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Jan Guillou

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Beschreibung

Das schwedische Außenministerium erhält einen Erpresserbrief. Der Inhalt: der abgehackte Zeigefinger eines schwedischen Spitzenmanagers. Der Absender: die sizilianische Mafia. Das heikle Geschäft, mit den Entführern zu verhandeln, überlässt die Regierung Graf Hamilton, dem aristokratischen Superbrain unter den Agenten. Hamilton findet schnell heraus, dass es bei seinem Auftrag weniger um zwei Menschenleben und einige Million Dollar Lösegeld geht, als vielmehr um Waffenexporte in den Nahen Osten. Gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Lundwall stellt er Nachforschungen an. Als Lundwall jedoch ermordet wird, gerät Hamilton ins Schleudern. Jetzt heißt es: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

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Übersetzung aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass

ISBN 978-3-492-98058-6 © für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014 © 1991 Jan Guillou Titel der schwedischen Originalausgabe: »Vendetta«, Norstedts Förlag, Stockholm 1991 © der deutschsprachigen Ausgabe: Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © dreamerve / shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leckv   Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 3. Auflage 2005   In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich Fahrenheitbooks die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.  

1

Der Zeigefinger war exakt in der Mitte des zweiten Glieds gekappt worden. Der Schnitt war sauber ausgeführt, und kein Chirurg hätte etwas einzuwenden gehabt.

Das Problem war, daß der Finger in einem Brief lag, der an Peter Sorman adressiert war, den Staatssekretär im Stockholmer Außenministerium.

Der interne Sicherheitsdienst bei schwedischen Behörden geht nach eingespielten Methoden vor, um Briefe von ungewöhnlichem Aussehen oder verdächtig dicker Form zu entdecken und zu kontrollieren, und so war der Zeigefinger schon früher am Morgen bei der Durchleuchtung durch die ABAB-Beamten entdeckt worden. Nur zu verständlich, daß es einige Aufregung gab. Weniger verständlich waren einige Beschlüsse.

Es war der Sicherheitschef des Außenministeriums, Christian Douglas, der mit der Neuigkeit zum Staatssekretär ging und den Vorschlag machte, die Angelegenheit sofort der Polizei zu übergeben.

Der Brief war jedoch in Palermo abgestempelt, und schon das ließ es geraten erscheinen, ein wenig von der vorgeschriebenen Routine abzuweichen. Es war nämlich nicht schwer zu erraten, welcher von zwei denkbaren Personen der Zeigefinger gehörte.

Ein Sektionschef bei der Sicherheitspolizei wurde hinzugezogen, erhielt den Brief in einer Klarsichthülle und wurde angewiesen, die anschließende kriminaltechnische Untersuchung in aller Diskretion vorzunehmen. Die Polizei sollte den Originalbrief erhalten, bevor er durch die Hände von einem runden Dutzend Regierungsmitgliedern und Beamten des Außenministeriums gegangen war. Der Sektionschef sagte zu, eine Kopie des Briefes innerhalb einer Stunde zurückzusenden. Anschließend wurde eine Sitzung beim Außenminister anberaumt.

Bei dieser Konferenz waren außer dem Außenminister Anders Stensson und Staatssekretär Peter Sorman auch die Leiterin der Rechtsabteilung des Außenministeriums, Agnes Corell, sowie der Sicherheitsberater des Ministerpräsidenten anwesend, Staatssekretär Lars Kjellsson.

Der Brief war, was schon sein makabrer Inhalt hatte vermuten lassen, ein Erpresserbrief. Bemerkenswert daran war, daß sich die Erpressungsdrohung, soweit ersichtlich, gegen den schwedischen Staat richtete und nicht gegen das Privatunternehmen, in dem der Eigentümer des Zeigefingers arbeitete.

Peter Sorman trug die Fakten vor, da er von den Anwesenden der einzige war, der die ganze Geschichte aus nächster Nähe verfolgt hatte.

Vor vierzehn Tagen war ein besorgniserregender Bericht aus Rom eingetroffen. Ein schwedischer Botschaftssekretär hatte einen anonymen Tip erhalten. Das von Swedish Ordnance, dem ehemaligen Rüstungsunternehmen Bofors, mit dem italienischen Staat und einigen italienischen Unternehmen vor einigen Jahren wider alle Vernunft und gegen alle gutgemeinten Ratschläge abgeschlossene Geschäft sollte anrüchig sein. Wie allgemein bekannt, ging es um die Bewaffnung von vier neuen Fregatten. Die Schiffe wurden in Italien gebaut, aber die Bewaffnung sollte ab Anfang 1992 von Schweden geliefert werden. Das Geschäft war vor ein paar Jahren sowohl vom Reichstag als auch der Kriegsmaterialinspektion gutgeheißen worden und hatte zu keinerlei Einwänden geführt. Die Grundsätze des schwedischen Waffenexports, die darauf hinauslaufen, daß Schweden nur Waffen an Käufer liefern darf, die dafür garantieren, daß sie die Waffen gar nicht brauchen, waren mühelos erfüllt worden. Der italienische Staat hatte zugesagt, die Ausrüstung nur für den Eigenbedarf zu verwenden, statt sie weiterzuexportieren. Und Italien war kein anrüchiges Land. Und so weiter.

Der Tip, der die schwedische Botschaft in Rom erreicht hatte, lief jedoch darauf hinaus, daß in Wahrheit nicht vier, sondern nur drei Fregatten gebaut werden sollten. Die Ausrüstung für die vierte Fregatte, so der entscheidende Hinweis, sei für den Weiterexport in den Irak vorgesehen.

Als internationaler Handelspartner spielte der Irak zwar keine große Rolle mehr, aber es war besorgniserregend genug, daß Waffen dieser Art auf Abwege geraten konnten. Denn es handelte sich um Abschußlafetten sowie rund achtzig Raketen und die entsprechenden Feuerleiteinrichtungen, Luftabwehrkanonen und eine erhebliche Menge Luftabwehrmunition.

Folglich hatte sich Peter Sorman sofort nach dem Eintreffen des Botschaftsberichts an den Kriegsmaterialinspekteur gewandt, der daraufhin unverzüglich mit dem schwedischen Unternehmen Kontakt aufnahm. Dort hatte man beschlossen, zwei leitende Angestellte nach Rom zu schicken, um eindeutige Versicherungen der italienischen Geschäftspartner zu erhalten, daß es bei dem Geschäft keinen verborgenen Besteller gebe.

Der Verkaufschef von Bofors, Gustaf Hansson, ehemals Major bei der Küstenartillerie, sowie der technische Direktor Johan Carlemar waren daraufhin nach Rom geflogen. Nach Auskunft der schwedischen Botschaft hatten sie jedoch nur ein einziges Treffen mit ihren italienischen Geschäftspartnern gehabt, eine Besprechung, die offenbar nur kurz gewesen und dann vertagt worden sei. Anschließend seien die beiden Männer ganz einfach verschwunden.

Genau das, verschwunden. Die Botschaft in Rom hatte Kontakt mit dem Hotel der beiden Männer aufgenommen, in dem diese ihr Gepäck und andere Dinge zurückgelassen hatten. Sie selbst aber waren wie vom Erdboden verschluckt.

»Der Brief aus Palermo«, fuhr Peter Sorman fort, »wirft also ein bezeichnendes Licht auf die Sache, gibt aber auch zu größter Sorge Anlaß. Dem Inhalt des Briefes nach zu urteilen dürfte der Zeigefinger entweder Carlemar oder Hansson gehören. In der Sache drückt sich der Absender nicht kristallklar aus, aber trotzdem gibt es keinen Zweifel, worauf das Ganze hinausläuft.«

Das Schreiben war an Peter Sorman persönlich adressiert, und nach einigen höflichen einleitenden Phrasen, die angesichts des biologischen Inhalts einen fast makabren Eindruck machten, wurde eine Einladung ausgesprochen, man möge einen Unterhändler ins Grand Hotel et Des Palmes in Palermo schicken, um über »die weitere Entwicklung unserer Geschäfte zu diskutieren, bei denen die Herren Carlemar und Hansson selbstverständlich einen Teil des Preises ausmachen«.

Der Brief war in anscheinend mühelosem, fehlerfreiem Englisch abgefaßt, jedoch auf amerikanische Weise geschrieben. Er wanderte bei den Konferenzteilnehmern von Hand zu Hand.

»Und jetzt«, erklärte Peter Sorman, »können wir zur Diskussion übergehen und eventuell Beschlüsse fassen.«

Den Vorsitz übernahm wie selbstverständlich der Außenminister, nicht nur, weil die Konferenz in seinem Zimmer stattfand die Herren saßen in einer leicht ächzenden gustavianischen Sofagruppe –, sondern auch, weil er der politische Anführer dieser Gesellschaft war, der erfahrenste Mann. Wäre er zehn Jahre jünger gewesen, wäre er Nachfolger Olof Palmes als Ministerpräsident geworden.

»Also«, begann er. »Unsere offizielle Politik besteht natürlich darin, daß wir niemals mit Terroristen und Verbrechern verhandeln. Das ist ein ausgezeichneter Grundsatz, gegen den wir nur dann verstoßen, wenn es sich als nötig erweist. Prinzipien einerseits, zwei schwedische Menschenleben andererseits. Wollen wir mit der Rechtslage anfangen?«

Aller Augen wandten sich Agnes Corell zu, der Leiterin der Rechtsabteilung. Sie hatte diesen Posten erst vor relativ kurzer Zeit übernommen, war aber kein weiblicher Karriere-Politruk, sondern eine anerkannt tüchtige Richterin, die ebensogut Oberlandesgerichtspräsidentin hätte werden können. Sie war keine Frau, die man einfach überfahren konnte. Sie war höchst korrekt, grauhaarig, für ihren Scharfblick berühmt und dampfte förmlich vor Intelligenz. Dennoch war unmißverständlich zu spüren, daß sie sich unter Politikern nicht ganz wohl fühlte. Ihr Gebiet war die Jurisprudenz, nicht die Politik, und schon die etwas leichtsinnige Darstellung des Problems durch den Außenminister bewirkte, daß sie zwar unbewußt, jedoch für alle sichtbar Lunte roch.

