächsten Abfahrt befahl er dem Fahrer umzukehren und fuhr mit Blaulicht in die Stadt zurück. Punkt zehn Uhr hatte er eine ansehnliche Zahl seiner untergebenen Abteilungsleiter zu einer Konferenz versammelt.

Von den in diesem Zusammenhang selbstverständlichen Teilnehmern abgesehen, den Leitern der Dezernate Gewaltverbrechen und Fahndung, war noch eine Gruppe anwesend, die nur selten in Mordermittlungen eingeschaltet wird. Ihre Anwesenheit war jedoch durchaus begreiflich, denn der Mann, der am Morgen ermordet worden war, war einer ihrer Kollegen aus der sogenannten »Firma«.

Axel Folkesson war stellvertretender Polizeipräsident in der Sicherheitsabteilung der Reichspolizeidirektion gewesen. Weniger formell könnte man sagen, daß er ein hoher Beamter der Sicherheitspolizei war, und wenn man das Ganze noch weiter verdeutlichen will – was die Abendzeitungen ohne Zweifel schon am selben Nachmittag tun würden –, läßt sich kurz sagen, daß der Mann, der die höchste operative Verantwortung für die Terroristenbekämpfung der schwedischen Sicherheitspolizei hatte, von einem Terroristen ermordet worden war.

Die Schlußfolgerung lag, gelinde gesagt, auf der Hand.

Wer einen hohen Sicherheitsbeamten in dessen eigenem Wagen erschießt, handelt vollkommen überlegt und muß sich der nachfolgenden Großfahndung wohl bewußt sein. Der merkwürdige Umstand, daß der Mörder die ungewöhnliche Waffe am Tatort zurückgelassen und sie überdies in die Seitentasche der Autotür gesteckt hatte, statt sie beispielsweise dem Opfer in die Hand zu legen, um wenigstens eine Zeitlang Unsicherheit um die Frage eines eventuellen Selbstmords zu schaffen, ließ zwei Deutungen zu.

Erstens mußte sich der Mörder vollkommen sicher sein, daß es unmöglich sein würde, die Tatwaffe mit ihm oder seiner Organisation in Verbindung zu bringen, und daß weder Waffe noch Tatort Fingerabdrücke oder andere Spuren aufwiesen. Zweitens mußte der Täter einiges über Polizeiarbeit wissen; da er sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, einen Selbstmord vorzutäuschen. Als er die Pistole in die Seitentasche steckte, war das eher so etwas wie ein arroganter Gruß an die künftigen Verfolger.

Die meisten Täter in der Haut des Mörders hätten die Waffe beim Verlassen des Tatorts mitgenommen. Ein Mörder dieser Art will nicht gefaßt werden. Wird er von irgendeinem zufällig auftauchenden Polizeibeamten oder einem Zeugen mit staatsbürgerlicher Verantwortung verfolgt, schießt er, um den Verfolger abzuschrecken oder um eventuell ein zweites Mal zu töten.

Kommt es zu keinem unerwarteten Zwischenfall, hätte er in diesem Fall die Waffe in den Djurgårdsbrunnskanal geworfen und wäre dann ohne auffällige Eile vom Tatort wegspaziert.

Dieser Mörder aber hatte entweder noch eine Waffe bei sich, oder er war erfahren genug, um einzusehen, daß es zwar keinen Zeugen für den Mord im Wagen geben konnte, daß es aber sehr wohl einen zufälligen und überflüssigen Zeugen geben könnte, wenn er die Waffe in den Djurgårdsbrunnskanal werfen würde.

Schon vor Beginn der technischen Untersuchungen waren die Polizeibeamten überzeugt, daß man es mit einer Person oder einer Gruppe zu tun hatte, die höchst professionell vorging.

Das alles erforderte sofortige Entscheidungen. Erstens erhöhte Wachsamkeit an den Grenzübergängen. Zweitens mußten die Kollegen von der Reichsmordkommission diesem Fall vor allen anderen Vorrang einräumen. Drittens sollte jede Information nach draußen, also den Massenmedien gegenüber, über ein oder zwei besonders abgestellte Beamte laufen, die aus der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit bei der Reichspolizei kamen und dem Reichspolizeichef direkt unterstellt wurden.

Einerseits war es von höchster Bedeutung, von der Öffentlichkeit und eventuellen Zeugen Informationen und Hinweise zu erhalten. Aus diesem Grund war eine gewisse Publizität nötig.

Andererseits ließ sich leicht einsehen, daß der Druck der Massenmedien ungewöhnlich stark sein würde und daß die Besonderheit des Verbrechens zu Spekulationen führen würde.

Diese letzte Schlußfolgerung war eine so komische Untertreibung, daß die Beamten an diesem Tag zum erstenmal und für lange Zeit zum letztenmal lachten.

Viertens würde man zwei parallel arbeitende Fahndungsgruppen einrichten. Die beteiligten Abteilungen der »offenen« Polizeiarbeit würden wie gewohnt ihrer Arbeit nachgehen. Innerhalb der Sicherheitsabteilung würde man jedoch eine eigene Fahndungsgruppe einrichten, die in erster Linie nach dem Motiv zu dem Verbrechen suchen sollte. Da aber durchaus vorstellbar war, daß die Angelegenheit die Sicherheit des Reiches oder das Verhältnis zu einer fremden Macht berühren konnte, sollte die Kommunikation zwischen den beiden Fahndungsgruppen über den Chef von Abteilung B der Sicherheitsabteilung laufen. Grundsätzlich sollten alle Informationen aus der offenen Polizeiarbeit den Kollegen von der Sicherheitsabteilung so schnell wie möglich zugestellt werden. Die Fahndungsergebnisse jedoch, die eventuell bei der Sicherheitsabteilung einliefen, durften nicht an die Kollegen von der offenen Arbeit weitergeleitet werden, ohne daß sie zuvor der Sektionschef von Büro B oder notfalls der Reichspolizeichef persönlich gefiltert hatten.

Bevor der Reichspolizeichef zu Vier-Augen-Gesprächen mit den Chefs der Sicherheitsabteilung überging, fragte er, ob er noch irgendwelche Fragen beantworten könne. Es saßen rund zehn Männer im Raum. Ihr Durchschnittsalter lag um die Fünfzig, und ihre kumulierte Erfahrung in der Polizeiarbeit betrug sicher mehr als ein Vierteljahrtausend. Die meisten Fragen, die sie gern gestellt hätten, die aber niemand stellte, galten einer einzigen Sache: und zwar den beiden parallellaufenden Ermittlungen, wobei die eine Abteilung, nämlich die der Sicherheitsabteilung, der Arbeit der regulären Polizei irgendwie übergeordnet sein sollte.

Das würde Krach geben, das war allen klar. Die Gegensätze zwischen den beiden Gruppen bezogen sich auch schon in gewöhnlichen Fällen auf etwas, was die Sicherheitsleute bei den Kollegen von der offenen Arbeit als Mangel an Gesellschaftskunde und was diese Polizeibeamten wiederum voller Überlegenheit als den vollständigen Mangel seitens der Sicherheitsleute an normaler Polizeierfahrung betrachteten. Und jetzt, wo es galt, möglichst rasch einen Polizistenmörder zu finden, würden diese Gegensätze schnell eskalieren.

Der einzige, der Fragen hatte, war ein Vertreter der Abteilung Information von der obersten Polizeiführung. Er war als Liberaler bekannt, rauchte teure englische Pfeifen mit eigentümlichem Design und hatte überdies in Büro A der Sicherheitsabteilung gedient (wo er mit größter Wahrscheinlichkeit der einzige Liberale gewesen war). Dort war er mit der Begründung ausgestiegen, er fühle sich aufgrund seiner demokratischen Überzeugung als Sicherheitsmann nicht wohl. Er trug außerdem einen Cordanzug, sorgfältig gebügelt zwar, aber immerhin einen Cordanzug.

»Also, wenn es um die Information nach draußen geht, stellt sich ja sofort die Frage, was wir über Folkessons Arbeitsgebiet sagen sollen, ob wir bekanntgeben sollen, welche Art Mordwaffe verwendet worden ist … Ich meine, es war ja eine russische Waffe? Und dann die üblichen Fragen, ob wir Hinweise oder Spuren haben, ob wir etwas über Motive und derlei des Mörders wissen oder zu glauben meinen?«

Die Polizeibeamten um den ovalen, gemaserten Birkentisch hatten sich schon erhoben und scharrten mit den Stühlen. Ihre Erfahrung war mehr als ausreichend, um ihnen zu sagen, daß diese Fragen völlig überflüssig waren. All das, was hier aufgezählt worden war, würde schon am selben Nachmittag mehr oder weniger wahr und mehr oder weniger intelligent in den Zeitungen stehen. Hinzu kam noch, daß von allen Anwesenden gerade der Mann mit dem Cordanzug und der englischen Pfeife in der nächsten Zeit am allerwenigsten von Journalisten belästigt werden würde.

