Ehrenwerter Mörder - Jan Guillou - E-Book
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Jan Guillou

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Beschreibung

Ein pensionierter Generalleutnant wird zu Tode gefoltert, der Täter ritzt ihm ein Hakenkreuz auf die Brust. Wenige Tage später stirbt ein früherer Marineoffizier auf brutale Weise. Die schwedischen Medien stürzen sich auf die Sensation: Haben die beiden Ermordeten eine Nazi-Vergangenheit? Topagent Graf Hamilton soll den Fall übernehmen, doch eigentlich hat er genug mit seinem Privatleben zu tun: Überstürzt heiratet er seine schwangere Freundin - und dann taucht auch noch seine große Liebe aus vergangenen Zeiten wieder auf. Thriller-Autor Jan Guillou gönnt seinem Helden keine ruhige Minute. »Coq Rouge« gerät in ein Netz aus Geheimnissen, die dunkle Schatten auf die schwedische Geschichte werfen.

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Übersetzung aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass

ISBN 978-3-492-98059-3 © für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014 © 1990 Jan Guillou Titel der schwedischen Originalausgabe: »Den hedervärde mördaren«, Norstedts Förlag, Stockholm 1990 © der deutschsprachigen Ausgabe: 1995 Piper Verlag GmbH, München Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © Ivan Cholakov / shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 4. Auflage 2005   In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich Fahrenheitbooks die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.  

1

Das Hakenkreuz war ihm in die Brust geschnitten worden, bevor er starb. Der Mord war mit einer fast unglaublich entschlossenen Gehässigkeit ausgeführt worden. Es schien ein in die Länge gezogenes Ritual gewesen zu sein, bei dem der oder die Mörder das Opfer lange am Leben gehalten hatten, um ihm soviel Schmerz und Demütigung wie möglich zufügen zu können.

Dies war zumindest Rune Janssons spontane Vermutung, obwohl er bis jetzt kaum hatte Luft holen können. Der Gerichtsmediziner und die Techniker des Erkennungsdienstes würden noch viele Fragen beantworten müssen.

Er zwang sich, den Toten nicht mehr anzusehen, und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. In dem offenen Kamin war noch eine schwache Glut zu sehen. Es gab keinerlei Spuren von Kampf. Der oder die Täter waren offensichtlich bewaffnet gewesen.

Echte Perserteppiche, Ölporträts mit Goldrahmen an den Wänden. Eins der Gemälde stellte den Toten vor vielleicht zwanzig Jahren in Generalsuniform dar. Es war ein typisches Generalsbild: festes Kinn, halbes Profil, Adlerblick, alles, was dazugehört.

Im Raum roch es nach Urin.

Rune Jansson sah automatisch unter den Stuhl des Toten. Nein, er hatte sich nicht in die Hosen gemacht. Einen Meter von Rune Janssons mit Plastik überzogenen Schuhen entfernt lag eine Generalsuniform, als hätte sie jemand demonstrativ vor dem Toten ausgebreitet. Jemand, der nicht das Opfer hatte sein können, hatte die Uniform angepinkelt. Und dann das Hakenkreuz.

Rune Jansson trat näher an den toten Mann im Stuhl heran. Der oder die Täter hatten das Hemd unter der Hausjacke aufgeknöpft und die Brust des Opfers entblößt. Mit einem vermutlich sehr scharfen Schneidwerkzeug, wie es in den morgigen Berichten heißen würde, war ein Hakenkreuz in die Brust des Opfers geritzt worden und unter das Hakenkreuz zwei eckige Buchstaben, die das Wort ED* [* ED = schwed. Eid (Anmerkung des Übersetzers).] bildeten.

Soviel Rune Jansson erkennen konnte, war das Opfer mit fünf Schüssen getötet worden, von denen vier bewußt keine tödliche Wirkung gehabt hatten. Der tödliche Schuß war aus allernächster Nähe abgefeuert worden. Jemand hatte dem Opfer die Mündung einer Waffe unter die Nase gehalten, dann schräg nach oben gezielt und abgedrückt.

Die Gewebereste fanden sich noch in fünf Meter Entfernung hinter dem Opfer und auf einer Breite von etwa zwei Metern.

Die Gewebereste, dachte Rune Jansson.

Aber so heißt es nun mal. Ich bin Polizeibeamter, und dies ist mein Job. Ich muß klar denken. Wir werden den Scheißkerl schnappen, der das hier angerichtet hat, und deshalb muß ich klar denken.

Er trat behutsam einige Schritte zurück und versuchte, seine ersten spontanen Eindrücke zu einem Ablauf zu ordnen.

Sie kommen herein. Sie sind bewaffnet und damit sofort Herren der Situation. Das Opfer, ein alter Militär, leistet angesichts der bewaffneten Übermacht, oder wie ein General das sonst formuliert hätte, keinen Widerstand.

Sie fesseln ihn an den englischen Ledersessel. Es sind also mindestens zwei Täter, da niemand gern seine Waffe weglegt, um jemanden zu fesseln. Sie benutzen dazu die Krawatte und den Gürtel der Hausjacke. Sie fesseln die Handgelenke an die Armlehnen.

Dann geht jemand los und sucht die alte Uniform des Opfers. Vielleicht fragen sie den Mann auch, wo sie hängt. Sie werfen die Uniform vor dem Opfer auf den Fußboden und pinkeln darauf; das Labor wird feststellen müssen, ob es sich um den Urin eines Mannes oder zweier Männer handelt; nicht besonders profihaft, eine Urinprobe am Tatort zurückzulassen; Entschlossenheit und Haß dieser Mörder sind offenbar größer als ihr Wille, ungestraft davonzukommen.

Sie pinkeln also auf seine Uniform. Auf das Eichenlaub, auf die Generalssterne, auf diese Farbkleckse, wie immer die Dinger heißen. Dann fangen sie an, den General langsam zu Tode zu schießen. Es mußte schauerlich weh getan haben. Wie zum Teufel hatte der Mann es geschafft, dabei bei Bewußtsein zu bleiben?

Erst unterhalb der einen Schulter. Entfernung nur wenige Zentimeter. Man sieht deutlich die Pulverspuren am Einschußloch. Und dann, ja, das ist eine reine Vermutung, dann die eine Kniescheibe. Jetzt tut es wirklich weh, denn den ersten Schuß wird er wegen des Schocks kaum gespürt haben.

Dann die zweite Schulter, dann die andere Kniescheibe. Sie müssen absolut sicher gewesen sein, nicht gestört zu werden. Nein, diese Mörder denken nicht so. Für sie stehen Rache und Haß im Vordergrund, ein unglaublicher Haß.

Warum hat der Mann immer noch die Brille auf?

Wenn er noch bei Bewußtsein war, als sie ihn erst durch das eine Knie und dann durch das andere schossen, muß er ja versucht haben, den Oberkörper hin und her zu werfen. Trotzdem sitzt die Brille noch da.

Nein, das ist noch längst nicht alles.

Der Mann ist unfähig, sich zu bewegen, aber bei Bewußtsein. Jetzt entblößen sie seine Brust und schneiden das Hakenkreuz in die Haut und diese Buchstaben – hat er einmal einen Eid gebrochen? –, und dann wollen sie, daß er eine Brille auf der Nase hat. Sie holen die Brille, beispielsweise vom Schreibtisch. Nein, neben dem Stuhl liegt eine Zeitung; wir korrigieren uns.

Sie heben die Brille vom Fußboden auf und setzen sie ihm auf. Es ist eine Lesebrille. Sie hat wohl auf der Zeitung gelegen. Er konnte die Männer auch ohne Brille sehen und vor allem hören.

Sie wollen, daß er etwas liest. Soll er den Eid, den er gebrochen hat, vor dem Tod noch einmal lesen?

Nun ja, oder etwas in der Richtung. Er soll jedenfalls etwas lesen, bevor er stirbt.

Nachdem der Mann gelesen hat, hält ihm einer der Täter mit einer Hand das Dokument vors Gesicht, spricht mit seinem Opfer, drückt ihm die Pistole oder den Revolver, oder was er sonst benutzt hat, gegen die Nase.

Einige letzte Worte, Verwünschungen, Flüche oder höhnische Bemerkungen, und dann drückt der Mörder ab.

Die Täter räumen nicht auf. Sie lassen ihr Opfer mit der vollgespritzten, blutverschmierten und verrutschten Brille so sitzen, wie er ist. Das ist alles, was sich im Augenblick erkennen läßt. Vielleicht ist alles völlig falsch. Das werden wir sehen, wenn die Techniker mit ihrer Arbeit fertig sind.

»Sind die Techniker schon unterwegs?« fragte Rune Jansson in dem neuen, etwas abgehackten Tonfall, den er sich, wie seine Frau behauptete, seit seiner Beförderung zum Chef zugelegt hatte.

»O ja. Ich habe auch den Quacksalber in Linköping angerufen. Die ganze Bande ist schon unterwegs. Dürften in zwanzig Minuten oder so hier sein«, erwiderte der uniformierte Polizeibeamte, der mit einem rot-weißen Absperrband zwischen den Zähnen in der Tür stand.

»Der Quacksalber?« fragte Rune Jansson.