»Was die Rechtslage angeht, läßt sich folgendes sagen«, begann sie kühl, aber ohne zu zögern. »Falls Straftaten dieser Art auf schwedischem Territorium begegnet werden soll, also im Geltungsbereich der schwedischen Rechtsprechung, könnte man für die Anwendung des Notstandsrechts grünes Licht geben. Wenn ich mich recht erinnere, hat sich die Regierung bei mehreren Gelegenheiten solche Freiheiten genommen, die anschließend vom Verfassungsausschuß untersucht und gebilligt worden sind. Dabei ging es um verschiedene Entführungsdramen, die Geiselnahme auf Norrmalmstorg, die Bulltofta-Geschichte und vielleicht ein paar andere Fälle. Insoweit gibt es keine rechtlichen Probleme, da sind wir der ermessensmäßigen Beurteilung durch die Regierung ausgeliefert.«

»Na, na«, sagte der Außenminister – er war ein wenig verletzt –, »wir könnten dem mehr oder weniger klugen Ermessen der Regierung ausgeliefert sein. Aber es geht doch jetzt um Italien?«

»Völlig richtig«, fuhr die Leiterin der Rechtsabteilung ungerührt fort. »Die italienische Gesetzgebung auf diesem Gebiet ist, soviel ich weiß, sowohl strikt als auch umfassend. Entführungen sind in Italien ja ein nicht ganz seltenes Problem. Unter anderem ist es dort gesetzlich verboten, mit Entführern zu verhandeln. Ich vermag für schwedische Behörden keine Möglichkeit zu sehen, dieses Verbot zu übertreten. Wir sollten die Angelegenheit also an die betreffenden italienischen Behörden übergeben. Eine andere rechtlich akzeptable Lösung gibt es nicht.«

Sie betonte das Wort rechtlich auf eine Weise, die den Außenminister ahnen ließ, daß sie sarkastisch noch andere, tieferstehende und somit politische Möglichkeiten andeuten wollte.

»Wie sieht deine Meinung dazu aus, Peter?« fragte der Außenminister, ohne auch nur mit einer Miene erkennen zu lassen, was er über eine wie auch immer geartete Rechtslage dachte.

Peter Sorman kannte seinen Chef sehr gut. Sie arbeiteten schon seit Jahrzehnten in der Partei zusammen, und er begriff, in welche Richtung der Karren gezogen werden sollte.

»Nun ja«, sagte Peter Sorman zögernd, fast lustvoll zögernd, da er an den Blicken der anderen erkannte, daß von ihm eine Lösung des Problems erwartet wurde, »nun ja, es dürfte wohl unzweifelhaft sein, daß wir als erste Maßnahme mit den italienischen Behörden Kontakt aufnehmen müssen. Als zweite Maßnahme könnte man sich vielleicht vorstellen, daß wir uns bei ihnen erkundigen, was sie von einem Versuch halten, mit den Entführern zu verhandeln, ob wir das sozusagen tun können, ohne hinter ihrem Rücken zu agieren, aber doch so, daß die Italiener beide Augen zudrücken. Zunächst aber müssen wir mit den italienischen Behörden Kontakt aufnehmen. In diesem Punkt sehe ich keine andere Wahl, darin hat Agnes recht.«

»Hm«, sagte der Außenminister. »Was hältst du von dieser Vorgehensweise, Agnes?«

»Die Maßnahmen, die in Zusammenarbeit mit den Justizorganen in Italien getroffen werden können, dürfen mit unserer nationalen Gesetzgebung natürlich nicht in Konflikt geraten«, erwiderte sie schnell und fast säuerlich.

»Aha, dann werden wir ja sehen, was sie sagen. Was meinst du zu der ganzen Geschichte, Lasse?« gab der Außenminister den Ball weiter. Was Lars Kjellsson äußern würde, war die Ansicht des Ministerpräsidenten, die nicht ganz bedeutungslos war.

»Im Augenblick kann ich keine andere Möglichkeit erkennen, als daß wir die Sache den italienischen Behörden übergeben, wie Agnes vorgeschlagen hat. Das schließt natürlich auch das Material ein, also diesen Brief«, erwiderte Lars Kjellsson abwartend. Sein Tonfall ließ erkennen, daß er für irgendein abenteuerliches Vorgehen in Palermo keinerlei Begeisterung aufbrachte.

»Vielleicht sollten wir die Polizei trotzdem erst mal feststellen lassen, wem der Zeigefinger gehört«, erklärte Peter Sorman in abwartendem Tonfall.

»Du kannst trotzdem nicht verhindern, daß wir die Sache den Italienern übergeben müssen«, konterte Lars Kjellsson schnell, als ahnte er einen Versuch des Staatssekretärs, den schmalen legalen Weg zu verlassen.

»Gut, dann verfahren wir so. Ich berufe ein neues Treffen ein, wenn ich die Ansicht der Italiener kenne«, sagte der Außenminister und erhob sich. Damit war die Konferenz beendet.

Nachdem die anderen gegangen waren, bat er Peter Sorman zu bleiben und schloß die Tür fast demonstrativ hinter denen, die er offenbar als die gegnerische Mannschaft ansah.

»Diese Paragraphenreiter!« fauchte er. »Hier stehen Menschenleben auf dem Spiel, und außerdem haben wir ein Wahljahr. Nein, ich will nicht zynisch sein.«

»Das bist du aber«, lächelte Peter Sorman ironisch. »Als Leistungen werden im Wahlkampf nur Siege gewertet, das weißt du genau. Wenn wir Erfolge einstreichen, ist alles in Butter. Mißlingt uns das, haben wir das Elend. Die Chancen dürften wohl fünfzig zu fünfzig stehen.«

»Mag sein, aber in der jetzigen Lage haben wir nicht gerade etwas zu verlieren. Hast du die jüngsten Meinungsumfragen gesehen? Die Zahlen, die heute morgen gekommen sind?«

»Nein. Ich lese keine Meinungsumfragen mehr.«

Sie setzten sich unter abwartendem Schweigen. Der Außenminister rückte einen kleinen silbernen Fisch zurecht, den er am Revers trug. Er war begeisterter Sportfischer und versuchte beim Wahlvolk daraus Kapital zu schlagen, indem er es so oft wie möglich vorführte. Nachdenklich knabberte er an einem der Pfefferkuchen, die während der Konferenz niemand angerührt hatte.

»Wie verfahren wir mit der Kohle?« fragte er schließlich.

»Welchem Geld?« fragte der Staatssekretär zurück, obwohl er es schon wußte.

»Mit der Kohle, die wir brauchen, um die beiden freizubekommen. Was kostet so etwas? Zehn Millionen oder was?«

»Vermutlich mehr.«

»Das geht aber nicht. Soviel Geld haben wir einfach nicht, und außerdem muß ja alles, was aus unseren Kassen kommt, bis auf den letzten Heller belegt werden. Das ist doch auch beim Verteidigungsministerium so, oder?«

»Grundsätzlich ja. Die haben zwar ein paar Reptilienfonds für ihre Nachrichtendienste und so weiter, aber Beträge in dieser Größenordnung lassen sich nicht einfach verstecken.«

»Dann lassen wir Bofors bezahlen. Ich rufe sie an und sage ihnen, sie sollen die Kohle beschaffen. Das können sie doch wohl kaum ablehnen?«

»Nein«, erwiderte Peter Sorman, »das wäre ja noch schöner. Einfach ausgedrückt könnte man sagen, du machst ihnen ein Angebot, das sie nicht ablehnen können.«

»Gut. Dann haben wir das unter Kontrolle. Nächste Frage. Wen zum Teufel sollen wir nach Palermo schicken?«

»Diplomatisches Personal.«

»Du weißt doch, wer in Rom sitzt.«

»Ach ja, natürlich. Das macht die Sache ja nicht gerade einfach. Ola Ullsten, mein Gott …«

»Wie steht es mit diesem Gauffin. Der hat doch so was schon mal in Beirut miterlebt, nicht wahr?«

»Ja, das war unsere offizielle Version. Er ›begab sich in ein Gebiet, in dem auf Europäer Kopfgeld ausgesetzt ist, und holte die beiden Schweden raus‹, wie wir die Sache damals nachträglich erklärt haben.«

»Wenn man davon absieht, daß es nicht ganz den Tatsachen entsprach.«

»Na wenn schon. Wenn es weiter nichts ist.«

»In Wahrheit war es doch dein alter Intimfeind Hamilton, der die Geiseln befreite.«

»Das kann ich nicht leugnen, zumindest nicht dir, Gott und ihm selbst gegenüber, möglicherweise aber gegenüber allen anderen. Aber du hast doch nicht etwa vor … Nein, Teufel auch, Anders, überleg jetzt bitte, was du tust.«

»Genau das tue ich gerade. Bei allem Respekt vor unserem Personal im Außenministerium, aber wie vielen Personen würdest du den Auftrag erteilen, Geiseln gegen zehn Millionen in bar auszutauschen?«

»Nicht vielen, zugegeben. Ein solcher Auftrag scheint mir auch ein wenig über das Risikoniveau hinauszugehen, das man unseren Diplomaten abverlangen kann.«

»Siehst du? Wenn wir überhaupt Leute in ein solches Manöver schicken, ein etwas unkonventionelles Manöver, könnte man vielleicht sagen, sollten es Leute mit einer ganz besonderen Kompetenz sein. Und solche haben wir ja neuerdings. Nicht wahr?«

»Ja«, seufzte Peter Sorman. »Leider haben wir heutzutage solche Leute …«

Luigi Bertoni halluzinierte. Es kam ihm vor, als erhöbe sich das Meer zu einer undurchdringlichen Mauer vor dem Schlauchboot, und bald würde er mit den sieben anderen direkt in die Mauer oder ins Wasser hineinpaddeln.