Und genau wie schon vermutet, schilderten die Massenmedien an diesem Tag Verbrechen und Motiv sehr viel deutlicher und schärfer, als es einer der Männer am Konferenztisch des Reichspolizeichefs hätte tun können; nicht notwendig wahrer, aber entschieden deutlicher und schärfer. Die Nachmittagszeitungen konnten nur wenige Stunden später und mit kleinen Varianten folgendes feststellen:

CHEF DER SICHERHEITSPOLIZEI IM EIGENEN WAGEN VON TERRORISTEN ERMORDET

Der stellvertretende Polizeipräsident Axel Folkesson, 56, bei der Sicherheitspolizei für die Überwachung von Terroristen zuständig, wurde heute morgen im Stockholmer Stadtteil Djurgården in seinem Wagen ermordet aufgefunden. Die Mordwaffe ist eine russische Armeepistole des Typs, den auch die palästinensischen Guerilleros verwenden. Der Mord wurde von eiskalten Berufsmördern ausgeführt, und die Sicherheitspolizei befürchtet jetzt, daß sich ein Terroristenkommando der berüchtigten Palästinenser-Organisation Schwarzer September in Stockholm aufhält. Eswird vermutet, daß die jüngst erfolgten Ausweisungen mutmaßlicher palästinensischer Terroristen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Die schwedische Botschaft in Beirut bekam zuletzt in der vergangenen Woche eine anonyme telefonische Drohung des Schwarzen September. Die Drohung galt gerade diesen Ausweisungen, und falls diese nicht aufhörten, werde sich die Organisation rächen. Axel Folkesson war bei der Sicherheitspolizei für die Ausweisungen von Terroristen verantwortlich.

Einer anderen Theorie der Polizei zufolge war Axel Folkesson der Terrororganisation auf die Spur gekommen und hatte versucht, Sabotageakte auf schwedischem Boden zu verhindern. Es ist üblich, daß die schwedische Sicherheitspolizei so arbeitet. Man schlägt zu, bevor Spione oder Terroristen Schaden anrichten können.

Aber wenn dies der Hintergrund des Mordes ist, dann muß Axel Folkesson einen folgenschweren Fehler begangen haben. Statt ihre Pläne aufzugeben, beschlossen die Terroristen, den schwedischen Sicherheitsbeamten aus dem Weg zu räumen …

Der Reichspolizeichef las die Abendzeitungen erst gegen vier Uhr, eine Stunde, bevor er den beiden Nachrichtensendungen des Fernsehens wie versprochen Fragen beantworten wollte. Er hatte schon um die Mittagszeit beschlossen, persönlich für die Polizei zu sprechen, damit das, was an die Öffentlichkeit gegeben wurde, halbwegs unter Kontrolle blieb. Er war Beamter und war immer Beamter gewesen, hatte als Staatsanwalt Karriere gemacht und den Posten eines Kronanwalts erreicht und saß jetzt ein paar Jahre als Reichspolizeichef ab, bevor er Landeshauptmann werden und durch einen sozialdemokratischen Reichspolizeichef abgelöst werden würde, falls es bei der nächsten Wahl nicht zu einer bürgerlichen Regierung kam.

Seine Erfahrungen mit dem harten Druck der Massenmedien war folglich begrenzter, als wenn er eine gewöhnliche Polizeikarriere hinter sich gebracht hätte.

Jetzt saß er in einer Mischung aus Wut und Verblüffung mit Stockholms zwei Abendzeitungen vor der Nase und ertappte sich zum erstenmal seit vielen Jahren bei dem Wunsch, daß es in bestimmten Situationen eine Zensur geben sollte.

Was in den beiden Abendzeitungen stand, stimmte zwar recht genau mit einigen Theorien und Vermutungen überein, die im Polizeihaus im Lauf des Tages die Runde gemacht hatten. Natürlich lag der Schluß nahe, daß die Mörder Terroristen waren, das war eine durchaus mögliche Hypothese. Und natürlich war es möglich, daß Axel Folkesson selbst präventiv einen Kontakt gesucht hatte. Dieses Verfahren wird gelegentlich angewendet, wenn man einen Ausländer nachrichtendienstlicher Tätigkeit verdächtigt: Ein Sicherheitsbeamter wendet sich an eine Person, die im Verdacht steht, Informant einer fremden Macht zu sein, und tut dann so, als warne er den Verdächtigten in aller Freundschaft vor ungeeigneten oder gefährlichen Kontakten. Je nach Reaktion des Verdächtigten kann man in manchen Fällen eine Bestätigung dafür erhalten, daß dieser oder jener sowjetische Diplomat tatsächlich als Führungsoffizier bestimmter Informanten arbeitet (es hatte ein paar vereinzelte Operationen dieser Art gegeben, was die Presse später zum Anlaß nahm, so etwas zum Regelfall zu erheben; und die Sicherheitspolizei hatte diese Fälle dann als Erklärung dafür verwendet, weshalb man niemals Spione fasse, da man nämlich schon vorher »zuschlage«, bevor sie Spione werden könnten).

Natürlich ließ sich denken, daß der Täter Palästinenser war, wenn man in Axel Folkessons verschiedenen Arbeitsbereichen botanisierte. Die westdeutschen Terroristen waren in ihrer ersten, international ausgerichteten Generation ausgerottet, und die jetzt vorhandene dritte Terroristengeneration in der Bundesrepublik war, jedenfalls nach dem Urteil der westdeutschen Kollegen, an Aktionen in Schweden weder interessiert noch überhaupt dazu fähig.

Möglicherweise ließen sich Kurden oder Armenier als Alternative vorstellen, aber diese besaßen wiederum nicht die Kompetenz der Palästinenser, also waren Palästinenser als Täter wahrscheinlicher. Die russische Armeewaffe hatte die Gedanken wie selbstverständlich in Richtung Naher Osten geführt.

Die Spekulationen der Zeitungen waren an und für sich gar nicht so dumm, es sei denn in der Frage des »Schwarzen September«, denn die Kollegen von Axel Folkessons Abteilung hatten versichert, daß Schwarzer September eher so etwas wie ein Sammelbegriff ganz verschiedener palästinensischer Aktionen mit manchmal völlig unterschiedlichen Motiven und Urhebern sei.

Der Reichspolizeichef tobte, obwohl die Spekulationen weder dumm noch unrealistisch waren. Daß aber vage Arbeitshypothesen schon am ersten Tag in der Presse auftauchten, war ein offenkundiger operativer Nachteil (der ehemalige Staatsanwalt hatte seiner Sprache in zweijährigem Umgang mit dem Sicherheitsdienst einige Begriffe dieser Art einverleibt). Wenn nun das, was in den Zeitungen stand, völlig falsch war, würde der Gegner erfahren, daß ihm niemand auf der Spur war. Das war nicht gut. Denn wenn das Motiv nun wirklich gewesen wäre, Axel Folkesson aus dem Weg zu räumen, damit dieser eine größere Operation nicht mehr vereiteln konnte, war die Situation ja tatsächlich so, daß man keine Ahnung hatte, wo, wann oder wie etwas passieren würde.

In Schweden gibt es mindestens fünftausend denkbare Sabotageziele, wenn man nur die Sachziele rechnet. Hinzu kommen rund hundert Personen an der Spitze von Industrie, Polizei, Militär und Verwaltung, die sämtlich keinen Personenschutz genießen, und theoretisch ließe sich auch etwa das halbe diplomatische Corps als Zielscheibe von Terroraktionen denken. Wenn sich nun eine qualifizierte Terroristengruppe in Schweden aufhielt und mit ihren Vorbereitungen schon so weit gekommen war, daß man einen leitenden Mann beim Sicherheitsdienst lieber tötete als die Aktion abzublasen, und wenn diese Terroristengruppe schwedischen Boden betreten hatte, ohne daß sich beim Sicherheitsdienst auch nur der kleinste Hinweis darauf fand und ohne daß einer der verbündeten europäischen Sicherheitsdienste auch nur den kleinsten Tip gegeben hatte … und wenn diese Terroristen nun durch die Presse darüber aufgeklärt wurden, daß die Luft rein war, konnte es jederzeit und überall, in ein paar Stunden oder Tagen, zur Katastrophe kommen.

Der Reichspolizeichef war fest entschlossen, alle Gerüchte zu dementieren. Das versuchte er wohl auch, aber der Versuch geriet so, daß das Auftreten des Reichspolizeichefs in Rundfunk und Fernsehen an diesem ersten Tag in allen Punkten als Bestätigung dessen diente, was man in den Fluren des Polizeihauses schon vermutet hatte und was dann per Telefon der Presse zugeflüstert worden war.

Und falls der Reichspolizeichef noch nach zwei Jahren als formal höchster Vertreter der Polizei naive Vorstellungen davon hatte, er könne mit seinen beamtenhaften und korrekten Aussagen die Massenmedien korrigieren, erhielt er an diesem Tag eine harte Lektion.

Das eigentliche Fernseh-Ritual hatte er schon mindestens zehnmal miterlebt. Auch die Fragen waren vorhersehbar. Die Fernsehleute würden natürlich wissen wollen, ob die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September den hohen Beamten der Sicherheitsabteilung ermordet hatte, der unter anderem für die Jagd auf palästinensische Terroristen zuständig gewesen war. Die korrekte Antwort lautete, das wisse man nicht.