»Also der Gerichtsmediziner, Verzeihung, falls ich …«

»Schon gut, ich weiß. Aber der ist mit seiner Arbeit erst später dran.«

»Schon, aber das hier ist ja recht speziell, und ich dachte mir, daß er sich das Ganze vielleicht sozusagen am Tatort ansehen will. Er schien jedenfalls interessiert zu sein und hat ein Essen sausen lassen … und ja.«

»Richtig gedacht. Wie heißt du übrigens?«

»Arne. Arne Johansson.«

»Du bist als erster am Tatort gewesen?«

»Ja, ein paar Minuten vor dem Krankenwagen. Sie, also die Witwe, hatte 90000 gewählt.«

»Mhm. Wo ist sie jetzt? Ist sonst noch jemand im Haus?«

»Nee, nur sie. In der Küche. Die Krankenwagenfahrer halten sie fest.«

»Halten sie fest?«

»Ja, sie versuchen, sie zu beruhigen und ihr irgendwas zu geben. Sie will unbedingt mit irgendeinem Chef sprechen, so daß es vielleicht am besten ist, wenn du …?«

»Ja. In der Küche, sagst du. Wo ist sie?«

»Raus durch die Diele, zweite Tür links durch einen Anrichteraum, und dann brauchst du nur dem Lärm zu folgen.«

»Dem Lärm?«

»Ja, die Alte, Verzeihung, die Witwe, ist stinkwütend. Dürfte der Schock sein.«

Rune Jansson drängte sich an dem uniformierten Beamten vorbei und zog sich die Plastikhüllen von den Schuhen. In dem dunklen Anrichteraum hörte er tatsächlich eine laute weibliche Stimme. Sie war durchaus nicht hysterisch, aber laut.

Er klopfte vorsichtig an der halboffenen Küchentür, bevor er eintrat. Am Tisch, einem großen Küchentisch aus massiver Kiefer, der in der Mitte der erstaunlich modernen Küche stand, saßen drei Personen. Zwei Krankenwagenfahrer und sie.

Sie strahlte eher Stärke als Trauer und Verzweiflung aus. Um die Augen war ein wenig Mascara verlaufen, aber sie saß mit kerzengeradem Rücken ein Stück vom Tisch entfernt in einer Körperhaltung da, die starke Mißbilligung verriet. Vor ihr lagen zwei weiße Pillen, und daneben stand ein Glas Wasser.

»Auf gar keinen Fall, habe ich gesagt. Und wer sind Sie?« sagte sie und wandte sich zu Rune Jansson.

»Ich heiße Rune Jansson und bin Chef der Kriminalpolizei in Norrköping«, erwiderte er. Er ertappte sich dabei, sich zum ersten Mal so vorgestellt zu haben.

»So, Sie sind also der Chef dieser Figuren hier«, sagte die grauhaarige Dame eher im Kommandoton als in Form einer Frage.

»Nein, sie sind Krankenwagenpersonal, und …«

»Können Sie denen nicht wenigstens sagen, daß ich so etwas nicht nehme!«

Rune Jansson warf dem Krankenwagenfahrer, der ihm am nächsten saß, einen fragenden Blick zu, bekam aber nur ein Achselzucken zur Antwort.

»Sie haben hier im Augenblick sicher nichts mehr zu tun?« sagte er in Richtung der beiden Männer.

»Nein, es ist ja kein akuter … das hier dürfte sicher noch eine Zeitlang dauern, so daß wir genausogut …?« erwiderte der Altere.

»Mhm«, sagte Rune Jansson, »wir danken Ihnen erst mal für Ihre Hilfe.«

Die beiden Krankenwagenfahrer verbeugten sich verlegen und höflich vor der grauhaarigen Dame und standen auf, waren aber noch nicht weit gekommen, als sie gestoppt wurden.

»Einen Augenblick, meine Herren! Nur einen kleinen Augenblick.«

Sie sprach mit mühsam beherrschter Stimme, aber in einem Tonfall, als setzte sie voraus, daß man ihr sofort gehorchte. Immerhin ist sie mit einem General verheiratet gewesen, dachte Rune Jansson. Die beiden Krankenwagenfahrer waren in ihrer Bewegung erstarrt. Die Generalswitwe holte Luft, bevor sie fortfuhr.

»Sie haben doch hoffentlich nicht vor … es ist doch wohl nicht Ihre Absicht, daß mein Mann in dieser Stellung sitzen bleiben muß?«

Rune Jansson nickte den beiden Krankenwagenfahrern kurz zu. Sie zogen sich unter Verbeugungen zur Tür zurück.

»Liebe Frau Klintén … es fällt mir schwer, in Worte zu kleiden, was wir alle … angesichts einer Situation wie dieser …« sagte Rune Jansson und setzte sich auf einen der freien Stühle. Er holte Luft, um weitersprechen zu können, schaffte aber nicht mal eine Silbe, bevor ihre Worte ihn wie eine Ohrfeige trafen.

»af Klintén.«

»Verzeihung?«

»Herta af Klintén heiße ich. Nicht Klintén.«

»Ich bitte sehr um Entschuldigung.«

»Übrigens, setzen Sie sich doch bitte.«

Rune Jansson zwang sich, kurz nachzudenken, bis ihm auf ging, daß das ironisch gemeint war. Er hatte keine Lust, dieser Ironie zu entsprechen.

»Besten Dank«, sagte er. »Ja, ich wollte gerade sagen, daß …«

»Sie sind also Chef der Polizei in Norrköping?«

»Nein, ich bin Chef der Kriminalabteilung.«

»Dann können Sie also beschließen, was von jetzt an mit meinem Mann geschieht.«

»Ja, in den nächsten Stunden.«

»Dann sorgen Sie dafür, daß er sofort in ein Krankenhaus gebracht wird.«

Rune Jansson suchte ihren Blick. Sie hatte einen sehr festen Blick. Ihm fiel englischer Adel ein, was völlig unbegründet war, da er vom englischen Adel nicht mehr wußte, als er in den Fernsehserien gesehen hatte, die seine Frau sich gern ansah.

Irgendwo in dieser Frau gab es unendliche Trauer und unendlichen Schmerz. Ihr Mann schien etwa fünfundachtzig Jahre alt zu sein, und sie war vielleicht zehn Jahre jünger. Sie hatten ein Menschenleben gemeinsam verbracht. Und jetzt war sie seit ein paar Stunden allein. Sie zeigte aber so gut wie nichts von dem, was sie fühlen mußte.

»Liebe Frau af Klintén, ich bin nicht sicher, daß ich die Trauer und … und das verstehen kann, was Sie jetzt schmerzt. Ich kann nur sagen, daß ich es zu verstehen versuche und daß ich alles tun will, um …«

»Dann sorgen Sie bitte sofort dafür, daß er nicht auf diesem Stuhl sitzen bleibt«, unterbrach sie ihn mit nicht einmal bemühter Schärfe im Tonfall.

»Nein«, erwiderte Rune Jansson und machte eine Pause, in der er sich entschloß, die Taktik zu wechseln. »Ich bin Polizeibeamter, und mein Job besteht darin, die Leute aufzuspüren, die das mit Ihrem Mann gemacht haben, und dafür zu sorgen, daß sie verurteilt werden.«

Seine tölpelhafte Formulierung ließ ihn erröten. Die Polizei hat nicht dafür zu sorgen, daß jemand verurteilt wird. Sie soll Täter nur aufspüren und Beweise vorlegen. Alle diese juristischen Abendkurse, alle diese Begegnungen mit herablassenden Professoren, die sich angesichts dieses privat dilettierenden Polizisten vom Lande eines verächtlichen Glitzerns im Auge nicht hatten enthalten können, und dann eine Formulierung wie … nun ja, was spielte das schon für eine Rolle. Die Situation war nicht theoretisch, sondern höchst real und außerdem unerträglich. Hier ging es um das Recht, nicht um die Juristerei der Professoren.

»Ich setze natürlich voraus, Herr Polizeichef, daß Sie Ihre Arbeit tun, aber ich verlange ganz einfach, daß mein Mann hier in unserem Haus würdig behandelt wird.«

Sie hatte dunkelbraune Augen, und Rune Jansson war der Meinung, daß ihr Blick besser zu ganz hellblauen oder grauen Augen gepaßt hätte. Mehr in Richtung Stahl.

»Nun«, erwiderte er zögernd. »Ich kann Ihre Gefühle verstehen und respektiere sie. Aber Sie müssen auch verstehen, daß wir alle Beweise sichern müssen, die wir nur finden können, und dazu müssen wir unter anderem einige Fotos machen, bevor wir …«

»Wird man meinen Mann obduzieren?«

»Ja, ohne Zweifel.«

»Dem widersetze ich mich.«

»Liebe Frau af Klintén …«

»Ich bin nicht Ihre liebe!«

»Doch. Liebe Frau af Klintén. Das hier wird ein paar Stunden dauern, muß aber getan werden, und …«

»Haben Sie das Recht auf Ihrer Seite, wenn Sie mich daran hindern, jetzt nach nebenan zu gehen und meinen Mann in eine etwas ruhendere Stellung zu legen und zuzudecken?«

»Ja.«

»Würden Sie mich mit Gewalt daran hindern? Hier, in meinem eigenen Haus?«

»Nein.«

Rune Jansson senkte den Blick. Er schämte sich immer, wenn er log, selbst wenn es eine dienstliche Lüge war.