Er wußte nicht mehr, in welcher Sprache er dachte. Immer wieder versuchte er Worte zu denken, um dann zu bestimmen, aus welcher Sprache sie waren, doch er sah nur Bilder vor sich.

Er hatte seit fünf oder vielleicht sogar sechs Tagen nicht mehr als insgesamt drei Stunden geschlafen, und er wußte, daß es so kommen mußte. Der Unterschied zwischen ihm und den sieben anderen im Schlauchboot war, daß er die »Hell Week« schon viermal mitgemacht hatte, was ihn sowohl besser als auch schlechter rüstete, die Probe zu bestehen. Seine Hände waren immer noch heil und die Schürfwunden an den Füßen erträglich im Vergleich mit denen anderer; diese hatten große rosafarbene oder lila Partien an den Füßen, bei denen die Reibung des Sands in den Stiefeln die oberste Hautschicht zerfetzt hatte. Als die acht restlichen Gruppen vor ein paar Stunden gezwungen worden waren, Wasserball zu spielen, hatte sich das Becken mit umhertreibenden Hautresten gefüllt.

Während die Schlauchboote jetzt nach fünfzehn Seemeilen Paddeln an den Strand der Coronado-Basis glitten, standen putzmuntere und aggressive Offiziere bereit, die Ablösung der vorigen Gruppe zu übernehmen. Sie warteten ein Stück höher am Strand, schrien die Männer an, beleidigten sie und befahlen ihnen wie gewohnt, die Schlauchboote in die Luft zu schleudern, auf ausgestreckten Armen zu tragen und quer über Coronado Island zum Strand auf der anderen Seite zu laufen. Aus diesem Grund hatte man sie nach Körpergröße in Gruppen eingeteilt, damit sie die Schlauchboote ständig auf ausgestreckten Armen tragen konnten. Als ihnen die Arme allmählich weich wurden, begann der Holzboden des Schlauchboots ihnen gegen den Kopf zu schlagen, und alle hatten das Gefühl, ständig einen Riesenhammer über sich zu haben.

Luigi Bertonis Gruppe enthielt die kleinsten Männer. Die anderen Angehörigen der Klasse 181 hatten sie »die Knirpse« getauft. Sie hielten jedoch immer noch mit. Keiner aus ihrer Gruppe war ausgefallen, und inzwischen waren nur noch sechs oder sieben Gruppen übrig.

Luigi konzentrierte sich eine Weile darauf auszurechnen, wie-viele es insgesamt waren. Er brauchte jedoch fast die ganze Laufstrecke, um zu erkennen, daß sieben mal acht sechsundfünfzig sind. Da sie zu Anfang zehn Gruppen gewesen waren, mußte zehn mal acht … mußte das achtzig ergeben. Folglich hatten schon vierundzwanzig Mann aufgegeben. Oder waren es vierunddreißig? Sie mußten schon ziemlich am Ende sein, an einem der letzten Tage. Nein, es war ihm unmöglich zu sagen, welcher Tag es war.

Als sie den Strand auf der anderen Seite erreichten, wurde ihnen befohlen, die Schlauchboote in den Sand zu legen und Ruhestellung einzunehmen. Mehrere der Kameraden machten den Eindruck, als schliefen sie schon, bevor sie den Boden erreicht hatten. Die meisten waren schon nach einer Minute eingeschlafen, aber Luigi wagte es nicht, da ihm diese Ruhepause allzu unmotiviert vorkam. Er lag still da und betrachtete die Ausbilder mißtrauisch mit halbgeschlossenen Augen. Keine Minute später brach die Hölle los: Trillerpfeifen, Sprengungen, Tränengas. Der gesamte Trupp erhielt Order, sich sofort ins Wasser zu begeben und um eine zweihundert Meter draußen liegende Boje herumzuschwimmen. Diesmal sollten sie die Uniformen und Stiefel beim Schwimmen anbehalten, und die Gruppe, die als letzte zurückkam, würde zur Strafe eine Extrarunde drehen müssen.

Luigis Gruppe lief eine Zeitlang Gefahr, als letzte wieder an Land zu sein, da einer der Bauernburschen aus Montana oder Nebraska kaum schwimmen zu können schien, aber die Rettung nahte, als jemand weiter vorn einen hysterischen Anfall bekam und schreiend an Bord eines der Begleitboote gezogen wurde. Medizinisches Personal kümmerte sich um ihn. Anschließend wurde er zur Basis zurückverfrachtet und von den weiteren Ausscheidungskämpfen ausgeschlossen.

HOO YAH! brüllten sie, als sie schließlich an Land torkelten, um sich so lange auszuruhen, wie die dezimierte Gruppe brauchte, um nochmals die Boje zu umrunden. HOO YAH!

Niemand wußte, woher die SEAL-Truppen diesen Schlachtruf hatten. Er war vermutlich ebenso alt wie das Korps.

Anschließend liefen sie acht Meilen in losem Sand mit den nassen Uniformen um die Basis herum. Der Uniformstoff klebte und riß an den Schürfwunden. Die Männer liefen in leichtem Laufschritt, halb trottend, ein wenig breitbeinig und streckten die Arme möglichst weit vom Körper aus, da Sand, Salzwasser und die ständige Reibung in den Achselhöhlen am unerträglichsten waren. Luigi zog von Zeit zu Zeit die Arme an den Körper, wenigstens ein paar Schritte lang, damit der Schmerz Zorn und Verzweiflung steigerte.

Aber auch das wirkte auf doppelte Weise. Als es weh tat, wurde er zwar etwas klarer im Kopf und sah deutlicher. Der Schmerz verstärkte jedoch auch sein Gefühl von Sinnlosigkeit und Beleidigung. IMMERHIN HATTE ER DAS HIER SCHON VIERMAL MITGEMACHT, VERDAMMT NOCH MAL!

Niemand sonst hatte … doch, einige andere hatten schon. Aber jetzt gab es ja nichts mehr zu beweisen, falls das überhaupt der Sinn der Hell Week war, die zu Anfang einmal Motivation Week geheißen hatte; die sechste Woche des SEAL-Programms, die Woche, in der die Spreu vom Weizen getrennt wurde, die Männer von den Jungen, und wie die Sprüche sonst noch alle lauteten.

Gegen Ende des Laufs, nach etwas mehr als einer Stunde, als die Männer eher torkelten als liefen, hatten die Knirpse und zwei weitere Gruppen das gleiche Problem. Sie mußten einen der Kameraden mehr oder weniger hinter sich her schleifen, da die nassen Stiefel und der Sand die Schürfwunden unerträglich machten. Die Gruppe aber, die jetzt Gefahr lief, eine neue Runde zu drehen, würde auch weitere Zusammenbrüche riskieren. Einer der Ausbilder tauchte plötzlich neben Luigis Gruppe auf und brüllte etwas, was dieser nur zum Teil verstand. Es lief jedoch darauf hinaus, daß es zwar traurig ist zu verlieren, aber wenn man bei einem Auftrag verliert, ist man tot.

Sie waren auch diesmal nicht die letzten. Der Gruppe, die das Schlußlicht bildete, wurde eine zusätzliche Strafrunde erspart. Vermutlich wollten die Offiziere den anderen die zu lange Ruhepause nicht gönnen. Statt dessen wurden die Schlauchboote wieder auf ausgestreckten Armen getragen, und Klasse 181 marschierte zum Speisesaal inmitten des Naval Special Warfare Center. Die Männer nahmen die Schlauchboote mit in den Speisesaal, stellten sie an der kurzen Wand ab und torkelten zu der Schlange vor der Essensausgabe.

Die Mittagspause dauerte eine Stunde. Man konnte damit rechnen, im Lauf einer halben Stunde gegessen zu haben, wenn die Schlangen nicht zu lang waren. Den Rest der halben Stunde durfte jeder in der Unterkunft nach Belieben verwenden. Einige der Kameraden waren schon in der Essensschlange eingeschlafen und brachten später kaum noch die Kraft auf, etwas zu essen, bevor sie auf die Baracke zutorkelten, um sich aufs Bett zu werfen und zwanzig Minuten zu schlafen. Das war eine Dummheit, aber Luigi hatte sie vergebens zu warnen versucht. Statt dessen mußte man die halblangen, engsitzenden Unterhosen, die wie Radrennfahrerhosen aussahen, gegen neue wechseln, die Füße duschen und neue Strümpfe anziehen. Wenn die Füße nicht mehr mitspielten, war alles verloren. Wenn man zuviel Sand in die Unterhosen bekam, machte die Hell Week ihrem Namen doppelte Ehre. Es war auch aus einem anderen Grund gefährlich zu schlafen. Wenn man die Stiefel auszog und einschlief, bestand die Gefahr, daß Kniegelenke und Füße anschwollen, so daß man anschließend nicht mehr die Stiefel anbekam und sich nicht mehr bewegen konnte. Man mußte die nassen Stiefel mit den Händen ausreiben, so daß jedes Sandkorn beseitigt wurde. So bald wie möglich mußten neue, trockene und weiche Baumwollstrümpfe her. Das war wichtiger als Schlaf. Luigi bemühte sich, positiv zu denken. Immerhin war dies das fünfte und letzte Mal. Jede Stunde, die jetzt noch verging, war eine abgeleistete Stunde, die nie mehr wiederkam. Es war schon viermal vorher zu Ende gegangen und mußte auch jetzt irgendwie zu Ende gehen.