Wirklich fest stand nur, daß Axel Folkesson etwa um 7.30Uhr in seinem Wagen erschossen worden und die Mordwaffe sowjetischer Herkunft war und daß der Mörder mit einer Kälte und Gelassenheit gehandelt hatte, die nur einen Schluß zuließ: Er war ein Profi.

Die vorläufigen technischen Untersuchungen des Tages hatten nur die erwarteten negativen Ergebnisse erbracht. Die Waffe wies keine Fingerabdrücke auf, und die sieben restlichen Patronen im Magazin waren sorgfältig abgewischt und gesäubert worden. Die Fingerabdrücke, welche die Techniker bislang im Wagen selbst hatten sichern können, stammten, soweit sich bisher ermitteln ließ, entweder von Folkesson selbst oder einem Mitglied seiner Familie. Außerdem war der ganze Fahrgastraum um den Beifahrersitz herum sorgfältigst gereinigt worden. Der Mörder war nach dem Schuß also noch kurz, im Wagen geblieben – eine Bestätigung seiner Kaltblütigkeit.

Man konnte davon ausgehen, daß der Mord einen politischen oder sicherheitspolizeilichen Hintergrund hatte. Soweit sich beurteilen ließ, hatte Folkesson alle persönlichen Gegenstände noch bei sich. In der Innentasche steckte seine Brieftasche, die mehrere tausend Kronen in Hundertern enthielt, Geld, über das er verfügte, um Tips oder Informanten zu bezahlen. Das hatte den Mörder also nicht im geringsten interessiert. Und im Handschuhfach des Wagens lag Folkessons Dienstpistole ohne Schulterholster. Die Waffe war mit einem vollen Magazin geladen, jedoch gesichert.

Man konnte folglich jedes finanzielle oder persönliche Motiv ausschließen, aber dies war bis auf weiteres eine nur auf Erfahrung gegründete Vermutung.

Es dürfte also keine Spekulationen geben, dachte der Reichspolizeichef, als das erste Fernsehteam sein Amtszimmer betrat und die Spotlights aufbaute. Die Nachrichtensendung Rapport sollte den Anfang machen, während das Aktuellt-Team noch draußen saß und wartete.

Der Rapport-Reporter trug einen grünen Parka mit der gelben Aufschrift Sveriges Radio auf der einen Schulter. Er warf die Jacke lässig auf einen der Besucherstühle, während sein Begleiter die Bühne für das kommende Verhör herrichtete.

Ein Techniker hielt dem Reichspolizeichef einen Belichtungsmesser direkt unter die Nase, im nächsten Augenblick kam ein anderer mit einer Filmklappe und schlug sie genau dort zusammen, wo sich soeben der Belichtungsmesser befunden hatte, während er gleichzeitig in eins der Mikrophone brummelte: »Die Kralle, A-01«.

Das war der Spitzname, den der Reichspolizeichef verabscheute, selbst aber nur selten zu hören bekam; in seiner Kindheit war eine Hand durch Kinderlähmung entstellt und nach innen gekrümmt worden, was den Spitznamen verständlich machte.

»Kamera läuft«, sagte der Kameramann, und dann begann das Verhör.

»Wissen Sie, wer hinter diesem Mord steckt?«

»Selbst wenn ich es wüßte, wäre nicht angezeigt, darüber zu sprechen.«

»Aber Sie wissen es nicht?«

»Kein Kommentar.«

»Aber Sie haben einen bestimmten Verdacht?«

»Wir verfolgen mehrere Spuren, ja.«

»Stimmt es, daß Herr Folkesson für die Überwachung palästinensischer Terroristen zuständig war?«

»Ja, das stimmt. Aber seine Zuständigkeit ging noch weiter, da sie jede unsere Sicherheit bedrohende Tätigkeit im Hinblick auf den Nahen Osten umfaßte, aber ich möchte betonen, die Gelegenheit benutzen zu unterstreichen, daß es keine bestimmten Hinweise gibt, jedenfalls keine, mit denen wir in der jetzigen Lage an die Öffentlichkeit gehen möchten, also Hinweise, daß es sich um die eine oder andere bestimmte Terrororganisation aus dem Umfeld des Nahen Ostens handeln könnte. Das sind alles reine Spekulationen, die den Massenmedien natürlich freistehen, aber …«

»Können Sie ausschließen, daß es sich um palästinensische Terroristen handelt?«

»Nein, natürlich nicht. Es kann durchaus sein, daß bei unserer Fahndungsarbeit einige Palästinenser-Organisationen von primärem Interesse sein werden.«

»Wissen Sie, ob sich gegenwärtig palästinensische Terroristen in Schweden aufhalten?«

»Ja, aber aus fahndungstechnischen Gründen möchte ich dieser Frage hier nicht weiter nachgehen.«

»Welche Schlüsse ziehen Sie daraus, daß die Mordwaffe sowjetischer Herkunft ist?«

»Daß der oder die Mörder zu sowjetischen Waffen Zugang hatten.«

»Wie es beispielsweise palästinensische Terroristen haben?«

»Ja, aber so wie der internationale Waffenmarkt aussieht, kann sich so gut wie jeder sowjetische Waffen beschaffen. Aus dem Fabrikat der Waffe lassen sich also keine automatischen Schlußfolgerungen ziehen.«

»Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen, um die Mörder zu fassen?«

»Es wäre nicht klug, darüber Auskunft zu geben.«

»Ist es nicht einfach so, daß Sie gar nicht wissen, nach wem Sie suchen?«

»Ich möchte betonen, daß die Situation außerordentlich ernst ist. Es handelt sich um ein Verbrechen, das in diesem Land ohne Beispiel ist. Wir sind in Schweden von derlei bislang verschont geblieben. Selbstverständlich betrachten wir mit größter Sorge, was sich hier ereignet hat, und wir gehen jetzt mit allen verfügbaren Mitteln mehreren guten Hinweisen nach.«

»Besten Dank«, sagte der Fernsehreporter plötzlich, und dann sammelten er und die drei Techniker ohne weiteren Kommentar ihre Taschen und Kabel zusammen, und gleichzeitig war das nächste Fernsehteam auf dem Weg ins Zimmer, um in etwa die gleiche Prozedur und die gleichen Fragen zu wiederholen.

Hinterher war der Reichspolizeichef überzeugt, so korrekt und klar geantwortet zu haben, daß weitere unnötige Spekulationen sich auf keinen Fall auf ihn selbst würden zurückführen lassen.

Aber als er sich ein paar Stunden später die abendliche Rapport-Sendung ansah, wurden sowohl er wie die Sache völlig anders dargestellt. Was ihn selbst betraf, konnte er sich zwar im Bild Wiedererkennen und sich Dinge sagen hören und sehen, die er selbstverständlich geäußert hatte. Aber trotzdem geriet alles zum genauen Gegenteil dessen, was er von seiner Seite als Dementi ausgegeben hatte.

Die Rapport-Sendung widmete die ersten neun Minuten dem Mord selbst. Ein Ereignis, das einer Nachrichtensendung ganze neun Minuten wert ist, ist von der gleichen Güteklasse wie ein größerer Kriegsausbruch oder der Rücktritt eines Justizministers.

Erst wurden Bilder vom Tatort gezeigt, dann Bilder von Folkessons Wagen, in dem man an der Decke und auf dem Rücksitz Blut und Gehirnsubstanz sah. Es folgten Polizeibeamte am Tatort, Absperrungen, Polizeibeamte, die sich vor die Kamera zu stellen versuchten, so daß das Bild verwackelt wurde, dann folgten Aufnahmen von Axel Folkesson.

Dazu berichtete der Fernsehreporter, daß der Terrorismus seit mehreren Jahren zum erstenmal wieder in Schweden zugeschlagen habe und daß es sich diesmal vermutlich um einige der gefürchtetsten Terrororganisationen der Welt handle, nämlich um die palästinensischen Ausbrecherfraktionen, die sich von Jassir Arafats Bestrebungen abgewandt hätten, mit diplomatischen Methoden zu arbeiten (eingeblendetes Bild von Arafat, der Olof Palme begrüßt), und daß die schwedische Polizei und die Sicherheitspolizei jetzt in erster Linie mit der Theorie arbeiteten, daß es sich um eine Organisation handle, die dem sogenannten Schwarzen September nahestehe. Und an dieser Stelle wurde der Reichspolizeichef zum erstenmal mit der folgenden, völlig korrekt wiedergegebenen Äußerung eingeblendet:

»Wir verfolgen mehrere Spuren, ja.« Und dann die nächste Frage:

»Stimmt es, daß Herr Folkesson für die Überwachung palästinensischer Terroristen zuständig war?«

Und dann die verstümmelte Antwort: »Ja, das stimmt.«

Dann kam der Fernsehreporter selbst groß ins Bild, und der Reichspolizeichef notierte im stillen, daß sich der Reporter inzwischen ein Jackett angezogen und eine Strickkrawatte umgebunden hatte.

Der Fernsehreporter stellte ohne Umschweife fest, das wahrscheinliche Motiv der palästinensischen Mörder sei, daß die schwedische Sicherheitspolizei gerade gegen ein Terrorkommando auf schwedischem Boden zuschlagen wollte und daß die Terroristen damit geantwortet hätten, den verantwortlichen Leiter der Fahndung bei der Sicherheitspolizei zu töten. Danach erklärte der Reporter, es sei das erste Mal, daß der palästinensische Terrorismus Schweden ernsthaft getroffen habe, und daß dies die Polizeiarbeit noch mehr erschwere.