»Nun«, fuhr die harte oder sehr gefaßte Dame fort, »was tun wir jetzt? Muß ich übrigens auch diese Pillen essen?«

»Nein. Sie scheinen sie nicht zu brauchen. Ich nehme an, es ist etwas Beruhigendes, die Krankenwagenfahrer wollten Ihnen sicher nur etwas Gutes tun.«

»Ist das legal?«

»Verzeihung, was denn?«

»Leuten, die man verhören will, so ein Zeug zu geben … solche downers?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erwiderte Rune Jansson und machte eine kurze Pause, um seine Heiterkeit zu überwinden. Ihre Wortwahl hatte ihn überrascht. »Wir machen jetzt folgendes. Es ist technisches Personal unterwegs, das das Zimmer untersuchen wird, in dem … in dem das Verbrechen stattgefunden hat. Wir werden Fotos machen und Spuren suchen, und wenn das erledigt ist, wird ein anderer Krankenwagen kommen und Ihren Mann abholen.«

»Und dann wird man ihn obduzieren?«

»Ja.«

»Und das hat große Bedeutung für … für Ihre Nachforschungen?«

»Ja. Ja, ohne Zweifel.«

»Und was machen wir jetzt? Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Sie fegte die beiden weißen Pillen vom Tisch auf die Handfläche und brachte sie mit dem Wasserglas zur Spüle, wo sie alles auskippte, um dann zu ihrem Platz zurückzukehren. Als sie sich setzte, rückte sie ihren Knoten im Nacken zurecht.

Eine bemerkenswerte Frau, dachte Rune Jansson.

»Also, wir tun jetzt folgendes: Wohnen Sie übrigens allein hier?«

»Ja. Seit kurzem.«

»Verzeihung, so habe ich es nicht gemeint. Aber haben Sie Kinder oder nahe Verwandte, und wo leben sie?«

»Wir haben einen sehr beschäftigten Sohn in Stockholm.«

»Haben Sie seine Telefonnummer?«

»Ja, natürlich.«

»Haben Sie ihn angerufen?«

»Nein … ich …«

Plötzlich und endlich brach es sich in ihr Bahn. Für Rune Jansson war es eine Erleichterung.

Sie trocknete jedoch schnell, was vielleicht Tränen gewesen waren.

»Ich finde, er sollte jetzt herkommen. Wenn Sie wollen, daß ich ihn anrufe, tue ich es«, sagte Rune Jansson mit unbewußt gesenkter Stimme.

Sie stand auf, ohne etwas zu sagen. Sie holte eine Papierrolle für Aufzeichnungen, die neben der Dunstabzugshaube hing, nahm einen Kugelschreiber aus einem Halter und schrieb eine Telefonnummer und einen Namen auf. Sie legte Rune Jansson wortlos den Zettel hin.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Wo finde ich ein Telefon?« fragte er.

»Einmal in dem Zimmer, in dem … ja, und dann noch in der Bibliothek. Zwei Türen links von dem Zimmer, in dem …«

Rune Jansson nahm den Zettel. Als er einen Blick darauf warf, erkannte er, daß es ein vergleichsweise leichtes Gespräch werden würde. Sie hatte den Titel ihres Sohnes mit aufgeschrieben. Senatspräsident Gustaf Eugén af Klintén.

Das Gespräch dauerte weniger als zwei Minuten, dann war der Sohn auch schon unterwegs.

»Ihr Sohn wird in etwa eineinhalb Stunden hier sein«, sagte er, als er wieder in der Küche war und sich setzte, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.

»Sie werden verstehen, daß ich schon jetzt einige Fragen stellen muß«, fuhr er etwas geschäftsmäßiger fort und erwartete, nicht mehr unterbrochen zu werden, bevor er fortfuhr.

»Beispielsweise werden Sie fragen, wo ich mich heute zwischen 18.30Uhr und 19.30Uhr aufgehalten habe«, schlug sie mit zusammengepreßten Lippen vor.

»Ja, zum Beispiel.«

»Dies wird also ein Verhör?«

»Ja, wir nennen es so.«

»Sie können mich doch wohl nicht als Verdächtige behandeln?«

»Nein. Sie können das Verbrechen nicht begangen haben, weil …«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil ich Polizist bin, es ist mein Job. Wenn Sie aber zwischen, wie Sie sagten, 18.30Uhr und 19.30Uhr nicht im Haus gewesen sind, ist das eine sehr wichtige Angabe. Stimmt das?«

»Ja, ich hatte in Norrköping etwas zu erledigen.«

»Sie haben Ihren Mann im Haus zurückgelassen, als Sie nach Norrköping fuhren?«

»Ja, er hatte im Kaminzimmer Feuer gemacht, dort, wo …«

»Ich verstehe. Wer hat Ihren Mann so grenzenlos gehaßt, wissen Sie das?«

»Niemand hat meinen Mann gehaßt.«

»Doch, Frau af Klintén. Jemand hat Ihren Mann mehr gehaßt, als wir beide uns überhaupt vorstellen können. Haben Sie die leiseste Ahnung, wer das sein könnte?«

»Nein. Aber das da kommt doch nicht heraus, das darf einfach nicht herauskommen.«

»Verzeihung, was meinen Sie? Wenn es um solche Verbrechen geht, fürchte ich, daß …«

»Ich meine das mit … mit dem Hakenkreuz. Das ist ja so schändlich, man könnte glauben, daß …«

»Nein, für uns ist es wichtig, daß das nicht herauskommt. Das ist zwar keine Garantie, aber es ist auch für uns wichtig, daß es nicht herauskommt. Aber wie meinen Sie? Man könnte was glauben?«

Sie sammelte sich lange, bevor sie antwortete. Rune Jansson konnte nicht umhin, sie zu bewundern, doch gleichzeitig empfand er intuitiv so etwas wie Abscheu vor ihrem gefaßten Auftreten. Er würde nicht wollen, daß seine Frau sich so verhielt, wenn er selbst dort in dem Sessel gesessen hätte.

Im Café Opera braute sich alles zu einer stürmischen Nacht zusammen, was vollkommen normal für Freitagabend war; anwesend waren mehr oder weniger bekannte Popsänger oder zumindest deren Musiker oder zumindest deren vermeintliche Bekannte oder die vermeintlichen Bekannten der Musiker, ferner weniger berühmte Schauspieler, da die berühmten erst später kommen würden, große oder kleine Börsenstars, ein vereinzelter Milliardär, Immobilienhaie, Torpedos aus der Unterwelt, gesellschaftskritische Journalisten, im Augenblick außer Dienst, ein ziemlich betrunkener und sehr berühmter Kriminologe, Horden vermutlich sehr junger Blondinen, vereinzelte Drogendealer, ein außerordentlich erfolgreicher Künstler, der Hundert-Kronen-Scheine in Rotwein tauchte und sie unter lautem Schmatzen nach und nach aufaß, und an dem langen Bartresen stand eine Mischung von dem, was man alltägliche, normale Leute nennt, das heißt Personen, die irgendwo angestellt waren und für ein Monatsgehalt arbeiteten, darunter jüngere Männer mit dunklen, wie Teflon glänzenden Anzügen und leicht heruntergezogenen Schlipsknoten und einem tragbaren Telefon in der Jackentasche, womit sie selbst an einem Freitagabend unterstreichen wollten, wie unendlich kostbar ihre Zeit war.

In Stockholms In-Lokal Nummer eins also alles wie gewohnt.

Zwei der jungen Männer am Bartresen, die ebenfalls Anzüge trugen, wichen leicht von ihrer Umgebung ab. Sie trugen weder goldene Armbanduhren noch sonstige Schicki-Micki-Attribute, wiesen einen geringeren Alkoholpegel auf und unterhielten sich leiser.

Sie waren tief in eine militärhistorische Diskussion versunken. Einer der beiden war von riesenhaftem Wuchs und sprach Finnlandschwedisch. Er gab sich größte Mühe, seinen normal großen, im Gegensatz zu ihm jedoch fast zwergenhaften Freund in einer moralischen Frage zu überzeugen.

»Fünfzehnhundert gottverdammte Panzer, siebzigtausend Tote und einhundertfünfzigtausend Verwundete hat Stalin investiert, und wir haben mit mindestens achtzehntausend Toten bezahlen müssen, während ihr uns dreimal im Stich gelassen habt. Verdammt noch mal, dabei fällt einem doch Petrus ein, der Jesus dreimal verleugnete, bevor der Hahn krähte«, sagte der Riese in leisem Unterhaltungston, der in starkem Gegensatz zu seinen Worten stand.

»Richtig. Aber Petrus verriet, falls es so gewesen ist, denjenigen, den er am allerwenigsten verraten wollte, und außerdem ist es absurd, von ihr und wir zu sprechen. Immerhin ist das mehr als fünfzig Jahre her. Wir beide wurden etwa zwanzig Jahre danach geboren. Wir sind unschuldig, etwa so unschuldig, als wären wir Deutsche im gleichen Alter«, erwiderte der Schwede in dem gleichen leisen Unterhaltungston.