Er wußte aber nicht mehr, welcher Tag es war. Er wußte nicht einmal, ob er hoffen sollte, daß es der vorletzte Tag war, um sich so noch auf den Beinen halten zu können. Oder ob er lieber mit drei Tagen rechnen sollte, um dann angenehm überrascht zu werden. Und er wußte immer noch nicht, in welcher Sprache er dachte. Er hatte Joe eine Zeitlang nicht mehr gesehen. Joe befand sich in der Gruppe mit den zweitlängsten Männern. Luigi versuchte sich daran zu erinnern, wie Joe eigentlich hieß, aber da er die verschiedenen Sprachen nicht auseinanderhalten konnte, verschwand Joes richtiger Name im Nebel der Sprachlosigkeit.

Nach der Lunchpause – oder war es vielleicht schon die Dinner-pause –, jedenfalls war es noch taghell draußen und spielte ohnehin keine Rolle, wurden sie wieder zum Strand und zu den Baumstämmen beordert. Jeder Stamm wog zweihundertfünfzig Pfund. Sie erhielten den Befehl, gruppenweise mit dem Stamm auf den Armen zu den Wellen hinunterzulaufen, hinein ins Wasser, wieder in die Kälte, dann wieder rauf auf den Strand, die Stämme auf geraden Armen hochheben, dann wieder runter ins Wasser und in die Kälte, wieder rauf auf den Strand, hinein ins Meer, wieder an Land und nochmals ins Meer.

Luigi hatte das Gefühl, als verfolgten die Ausbilder mit dem Mangel an Abwechslung eine Absicht. Die sinnlose Quälerei sollte alles ganz besonders unerträglich machen, als müßte man Gruben ausheben und wieder füllen, wieder neu ausheben und wieder füllen. Gleichwohl kam es nur recht selten dazu, daß jemand einen hysterischen Anfall bekam, die Offiziere anbrüllte oder four-letter-words hinausschrie, um dann im Sand zusammenzusinken, zu weinen und von den Krankenpflegern weggetragen zu werden. Aber die meisten waren Amerikaner, die Beleidigungen leichter wegsteckten als wundgescheuerte Füße. Und die wunden Füße hatten die Klasse sicher schon stärker dezimiert als alles andere.

Vielleicht liefen sie fünfundzwanzig Mal mit den Stämmen hinauf und hinunter. Vielleicht zog es sich eine Stunde hin, vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger. Aber wie alles im Leben ging auch diese Übung zu Ende, woraufhin sie die Stämme gegen die Schlauchboote tauschten und zu einer der Baracken am Rand des Ausbildungszentrums joggten. Hier durften sie wenigstens einmal die Schlauchboote draußen stehen lassen, bevor man sie in einen großen Hörsaal führte und ihnen befahl, sich zu setzen. Vor jedem Platz lagen ein Stapel Papier und ein paar Bleistifte. Am unteren Ende des Saals stand eine Gruppe von Ausbildern, die sie noch nicht gesehen hatten. Einer von ihnen betrat das Rednerpult und sah sich entzückt um.

»Gentlemen, willkommen bei unserem Kurs in kreativem Schreiben«, begann er. Die Männer im Saal, zumindest diejenigen, die noch die Kraft hatten, Reaktionen zu zeigen, sahen sich wild fragend um, als wollten sie sich vergewissern, daß auch die anderen die Worte gehört hatten, daß sie nicht plötzlich verrückt geworden waren.

»Ich habe hier ein paar Themen für Sie, von denen Sie sich eins aussuchen können, um einen Aufsatz darüber zu schreiben«, fuhr der Ausbilder fröhlich fort. »Beschreiben Sie etwa Ihre letzten Augenblicke in Ihrem Leben als Languste. In wenigen Sekunden werden Sie in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen. Oder: Sie sind ein betrunkener Wikinger auf einem Fest, und plötzlich macht sich ein noch betrunkenerer Wikinger über Ihr Mädchen her. Oder: Sie sind eine Fliege, die zwar tödlich getroffen wird, aber nicht von einer Fliegenklatsche. Oder: Sie bürsten sich die Zähne und müssen plötzlich entdecken, daß Sie sich auf einem fremden Planeten wiederfinden. So, und jetzt schreiben Sie, verdammt noch mal!«

Die meisten saßen wie gelähmt da, doch da kamen ein paar Ausbilder vom Strand herein und begannen mit Eiswürfeln in Eimern herumzugehen, aus denen sie denen, die noch nicht mit dem Schreiben begonnen hatten, ganze Fäuste voll Würfel in die Uniformhemden steckten.

Die Klimaanlage war ausgeschaltet worden. Es war Juni, und es saßen etwa fünfzig Mann dicht gedrängt an ihren Schreibpulten. Kurze Zeit dampfte es im Saal vor Körpergeruch und Salzwasser. Einige schienen tatsächlich schon mit dem Schreiben begonnen zu haben.

Luigi erinnerte sich nur daran, daß es bei einem der Themen um einen Hummer oder einen Krebs ging, der kurz davor stand, in einem Topf mit kochendem Wasser zu landen. Luigi konzentrierte sich darauf, das Thema nicht zu vergessen, begann jedoch erst zu schreiben, als er eine ganze Schaufel voll Eiswürfel ins Hemd bekam. Er wollte das Eis haben, um die Hitze im Gesicht zu lindern, obwohl sein Körper von der Kälte des Seewassers noch ganz starr war.

Er fuhr sich mit einer Faust voller Eisstückchen über Stirn und Augen und zwang sich, so gut es ging, nicht die Augen zu schließen. Er fürchtete, dann sofort einzuschlafen.

Er riß ein paar Augenblicke lang mit aller Kraft die Augen auf und sah plötzlich wie durch flirrende Hitze in der Wüste ganz klar. Er blickte hinunter zu den Besuchern, die vielsagend lächelten.

Bis auf einen trugen sie da unten alle die weiße Uniform der Marine. Dieser eine hatte einen dunkelblauen Pullover mit den Rangabzeichen eines Fregattenkapitäns auf den Schulterstücken. Er war barhäuptig und sah aus, als suchte er mit den Blicken etwas oder jemanden. Er trug die schmalen goldenen Schwingen von SEAL, ein Abzeichen, das nur wenigen bekannt war. Er war also einer von denen, die die Hell Week fünfmal absolviert hatten.

»Ich bin ein Hummer und stehe vor den entscheidenden Augenblicken meines Lebens«, schrieb Luigi. Dann betrachtete er lange die Worte, die er hingeschrieben hatte, spürte, wie die Augen sich zu schließen begannen und wie sein Kopf auf dem Weg nach unten war. Er rieb sich erneut mit dem schmelzenden Eis das Gesicht ein und betrachtete wieder die Buchstaben, die ihm vor den Augen flimmerten. Er hatte auf italienisch geschrieben.

I’m a fucking lobster in one of my life’s most decisive moments, zwang er sich zu schreiben. Er versuchte, sich einen riesigen Topf mit kochendem Wasser vorzustellen, versuchte sich auszumalen, wie er zusammen mit sieben Kameraden in einem Schlauchboot lag. Das Schlauchboot wurde plötzlich von der Hand eines Riesen gepackt, der sie hinausschütteln und dem Tod überantworten wollte. Mehrere Männer um ihn herum waren mit dem Bleistift in der Hand eingeschlafen, und diesmal wurden sie nicht geweckt und gezwungen weiterzuschreiben. Die Ausbilder schleppten sie einfach hinaus. Vielleicht waren sie jetzt aus dem Rennen.

»Als Hummer ist es mir vollkommen scheißegal, ob ich sterbe oder einschlafe«, fuhr Luigi fort. Er starrte eine Weile auf die Buchstaben, um zu sehen, welche Sprache es war. Er verstand, was er geschrieben hatte, konnte aber nicht entscheiden, in welcher Sprache er geschrieben hatte.

In diesem Augenblick lichtete sich der Nebel erneut. Er betrachtete den Gast, der Fregattenkapitän war, jedoch ohne amerikanische Uniform. Da ging ihm der Zusammenhang auf.

Er hatte also auf schwedisch geschrieben.

»This is no fucking good, lobsters don’t write no fucking Swedish«, fuhr er fort. Er preßte sich beide Arme an die Seiten und rieb sie ein paar Mal über die wundgescheuerte Haut, so daß der Schmerz ihn weckte. Dann strich er sorgfältig den schwedischen Satz durch und erzählte, wie die Kameraden in den Topf flögen, einer nach dem anderen. Er selbst jedoch, fuhr er fort, kralle sich mit einer seiner Scheren im Floß fest, während der Riese das Schlauchboot schüttele. Schließlich sei er ein europäischer Hummer aus dem Atlantik mit Scheren und keine gottverfluchte, mutterfickende, scherenlose Languste aus Kalifornien.

Es war kein Eis mehr da. Die stickige heiße Luft dampfte. Inzwischen war mehr als die Hälfte der Kameraden eingeschlafen und hinausgetragen worden. War es möglich, daß sie wegen eines einzigen idiotischen Aufsatzes die halbe Klasse aus dem Rennen warfen?

Es hatte einen Sinn, auszuhalten und weiterzumachen. Der Mann da unten. Luigi hatte seinen Namen vergessen, wußte aber sehr wohl, daß es um etwas ging. Das mußten alle im Saal wissen, wenn sie noch sehen oder denken konnten.

Der europäische Atlantikhummer hat eine besondere Eigenheit, schrieb er verbissen weiter und fühlte dann, wie die Übelkeit in ihm aufstieg und wie der Kopf ihm nach vorn zu fallen begann, als preßte ihn ein riesiges Gewicht – die Hand dieses Riesen –, auf das Schreibpult. Er rieb sich so hart die wunden Stellen an den Ellbogen, daß er vor Schmerz leise aufstöhnte. Als der Nebel sich für ein paar Augenblicke lichtete, sah er, daß die meisten im Saal schon hinausgetragen worden waren. Joe saß aber noch da, nur ein paar Meter von ihm entfernt.