Und danach wurde der Reichspolizeichef erneut mit einem korrekt wiedergegebenen Zitat eingeblendet, das wiederum einen völlig anderen Sinn bekam, als er beabsichtigt hatte

»Ich möchte betonen, daß die Situation außerordentlich ernst ist. Es handelt sich hier um ein Verbrechen, das in diesem Land ohne Beispiel ist. Wir sind in Schweden von derlei bislang verschont geblieben. Selbstverständlich betrachten wir mit größter Sorge, was sich hier ereignet hat, und wir gehen jetzt mit allen verfügbaren Mitteln mehreren guten Hinweisen nach.«

Danach gab der Fernsehreporter eine Art politischen Kommentar ab, in dem er behauptete, das Ereignis werde für die in den letzten Jahren zunehmend palästinenserfreundliche Haltung Schwedens nicht ohne Folgen bleiben, und die zunehmend schwächere und zersplitterte Palästinenser-Bewegung werde jetzt erleben, wie die Unterstützung in Westeuropa nachlassen werde.

Der Rest des Beitrags bestand aus einem historischen Rückblick auf verschiedene palästinensische Terroranschläge, beginnend bei der Flugzeugentführung in Jordanien 1969 über den Terrorangriff auf israelische Sportler in München 1972 bis hin zum Mord an dem palästinensischen Friedensemissär bei der Sozialistischen Internationale (Bild von Olof Palme und dem palästinensischen Diplomaten Izzam Sartawi).

Manchmal wurde auch das Terroristengespenst par excellence genannt, Abu Nidal, und der Bericht endete mit der Vermutung, er halte sich gegenwärtig in Schweden auf: »… bei der Sicherheitspolizei wird jetzt befürchtet, daß das palästinensische Terrorkommando, das sich vermutlich noch im Lande befindet, unter dem Befehl Abu Nidals steht.«

Es folgten Kurzinterviews mit einigen Politikern, die ihrem Abscheu vor dem Terrorismus Ausdruck gaben, während sie gleichzeitig darauf hinwiesen, daß die Palästina-Frage sich nicht mit Gewalt lösen lasse und daß die Existenz Israels von allen Parteien anerkannt werden müsse.

Der Reichspolizeichef schaltete den Fernseher aus.

In diesem Augenblick war er fest entschlossen, sich nie mehr auf Fernsehinterviews einzulassen. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger an der Nasenwurzel und versuchte bis fünfzig zu zählen, um den Kopf freizubekommen. Er verlor aber schnell die Geduld und schaltete die Direktleitung zu seinen Untergebenen ein. Es war Zeit für die nächste Konferenz.

Als erster betrat Sektionschef Henrik P. Näslund den Raum, der Mann, dem am Vormittag die operative Verantwortung für sowohl Fahndungsarbeit wie eventuelle Operationen übertragen worden war. Falls der Sektionschef auch in diesem Fall so gearbeitet hatte, wie es bei ihm üblich war, hatte zweifellos er die Massenmedien zu all diesen wilden Spekulationen verleitet, die jetzt sogar beim Sicherheitsdienst offen Unterstützung fanden.

»Ich finde diese spekulative Publizität höchst unglücklich«, sagte der Reichspolizeichef kalt. »Entweder liegen wir mit diesen vorläufigen Hypothesen völlig schief, und dann dürfen sie nicht in die Massenmedien. Oder aber sie treffen zu, und dann dürfen sie erst recht nicht bekannt werden.«

Der Sektionschef ließ sich dadurch keineswegs aus der Fassung bringen. Er strich sich ein paarmal durch sein nach hinten gekämmtes Haar – Bauernmanieren, dachte der Reichspolizeichef –, bevor er sich mit dem Fuß einen Stuhl heranzog und sich setzte. Dann lächelte er fröhlich und antwortete vollkommen unberührt auf die versteckte Beschuldigung, die man soeben gegen ihn vorgebracht hatte.

»Betrachte die Sache doch mal so. Entweder haben wir recht, und dann glauben diese Scheißkerle, daß wir hinter ihnen her sind, und das ist einmal ein operativer Vorteil in manchen Situationen, zum anderen könnte das eine Aktion verhindern, von der wir bislang nichts wissen. Oder aber wir liegen völlig falsch. Dann wird es zu einem operativen Vorteil, weil diejenigen, die wir suchen, der Meinung sind, daß wir uns auf der falschen Fährte befinden.«

Der Reichspolizeichef antwortete nicht. Er polierte mit ausdruckslosem Gesicht seine Brillengläser, während die anderen sein Dienstzimmer betraten.

2

Es ließ den Osloer Polizeibeamten Roar Hestenes völlig kalt, daß es regnete und daß sein Auftrag im Augenblick mit größter Wahrscheinlichkeit völlig sinnlos war und nur zu den Arbeiten gehörte, die eben erledigt werden müssen. Es war halb elf Uhr vormittags, exakt drei Stunden nach dem Zeitpunkt, zu dem Axel Folkesson in der Hauptstadt des Nachbarlandes gestorben war.

Aber davon hatte Roar Hestenes noch nicht die blasseste Ahnung. Er war ausnahmsweise einmal außerordentlich gut postiert.

Eigentlich war dies ein Fahndungsauftrag wie viele andere in seinen letzten beiden Jahren beim Drogendezernat. Man sitzt in einem Wagen und starrt auf eine Tür, bis man abgelöst wird, und einmal von zwanzig passiert etwas, und schlimmstenfalls hat man in einem Hauseingang gestanden und erreicht, daß man der Polizei als Exhibitionist gemeldet wird, die dann mit eingeschaltetem Blaulicht ankommt und im Handumdrehen sowohl ungesetzlichen Drogenhandel wie weiteres polizeiliches Eingreifen vereitelt, und bestenfalls sitzt man irgendwo in einer gemieteten Wohnung und betrachtet ein Fenster, bis man abgelöst wird und erst am Tag danach erfährt, daß die Gesuchten zwanzig Minuten nach der Ablösung auftauchten und gefaßt werden konnten.

In dieser Hinsicht gab es keinen Unterschied zwischen Drogendezernat und overvåkingstjenesten (Überwachungsdienst). Aber jetzt saß Hestenes im Café des Grand Hotel, als hätte der Wechsel vom Drogendezernat zur Sicherheitspolizei eine sofortige Erhöhung des Lebensstandards mit sich gebracht. Er war schon beim zweiten Kännchen Kaffee und seinem zweiten dänischen Smörrebröd angelangt und genoß insgeheim, daß er ohne weiteres ein komplettes Menü würde verzehren können, ohne daß jemand über die Kosten jammerte. Beim Überwachungsdienst der norwegischen Polizei fragt man kaum nach dem Tun und Lassen des Personals, nicht einmal nach Kosten und Auslagen.

Hestenes hatte außerdem eine perfekte Aussicht auf den Eingang des Hotels Nobel, der fünfzehn Meter von seinem Fenstertisch entfernt war. Niemand konnte heraus oder hinein, ohne daß er es sah, und er hatte schon neun Personen notiert, von denen er vier hatte identifizieren können. Die anderen waren Menschen, um die er sich aus verschiedenen Gründen nicht zu kümmern brauchte; ausländische Geschäftsleute gesetzten Alters, zwei ältere Frauen in norwegischer Kleidung, ein Teenager mit wuscheligem Haar, der vermutlich zum Personal gehörte, und so weiter.

Roar Hestenes hielt nach Terroristen Ausschau, und dies war Oslo, und er war sicher, daß nichts passieren würde.

Natürlich fing es so an.

Der Mann, der aus dem Taxi Nummer 1913 stieg, trug eine grüne Jägerjacke und hatte eine Tasche in der Hand, eine schwarze Pilotentasche von genau der Größe, die man bei Flügen als Handgepäck mitnehmen kann.

So reisen nur Profis, schaffte Roar Hestenes noch zu denken. Aber als der Mann in der grünen Jacke sich umdrehte, so daß Hestenes sein Profil erkennen konnte, und etwas zum Taxifahrer sagte, begriff Roar Hestenes, daß es jetzt losging. Er war seiner Sache vollkommen sicher. Es war eins von rund dreißig Gesichtern, die er auf Fotos studiert hatte, bevor er zu seiner Schicht ging. Aber jetzt war dieses Gesicht hier völlig real und durch ein Fenster aus weniger als fünfzehn Metern Abstand vor dem Grand Hotel zu erkennen. Eins von dreißig denkbaren und gefürchteten Objekten war soeben angekommen, und Roar Hestenes wußte, daß der Mann sein Zimmer nicht unter dem eigenen Namen gebucht hatte.

Der Auftrag, bei dem nichts passieren konnte, bestand also darin, ein Hotel zu überwachen, in dem vor der israelischen Delegation am nächsten Tag kein interessanter Gast ankommen würde. Aber sicherheitshalber oder zu reiner Beschäftigungstherapie oder aufgrund der Vorsehung oder weil die Leitung des Überwachungsdienstes einen sechsten Sinn besaß, hatte der Polizeibeamte Roar Hestenes jetzt einen seiner ersten Fahndungsaufträge als Sicherheitspolizist, und in der ersten Stunde dieses Auftrags spazierte ihm eins der denkbaren Objekte direkt vor die Nase, stieg aus einem Taxi und betrat das Hotel.