»Dreimal hat Schweden uns im Stich gelassen«, fuhr der Riese verbissen fort, »dreimal hat uns dieser Per Albin Hansson verraten, der euer Nationalheld aus dem Krieg ist. Er wollte nicht mal Åland verteidigen, dieses Arschloch, dreimal hat er es verweigert. Und als die Engländer und Franzosen Entsatztruppen auf dem Transitweg durch Schweden heranführen wollten, hat der Scheißkerl auch das verweigert, obwohl es kurze Zeit später mit den deutschen Truppen sehr gut klappte. Ihr habt während des ganzen gottverdammten Krieges auf einen deutschen Sieg gesetzt, das war eure Neutralität. Zum Dank für erwiesene Neutralität deutschen Typs habt ihr so ein gottverdammtes kleines schwarzes Hakenkreuz mitten auf euer gelbes Kreuz gekriegt, das ist alles.«

»Zugegeben. Aber erstens spreche ich mich immer noch von jeder Schuld frei, denn ich bin immerhin 1959 geboren, und zweitens verstehe ich nicht, warum du jammerst. Estland, Lettland und Litauen haben keinen Widerstand geleistet wie ihr, Verzeihung, ich meine, wie deine gottverdammten Vorväter. Wenn ihr es getan hättet, hättet ihr zu den Siegern des Krieges gehört, wärt aber Sowjetrepublik geworden. Statt dessen seid ihr die einzigen gewesen, die davongekommen sind. Was jammerst du also?«

»Nun ja. Und dann Afghanistan. Finnland und Afghanistan sind die einzigen, die sich gewehrt haben, und … aber laß dir jetzt ja nicht einfallen, von der Sache abzulenken.«

»Ich lenke von gar nichts ab, aber du hättest ebensogut mit mir Hannibals Zug über die Alpen oder den Dreißigjährigen Krieg oder die Kreuzzüge gegen Finnland oder darüber diskutieren können, wie Skåne schwedisch wurde. Ich bin unschuldig. Repeat, I am innocent.«

Sie waren an einem Punkt der Diskussion angelangt, an dem sie mehrere Wahlmöglichkeiten hatten. Sie konnten noch ein paar Biere bestellen und wieder von vorn anfangen. Sie konnten das Thema wechseln oder nach Hause gehen.

»Wie kommt es, daß du Schwede bist? Das habe ich nie verstanden«, sagte der Schwede.

»Nun ja. Es begann bei Suomussalmi, aber was das ist, weiß so ein gottverdammter kleiner Hallodri wie du natürlich auch nicht?« entgegnete der Riese hinterhältig.

»Nein, aber das liegt natürlich bei Breitenfeld oder Lützen oder etwas in der Richtung.«

»Red keinen Scheiß. Das war im Winterkrieg.«

»Das habe ich ja gerade gemeint, ungefähr zwanzig Jahre vor deiner Geburt. Also dort bist du doch wohl nicht Schwede geworden?«

»Du sollst mich nicht ärgern. Das ist eine komplizierte Geschichte.«

»Nun ja. Schieß los, ich meine, wir befinden uns also im Winterkrieg?«

»Vater war Leutnant, Berufssoldat. Bei Suomussalmi haben sie eine ganze sowjetische Division eingekreist und vernichtet. Und als die Bolschewiken eine weitere Division zum Entsatz schickten, haben sie die auch geschlagen. Vater bekam das Freiheitskreuz Zweiter Klasse mit Schwertern.«

»Teufel auch. Und deswegen bist du Schwede geworden?«

»Himmel, Arsch und Zwirn, kannst du das nicht mal ernst nehmen!«

»Doch. Dein Vater bekam das Freiheitskreuz. Das dürfte so etwas sein wie die Königliche Medaille für Tapferkeit zur See. Aber was ist dann passiert?«

Der blonde Riese holte tief Luft, als konzentrierte er sich darauf, nicht wütend zu werden, bevor er fortfuhr.

»Also. Vater war gegen die Fortsetzung des Krieges. Aber nicht etwa, weil er etwas dagegen hatte, finnisches Land zurückzuerobern, sondern weil wir plötzlich auf der Seite der Nazis gelandet waren.«

»Aber finnische Offiziere waren doch damals bereit, selbst mit dem Teufel einen Bund einzugehen, wenn dieser Bund sich nur gegen die Bolschewiken richtete, wie du sagst?«

Sie wurden von dem betrunkenen und sehr berühmten Kriminologen unterbrochen, der sich zum Bartresen vordrängte. Zwischen den beiden Männern, die über einen Krieg diskutierten, der vor einundfünfzig Jahren stattgefunden hatte, hatte es eine zwanzig Zentimeter breite Lücke gegeben, und aus diesem Grund wurden sie jetzt auseinandergeschoben wie die Wellen vor einem Schiffsbug.

»Die Herren müssen schon entschuldigen, aber ich habe eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit«, murmelte ihnen der Kriminologe zu und versuchte, einen der Barmänner am Kragen zu schnappen. Er verpaßte ihn, aber seine Absicht, dem Mann klarzumachen, daß er etwas bestellen wollte, war von Erfolg gekrönt.

»Wo zum Teufel bleiben meine Dom-Pullen? Ich habe vor mehr als einer halben Stunde zwei Flaschen Dom Pérignon bestellt!« sagte der Kriminologe mit einem erstaunlich gekränkten Tonfall.

»Ich würde vorschlagen, du redest mit dem Mädchen, das deinen Tisch hat«, erwiderte der Barmann gemessen.

»Du stehst auf meinem Fuß«, sagte der finnlandschwedische Riese zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Oh, Verzeihung, ich werde gleich den Fuß wegnehmen, wenn ich nur diese Bestellung losgeworden bin«, erwiderte der Kriminologe, um nach einem kurzen Seitenblick auf den Riesen, auf dessen Fuß er stand, etwas schneller seinen unglücklich plazierten Fuß wegzunehmen. Bei seinem kurzen Zögern wich der Barmann zurück, um wieder Bier zapfen zu können, und gleichzeitig wurde am Tisch des Kriminologen gejubelt, denn dort knallte der erste Champagnerkorken.

»Ihr seht, man braucht nur loszugehen und jemandem auf den Fuß zu latschen, dann klappt die Bedienung«, sagte der Kriminologe halb entschuldigend. Dann entdeckte er plötzlich etwas, als er in das Gesicht des Riesen blickte, worauf er dem zweiten Mann einen schnellen, forschenden Blick zuwarf, dessen Gesicht sich ein wenig unter seinem befand.

»Aber das ist ja sehr interessant«, fuhr er dann freundlich fort. »Sehr interessant. Aber da die Herren Jäger sind, würde es mir eine außerordentliche Freude sein, wenn ich diesen kleinen Zwischenfall mit einem Glas Dom Pérignon am Tisch hinter mir wiedergutmachen dürfte.«

»Wir sind für Jagdgeschichten in Kneipen nicht sehr zu haben, aber weshalb glaubst du, wir seien Jäger?«, entgegnete der normal große Schwede schnell und wachsam.

»Mich täuscht ihr nicht«, lächelte der Kriminologe glücklich. Und dann zeigte er vielsagend auf die Augenbrauen, zunächst des einen und dann des anderen.

»Entweder habt ihr ganz verteufelt viel geschossen oder auch sensationell schlecht, vor allem im Hinblick darauf, daß ihr eure Fehlschüsse wiederholt habt«, sagte der Kriminologe, der sich danach durch das Gedränge zu seinem Tisch zurückpflügte, wo er gerade rechtzeitig zum Eingießen ankam.

»Es sind diese Abdrücke von den Zielfernrohren. Es gibt nicht viele, die so was sehen«, stellte der Schwede leise und fast flüsternd fest.

»Na schön, dann sind wir eben Jäger«, sagte der Finnlandschwede trocken. »Aber, wenn ich fortfahren dürfte?«

»Also schön, nach der Schlacht bei Suomalainen wurde dein Vater Nazigegner. Und?«

»Suomussalmi. Er wurde nicht, er war Nazigegner, unter anderem, weil er mit einer Jüdin verheiratet war.«

»Das kann in Ekenäs nicht sehr üblich gewesen sein?«

»Wir, ja, das heißt er und seine Frau wohnten damals in Helsinki. Nein, das war ganz gottverdammt ungewöhnlich. Aber so wie die Dinge lagen, wanderte er nach Schweden aus und wurde schnell schwedischer Staatsbürger, als sich die Fortsetzung des Krieges abzeichnete.«

»Ein Berufsoffizier im Krieg? Das geht doch wohl nicht?«

»Nein, natürlich geht das nicht. Aber es geht auch nicht, jemanden, der das Freiheitskreuz bekommen hat, vor ein Kriegsgericht zu stellen.«

»1941 zog er also nach Schweden und wurde Schwede?«

»Ja.«

»Und hat dann wieder geheiratet, eine jüngere Frau, die vielleicht Finnlandschwedin war?«

»Ja.«

»Aber dann mußte er wieder nach Finnland ziehen und nahm seinen Wohnsitz in Ekenäs?«

»Ja.«

»Und da wurdest du geboren, zwar in Finnland, aber mit einem schwedischen Vater, so daß du Schwede wurdest?«

»Ja.«

»Gute Art, ein Gespräch zu führen, so geht es viel schneller. Als du also deinen Wehrdienst ableisten solltest, konntest du dich als Auslandsschwede entweder weigern oder …«

»Wie du weißt, konnte von Verweigerung keine Rede sein.«

»Nein, ein paar von uns können sich ja daran erinnern. Aber dann seid ihr wieder nach Schweden gezogen?«

»Ja.«

»Gut, ausführlicher Bericht entgegengenommen. Aufgrund der Einsätze deines Vaters bei Suom …«

»Suomussalmi.«

»Ja, genau. Du wurdest also Schwede, obwohl du Finnlandschwede bist. Höchste Zeit zu gehen, sonst stellt sich noch einer auf deinen Fuß, oder, was noch viel schlimmer wäre, auf meinen.«

»Ja.«

Sie fühlten sich erschöpft, und der Rauch brannte ihnen in den Augen, so daß ihnen die Frühlingskälte, die ihnen vor dem Eingang entgegenschlug, wie eine Befreiung vorkam. Es war kein besonders geeignetes Lokal gewesen, um einen sonst so angenehmen, persönlichen und notwendigen Abend abzuschließen. Sie hatten fast nie Zeit gehabt, sich privat miteinander zu unterhalten, obwohl sie einander im Dienst sehr nahe waren. Es war ein gutes Gespräch gewesen, das früh am Abend im Restaurant Reisen unter etwas stilleren Funktionären irgendeiner Volksbewegung begonnen hatte.