»Joe«, flüsterte er. »Hast du gesehen, wer da unten sitzt?«

Joe hörte ihn zwar, sah ihn mit seinen blutunterlaufenen Augen aber nur verständnislos an. Vielleicht hatte er es auf italienisch gesagt?

»Teufel auch, Joe …«, fuhr er fort, gab aber sofort auf, da er selbst nicht verstand, was er sagte. Joe nickte ihm zu und führte dann mühsam den Bleistift auf das Papier, das vor ihm lag.

Luigi rieb sich erneut die Wunden und versuchte, seine letzten Zeilen durchzulesen, und gerade in dem Augenblick, in dem der Kopf erneut von dem unsichtbaren Riesen auf die Tischplatte gepreßt wurde, gelang es ihm, ein paar neue Wörter hervorzuzwingen.

Die Scheren des europäischen Hummers sind unregelmäßig gezackt. Da eine dieser Zacken sich in dem gottverdammten Schlauchboot verhakt hat, kann ich nicht in den Topf fallen, wie sehr der Riese das Schlauchboot auch schüttelt, schrieb Luigi und verlor das Bewußtsein.

Als sie ihn schüttelten und fluchend auf ihn einredeten, entdeckte er, daß er als letzter oder vorletzter aufgegeben hatte. Man schleifte ihn jedoch nicht auf dem gleichen Weg hinaus wie die anderen, sondern gab ihm den Befehl, sich mit dem letzten oder vorletzten Überlebenden, der nicht Joe war, in einem Raum zu melden, der hinter dem Hörsaal lag.

Luigi bewegte sich langsam. Die Knie waren dermaßen angeschwollen, daß sie sich wie kleine Fußbälle anfühlten. Er stolperte breitbeinig und taumelnd zur Tür, bis er erneut in Schlaf fiel, diesmal mit dem Gesicht an der Tür. Als er dabei war, zu Boden zu gleiten, schmerzte die sonnenverbrannte Wange unter der Reibung an der Tür, und er klopfte an, während er sich gleichzeitig wieder hochzwang. Er hörte nicht, ob jemand »Herein« sagte, aber der Selbsterhaltungstrieb brachte ihn dazu, nicht stillzustehen. Er öffnete die Tür und torkelte in den angrenzenden Raum.

Zwei der Ausbilder saßen hinter einem Schreibtisch. Der Fregattenkapitän mit der Sonnenbrille stand schräg dahinter und hatte die Arme auf der Brust verschränkt. Luigi versuchte einen Gesichtsausdruck zu finden, den er deuten konnte, aber das Bild verschwamm ihm immer wieder vor den Augen.

»Soldat Bertoni!« brüllte einer der Ausbilder und warf ein paar Papiere auf die Schreibtischplatte. »Was ist das hier für ein verdammter Bullshit, Soldat Bertoni? Glauben Sie, SEAL sei so eine Art Kindertagesstätte?«

»Nein, Sir«, erwiderte Luigi und spürte im selben Moment, wie ihm der Kopf nach vorn fiel, so daß er fast zu Boden gegangen wäre. Er entdeckte, daß neben ihm ein Mann stand, der in der gleichen Verfassung war wie er selbst.

»Und du! Flaggsergeant Jones, hältst du dies etwa für eine Art Vorschule? Glaubt ihr beide etwa, man könnte von SEAL akzeptiert werden, ohne ein bißchen Grips zu zeigen?« brüllte der Ausbilder.

»Nein, Sir«, erwiderten die beiden halb schlafenden Männer unisono.

Bei Luigi lichtete sich der Nebel erneut ein wenig, als brächte ihn die Wut mehr zu Bewußtsein.

»Es muß euch doch klar sein, daß wir euch mit sofortiger Wirkung ›Ungenügend‹ geben müssen, da ihr solchen Mist geschrieben habt. Habt ihr das kapiert, ihr Scheißkerle?« brüllte der Ausbilder.

»Nein, Sir«, erwiderten beide fast gleichzeitig und fast ohne jedes Lallen.

»Eure Kameraden können jetzt da draußen liegen und pennen. Das haben sie sich redlich verdient, denn sie haben Qualität geboten, während ihr nur Scheiße geschrieben habt. Da ist es doch nur gerecht, daß wir euch rausschmeißen. Oder etwa nicht? Antwortet, verdammt noch mal! Soldat Bertoni!«

»Mein Name ist Luigi Bertoni. Ich habe den Rang eines Unterleutnants und nicht eines einfachen Soldaten. Das ist alles, was ich Ihnen sagen muß«, lallte Luigi.

»Du widersprichst mir, du Scheißkerl?«

»Nein, Sir.«

»Hältst du es nicht für gerecht, daß wir euch beiden einen Tritt geben?«

»Nein, Sir.«

»Du stellst also unser Urteilsvermögen in Frage?«

»Nein, Sir.«

»Dann haben wir also einen gerechten, Entschluß getroffen, wenn wir euch jetzt vor die Tür setzen?«

Luigi dachte nach. Er war also durchgefallen. Er war aus dem Rennen. Er und noch einer. Die beiden, die am längsten ausgehalten hatten, bekamen jetzt einen Tritt, weil sie Mist geschrieben hatten. Luigi brachte jedoch nicht mehr die Kraft auf, wütend zu werden. Es war sinnlos zu widersprechen. Wie auch immer: Das Gehirn schien ihm den Dienst zu versagen. Es war, als liefe eine Schallplatte, als hätte jemand plötzlich den Stecker herausgerissen, woraufhin die Platte ein paar Umdrehungen lang falsch tönende Musik von sich gab, die in unverständliches Gemurmel überging, bevor alles still wurde.

Der Kamerad neben ihm war zu Boden gesunken und schlief oder schlief vielmehr fast, da er zu murmeln schien, jetzt sei ihm alles scheißegal. Zwei Ausbilder trugen ihn hinaus. Er schlief in ihren Armen und sah beinahe glücklich aus.

»SOLDAT BERTONI, SIE WOLLEN DOCH WOHL NICHT IM STEHEN EINSCHLAFEN?« brüllte der Ausbilder. Luigi erkannte, daß der Offizier sich bewegt haben mußte, denn er schrie ihm aus wenigen Zentimetern Abstand von hinten ins Ohr.

»Nein, Sir. Ich bin selbstverständlich hellwach«, lallte Luigi schwach.

»Aha, auch noch ein Witzbold? Du gibst Widerworte, du Dreckskerl?«

»Nein, ich bin nur ein Witzbold«, murmelte Luigi. Im selben Moment kippte jemand von hinten einen Eimer kaltes Wasser über ihn.

Es funktionierte. Er wachte auf. Es war kein Salzwasser, und er konnte sich damit das Gesicht abreiben, ohne daß es schmerzte. Die Kälte an den Wangen und Augenlidern bewirkte, daß er plötzlich klar sehen konnte.

Vor ihm standen nur noch zwei Männer.

»Gratuliere, Unterleutnant Bertoni. Die Hell Week ist zu Ende. Sie haben sie vorbildlich hinter sich gebracht, und ich lasse Sie jetzt eine Weile mit Commander Hamilton allein«, sagte der Ausbilder in einem völlig neuen Tonfall. Er stand lächelnd auf, schüttelte den Kopf und ging hinaus.

Luigi versuchte, bei Bewußtsein zubleiben. Er rieb sich die Seiten, um den Schmerz der Schürfwunden zu steigern, preßte die Handflächen von unten gegen die Augen, um Schleim und Wasser herauszubekommen, blinzelte dann ein paarmal und sah Carl Hamilton offen ins Gesicht.

»Wie steht’s? Kannst du jetzt Schwedisch begreifen? Oder sollen wir lieber englisch sprechen?« fragte Carl mit gespielter Ruhe. »Ich will dich nicht bitten, dich zu setzen, denn dann schläfst du sofort ein. Ist das in Ordnung?«

»Yes, Sir«, erwiderte Luigi mit der zusätzlichen Betonung des S-Lautes, der im Amerikanischen Begeisterung signalisiert.

»Gut. Dann kann ich dir folgendes mitteilen. Was dich betrifft, ist die Hell Week zum fünften und letzten Mal zu Ende. Verstehst du, welche Absicht dahinterstand, dich das fünfmal machen zu lassen?«

»Nein, Sir.«

»Es ist jetzt Sonnabend, 14.00Uhr. Du und Joe habt jetzt frei bis 18.00Uhr morgen abend. Dann seid ihr dazu abkommandiert, mit mir zu essen. Ich hole euch vor dem Haupteingang ab. Ist das verstanden?«

»Yes, Sir.«

»Ferner kann ich dir mitteilen, daß ich im Namen des Oberbefehlshabers bestätigen kann, daß du in der schwedischen Mari …, Verzeihung, Armee vom Fähnrich zum Leutnant befördert worden bist. Hast du das auch verstanden?«

»Yes, Sir.«

»Gut. Um welche Zeit treffen wir uns morgen also?«

Carl erhielt keine Antwort. Luigi Bertoni-Svensson war zu Boden gesunken und schlief zum ersten Mal seit vier Tagen. Carl schüttelte den Kopf und verließ den Raum.

Außenminister Anders Stensson pfiff leise vor sich hin. Er war ungewöhnlich guter Laune. So wie die Meinungsumfragen jetzt aussahen, gut drei Monate vor der Wahl, hätte er kaum gute Laune haben dürfen.