Hestenes handelte im folgenden völlig richtig. Erst wartete er drei bis vier Minuten. Das Objekt war offenbar schon im Hotel verschwunden. Es gab nur einen Ausgang.

Hestenes brach ohne erkennbare Eile auf. Draußen auf der Straße unterdrückte er einen Impuls, schräg über den Zebrastreifen hinwegzugehen, wartete statt dessen Grün ab, ging erst über die Karl Johans Gate, bog dann nach rechts über die Rosenkrantz Gate ab und ging das kurze Stück zur Telefonzelle. Nachdem er die Nummer 669050 gewählt hatte, drehte er sich um, so daß er den Hoteleingang noch im Auge behalten konnte. Es läutete dreimal, bevor er seinen Chef erreichte, und in dieser Zeit konnte er noch sehen, wie im vierten Stock des Hotels Nobel in einem der Zimmer Licht gemacht wurde.

Hestenes teilte kurz mit, Objekt Nummer17 habe sich soeben ein Zimmer genommen, also vor weniger als fünf Minuten, und der Betreffende sei mit Taxi Nummer 1913 vorgefahren, das sich mit größter Wahrscheinlichkeit noch in der Osloer Innenstadt aufhalte.

Er bekam natürlich Order, abzuwarten, bis Verstärkung eintreffe und er Funksprechkontakt habe. Soweit war alles normal und ähnelte der üblichen Drogenfahndung. Die nächsten dreißig Stunden würden jedoch erheblich von der üblichen Routine abweichen.

Für die Überwachung oder Verfolgung eines Rauschgiftkriminellen gibt es ein paar einfache Faustregeln. Man hat es mit einer Person zu tun, die entweder völlig selbstsicher ist und sich mühelos verfolgen läßt, oder aber mit jemandem, der schon in dem Moment, in dem er aus einer Tür tritt, vor dem eigenen Schatten Angst zu haben scheint und sich im folgenden verhält, als wären zwanzig unsichtbare Polizisten hinter ihm her.

Mit dem letztgenannten Typus kommt man nur schwer zurecht, aber mit drei oder vier Mann läßt es sich machen, wenn man sich in einer Stadt ohne großes U-Bahn-Netz befindet. Um eine Person, die eventuelle Verfolger abschütteln will, kreuz und quer durch das Londoner oder selbst das Stockholmer U-Bahn-Netz zu verfolgen, ist ein Personaleinsatz erforderlich, der mindestens fünfmal so groß ist. Aber dieses Problem hat man in Oslo nicht. Dort kann man normalerweise niemanden aus den Augen verlieren, wenn mehrere Personen, die zueinander Funkkontakt halten und außerdem sowohl zu Fuß wie per Auto operieren, zusammenwirken.

Und so war es jetzt. Roar Hestenes stand noch immer an der Telefonzelle gegenüber dem Hotel Nobel an der Karl Johans Gate. Sein Kollege Atlefjord stand einen Straßenblock weiter in der Rosenkrantz Gate, und Kolle Selnes saß anderthalb Blocks weiter in der Karl Johan in einem Wagen hinter der Taxischlange vor dem Tostrupskeller. Ein Fehlschlag war also kaum möglich.

Das Objekt erschien nach drei Stunden und sechsundvierzig Minuten, und Hestenes sah den Mann als erster. Im selben Moment, in dem das Taxi vor dem Hotel vorfuhr, entdeckte Hestenes seine Kollegen. Das Objekt bestieg tatsächlich das Taxi, und Kollege Atlefjord teilte kurz über Funk mit, daß er jetzt zu seinem geparkten Wagen gehe und die Rosenkrantz Gate hinunterfahren werde, sobald er grünes Licht habe.

Kollege Selnes hinter der Taxischlange oben in der Karl Johan war schon gestartet.

Das Taxi mit dem Objekt bog von der Rosenkrantz Gate her um die Ecke auf die Karl Johan ein. Hestenes teilte seinen beiden Kollegen, die sich jetzt in weniger als zweihundert Meter Abstand vom Objekt in je einem Wagen befanden, mit, das Objekt sei losgefahren. Hestenes brauchte nur ein paar Minuten zu warten, da kam der nächste Kollege und holte ihn ab. Das Objekt hatte jetzt keinerlei Möglichkeit, den Verfolgern zu entkommen.

Sie verloren ihr Objekt jedoch innerhalb von drei Minuten aus den Augen, als Hestenes immer noch an der Telefonzelle stand und auf seinen Wagen wartete. Er hörte über Funk, wie das Ganze vor sich ging.

Es war frech, aber einfach.

Das Objekt war die Karl Johan nur zwei Straßenblocks hinuntergefahren. Dann war der Mann bei einer roten Ampel plötzlich ausgestiegen und im Eingang der Holmenkollen-Bahn verschwunden. Die beiden Kollegen saßen in der Autoschlange dahinter und schrien verzweifelt in ihre Funkgeräte.

Als Hestenes zu den Bahnsteigen hinunterlief, war das Objekt nicht mehr zu sehen. Entweder hatte der Mann soeben die Kolsås-Bahn genommen oder war einfach wieder hinausgegangen.

Es dauerte sieben Stunden, bis sie wieder Kontakt bekamen.

In der Nacht und in den frühen Morgenstunden hatte die Angelegenheit an Bedeutung gewonnen. Sie war dem Chef der gesamten Sicherheitspolizei vorgetragen worden, Geir Ersvold, und wurde anschließend dem operativen Chef vorgelegt, dem Polizeiadjutanten Iver Mathiesen, da der Fall eher in sein Zuständigkeitsgebiet fiel Sabotage, inländischer Rechtsextremismus und ausländischer Terrorismus – als unter Spionage und ähnliche Verbrechen.

Mathiesen wiederum hatte einen älteren Polizeifahnder abgestellt, der jetzt das unmittelbare Kommando über Hestenes und seine beiden Kollegen übernahm, die um zehn Uhr ihre Morgenschicht begannen.

Der Vortrag war kurz.

Das Objekt sei um 01.36Uhr ins Hotel zurückgekehrt, augenscheinlich nüchtern. Kommando A werde das Hotel jetzt bis 11.30Uhr überwachen, wonach es von Kommando B abgelöst würde, das aus Hestenes, Atlefjord und Selnes bestand.

Das Objekt sei mit der Neun-Uhr-Maschine von Stockholm auf dem Flughafen Fornebu angekommen und habe dann das Taxi Nr.1913 genommen. Der Mann habe kein Zimmer reserviert, aber offensichtlich eins bekommen und sich unter dem eigenen Namen eingetragen. Das Flugticket sei ebenfalls auf seinen richtigen Namen ausgestellt, aber ein Rückflug sei nicht gebucht. Es habe den Anschein, als hätte er darauf vertraut, ein Zimmer zu bekommen. Das Nebenzimmer werde erst um zwölf Uhr frei werden, und dann ziehe das technische Personal ein. Eine Telefonüberwachung sei schon eingeleitet worden, aber das Objekt habe das Telefon bislang nicht benutzt, und das sei vielleicht auch gar nicht zu erwarten.

Als das Objekt spät in der Nacht ins Hotel zurückkehrte, sei es aus Richtung Rosenkrantz Gate gekommen.

Folglich habe man keinerlei Beobachtungen machen können, die den Aufenthalt des Objekts in Oslo erklärten.

Wenn der Mann das nächstemal das Hotel verlasse, sei es absolut notwendig, Kontakt zu halten. Damit es nicht zu einer Wiederholung des Tricks mit der Holmenkollen-Bahn komme, sei ein Kollege schon unten in der Eingangshalle postiert worden. Der Betreffende werde sofort abberufen, falls das Objekt einen anderen Weg wähle (die Abteilung war durch Überstunden stark belastet und mußte sparsam mit ihren Fahndungsstunden pro Einheit umgehen).

Wenn das Objekt das Hotel verlasse, werde man sofort die Reservegruppe C aktivieren, um bei Schwierigkeiten eingreifen zu können.

Was jetzt bevorstehe, sei vermutlich ein entscheidender Kontakt. Es stehe zu befürchten, daß dieser Kontakt wiederum am nächsten Tag eine Terroristenaktion auslösen oder vorbereiten werde, nämlich bei der Ankunft der israelischen Delegation im Hotel.

Jeder Kontakt, den das Objekt von nun an herstelle, so unbedeutend er auch scheinen möge, müsse registriert werden. Die Spur könne zu einer palästinensischen Terrororganisation führen. Es gebe jetzt gute Gründe für die Annahme, daß eine palästinensische Organisation dieser Art eine größere Aktion in Skandinavien vorbereite. Kollegen aus dem befreundeten Ausland hätten bestimmte Hinweise in dieser Richtung.