Weiter weg, am Standbild Karls XII., gab es Krach und Lärm, etwas, was sie normalerweise nicht im mindesten interessiert hätte. Im Lichtschein brennender Fackeln sahen sie jedoch einige Details, die sie neugierig machten. Es hatte vielleicht etwas mit dem Gespräch dieses Abends zu tun.

Sie sahen schwedische Fackeln, faschistische Sonnenkreuzsymbole und ein vollkommen deutliches Hakenkreuz.

Sie schlenderten langsam mit aufgeknöpften Mänteln und den Händen in den Hosentaschen auf die Schlägerei zu, als wollten sie sich in der kalten Frühlingsluft abkühlen oder um keinen Preis einen provozierenden Eindruck erwecken, was vielleicht gerade provozierend war.

Was sich vor den Augen der beiden Männer abspielte, läßt sich am besten als ein kleineres Scharmützel zwischen Stockholms Skinheads und den Rinkeby-Tigern beschreiben. Die Skins haßten sogenannte Kanaken wie etwa die Rinkeby-Tiger oder behaupteten, sie zu hassen, während die Gegenseite white trash oder möglicherweise Faschisten haßte.

Der Anlaß zu dem Streit war offenkundig. Die Skinheads und ihre älteren Begleiter, möglicherweise Mitglieder des Neuschwedischen Verbands oder einer ähnlichen Sekte, die seit den dreißiger Jahren überwintert hatte, waren in der Überzahl, was sie nicht gewesen wären, wenn sie ihren Heldenkönig an einem einleuchtenderen Tag gefeiert hätten, beispielsweise an seinem Todestag, dem 30.November. In ihrem vermutlich recht improvisierten Akt von Heldenverehrung – sie hatten ein Kreuz mit blaugelben Bändern niedergelegt – waren sie von den Tigern aus Rinkeby entdeckt worden. Offenbar war es einem oder einigen der Tiger gelungen, zu dem Standbild zu laufen, den Kranz an sich zu reißen, ihn zu zerstören und Teile davon sowie ein paar blaugelbe Bänder mitzunehmen, die anschließend in Brand gesteckt wurden. Die Tiger standen ein Stück weiter weg auf der braunen, matschigen Rasenfläche und winkten mit den brennenden schwedischen Farben, um die Skinhead-Gruppe abzulenken oder zu sich zu locken. Der Grund dazu war offenkundig. Die Skinheads hatten einen der Tiger geschnappt und zu Boden geworfen. Jetzt waren sie dabei, ihn zu mißhandeln, vor allem mit Fußtritten.

Es war einfach, die Szene politisch zu deuten. Die Skinheads waren bei der Ausübung ihrer demokratischen Freiheitsrechte provoziert worden. Die juristische Interpretation war ebenfalls einfach. Da nach neuem schwedischen Recht die Schändung schwedischer oder ausländischer Staatssymbole keine Straftat mehr ist, war hier nur eine kriminelle Tätigkeit festzustellen, nämlich die Mißhandlung eines Tigers aus Rinkeby. Vermutlich stellte sich den beiden frischgelüfteten Besuchern des Café Opera die Szene viel einfacher dar. Mehrere große Jungs prügelten auf einen einzigen ziemlich kleinen Jungen ein.

»Hört mal, ihr Hosenscheißer, jetzt reicht’s, meint ihr nicht auch?« sagte der Finnlandschwede mit lauter, aber nicht sonderlich unfreundlicher Stimme.

Das brachte die Missetäter ein wenig aus dem Konzept. Ihr Opfer war kaum zu einer schnellen Flucht imstande. Einer der Skins kam auf die Beine und ging gebückt, sehr breitbeinig und mit wiegenden Schritten auf die beiden Männer zu, die einzigen Zuschauer in der Nähe. Die übrige neugierige Allgemeinheit war in einiger Entfernung schemenhaft zu erkennen.

»Pussy, Pussy, Pussy, ihr kleinen Yuppies«, sagte der junge Mann mit dem rasierten Schädel, drehte den Kopf hin und her und ließ dabei schmatzende Kußlaute hören, als hätten ihm die beiden gutgekleideten Männer unanständige Anträge gemacht, die jetzt voller Verachtung abgewiesen wurden.

»Du bist ja entzückend«, sagte der Finnlandschwede, ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen.

»Die schänden die schwedische Fahne, verfluchte Landesverräter. Dafür müssen sie Prügel kriegen, kapiert ihr das nicht, ihr gottverdammten Yuppies«, entgegnete der Skin.

»Flagge heißt es, nicht Fahne«, sagte der Schwede.

Der Wortwechsel hatte schon genügend Aufmerksamkeit erregt, so daß die beiden Männer innerhalb weniger Sekunden von Skinheads umringt waren. Der Schwede gab seinem riesigen Begleiter mit einer Handbewegung ein Zeichen. Es sollte bedeuten, daß sie sich möglichst schnell aus dem Staub machen sollten. Möglicherweise mißverstanden die aufgeregten Übeltäter die Motive der beiden Yuppies. Die Skins gingen wohl davon aus, daß die beiden keinen Streit wollten.

Und damit war die Katastrophe plötzlich eine Tatsache.

Der Skin, der den jammernden Rinkeby-Tiger als letzter losließ, drängte sich zwischen seinen Kameraden zu dem kleineren der beiden Anzugträger durch, sagte etwas über miese Schwuchteln, ließ ebenfalls schmatzende Kußlaute hören und streckte die Hand aus, um dem Mann an die Hosen zu greifen, der die Hände immer noch in den Taschen hatte.

Eine Sekunde später lag er schreiend auf der Erde. Die beiden Männer, deren Hände jetzt nicht mehr in den Hosentaschen steckten, erweckten den Eindruck, als wollten sie sich eilig entfernen. Das war für die ganze Bande eine Art Startsignal. Die Skins stürzten vor, um ihren Kumpan zu verteidigen.

Als Polizei und Krankenwagen rund zehn Minuten später am Schauplatz erschienen, waren nur noch zwei Zeugen anwesend. Sie konnten nur ziemlich verwirrte und widersprüchliche Versionen dessen wiedergeben, was sie gesehen hatten. Eins stand jedoch fest: Zwei gutgekleidete Männer waren dem Schauplatz der Prügelei sehr nahe gekommen. Ebenso stand fest, daß es einen Wortwechsel gegeben hatte.

Aber was dann passiert war, wurde dafür um so ungenauer geschildert. Es habe Schreie und Flüche und wildes Schmerzgeheul gegeben, und Arme und Beine seien irgendwie durch die Luft gewirbelt. Und als kein Skin mehr da gewesen sei, seien die beiden gutgekleideten Männer eilig in verschiedene Richtungen verschwunden, der eine in Richtung Grand Hotel, der andere zum Gustav Adolfs torg.

Die Rinkeby-Tiger hatten sich vollzählig abgesetzt und ihren verwundeten Kameraden mitgenommen. Die älteren Männer, die mit einem Kranz und einer Leibwache aus Skinheads erschienen waren, um dem Heldenkönig ihre Aufwartung zu machen, waren wie Kellerasseln unter flachen Steinen verschwunden.

Unter dem Standbild Karls XII. blieben neun mehr oder weniger schwer verletzte Skinheads zurück. Da jedoch zwei von ihnen nicht bei Bewußtsein waren und die Polizeibeamten mehrere Frakturen bemerkten, riefen sie als erste Maßnahme über Funk weitere Krankenwagen herbei. Eines ging aus den widersprüchlichen Aussagen hervor, nämlich, daß es sich um zwei Täter gehandelt hatte, was der Polizei nicht sonderlich wahrscheinlich erschien.

Der Glaube der Beamten an eine gute Zusammenarbeit mit den Skinheads war begrenzt, und deren Glaube, schwedische Polizeibeamte könnten sich darüber erregen, wenn Skinheads Prügel bezogen, wenn auch illegalerweise, war noch begrenzter.

Möglicherweise wäre dem Vorfall erspart geblieben, in den Mühlen der Justiz zu landen, obwohl schwere Körperverletzung ein sogenanntes Offizialdelikt ist, von dem es heißt, die Allgemeinheit könne es nicht dulden. In ähnlichen Fällen war es mindestens zweimal zu Besuchen von Anti-Gewalt-Delegationen beim Ministerpräsidenten des Landes mit dazugehörigem Kaffeetrinken gekommen. Es gibt immerhin Unterschiede zwischen Gewalt und Gewalt, je nachdem, wer Opfer und wer Täter ist.

Und noch mehr kommt es darauf an, ob die Presse rechtzeitig am Schauplatz erscheint, um gute Fotos zu schießen.

Aufgrund der Zeit, die erforderlich war, um zusätzliche Krankenwagen zum Standbild Karls XII. zu beordern, war die Presse rechtzeitig zur Stelle, um einige sehr aussagekräftige Fotos zu machen.