Die Dinge hatten sich jedoch erstaunlich schnell entwickelt. Er kannte den italienischen Botschafter nicht näher und hatte deshalb im voraus nicht ahnen können, wie dieser Vorschläge zu unkonventionellen Lösungen aufnehmen würde. Deshalb hatte er sich zu Beginn ihrer Gespräche langsam vortasten müssen.

Zunächst hatte er natürlich den Sachverhalt dargelegt und ebenso selbstverständlich darauf hingewiesen, welche gemeinsamen italienisch-schwedischen Interessen auf dem Spiel standen. Mit einem neuen Bestechungs- und Boforsskandal wäre niemandem gedient, weder hier in Stockholm noch in Rom.

Insoweit kam es natürlich zu einer vollen politischen Einigung zwischen Schweden und Italien. Danach mußte Anders Stensson sich jedoch Schritt für Schritt vortasten, so wie man es auf dünnem Eis tut.

Er holte Luft und sagte: »Bei allem Respekt vor der italienischen Gesetzgebung, denn wir auf der schwedischen Seite denken natürlich nicht einmal im Traum daran, sie außer acht zu lassen, aber bei allem Respekt, wie strikt muß man sich eigentlich an das Verbot halten, nicht mit Mafiosi zu verhandeln?«

Der italienische Botschafter, der selbst Jurist war, hatte schnelle, unmißverständliche und sehr ermunternde Auskünfte gegeben: »Innerhalb Italiens, soweit es italienische Behörden und Privatpersonen betrifft, muß man das Verhandlungsverbot als recht rigoros ansehen. Wenn jedoch ein fremder Staat einen entsprechenden Wunsch äußert, entsteht eine völlig andere Lage. In diesem Fall hat die Regierung einen ziemlich weiten Spielraum mit verschiedenen Möglichkeiten, kann auf Notstandsrecht verweisen, auf das Verhältnis zu einer fremden Macht und ähnliches. Falls die schwedische Regierung also bestimmte Wünsche hat …?«

Anders Stensson hatte da angebissen wie einer seiner Sommerhechte und von seiten der schwedischen Regierung einen nachdrücklichen Wunsch geäußert. Der italienische Botschafter hatte daraufhin die Arme ausgebreitet, eine lateinische Geste, die wohl etwa bedeuten sollte, bitte sehr, ihr könnt tun, was ihr wollt. Jedenfalls hatte Anders Stensson die Geste zu Recht oder Unrecht so gedeutet.

Danach war es den beiden gelungen, sehr konkret zu werden. Die beiden Organe, welche die direkte Zusammenarbeit organisieren sollten, waren das italienische und das schwedische Verteidigungsministerium. Der Hintergrund war, daß bestimmte Teile der mit Mafiaverbrechen befaßten italienischen Behörden ganz oder teilweise dem Verteidigungsministerium unterstellt waren. Die Carabinieri etwa sind ja eher eine militärische als eine polizeiliche Organisation. Die anfänglichen Kontakte sollten von den beiden Außenministerien hergestellt werden, dies jedoch nur, um ein gemeinsames politisches Ziel zu formulieren. Die operative Seite sollte dem Militär überlassen bleiben.

Diese Schlußfolgerung machte Anders Stensson die Arbeit erheblich leichter. Er war sich sehr wohl bewußt, wie negativ sein Staatssekretär und enger Freund reagiert hatte, als er die Idee vorgetragen hatte, man müsse von schwedischer Seite einen Mann entsenden, dessen Qualifikationen so ausgeprägt waren, daß nur an Hamilton zu denken war.

Das Erpressungsgespräch mit Bofors war sehr schnell und einfach verlaufen. Dort hatte man natürlich großes Verständnis dafür gezeigt, daß das Unternehmen für die Zahlung geradestehen müsse und nicht der schwedische Staat. Immerhin ging es um eine Problemstellung, die in der schwedischen Industrie schon auf mehreren Seminaren sorgfältig durchdiskutiert worden war, und so wußte man bereits seit einigen Jahren, wie weit man zu gehen hatte. Alle Spitzenleute der schwedischen Industrie hatten sich grundsätzlich darauf geeinigt, in solchen Situationen gegenseitig füreinander einzustehen, und bis zu einer finanziellen Schmerzgrenze, bei der man in unangenehme Zwickmühlen geraten konnte, war es noch ziemlich weit. Ein Betrag von bis zu zehn Millionen Dollar war jedoch vorstellbar. Darin war man sich in der Industrie einig.

Die Geldfrage war also geregelt. Swedish Ordnance würde demnach einen ausreichenden Betrag entweder an die Banca di Sicilia oder eine etwas diskretere Bank in San Marino überweisen, sobald diese Frage aktuell wurde.

Der nächste Schritt bestand darin, das schwedische Militär einzubinden, und zu diesem Zweck hatte Anders Stensson den Chef des militärischen Nachrichtendienstes zu sich gerufen, Kapitän zur See Samuel Ulfsson.

Ulfsson hatte irgendwo draußen auf dem Flur gesessen und eine Viertelstunde gewartet, was Anders Stensson jetzt ausreichend erschien, als er ihn zu sich bitten ließ.

Der Chef des Nachrichtendienstes zeigte deutliche Anzeichen von Nervosität und Unbehagen, was kaum verwunderlich war, denn er wurde nicht jeden Tag zum Außenminister gerufen. Wahrscheinlich dachte der arme Kerl, man habe jetzt etwas entdeckt, was man nicht habe entdecken sollen, habe etwas erfahren, was man nicht wissen sollte, und daß jetzt peinliche Erklärungen bevorstanden.

Anders Stensson konnte es sich nicht verkneifen, darüber ein paar Scherze zu machen, als er den etwas steifen und besorgten Kapitän zur See bat, sich auf das gustavianische Sofa zu setzen, und mit einer Handbewegung Kaffee in Plastikbechern auf blauen Servietten hereinbefahl.

»Nicht wahr, Sam, du hast ganz schön Angst vor dem, was jetzt kommt, was?« gluckste der Außenminister, sobald seine Sekretärin die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»In meinem Job ist es nicht schwer, Magengeschwüre zu bekommen. Hast du übrigens etwas dagegen, daß ich rauche?« erwiderte Samuel Ulfsson mit zusammengebissenen Zähnen und zündete sich sofort nach einem wohlwollenden Nicken des Außenministers eine Zigarette an.

»Nun ja, ich werde dich lieber gleich vom Haken nehmen. Ihr habt uns jedenfalls keine Schande gemacht, zumindest mit nichts, was mir bekannt ist. Ich erwarte auch keinen Vortrag solchen Inhalts von dir«, fuhr der Außenminister mit spürbar guter Laune fort.

»Wirklich nett zu hören«, erwiderte Samuel Ulfsson vorsichtig. Er konnte die Munterkeit des Regierungsmitglieds nicht recht deuten.

»Wo steckt Hamilton eigentlich? Nein, nein, er hat wie gesagt nichts angerichtet, ich will nur wissen, wo er steckt. Ist er verfügbar?« fragte der Außenminister plötzlich und überraschend direkt.

»Er befindet sich auf einer Dienstreise im Ausland, wird aber morgen oder übermorgen zurückerwartet«, erwiderte Samuel Ulfsson mit einem plötzlich erwachten Funken Neugier. »Sollen wir wieder auf Reisen gehen?«

»Das kann man sagen. Wie du sicher weißt, sind zwei Leute von Bofors in Italien verschwunden.«

»Ja. Sie sind also entführt worden? Wenn ja, ist das etwas für italienische Behörden.«

»Ich bitte dich, Sam, fängst du jetzt auch noch an«, stöhnte der Außenminister. »Nun ja, wir haben mit italienischen Behörden eine Übereinkunft getroffen. Es geht also darum, die Schweden nach Hause zu holen, das Lösegeld für sie zu bezahlen, also Schweden gegen Geld zu tauschen, und Bofors bezahlt die Zeche. Das ist also der Auftrag. Was hast du dazu zu sagen?«

Samuel Ulfsson hatte keine genauen Ansichten dazu. Die Natur des Auftrags ließ es geraten erscheinen, Personal von der operativen Abteilung des Nachrichtendienstes einzusetzen. Das war durchaus vernünftig. »Wenn es um so etwas geht wie einen nächtlichen Austausch, ein paar Autos an einem Treffpunkt, Geiseln gegen Geld, die Fähigkeit, mit heiler Haut davonzukommen, und so weiter – es ist völlig klar, daß wir derlei lieber kompetentem Personal als Diplomaten überlassen sollten. Na ja, bei allem Respekt vor unseren Diplomaten, aber …«

Mehr war kaum zu besprechen. Theoretisch ließ sich vielleicht sagen, daß es sich um einen freiwilligen Auftrag handelte, doch nur theoretisch. Sobald Hamilton wieder zu Hause wäre, würde er seinen Marschbefehl erhalten. Samuel Ulfsson war allerdings der Meinung, daß man vielleicht zwei Operateure losschicken sollte. Nicht für die eigentlichen Verhandlungen, aber wenn es zu einem Austausch käme, wäre es ein außerordentlicher Vorteil, wenn die schwedische Seite aus mehr als nur einem Operateur bestand.

Das war im großen und ganzen alles. Samuel Ulfsson sollte die Verbindungen zu den italienischen Streitkräften selbst herstellen, da die über ihr eigenes Außenministerium schon ihr Einverständnis erklärt hatten.

Und je mehr sich diskret erledigen ließ, das heißt durch Geheimkontakte der Militärs, um so besser für die Politiker, welche die Ehre einheimsen würden, wenn alles gutging, und die gern einen Sündenbock hatten, wenn alles schiefging.