Als die Sachlage klar zu sein schien, betrat Iver Mathiesen den Raum. Er blieb eine Weile mit den Händen in den Jackentaschen am Fenster stehen und blickte über den Fjord und den tristen Dezemberdunst hinaus. Die anderen warteten ab. Mathiesen zündete sich eine seiner englischen Zigaretten an und drehte sich um.

»Ich habe mit unseren israelischen Kollegen Kontakt aufgenommen«, begann er. »Nun ja, ich weiß, daß wir an dieser Zusammenarbeit nicht nur Freude gehabt haben« (er lächelte über die offenkundige Untertreibung; die Verbindungen zwischen den norwegischen und israelischen Sicherheitsdiensten hatten sich von der mißglückten Mordoperation der Israelis in Lillehammer nie richtig erholt, obwohl seitdem mehr als ein Jahrzehnt vergangen war), »aber in diesem Fall ist es nicht ohne Bedeutung, wie sie die Situation beurteilen. Sie sagen, sie erwarteten in der nächsten Zeit eine palästinensische Operation, aber nicht hier, sondern in Stockholm. Ihr habt doch sicher von dem gestrigen Mord an einem schwedischen Kollegen gehört, Folkesson von der Terroristenüberwachung.«

Mathiesen sog ein paarmal energisch an seiner Zigarette und ging langsam um den Konferenztisch herum.

»Die Schweden wiederum reden eine Menge dummes Zeug. Näslund behauptet wie üblich, mal diesen, mal jenen Verdacht zu haben, und daraus kann man keine Schlußfolgerungen ziehen. Und wir selbst haben, wie ihr wißt, keinerlei Hinweise auf die Anwesenheit palästinensischer Terroristen in Norwegen, keinerlei Hinweis außer diesem Burschen dort unten im Hotel Nobel. Und daraus sollen wir also jetzt Schlüsse ziehen. Welche Schlüsse? Du da, wie heißt du?«

»Hestenes.

»Also, Hestenes, welche Schlußfolgerungen?«

»Entweder ist eine ganze Truppe qualifizierter Terroristen nach Skandinavien gekommen, ohne daß wir oder die Israelis oder, na ja, die Schweden auch nur den kleinsten Hinweis erhalten haben, oder …«

Hestenes zögerte. Mathiesen drückte mit einer plötzlichen, entschlossenen Geste seine halbgerauchte Zigarette in der nächsten Kaffeetasse aus und fixierte Hestenes.

»Nun«, sagte er, »sprich weiter, Hestenes. Oder was?«

»Oder es handelt sich nur um falschen Alarm.«

»Genau das«, sagte Mathiesen und ging zur Tür, »genau das. Und wenn es sich um falschen Alarm handelt, kriegt ihr es heraus, wenn ihr darauf achtet, daß ihr diesen Hotelgast nicht noch einmal verliert oder ihm diesmal wenigstens etwas länger als drei Minuten auf den Fersen bleibt. So stehen die Dinge also«, sagte Mathiesen und drehte sich in der Tür um. »Entweder ist es gar nichts, oder es handelt sich um eine schlimmere Sache, als wir uns überhaupt vorstellen können.„

Er blieb eine Weile stumm, bevor er fortfuhr. »Seid jetzt so nett und laßt euch von diesem Scheißkerl nicht noch mal abhängen.« Dann ging er, ohne die Tür zu schließen.

Um 11.28Uhr löste Hestenes seinen Kollegen aus der Gruppe A ab und nahm die gleiche angenehme Position am Fenstertisch des Grand Hotel unten im Café ein, die er schon am Vortag eingenommen hatte. Seinen Mantel mit dem verborgenen Funksprechgerät hängte er neben sich über den Stuhl. Als er die Kaffeetasse umrührte, spürte er die Schwere seines Revolvers in der rechten Achselhöhle (Hestenes war Linkshänder). Zum erstenmal während seines Dienstes bei der Überwachungspolizei trug er eine Waffe.

Irgendwo dort oben im Hotel befand sich das Objekt. Vermutlich hatte der Mann vor zehn gefrühstückt, da der Speisesaal um diese Zeit schloß. Dann war er wieder auf sein Zimmer gegangen, wo er sich jetzt seit mehr als eineinhalb Stunden aufhielt.

Vielleicht auch nicht. Im Hotel hielt sich ja kein einziger Beamter auf. Die Kollegen vom Erkennungsdienst würden erst in zwanzig Minuten mit ihrem Gepäck ankommen. Im Augenblick spazierte das Objekt vielleicht im dritten und vierten Stock herum, wo in fünf oder sechs Stunden die israelische Delegation ihre Quartiere beziehen würde. Der Mann inspizierte die Örtlichkeiten, untersuchte die Hintertüren, erkundete, wie er das Hotel durch das Reisebüro im ersten Stock verlassen oder wieder betreten konnte. Das Hotel war merkwürdig abgeschnitten, weil im ersten Stock ein Reisebüro untergebracht war. Weder die Hoteltreppe noch der Fahrstuhl besaßen eine Verbindung mit dem Obergeschoß und dem dortigen Reisebüro.

Das war natürlich die richtige Methode, sich Einlaß zu verschaffen. Statt den Hauseingang zu nehmen – der Betreffende mußte ja davon ausgehen, daß er überwacht wurde –, drangen die Terroristen erst ins Reisebüro ein und brachten das dortige Personal zum Schweigen. Dann würden sie die Feuertür aufbrechen, die verschlossen war, wobei man sich fragen kann, wofür verschlossene Feuertüren gut sein sollen, und würden über die Hintertreppe unerwartet im zweiten oder dritten Stock ankommen. Dann wäre alles nur noch das Werk einiger Augenblicke, und während der ausbrechenden Panik würden sie sich auf dem gleichen Weg zurückziehen.

Sollte man also die Überwachung besser auf den Eingang des Reisebüros in der Karl Johan Gate konzentrieren als auf den Hoteleingang in der Rosenkrantz Gate?

Irgend etwas tat der Mann dort oben jedenfalls, es konnte alles mögliche sein, allerdings telefonierte er nicht. Der Mann dort oben war kein nervöser kleiner Dealer. Hier war es anders, hier wurde nicht mehr Räuber und Gendarm gespielt, wo die Polizei fast immer gewinnt.

Und falls die Pilotentasche des Mannes nun etwas anderes enthielt als Kleidung und Zahnbürste und Rasierapparat und Newsweek?Sagen wir sechs bis sieben Kilo TNT; eine solche Ladung, richtig plaziert, würde das ganze Hotel in die Luft jagen.

Nein, das würde nicht passieren. Da jetzt tatsächlich Befehl gegeben worden war zu suchen, würden die Techniker mühelos jeden Sprengstoff finden.

Der einzige Vorteil des Sicherheitsdienstes bestand im Augenblick darin, daß der Mann nichts von der Überwachung wußte. Oder doch? Warum sollte ein Profi nicht von dieser Möglichkeit ausgehen? Vielleicht war dies alles ein Scheinmanöver, aus dem sich später nie ein Beweis machen ließ. Vielleicht sollte dieses Objekt Nummer 17 nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken und sich verfolgen lassen; der Mann war ja sogar unter eigenem Namen abgestiegen.

Plötzlich stand der Mann vor dem Hoteleingang, die Hände in den Taschen der grünen Jägerjacke. Die schwarze Tasche hatte er nicht bei sich, obwohl er jetzt offenbar das Hotel verlassen wollte. Also TNT? Nein, warum sollte er dann nicht die leere Tasche bei sich haben?

Es sah aus, als betrachtete er das Wetter. Er blickte zum Dach und dem Oberteil der Fassade des Grand Hotel hoch. In Wahrheit hatte er wohl eher die umliegenden Straßenecken in Augenschein genommen. Dann knöpfte er nachdenklich seine Jacke zu.

Hestenes hatte zur stummen Verblüffung seiner Tischnachbarn die Nachricht über Funk weitergeleitet (»B 2 an B 1 und 3 – Der Fuchs auf dem Weg nach draußen«) – und verließ dann das Lokal, während das Objekt gleichzeitig schräg über die Straße ging, direkt auf das Fenster zu, an dem Hestenes noch vor wenigen Sekunden gesessen hatte.

Hestenes stand am Eingang des Grand Hotel und sah das Objekt aus wenigen Metern Abstand an sich vorbeigehen.

So, jetzt werden wir mal sehen, ob du mich abschütteln kannst, dachte Hestenes, während er sich entschlossen seinen Mantel anzog und ein paar schnelle Schritte auf die Straße machte, worauf er sofort wieder in den Hoteleingang zurückstürzen mußte.

Das Objekt war an einem Schaufenster gleich neben dem Hoteleingang stehengeblieben. Es gehörte zu einem Uhrengeschäft, das eine beachtliche Kollektion der bei weitem teuersten Rolex-Uhren Oslos führte; sie lagen im Fenster als eine schreiende Aufforderung an motorisierte Diebe, Ziegelsteine zu werfen und anschließend gewisse Hehlereiprobleme zu bekommen (die teuersten Uhren kosteten an die 200000 norwegische Kronen). Immer wenn Hestenes an diesem Schaufenster vorbeikam, blieb er stehen und sah sich die Uhren an. Einerseits entrüstete sich der Polizist in ihm, weil ihm diese Zurschaustellung wie eine Aufforderung zu einem Verbrechen vorkam, andererseits regte er sich als armer Bauernsohn vom Vestlandet bei dem Gedanken auf, daß es Landsleute gab, die Armbanduhren im Wert von zwei unversteuerten Jahresgehältern eines jüngeren Sicherheitspolizisten mit sich herumtrugen.