Damit war das, was sich zugetragen hatte, eine Art von Gewalt, die von der Öffentlichkeit sehr ernst genommen wurde und sehr wohl dazu führen konnte, daß es beim Ministerpräsidenten erneut zu einer Kaffeerunde kam.

Aus dem Blickwinkel der Presse enthielt die Geschichte nämlich ein entscheidendes Detail, das mit dem Grad der Gewalttätigkeit nicht das geringste zu tun hatte.

Die Täter waren keine sogenannten Kanaken. In solchen Fällen ist es zweifelhaft, ob die Presse ein dringendes Bedürfnis verspürt, ihrer Entrüstung Ausdruck zu geben, da eine solche Entrüstung beim unwissenderen Teil der Allgemeinheit erfahrungsgemäß zu Rassismus führen kann, und das verstößt gegen die Regeln der Presse-Ethik.

Aber jetzt waren die Täter zwei gutgekleidete Schweden. Überdies glaubte einer der mißhandelten Jünglinge, wie sie am nächsten Tag in den Zeitungen sämtlich genannt wurden, die Täter müßten Polizisten der Baseballschläger-Bande der Innenstadtwache I oder etwas in der Richtung gewesen sein: »Wie zum Teufel sollten sonst zwei ganz gewöhnliche Yuppies eine Ehrenwache von einer halben Kompanie verprügeln können?« wie es einer der Anführer der Skinheads formulierte, kurz bevor man ihn mit einem Eisbeutel vor dem Gesicht in einen der Krankenwagen zog.

Das war eine gute Frage. Eine Frage zudem, die sich in den Schlagzeilen gut machte. Und die Fotos waren, wie schon angedeutet, vorzüglich, sowohl in Farbe als auch in Schwarzweiß.

2

In Norrköping begann der Morgen trübe mit Schneeregen. Es war zwar Sonnabend um acht Uhr früh, aber da die Morgenlage trotz des ungemütlichen Zeitpunkts Sitzplätze für fast fünfzehn Personen erforderte, wurde das Treffen im zweiten Stock des Polizeihauses anberaumt, im Gerichtssaal.

Es war Rune Janssons Aufgabe, die Sitzung zu leiten, und das war ihm fast unangenehmer als der eigentliche Fall. Als Abteilungsleiter war er jedoch nach der althergebrachten Routine der Polizei von Norrköping wie selbstverständlich auch Fahndungsleiter und folglich eine Art Vorsitzender bei allen größeren Zusammenkünften, selbst dann, wenn wie jetzt sowohl der Polizeipräsident als auch ein Staatsanwalt anwesend waren.

»Ja, meine Herren«, begann er und errötete sofort, weil er seine Kollegen so angesprochen hatte, »wir haben ein hartes Wochenende vor uns. Wir kennen den ungefähren Zeitpunkt, vorausgesetzt, die Angaben der Ehefrau sind korrekt. Bis auf weiteres haben wir jedoch keinen Anlaß, daran zu zweifeln, und außerdem haben wir sie in gewissem Umfang nachprüfen können.«

Er mußte tief Luft holen, um fortfahren zu können. Es machte ihn verlegen, nur Selbstverständlichkeiten zu äußern.

»Wir haben also ein ziemlich gutes Bild von der Vorgehensweise des Täters oder vermutlich der Täter, was aus den Fotos hier hervorgeht … Johansson, möchtest du …?«

Johansson vom Erkennungsdienst begann, die Bilder eines Dia-Karussells durch den Projektor zu ziehen. Er arbeitete in ruhigem Tempo. Es war kein falsches Bild darunter, keins stand auf dem Kopf.

»Wie aus den Fotos zu ersehen ist, haben wir es mit ziemlich schlimmen Typen zu tun«, kommentierte Rune Jansson die Bilderserie, während er sich zwang, sich nicht als eine Art Sportkommentator im Fernsehen zu sehen. »Sie haben nur eine Stunde Zeit gehabt, was sie vielleicht nicht gewußt haben, aber andererseits können sie auch nicht gewußt haben, wie lange … und trotzdem diese Form von … sagen wir Entschlossenheit … diese Großaufnahme hier zeigt den tödlichen Schuß, der also aus nächster Nähe abgegeben worden ist, nein, Verzeihung, es war ein aufgesetzter Schuß, was aus den Nitrit- und Pulverspuren hervorgeht … Das nächste Bild, bitte … hier. Die übrigen Schüsse sind also Nahaufnahmen. Ja, danke, Johansson.«

Die Anwesenden waren berufsmäßig abgehärtet, aber die unerbittlich detaillierten Nahaufnahmen, die sie soeben gesehen hatten, setzten ihnen doch zu.

»Da der Täter oder die Täter genau wußten, wann die Luft rein war«, fuhr Rune Jansson fort und räusperte sich in Richtung Johansson, der sofort das nächste Bild zeigte, »können wir vorläufig davon ausgehen, daß sie die Umgebung ausgespäht haben. Und wie aus diesem Bild hier hervorgeht … lädt die Topographie nicht gerade zu Erkundungen ein. Das Haus liegt auf einem Hügel und ist nur über eine lange Allee zum Hauptgebäude zu erreichen. Eine andere Zufahrt gibt es nicht. Das läßt natürlich sofort an ein Auto und ein Fernglas denken, und folglich wird die Vernehmungseinheit sich für den Anfang darauf konzentrieren müssen, nach der auf dem Land üblichen Methode von Haus zu Haus zu gehen und Klinken zu putzen. Wer hat fremde männliche Personen in einem Wagen gesehen, und so weiter. Das wär’s. Danke, Johansson.«

Das Bild eines Herrenhauses verschwand von der Leinwand. Rune Jansson hatte das Gefühl, endlich wieder ein wenig unter Dampf zu stehen. Alle lauschten gespannt. Keiner der Anwesenden machte Miene, die Darstellung des neuen Abteilungsleiters zu kritisieren oder höhnisch zu kommentieren.

»Bevor wir darauf eingehen, welche Beobachtungen von den Beamten, die gestern abend Dienst hatten, am Tatort gemacht worden sind, sollten wir uns vielleicht ein paar technische Dinge ansehen …«

»Verzeihung, aber haben Sie eine Vorstellung davon, was für einen Tätertyp wir suchen? Sind es Terroristen oder Verrückte oder was?« unterbrach ihn der Staatsanwalt, als hätte er keine Lust mehr, unter lauter nachgeordneten Polizeibeamten nur Zuhörer zu sein.

»Schon, aber ich habe mir gedacht, daß wir erst ein paar technische Ergebnisse präsentieren, um eine bessere Unterlage für solche Überlegungen zu haben«, entgegnete Rune Jansson mit einer Schärfe, die ihn selbst erstaunte und bei dem anwesenden Leiter der Staatsanwaltschaft sofort Wirkung zeigte.

»Also, Johansson, bitte trage vor, was ihr herausgefunden habt …«

Rune Jansson sank erleichtert auf seinen Stuhl vorn am Podium. Das Schlimmste war vorüber. Jetzt brauchte er nur noch verschiedene Kollegen zu bitten, der Reihe nach Vortrag zu halten.

Eine Abteilung im kriminaltechnischen Laboratorium hatte mit dem erhaltenen Material die ganze Nacht gearbeitet. Die Gerichtschemiker hatten nicht viel mehr getan, als in der Zentrifuge Urin aus einer besudelten Generalsuniform zu entfernen, bevor die gewerkschaftlichen Überstundenregeln der Arbeit ein Ende machten. Über den Urin war also nichts bekannt.

Die Techniker am Tatort hatten hingegen vier mehr oder weniger zerstörte Kugeln ohne Hülse gefunden, denen die Laborexperten ungewöhnliche Mühe hatten widmen müssen.

Das Folgende stand fest.

Es handelte sich um 9-mm-Munition, was kaum interessant oder unerwartet war. Hingegen war der Geschoßtyp in der immerhin recht umfangreichen schwedischen Referenzsammlung nicht zu finden. Das hatte anfänglich einige Besorgnis erregt, da es, wie ein Techniker es ausgedrückt hatte, ein böser Geschoßtyp sei, eine Hohlspitzenkugel, die darauf angelegt ist, sich beim Aufprall aufzupilzen und einen möglichst großen Wundkanal aufzureißen.

Aus diesem Grund hatte man zunächst vermutet, daß das Geschoß nicht militärischen Typs sei, da internationale Konventionen grundsätzlich den Einsatz der früher so genannten Dum-Dum-Kugeln verbieten.

Folglich hatte man lange Zeit vergeblich in der Literatur gesucht, bevor jemand umgedacht hatte und mit Hilfe des Telefons und des Bundeskriminalamts in Wiesbaden die Antwort gefunden hatte. Das Projektil war militärischen Typs, und zwar der israelischen Marke UZI.

Diese Erkenntnis hatte die Feststellung erleichtert, welche Waffe oder welcher Waffentyp die israelischen Kugeln abgefeuert hatte.