»Ich verstehe einfach nicht, was für einen Sinn das haben soll. Es muß doch irgendeinen Sinn geben, aber ich kapiere ihn ganz einfach nicht«, sagte der frischgebackene Leutnant Göran Karlsson, als sie sich endlich zu Tisch gesetzt hatten. Carl hatte sie vor einer halben Stunde vor dem Haupteingang des Naval Special Warfare Center draußen auf Coronado abgeholt, und da hatten beide immer noch den Eindruck gemacht, als könnten sie noch ein paar Tage weiterschlafen. Sie gingen torkelnd, was vor allem an ihren schmerzenden Kniegelenken lag, einem der häufigsten medizinischen Gründe für Mißerfolge während der Hell Week.

Carl ließ sich mit der Antwort Zeit, da er gerade dabei war zu bestellen. Er hatte die beiden zu einem von Tessies mexikanischen Lieblingsrestaurants draußen in La Jolla gefahren.

»Skål«, sagte er kurz und hob sein Weinglas. Er schloß kurz die Augen, als er von dem mexikanischen Wein trank, und ließ sich mit dem kalifornischen Sommerwind einige Erinnerungen ins Gesicht wehen.

»Den Sinn von was, Göran?« fragte er fröhlich, als er das Weinglas abstellte. Sie sprachen mit seiner ausdrücklichen Genehmigung schwedisch, folglich auf Befehl, da es ihnen sonst verboten war, in Gesellschaft von Militärs ihre eigene Sprache zu sprechen.

»Erstens den Sinn darin, daß man sich eine ganze gottverdammte Woche beleidigen lassen muß, und was es zweitens für einen Sinn haben soll, es fünf Mal tun zu müssen. Fünf Mal!«

»Die letzte Frage läßt sich am leichtesten beantworten«, sagte Carl mit gespielter Munterkeit, als unterhielten sie sich über Bagatellen. »Ihr braucht nur zu wissen, wie viele Menschen es auf diesem Erdball fünf Mal geschafft haben. Wißt ihr das?«

Die beiden anderen schüttelten den Kopf. Luigi wechselte behutsam die Stellung auf seinem Stuhl; das Sitzen fiel ihm schwer, da er nach der Höllenwoche im Schlauchboot »am Hintern wie ein Pavian aussah«.

»Eure schwedischen Kameraden, niemand sonst«, sagte Carl und breitete die Arme aus, als wäre damit alles erklärt.

»Welche schwedischen Kameraden?« fragte Göran Karlsson mißtrauisch. Jetzt brauchte er nicht mehr Joe Carlson zu sein.

»Die operative Abteilung beim OP 5, euer direkter Vorgesetzter, das heißt ich, und die anderen Jungs, mit denen ihr zusammenarbeiten werdet. Wir sind die einzigen.«

»Wie viele sind wir? Teufel auch … Wie viele sind wir?« fragte Luigi Svensson, der nicht mehr Bertoni sein mußte.

»Das ist geheim«, entgegnete Carl ironisch. »Aber wenn wir wieder zu der Sinnfrage zurückkehren wollen, gestern nachmittag war ich bei Konteradmiral George R. Worthington, um sozusagen die schwedische Fahne zu zeigen. Ja, wie ihr wißt, haben die jetzt einen neuen Chef, der mir einen kleinen Vortrag hielt. Kurz, schroff und militärisch. Ich glaube, ich bekomme es sogar fast wörtlich zusammen, etwa so: ›Bei der Hell Week geht es darum, sowohl die eigenen Fähigkeiten als auch seine Grenzen zu erkennen. Jeder Mann, der diese Ausbildung durchlaufen oder etwas Ähnliches durchgemacht hat, weiß, daß es irgendwo einen Punkt gibt, an dem er aufgeben will und nicht mehr kann. An diesem Punkt ist ihm alles scheißegal, er möchte gern sterben, wenn man ihn nur noch in Ruhe läßt. Das passiert etwa, wenn man sich übergibt oder einen Weinkrampf kriegt. Nach der Hell Week hat man keine falschen Vorstellungen davon, wie gut man ist. Man weiß aber trotzdem, daß man etwas geschafft hat, was nur wenige andere Menschen schaffen.‹ All das unserem geschätzten Konteradmiral Worthington zufolge.«

Carl trank einen Schluck Wein und sah aufs Meer, als wären alle Erklärungen damit beendet. Dann stellte er das Glas hin und ließ den Blick eine Zeitlang von einem zum andern wandern. Da kam ihm plötzlich die Erkenntnis, daß er hier die Rolle seiner eigenen Legende spielte, und schob den entscheidenden Zusatz nach.

»Aber das gilt natürlich nur für die Amerikaner.«

Sie wurden eine Weile unterbrochen, als einige Schalen mit Chili-Mischung sowie hartes gelbes Maisbrot aufgetragen wurden.

»Und was gilt für Schweden, richtige Schweden oder Kanaken-Schweden?« fragte Göran Karlsson, während er Luigi den Ellbogen absichtlich etwas zu hart an eine wunde Stelle in der Seite stieß. Luigi stöhnte auf, lächelte jedoch.

»Das war ein Einfall des Alten«, sagte Carl nachdenklich und mit vollem Mund.

»Wer ist der Alte?« fragten die beiden gleichzeitig.

»Unser Chef. Oder vielmehr unser inzwischen pensionierter Chef, der uns geschaffen hat«, erwiderte Carl. Er verzichtete darauf, noch mehr Chili nachzuschieben, und fuhr statt dessen fort.

»Der Alte erfuhr natürlich von dieser amerikanischen Einstellung. Er dachte also etwa so, wenn wir die Rekruten diese Scheiße einmal im Jahr durchmachen lassen, und das im Lauf von fünf Jahren, während der gesamten Ausbildungszeit, werden wir noch einen Tick besser. Dann wissen unsere Jungs, daß sie etwas tun können, was sonst niemand getan hat. Also sind wir die Besten der Besten, und so weiter. Weiß der Teufel, ob das stimmt, aber hier sitzen wir jetzt jedenfalls. Alle in unserer Waffengattung haben es hinter sich gebracht, und damit stehen wir in der Welt allein. Skål.«

»Was sollte eigentlich diese Scheiße mit dem kreativen Schreiben am Ende?« wollte Göran Karlsson wissen. »Diese Scheißkerle trugen einen raus und kippten einem kaltes Wasser über den Körper und nannten uns Scheißkerle und sagten, man sei durchgefallen und eine Schande für das Menschengeschlecht und so etwas. Dann hieß es plötzlich, gratuliere, du hast bestanden. Was soll das eigentlich?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Carl zögernd. »Das ist etwas Amerikanisches, eine Vorstellung von Selbstbeherrschung. Vielleicht wollen sie den Leuten einprägen, daß man zusammenbrechen kann. Im Grunde verstehe ich es nicht. Dieses Gefühl von Überlegenheit, das sie schaffen wollen, bricht ja sofort zusammen, sobald diese Kerle in der Gefangenschaft landen. Seht euch nur diese Flieger im Irak an. Kurz, ich glaube nicht, daß das der wertvollste Teil eurer Ausbildung gewesen ist. Ihr sollt schließlich nicht an irgendwelchen Sandstränden an Land gehen und fünfzig Prozent Verluste in Kauf nehmen. Dazu seid ihr unter anderem viel zu kostbar.«

Eine Riesenplatte mit Enchiladas wurde aufgetragen, während Carl gleichzeitig aufging, daß er einiges gesagt hatte, was er lieber nicht hätte sagen sollen.

»Wie hoch sind unsere Verluste?« fragte Göran Karlsson nach einer Weile. Carls letzte Äußerung hatte ihn etwas niedergeschlagen gemacht.

»In jüngerer Zeit hat unsere Abteilung, womit ich also diejenigen meine, die unsere Ausbildung mitgemacht haben, null Verluste gehabt.«

»An den Computern oder im Kampf?« fragte Luigi eifrig.

»An den Computern haben wir uns nur manchmal verrechnet. In den letzten Jahren ist die Abteilung fünf- oder sechsmal in Kampfsituationen gewesen. Der jeweilige Feind hat einige schwere Verluste an Toten und Verwundeten erlitten. Allerdings sind alle unsere Maschinen wohlbehalten zur Basis zurückgekehrt. Das ist natürlich alles geheim, wie euch hoffentlich klar ist, aber etwa so sehen die Fakten aus. Unsere Verluste bisher sind gleich Null.«

Keiner nahm den Faden auf, da ausführlichere Fragen so offenkundig als unangemessen angekündigt worden waren. Sie aßen und tranken eine Zeitlang schweigend.

Carl sah sie an und erinnerte sich an seine eigenen Schürfwunden und seinen körperlichen Schmerz. Jetzt war all das bemerkenswert weit weg und fast ohne Bedeutung. Ich würde gern eine Hell Week pro Monat machen, redete er sich wider alle Vernunft ein, wenn ich nur mit den beiden jungen Männern tauschen könnte, die mir jetzt mit schmerzenden Körpern und stolzgeschwellter Brust gegenübersitzen. Jetzt waren es mehr als zehn Jahre her, seit er einer von ihnen gewesen war, rein und ehrlich, blauäugig, jung und voll schwedischer Vorstellungen von einem geordneten Leben, einem geregelten Dasein mit Familie und einem freien Wochenende.

Seine Tochter würde bald ein Jahr alt sein, und seit weit mehr als einem Jahr hatte er ein Verhältnis mit einer anderen Frau, die er jetzt nach Kalifornien mitgenommen hatte. Wäre das Ganze richtig modern und schwedisch gewesen, wäre seine Geliebte mit einem Ticket geflogen, das mit dem Plastikkärtchen des Staates bezahlt worden wäre. So jedenfalls benahmen sich die normalen Schwindler der unberührbaren schwedischen Obrigkeit. Er zwang sich, die schäbigen Worte zu denken, und schmierte sich eine Zeitlang mit Selbstverachtung und Selbstmitleid ein.