Aber jetzt mußte Hestenes zu einem schnellen Entschluß kommen. Es ging nicht an, noch mal auf die Straße zu hüpfen und dann wieder umzukehren. Er durfte auch nicht stehenbleiben und das Objekt aus den Augen verlieren. Er hatte es mit einem Profi zu tun und durfte nicht zögern.

Er trat hinaus und überquerte die Straße rasch in Richtung Stortinget. Als er die Auffahrt des Storting erreichte, blieb er stehen, bückte sich und »schnürte sich den Schuh zu«, während er nach dem Objekt Ausschau hielt.

Das Objekt war nicht zu sehen.

Hestenes drehte sich um, stand auf und griff mit einem Gefühl von Verzweiflung oder Angst, beichten zu müssen, daß es ihm gelungen war, den gestrigen Rekord zu schlagen, nach dem Funksprechgerät. Es konnte doch nicht sein; niemand kann sich einfach so in Rauch auflösen.

Im selben Moment, in dem er auf den Sendeknopf drückte, sah er die grüne Jacke in einer kleinen Menschenmenge vor Christian Kroghs Standbild. Das Objekt sprach mit zwei Personen, die Flugblätter verteilten und mit Sammelbüchsen klapperten. Die beiden jungen Leute hielten eine Flagge hoch, die Hestenes wohlbekannt war. Grün, Weiß, Rot und Schwarz – die Palästinenser-Flagge.

Hestenes meldete es über sein Funkgerät. Kollege Atlefjord sollte die beiden jungen Leute mit den Sammelbüchsen fotografieren. Er mußte ja ganz in der Nähe sein.

Hestenes gab seine Position durch und erreichte Atlefjord, der sich im Augenblick vor dem Eingang des Grand Hotel befand. Sie nickten sich zu.

Die Jagd ging weiter. Atlefjord fotografierte erst, ging dann zu den jungen Leuten hinüber und nahm sich eins der Flugblätter. (Wie sich später herausstellte, enthielt das Flugblatt nichts, was sich unmittelbar mit Terrorismus in Verbindung bringen ließ. Es enthielt drei Textpassagen mit den Überschriften:

VERTEIDIGT DIE UNABHÄNGIGKEIT DER PLOSCHLIESST EUCH DER SOLIDARITÄTSARBEIT AN UNTERSTÜTZT DIE HILFSKOMITEES DER PLO

Ferner wurde für etwas geworben, was man ein Solidaritätskonzert mit Tanz in dem Studententreff Château Neuf nannte; nichts davon hatte für die Fahndungsarbeit auch nur die geringste Bedeutung, aber die beiden jungen Leute, die kurz mit dem Objekt gesprochen hatten, konnten jetzt vorschriftsmäßig ins Sympathisantenregister aufgenommen werden, da die Bedingung in Paragraph 4, letzter Absatz, der Anweisungen für den Sicherheitsdienst erfüllt war, nämlich: »Eine Mitgliedschaft in einer legalen politischen Organisation oder legale politische Betätigung bildet allein noch keine Grundlage für die Einholung und Speicherung von Erkenntnissen.« (Mit einem Terroristen zu sprechen war mehr als »allein«.)

Hestenes setzte die Jagd fort.

Auf den nächsten beiden Straßenblocks nahm das Objekt mit niemandem Verbindung auf. Hestenes folgte ihm auf der anderen Straßenseite. Das Objekt sah sich nicht um, nicht einmal bei den zwei oder drei Gelegenheiten, bei denen es stehenblieb, um sich Schaufenster anzusehen.

Oder? Nein. Roar Hestenes hatte immerhin ganze vier Jahre als Fahnder bei der Kripo und beim Drogendezernat gearbeitet. Wer vor einem Schaufenster stehenbleibt, um sich in der Spiegelung des Glases die andere Straßenseite anzusehen oder die Umgebung zu beobachten, verrät sich durch sein unnatürliches Verhalten; man merkt ihm an, daß er etwas anderes betrachtet als die Auslagen.

Der Spaziergang ging gemächlich ein paar Straßenblocks weiter. Plötzlich lief das Objekt quer über die Straße auf die Seite, auf der sich Hestenes befand, und betrat Oppegårds, einen Laden, in dem Stickereien verkauft werden, geflochtene Körbe und zu dieser Jahreszeit außerdem noch Weihnachtsschmuck.

Hestenes zögerte. Der Laden war so klein, daß man ihn nicht betreten konnte, ohne aufzufallen. Und er hatte es hier mit einem Profi zu tun, von dem zu erwarten war, daß er alle Personen in seiner Umgebung gespannt beobachtete. Wenn man sich offen zeigte, wäre die Gefahr allzu groß, daß der Mann einen später Wiedererkennen würde. Andererseits hatte das Objekt jedoch kaum einen natürlichen Grund, einen Laden mit Stickereien und Weihnachtsschmuck zu betreten.

Hestenes gab über Funk seine Position durch. Anschließend näherte er sich entschlossen dem nächstliegenden Schaufenster. Er konnte in den Laden hineinsehen.

Das Objekt sah sich einige Sträuße mit Strohblumen an, ohne auch nur einmal den Blick zu heben und den draußen stehenden Hestenes anzusehen. Außerdem war der Laden hell erleuchtet, und es war nicht sonderlich wahrscheinlich, daß man in dem diffusen Dezemberlicht jemanden auf der Straße erkennen konnte.

Das Objekt wählte drei Sträuße mit Strohblumen aus, einen roten, einen grünen und einen blauen, wie Hestenes notierte, und reihte sich darauf in die Schlange vor der Kasse ein, um zu bezahlen. Die übrigen Personen in der Schlange waren ohne jeden Zweifel gewöhnliche norwegische Bürger und zudem ausschließlich Frauen mittleren Alters.

Hestenes konnte das Objekt in der Kassenschlange ständig im Auge behalten. Dort wurde definitiv kein Kontakt aufgenommen.

Das Objekt trat mit den Sträußen in einer weißen Plastiktüte mit rotem Weihnachtsdekor auf die Straße und setzte den Weg in Richtung Stortorvet fort.

Hestenes dachte nach.

Die Blumensträuße ließen sich als Erkennungssignale verwenden, teils einzeln, teils durch eine Kombination von Farben. Aber jetzt waren sie in der Plastiktüte verborgen.

Das Objekt ging schnell von der Kreditkasse zu den Blumenständen auf dem Stortorvet hinüber, hielt inne und wechselte ein paar Worte mit einer Verkäuferin an einem fahrbaren Blumenstand (Arne Dalens Gärtnerei und Gartencenter; die Verkäuferin wurde noch am selben Abend mit negativem Ergebnis verhört; sie erinnerte sich nicht mal an das Gesagte oder daran, ob norwegisch oder schwedisch gesprochen worden war).

Das Objekt steuerte geradewegs auf das große Warenhaus Glasmagasinet zu, wo das Weihnachtsgeschäft in vollem Gang war und wo sich Tausende von Menschen drängten und in Mengen hinein- und hinausströmten. Es war ein idealer Treffpunkt für einen schnellen Kontakt.

Also. Hier handelte es sich nicht um irgendwelche kleinen Gauner, hier ging es um Leute, die ihr Handwerk beherrschten.

Hestenes gab seinen Kollegen per Funk die neue Position durch und bat den Kollegen Atlefjord, bei der Zentrale die Reservegruppe anzufordern. Ein Warenhaus im Weihnachtsgeschäft läßt sich nicht mit drei Mann abdecken.

Die Verfolgung eines Menschen in einem Warenhaus kann schon schwierig genug sein, auch wenn das Fahndungsobjekt völlig unerfahren ist. Und wenn man einen Profi jagt, kann sich die Situation schnell zu einem Alptraum von Peinlichkeiten und unmöglichen Situationen entwickeln, und Hestenes’ düstere Vorahnungen wurden schon bestätigt, als sich beide, er und das Objekt, im Erdgeschoß des Warenhauses befanden.

Das Objekt legte keinerlei Eile, Ungeduld oder Nervosität an den Tag. Der Mann hielt sich lange bei den Vitrinen mit Kristallglas und Vasen auf. Hestenes’ Problem bestand darin, daß man durch die Vitrinen hindurchsehen konnte und daß sie überdies voller Spiegel waren, die eine wirkliche Kontrolle über die tatsächliche Blickrichtung des Objekts unmöglich machten. Außerdem mußte Hestenes ziemlich nahe an dem Mann dranbleiben, um ein eventuelles Signal oder einen Kontakt zu observieren, und während er das Objekt anstarren mußte, mußte er sich gleichzeitig den Anschein geben, als betrachtete er Gläser und Vasen in einer Preislage, von der er nicht einmal träumen konnte.

Bei einer Gelegenheit waren die beiden Männer nur vier Meter voneinander entfernt. Das Objekt hielt ein Weinglas in der Hand und schien tief in den Anblick des geschliffenen Musters versunken zu sein. Der Mann sah entspannt und völlig natürlich aus.