Eine der Patronen war verhältnismäßig gut erhalten. Sie hatte die Weichteile unter dem Schlüsselbein passiert, bevor sie das Schulterblatt des Opfers durchschlagen hatte und von der Polsterung des Sessels aufgefangen worden war. Die mikroskopische Untersuchung der Riffelungswinkel, die um 23.00Uhr begonnen hatte, war schon gegen 2.00Uhr beendet. Es kamen folgende Waffen in Frage: entweder eine Pistole der Marke Beretta 92, Beretta Modell 4 oder Modell 1951, eine Pistole der Marke Benelli, Modell B 76, oder auch Maschinenpistolen der Marke Beretta, Modell 38/42 oder Modell 51, ferner Franchi, Modell 57. Insgesamt waren also vier Pistolen sowie zwei Maschinenpistolen denkbar.

Sämtliche Waffen ließen sich als militärisch klassifizieren. Die Beretta 92 etwa war die neue Dienstwaffe der NATO, die bei den meisten NATO-Streitkräften verwendet wurde. Die in Frage kommenden Maschinenpistolen wurden nur von den italienischen Streitkräften verwendet.

»Mit welcher Sicherheit läßt sich feststellen, ob die Schüsse mit einer Maschinenpistole oder einer Pistole abgefeuert worden sind?« unterbrach der Polizeipräsident. Er war der einzige im Raum, der bei der langwierigen waffentechnischen Darlegung allmählich Ungeduld an den Tag legte.

»Nun ja, das ist im Augenblick noch recht unsicher«, erwiderte Johansson nervös. »Maschinenpistolen pflegen größere Wundkanäle aufzureißen, und das ist hier nicht der Fall. Andererseits gilt das nicht für neue Waffen. Und andererseits … ich meine … außerdem haben wir keine Hülsen gefunden. Alle diese Waffen werfen normalerweise Hülsen aus, und ich meine …«

Johansson unterbrach seine Darlegung, als wäre die Antwort selbstverständlich.

»Nun?« fragte der Polizeipräsident, dem dies keineswegs so erschien.

»Ja, ich meine, bei Maschinenpistolen sind ja Hülsenfänger üblich, aber bei Pistolen weiß ich nicht … es gibt also einiges, was für eine Maschinenpistole, und einiges, was für eine Pistole spricht. Ich meine … weil wir keine Hülse gefunden haben.«

»Soviel wir wissen, sind nur fünf Schuß abgefeuert worden. Die Täter haben die Hülsen ja vielleicht mitgenommen, um das Auffinden der Waffe zu erschweren«, sagte Rune Jansson begütigend, um Johansson aus den Klauen des Polizeipräsidenten zu retten. Dafür fiel jedoch sofort der Staatsanwalt über ihn her.

»Aber wenn die Täter so bewußt vorgegangen sind, läßt sich doch kaum verstehen, daß sie Urinproben am Tatort zurückgelassen haben«, sagte er triumphierend wie ein Lehrer, dem soeben ein falsch gebeugtes Verb aufgefallen ist.

»Nicht unbedingt«, sagte Rune Jansson mit einer Selbstsicherheit, die ihn jetzt nicht mehr erstaunte. »Wenn es sich um militärische Waffen handelt, wofür einiges spricht, kann diese Spur für den Täter weit unangenehmer sein als eine Urinprobe, und …«

»Inwiefern?« unterbrach ihn der Staatsanwalt.

»Nun, ich meine, sollte uns die Waffe zu einer verdächtigen Person führen, wird die Urinprobe natürlich wichtig. Sie kann uns aber aus … äh … natürlichen Gründen nicht sonderlich weit führen, solange wir keinen Verdächtigen haben.«

Der Staatsanwalt nickte und lehnte sich zurück. Der Gedankengang war kristallklar, das mußte er zugeben.

»Wir wissen über den Täter oder die Täter bis auf weiteres folgendes …« Rune Jansson räusperte sich, bevor er fortfuhr.

»Er verwendet eine militärische Waffe mit israelischer Hohlspitzenmunition und führt den Mord mit seltener Entschlossenheit und einem ebenso seltenen Haß aus. Zusammen mit der Art und Weise, wie das Opfer zugerichtet worden ist, ich denke dabei an die an Folter erinnernde Methode der Hinrichtung, denn in diesem Fall handelt es sich ja um eine Hinrichtung, führt das natürlich … ja, dann ist da noch das politische Symbol, das man dem Opfer in die Brust schnitt, als es noch lebte, ja, der Gerichtsmediziner hat es bestätigt, Blutungen und derlei belegen es … ja. In Frage kommen politische Extremisten, politische Rächer, Nazis oder Nazigegner, natürlich auch Israelis, deutsche Terroristen und so weiter. Die Alternative, daß es sich um Verrückte handeln könnte, scheint mir nicht sehr glaubhaft zu sein.«

Im Saal schien niemand Einwände zu haben.

»Bevor wir mit der Darlegung der gestrigen Beobachtungen fortfahren, möchte ich noch schnell auf etwas hinweisen«, fuhr Rune Jansson mit dem Gefühl fort, die Situation endlich im Griff zu haben. »Diese Sache mit dem Hakenkreuz sollten wir für uns behalten, ebenso die Tatsache, daß es sich um israelische Munition handelt. Ich meine die Tatsache, daß wir es wissen. Ich brauche wohl kaum zu erklären, warum?«

Niemand ging auf die rhetorische Frage ein.

»Wissen wir, um was für einen Eid es sich handelt?« fragte der Polizeipräsident.

»Nein, da haben wir noch nicht mal mit Vermutungen begonnen, aber wenn wir die Angehörigen vernehmen, werden wir auf solche Dinge besondere Betonung legen müssen«, erwiderte Rune Jansson und überließ das Wort dann der Vernehmungseinheit.

Der große Backsteinkomplex des Generalstabs am Lidingövägen ist an einem Sonnabendnachmittag ein ziemlich verlassener Ort, da die schwedischen Streitkräfte, wie schwedische Behörden ganz allgemein, am Freitag um 14.00Uhr dienstfrei haben, um am Montagmorgen bei flexibler Arbeitszeit wieder mit ihrer Tätigkeit zu beginnen.

Es sind am Wochenende also nicht viele Angestellte, die an den beiden ABAB-Wachen hinter dem Panzerglas am Empfang Vorbeigehen, und die wenigen, die das Gebäude betreten oder verlassen, besitzen sämtlich eigene Codekarten für die Sperren, was die Arbeit der Wachen um diese Zeit ebenso eintönig wie simpel macht.

Die beiden waren in irgendwelche Krimis versunken, aber einer von ihnen hatte vor kurzem einen Kurs in Sicherheitsbewußtsein absolviert. Aus diesem Grund ließ er sich nicht dadurch täuschen, daß der langhaarige Typ mit wattierter Jacke, Jeans und Turnschuhen eine Passierkarte hatte, welche die Sperre öffnete.

»He, Sie da!« brüllte er durch den Lautsprecher. »Wollen Sie so freundlich sein und mal herkommen!«

Dabei reckte er auffordernd einen ausgestreckten Zeigefinger in die Luft.

Der Langhaarige wandte sich verblüfft um, nahm seine rauchfarbene Brille ab und ging langsam auf den Glaskäfig zu, während er in der Innentasche nach etwas suchte. Als er die Jacke ein wenig öffnete, glaubte der Wachposten eine Waffe zu sehen, die in der Achselhöhle in einem Holster hing.

»Ausweis, wenn ich bitten darf. In welcher Angelegenheit kommen Sie?« sagte der Wachposten, während er seinem Kameraden unter dem Tisch einen leichten Fußtritt versetzte, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Der zweite Posten klappte müde sein Buch zu. Er saß dem Alarmknopf am nächsten.

Der Langhaarige legte einen Ausweis in die Vertiefung vor dem Panzerglas und wartete ab, ohne eine Miene zu verziehen.

Der ABAB-Posten las zweimal und sehr langsam Namen und Personennummer. Dann schob er den Ausweis wieder in die Stahlkassette und ertappte sich dabei, wie er den langhaarigen Typen mit offenem Mund anstarrte.

»Sie müssen schon entschuldigen, Fregattenkäpitän … Ich habe nicht gewußt, ich meine, wir haben unsere Vorschriften.«

»Natürlich«, nickte der Mann, nahm seinen Ausweis, öffnete erneut die Sperre und verschwand im Gebäude.

»Hör mal«, sagte der ABAB-Mann zu seinem verwirrten Kollegen, der die Stelle zu finden versuchte, an der er seine Lektüre unterbrochen hatte, »weißt du, wer das war?«

Der andere schüttelte den Kopf und blätterte weiter in seinem Buch.

»Hamilton!«

»Was für ein verdammter … was, der Hamilton?«

Sie starrten einander verblüfft an. Sie hatten ihn bisher nur auf Fotos gesehen, die ganz anders gewesen waren als das, was sie eben gesehen hatten. Mehr Fotos, als sie vom König, Björn Borg, Ebbe Carlsson oder dem Ministerpräsidenten gesehen hatten. In Wirklichkeit hatten sie ihn noch nie zu sehen bekommen.

Sie starrten stumm zu dem Eingang, in dem Carl verschwunden war. Sie waren von dem kurzen Erlebnis zu benommen, um etwas sagen zu können.

Carl befand sich schon im obersten Stockwerk des Gebäudes und war miserabler Laune, als er sich mit seiner Codekarte Zugang zu einer der Abteilungen der schwedischen Streitkräfte verschaffte, die der Werbung oder, wenn man so will, der Propaganda zufolge nie schläft. An einem Sonnabendnachmittag im April schläft jedoch mindestens die Hälfte. Carls Zimmer lag ein Stück weiter im Korridor, weil er, so scherzenden Kollegen zufolge, eine kürzere Strecke zum Chef hatte, bei dem er sich gewöhnlich mehrmals am Tag aufhielt.