Plötzlich erschienen ihm die gegenübersitzenden Männer noch so rein und unverdorben, fast kindlich. Dennoch waren sie abgesehen von einer noch fehlenden Woche Absolventen der härtesten militärischen Schule, die je erfunden worden war.

Sie waren Leutnants der Küstenjäger- und Fallschirmjägertruppen und besser ausgebildete Feldoperateure, als die Welt früher je hätte hervorbringen können. Überdies waren beide Master of Science, was sie in allerhöchstem Maße von ihren letzten Kumpeln in den Schlauchbooten unterschied. Das alles. Wahrscheinlich mit einer guten Zukunft im zivilen Berufsleben, falls sie diesen Weg einschlugen, woran jedoch keiner der bei den bisher auch nur entfernt gedacht hatte. Sie waren von dem Gedanken erfüllt, the real thing zu erleben, wahrscheinlich so, als fände es in einem Abenteuerfilm statt. Und er selbst wußte inzwischen genau, welchen inneren Risiken sie ausgesetzt sein würden – wohl keiner Kampfsituation, denn derlei war nicht sonderlich wahrscheinlich, doch dem Risiko, zu Lügnern und Roßtäuschern zu werden. Er selbst hatte nicht entfernt daran gedacht, sie zu warnen.

Er redete sich ein, das liege ausschließlich daran, daß sie ihm doch nicht glauben würden. Sie glaubten, die höchsten Berge besteigen zu können. Und genau solche Menschen waren sie auch. Sie wollten die Berge besteigen, weil man sie gerade wegen dieser Qualifikation ausgewählt hatte. Die Gleichung war unlösbar. Und außerdem bestand sein Job darin, seine Rolle zu spielen. Er war das Original von Carl Gustaf Gilbert Hamilton, ein Fregattenkapitän, der Konteradmirale dazu brachte, sich zu erheben, wenn er den Raum betrat, oder ein Foto auf Pralinenschachteln, aber gleichwohl war er das Original. Irgendwo in sich hatte er, was diesem äußeren Anschein entsprechen sollte.

Doch in Wirklichkeit war er nur ein einfacher Fremdgänger und Roßtäuscher, ein Ehebrecher.

Samuel Ulfsson fühlte sich erleichtert, als die Besprechung beendet war und er in seinen wartenden Dienstwagen einsteigen konnte. Die sogenannten Sicherheitschefs der Industrie besaßen die Gabe, ihn immer verlegen zu machen, als parodierten sie unbewußt seinen Beruf. Sie sprachen immer militärisch knapp, eckig, abgehackt und mit einer Menge unnötiger Begriffe.

Swedish Ordnance hatte einen besonderen Krisenstab gebildet, der die Entscheidungen des Unternehmens in der Entführungssache verantworten sollte, und alles schien wie eine Art Kriegsspiel oder Übung zu sein, die sie schon oft geprobt hatten.

Sie hatten sich um Frauen und Kinder gekümmert und sie in eine leerstehende Direktorenvilla in Karlskoga verfrachtet. An und für sich war es gut, wenn es ihnen gelang, alle Angehörigen zum Schweigen zu bringen, da eine zu frühe Publizität verheerende Auswirkungen haben konnte.

Sie hatten auch die Geldfrage geregelt, und das offenbar erstaunlich leicht. Jetzt waren zehn Millionen Dollar bei einer Bank in San Marino und der Banca di Sicilia in Palermo hinterlegt worden. Überdies war einem gewissen Carl Gustaf Gilbert Hamilton, der noch nichts von der Sache wußte, Vollmacht erteilt worden, über den Betrag zu verfügen.

Der Sicherheitschef bei Bofors jedoch, im übrigen ein ehemaliger Major, der noch vor Samuel Ulfssons Dienstantritt mehrere Monate lang in der Sicherheitsabteilung des Generalstabs gearbeitet hatte, hatte an der Wahl Hamiltons einiges zu bekritteln gehabt. Es sei, hatte er erklärt, nicht sonderlich diskret, einen Mann zu entsenden, dessen Foto schon auf den meisten Titelseiten der Welt geprangt habe, vermutlich auch in Italien.

Samuel Ulfsson hatte geduldig zugestanden, daß man schon damit rechnen könne, daß Hamilton dem Gegner bekannt sei oder daß dieser schon von ihm gehört habe, daß man dies aber gleichwohl als Vorteil sehen könne. Falls die Gangsterorganisation drohend auftreten wolle oder weitere Gewalttaten plane, wäre es gut, wenn diesen Leuten das Risiko vor Augen geführt werde, daß das Feuer sozusagen erwidert werden könne. Im übrigen habe der Außenminister den Wunsch geäußert, gerade Hamilton einzusetzen. Es sei also der Wunsch der Regierung gewesen, und darüber könne man nicht einfach hinwegsehen. Welche Überlegungen den Außenminister und andere bewogen hätten, gerade Hamilton auszuwählen, könne wohl nur Gegenstand von Spekulationen sein. Vielleicht wollte die Regierung die schwedischen Entführungsopfer unter Fanfaren und mit Pauken und Trompeten befreit sehen. Immerhin sei es ein Wahljahr, aber zu diskutieren gebe es da nicht mehr viel.

Überdies gab es nicht sonderlich viele Personen, unter denen man wählen konnte. Außerdem war Hamilton Chef der operativen Abteilung, in der ohnehin das Personal für diesen Auftrag ausgewählt werden würde.

Schließlich waren gar keine Gewalteinsätze geplant. Es ging nur darum, um Freilassung gegen Bezahlung zu verhandeln, um eine Art geschäftliche Abmachung. Nach Samuel Ulfssons Auffassung wäre es eine erheblich kniffligere Frage, wie man sich verhalten sollte, falls die Entführer zehn Millionen Dollar nicht als ausreichende Bezahlung ansahen. Auf Ulfssons Frage, ob die Herren vielleicht eine Obergrenze festgelegt hätten, erhielt er eine verneinende Antwort. Zumindest wollten sie mit keinem Wort eine solche Möglichkeit andeuten. Es ging ja um Menschenleben, die sich nicht einfach in Geld ausdrücken ließen. Außerdem, erklärte einer der Herren, werde man vielleicht schon bald eine konkretere Unterlage für solche Entscheidungen erhalten. Bis jetzt sei ja nicht mal ein Anfangsgebot abgegeben worden.

Samuel Ulfsson hatte darauf verzichtet, diese Diskussion weiterzuführen, obwohl er gerne die satanische Frage gestellt hätte, wie man sich verhalten solle, wenn der Preis auf fünfundzwanzig Millionen Dollar hochgetrieben werde; irgendwo gab es vermutlich selbst für den ökonomischen Menschenwert eines schwedischen Direktors eine Obergrenze.

Wie Carl den Auftrag aufnehmen würde, machte ihm keine Sorge, und so waren Carls erste spontane Reaktionen recht überraschend.

Carl hatte rote Augen und war erschöpft von der Reise. Er war soeben vom Flughafen Arlanda mit neun Stunden Zeitunterschied im Körper in die Stadt gekommen. Er war offenbar darauf eingestellt gewesen, in seinem Büro nur in einigen Papieren blättern zu müssen, um dann nach Hause gehen und schlafen zu können. Leider war die Zeit kostbar, und je früher er und Joar Lund-wall sich nach Italien begaben, um so besser.

»Aber das ist doch nichts für uns! Von uns werden doch wohl qualifiziertere Aufträge erwartet als das hier?« wandte Carl ein, kaum daß Samuel Ulfsson seinen kurzgefaßten Bericht beendet hatte.

»Inwiefern?« fragte Samuel Ulfsson besorgt und streckte die Hand nach seiner Zigarettenschachtel aus. Carl sah wirklich nicht sonderlich begeistert aus.

»Ich meine, mit einfachen Verbrechern zu verhandeln …«, seufzte Carl und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. »Findest du es nicht selbst ein bißchen übertrieben, wegen solcher Bagatellen Personal aus der operativen Sektion des Nachrichtendienstes loszuschicken? Das kann doch jeder beliebige Polizist erledigen. Man könnte sogar jemanden aus dem Affenhaus losschicken.«

»Jetzt übertreibst du aber ein bißchen«, konterte Samuel Ulfsson trocken. »Dir muß doch klar sein, daß man nicht Sicherheitspolizisten mit einem solchen Auftrag auf die Reise schicken kann. Die würden ja nur irgendeinen Kurden apportieren und uns vor die Füße legen.«

»Jaja«, seufzte Carl, »ich nehme alles zurück. Aber irgendein richtiger Polizist dürfte wohl genügen. Die haben außerdem Erfahrung mit Verbrechern, was wir nicht haben.«

»Ja, vielleicht. Aber es könnte zu einem Austausch kommen«, betonte Samuel Ulfsson vorsichtig. Er wollte bei der Diskussion nicht zu sehr drängen.

»Na wenn schon«, erwiderte Carl, gähnte und entschuldigte sich mit einer Handbewegung. »Es kann doch nicht so schwierig sein, ein paar Gefangene gegen eine Aktentasche mit Geldscheinen auszutauschen? Außer ein paar beleidigenden Worten dürfte es doch kaum Gewalt geben, oder?«

»Nein«, erwiderte Samuel Ulfsson schnell, »von Gewalt kann keine Rede sein. Es wird verhandelt, man einigt sich auf einen Preis, und dann wird der Austausch vorgenommen. Soviel ich weiß, gibt es jedoch einige bürokratische Gründe dafür, für diesen Job Militärs auszuwählen. In Italien sind Militärs mit der Angelegenheit befaßt, und deshalb ist es für uns leichter als für die Polizei. Du sollst morgen einen Vertreter des Verteidigungsministeriums in Rom treffen.«

»Morgen?« sagte Carl und nickte müde. »Darf ich noch nach Hause fahren und mich umziehen?«