Der Mann dort in grüner Jägerjacke und Cordhose mit der weißen Plastiktüte, die drei Sträuße mit verschiedenfarbigen Strohblumen enthielt, sah wie irgendein x-beliebiger Skandinavier aus, jedoch mehr wie ein Sportler oder Freizeitmensch als wie ein politischer Intellektueller, war also eher Norweger als Schwede. Nichts an ihm gemahnte auch nur entfernt an einen Terroristen. Möglicherweise wirkte das Weinglas, das er jetzt gegen das Licht hielt, etwas unmarxistisch, weil es einen breiten Goldrand hatte und blitzende, geschliffene Muster.

Sie standen jetzt drei Meter voneinander entfernt, hatten aber ein paar Glasvitrinen und mehrere spiegelnde Wände zwischen sich; es gab keine direkte Blickrichtung zwischen ihnen, aber Roar Hestenes sah dem Terroristen über einen Spiegel in der Vitrine mit den goldgeränderten Gläsern ins Gesicht.

Der Terrorist wandte den Blick plötzlich von dem Glas ab, blickte direkt in den Spiegel und begegnete dem Blick von Roar Hestenes. Es konnte kaum mehr als eine Sekunde gewesen sein, aber Hestenes würde dieser Moment für immer wie eine Unendlichkeit vorkommen.

Der Terrorist lächelte fein. Fast unmerklich tat er, als prostete er Hestenes zu. Dann verschwand er. Übrig blieb das Glas.

Roar Hestenes war zehn Meter vom nächsten Ausgang entfernt, und diesen Weg hatte der Terrorist jedenfalls nicht genommen. Hestenes fühlte, wie er ins Schwitzen geriet.

Er konnte nur eins tun, auch wenn es peinlich war. Er begab sich ins Gedränge, traf draußen auf die kühle Luft, die er als Trost empfand, und teilte über Funk mit, daß einer der Kollegen im Warenhaus übernehmen müsse, da er selbst Gefahr laufe, observiert zu werden. Atlefjord befand sich schon im Warenhaus, hörte die Mitteilung in seinem Kopfhörer, und es gelang ihm rasch, das Objekt zu orten. Es ist aber eine teuflische Arbeit, in einem Warenhaus einen Profi zu verfolgen. Wenn es nur darum geht, eine kurze Mitteilung zu übergeben, läßt sich das ohne jeden persönlichen Kontakt machen. Das Objekt steht zu einem exakt verabredeten Zeitpunkt an einem verabredeten Ort, und wenn es bei dieser Gelegenheit drei Knöpfe seiner Jacke zugeknöpft hat statt nur einen oder zwei, übermittelt er eine Nachricht an eine Person, die das Objekt selbst vielleicht weder sieht noch kennt; vielleicht hält es auch den Schal in der einen Hand und betrachtet einen braunen Handschuh statt einen schwarzen oder grauen, und derjenige, der in diesem Augenblick die Nachricht erhält, kann unter Hunderten von Personen in der Nähe jeder beliebige sein.

Und selbst bei einer schwierigeren Operation, wie etwa einem Drop, wenn also eine schriftliche Nachricht oder ein Mikrofilm übergeben werden soll, kann eine Observation genauso unmöglich werden. Denn wenn das Objekt jetzt einen grauen Handschuh anprobiert und ihn in den Haufen mit den braunen Handschuhen zurücklegt, muß ein Mann das Objekt weiterverfolgen, während ein Kollege bleiben muß, um zu kontrollieren, wer als nächster die Hand in den grauen Handschuh steckt.

Ein trainierter Spion oder Terrorist kann all dies inmitten der Sicherheitsleute der Gegenseite erledigen.

Es stellte sich schnell heraus, daß Atlefjord und Selnes im Warenhaus ordentlich ins Schwitzen gerieten. Der Terrorist hatte sich von der Glasabteilung im Erdgeschoß in den ersten Stock und in die Abteilung für Damenunterwäsche begeben, wo er als einsamer Mann auffiel. Wenn man sich aber einen norwegischen Sicherheitspolizisten mit zugeknöpftem Mantel dazudenkt (Funksprechgerät und Dienstwaffe, also zugeknöpfter Mantel), der ohne Schuhe 1,95Meter mißt, würde die Szene allmählich einer Filmparodie ähneln.

Atlefjord war also gezwungen, Abstand zu halten.

Und im folgenden sah es aus, als würde der Terrorist mit seinen Verfolgern spielen. Er spulte das ganze Programm wie aus dem Lehrbuch ab, wechselte urplötzlich die Richtung, in die er sich bewegte, und suchte den einen unmöglichen Ort nach dem anderen auf, beispielsweise am Ende der Abteilung Bettwäsche im zweiten Stock, wo jede Annäherung ebenso unmöglich ausgesehen hätte wie bei der Damenunterwäsche. Als das Ganze endlich zu Ende ging, hatte der Terrorist in der Hausratsabteilung im zweiten Stock für zweihundertfünfundachtzig Kronen eine kleine Kupferkasserolle gekauft. Er bezahlte mit einer American-Express-Karte auf den eigenen Namen, etwa so, als wollte er eine Visitenkarte überreichen oder auf jeden Fall festhalten, daß er zu genau diesem Zeitpunkt dagewesen war.

Und anschließend wurde es nicht lustiger. Der Mann ging auf dem kürzesten Weg zum Hotel zurück, ohne auch nur vor einem Schaufenster stehenzubleiben, ohne sich ein einziges Mal umzusehen – und die Kollegen hatten kaum Zeit gehabt, ihre Plätze in der Umgebung des Hotels einzunehmen, da erschien er auch wieder, diesmal mit leeren Händen.

Das Objekt setzte den Weg über die Rosenkrantz Gate fort, hinauf zu dem Uhrmacher, wo er von neuem stehenblieb und eine Rolex-Uhr in Weißgold mit Brillanten für 191260 Kronen betrachtete (Selnes stand ganz in der Nähe und hatte einen guten Überblick); anschließend ging er ein kurzes Stück weiter und war fast wieder bei den Palästina-Aktivisten angelangt. Er schien das Storting zu betrachten. Er überquerte die Straße und betrachtete weiter das Storting. Fünf Sicherheitspolizisten in der Nähe folgten ihm jetzt gespannt mit den Blicken.

In diesem Moment erschien ein Taxi auf der anderen Straßenseite bei einem Taxenstand. Es gab keine Schlange, und das Objekt lief jetzt so hastig wie überraschend wieder auf die andere Straßenseite zurück und sprang in den Wagen, der sofort anfuhr.

Kurze, chaotische Umgruppierung auf Autos und eine Reihe von Funkmeldungen der Sicherheitsbeamten untereinander, die Fahrtrichtung und Taxinummer an die Reservegruppe durchgaben, die sich irgendwo in der Nähe befand. Niemand wußte wo.

Der weitere Verlauf geriet genauso peinlich wie die Verwicklungen im Warenhaus Glasmagasinet. Die Kollegen im ersten Verfolger-Auto hatten das Taxi jedoch nach ein paar Minuten entdeckt, und die Fahrt ging ohne weitere Umwege weiter, zum Stadtteil Tøyen und zum Munch-Museum.

Die Kollegen gingen wie nach dem Lehrbuch vor. Die beiden ersten, die Kontakt mit dem Objekt bekommen hatten, trennten sich. Einer von ihnen setzte die Verfolgung ins Museum fort, der andere blieb im Auto und berichtete über Funk. Innerhalb von fünf Minuten waren zwei weitere Kollegen da. Einer der Neuankömmlinge betrat das Museum. Sie waren also jetzt zu viert, zwei Mann drinnen und zwei draußen.

Da dies ein trüber Wochentag Anfang Dezember war, hielten sich nur wenige Besucher im Museum auf, und niemand von ihnen ließ spontan an den Nahen Osten denken. Die meisten waren ohne jeden Zweifel gewöhnliche Norweger. Eine Schulklasse kam vorbei.

Der Terrorist kaufte einen Ausstellungskatalog, den er später nur bei einer Gelegenheit öffnete, als wollte er ein Detail nachprüfen. An zwei Stellen hielt er sich besonders lange auf. Erst saß er fast zwanzig Minuten auf einer Bank vor vier frühen Gemälden aus den 1890er Jahren (Madonna, Der Kuß, Das Mädchen und der Tod und Vampir). Soweit es sich erkennen ließ, wandte das Objekt seine Aufmerksamkeit ausschließlich den Bildern zu.

Anschließend ging der Mann um die Ecke und widmete einem Bild besonders viel Zeit, das zwar auch Frauen darstellte, jedoch völlig anders. (Die Mädchen auf der Brücke,etwa 1927).

An dieser Stelle nahm das Objekt mit einem älteren Herrn Kontakt auf. Es hatte den Anschein, als sprächen sie über das Bild.

Als der ältere Mann kurze Zeit später das Museum verließ, wurde er von den Kollegen fotografiert (und zwei Tage später war er sicher identifiziert; er hieß Germund Braathe, war ehemaliger Reeder, Millionär, lebte zurückgezogen in einer Villa in Østfold außerhalb von Moss).