Carl schloß die Tür, trat sich die vom Schnee aufgeweichten Schuhe von den Füßen und warf das Paket mit Abendzeitungen angeekelt auf den Schreibtisch.

Er hatte es vermieden, sie auf dem Weg zur Arbeit zu lesen. Die Aushänge hatten ihm vor Besorgnis Übelkeit verursacht. Jetzt mußte er lesen.

Er betrachtete die Abendzeitung auf der glatten Schreibtischfläche, wollte die Lektüre aber noch einige Zeit aufschieben. Draußen klarte es auf. Er sah aus dem Fenster und versuchte, sich in Gedanken an einen anderen Ort zu versetzen; er sah Sandstrände, schwarze Möwen, Coca-Cola, kaltes, graugrünes Wasser und eine langgestreckte Dünung.

Dann setzte er sich, strich die beiden Zeitungen glatt, als wären sie wertvolle Dokumente, und suchte in der Schublade nach einem Markerstift in leuchtendem Orange.

Er brauchte in dem erregt wirkenden Text nicht besonders lange zu lesen. Da schob er die Zeitungen von sich, griff nach dem Telefonhörer und zögerte etwas, bevor er die nicht abhörsichere Leitung wählte.

Sie nahm fast sofort ab, da er ihre Durchwahl gewählt hatte.

»Wachhabende Wache 1.«

»Hej, ich bin’s, wie geht es dir?«

»Ziemlich ruhig. Sie haben noch nicht losgelegt.«

»Welche sie?«

»Unsere Kundschaft. Die, die wir gestern eingebuchtet haben, dürften gerade wieder draußen sein. Sie haben wahrscheinlich noch nicht genug Schnaps oder Drogen intus, so daß es erst in ein paar Stunden wieder losgeht. Bis dahin sehen wir uns meist Eishockey an.«

»Und der Bauch?«

»Der Bauch ist prima, ein schöner runder Bauch in seinen besten Jahren. Willst du was von mir?«

»Du kannst nicht Jönsson-Hamilton heißen, das hört sich zu lächerlich an.«

»Ich weiß, Gräfin Jönsson, das geht einfach nicht. Wolltest du sonst noch was?«

»Ja. Diese Geschichte von gestern abend im Kungsträdgården.«

»Die Skinheads, die was auf die Schnauze bekamen?«

»Ja. Die was aufs Maul gekriegt haben … ja, genau das.«

»Was soll das? Du hast ein Alibi von einer Polizeiinspektorin, und uns glaubt man vor Gericht immer.«

»Ja, aber trotzdem. Habt ihr Anzeigen, Akten, Papiere über diese Sache?«

»Aber ja. Diese Sache ist bei uns hier unten die Lachnummer des Tages, aber mit Papieren sieht es trotzdem recht mager aus. Die Skins haben kein übertriebenes Vertrauen zur Ordnungsmacht, wenn ich es so sagen darf. Sie glauben, daß wir hier von der Wache die Täter sind, wie es scheint.«

»Ja, aber kannst du diese Akten für mich fotokopieren?«

»Ich denke nicht daran. Das ist internes Ermittlungsmaterial.«

»Sei nicht albern. Es ist wichtig für mich, und ich möchte es nicht auf dem Dienstweg anfordern, obwohl du sehr wohl weißt, daß ich das tun kann.«

Sie änderte den Tonfall, senkte die Stimme ein wenig und sagte, sie wolle sehen, was sie tun könne. Außerdem sei er heute an der Reihe, für das Essen einzukaufen, und sie werde kurz nach acht zu Hause sein.

Als er auflegte, fühlte er sich merkwürdig beschämt. Nicht weil er sie so selbstverständlich belogen hatte. Immerhin war es eine dienstliche Lüge. Nein, da war noch etwas anderes, was er schwer in Worte fassen konnte. Es kam ihm vor, als hätte ihm sein eigener Tonfall nicht gefallen, als er mit ihr gesprochen hatte.

Er schob diese Überlegungen beiseite, da sie in eine unangenehme Richtung gingen. Vielleicht lag es auch daran, daß er einkaufen mußte. Vielleicht trug beides zu seiner Unlust bei.

»Beata, könntest du folgendes tun«, sagte er unnötig förmlich, als er den Knopf auf der Gegensprechanlage drückte, »Leutnant Lundwall und Leutnant Stålhandske sollen sich auf der Stelle bei mir einfinden. Lundwall ist wahrscheinlich im Labor, Stålhandske zu Hause. Beide haben einen Piepser.«

Er beendete das Gespräch, sobald er Beatas Bestätigung hatte, ohne auch nur danke zu sagen. Sie würde dieses brüske Benehmen sonderbar finden. Und das war es ja auch.

Er versuchte sich auf ihren Namen zu konzentrieren und sich zu erinnern, was er bedeutete. Es war etwas Schönes, die Anbetungswürdige oder etwas in der Richtung. Früher einmal hatte man den Namen auch schön gefunden, aber heute klang er lächerlich.

Und dann war er wieder beim Thema. Jönsson-Hamilton.

Sie war im sechsten Monat. Er wollte sie heiraten, obwohl er nicht recht erklären konnte, weshalb das so wichtig war. In Schweden braucht man nicht zu heiraten. Juristisch bleibt es gleich. Wenn sie nicht heirateten, blieb sie Jönsson und er Hamilton. Beide würden selbständig und selbstverantwortlich bleiben. Dafür sprachen einige starke Argumente, denn »Wer will schon so ein gottverdammtes Nationalsymbol heiraten« oder »Frau Hamilton kann jede sein, aber wer kann Frau Carl Gustaf Gilbert Hamilton sein und gleichzeitig Polizistin?«

Sie liebte ihren Job dort unten im Dreck, und er liebte sie dafür. Nicht nur deswegen, wie er sich einredete, aber doch zu einem großen Teil deswegen, weil sie so sehr an das Gute in ihrer Arbeit glaubte. Das taten vielleicht nicht allzu viele Bullen, aber andererseits waren auch nicht viele Bullen freikirchlich.

Als die beiden eintraten, saß er am Schreibtisch und rollte einen Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie erschienen gleichzeitig.

Ihr Umgang war nie besonders förmlich gewesen, obwohl sie Militärs waren und er zwei Streifen mehr am Ärmel hatte als sie. Sie waren immerhin keine gewöhnlichen Militärs und überdies für immer zusammengeschweißt, wie sie sich manchmal sagten. Der Grund dafür war die gemeinsame Nähe zum Tod.

Doch jetzt standen sie vor ihm, als wären sie Leutnants und er Fregattenkapitän.

»Setzt euch«, sagte er mit einer Handbewegung.

Sie setzten sich nervös, als ahnten sie schon, worum es ging. Was natürlich auch der Fall war.

»Nun?« sagte Carl.

»Was nun?« fragte Joar Lundwall zurück, während er eine Falte seiner Hosen zurechtrückte.

»Das hier«, sagte Carl und warf die Abendzeitungen mit den knalligen Schlagzeilen vor sie auf die Tischplatte. »Wie es scheint, sind die Herren gestern abend ausgegangen und haben sich amüsiert?«

»Na ja. Wir hatten einiges zu besprechen. Dann gingen wir ins Reisen und haben eine verdammt teure und verdammt gute Mahlzeit gegessen«, erwiderte Åke Stålhandske.

»Und dann?« schnitt ihm Carl das Wort ab, um Ausflüchte in Richtung Speise und Trank zu unterbinden.

»Nun. Wir haben noch ein Bier getrunken und sind dann nach Hause gegangen. Jeder zu sich, sozusagen«, fuhr Stålhandske mit gesenktem Blick fort, als säße er vor seinem Rektor im Gymnasium und löge das Blaue vom Himmel herunter.

Carl seufzte.

»Ich kann euch natürlich bitten, mir eure Hände zu zeigen. Ich kann Leutnant Stålhandske befehlen, mir sein linkes Knie zu zeigen, und Leutnant Lundwall, mir das rechte vorzuführen. Außerdem könnte ich die Unterseite eurer Ellbogen inspizieren, da die Abendpresse zwar ahnungslos, aber doch äußerst vielsagend die jeweiligen Körperteile der Herren beschrieben hat. Aber das wird doch nicht nötig sein, nehme ich an?«

Beide schüttelten zustimmend den Kopf.

Carl gab sich Mühe, all seinen Zorn zusammenzunehmen.

»Ihr müßt vollkommen den Verstand verloren haben«, begann er nach einer demonstrativ langen Pause. »Wenn ich mal einen Vergleich ziehen darf, einen kurzen Vergleich, ist es etwa so, als wärt ihr bei einem Jägergeschwader und als hätte man euch im Reisen schlecht behandelt. Mieser Service oder falsch temperierter Bordeaux, denn der ist in dem Laden oft zu warm, und als hättet ihr aus Rache eine Runde durch die Altstadt gedreht und je eine Boden-See-Rakete auf den Strömmen gerichtet. Versteht ihr, was ich sage?«

»Aufrichtig gesagt, nicht ganz«, entgegnete Joar Lundwall leise. Es war das erste Mal, daß er von seinem Chef angeschnauzt wurde.

»Oh, es ist sehr einfach«, fuhr Carl etwas gefaßter fort. »Ihr habt ungefähr eine Million Dollar pro Stück an Steuergeld gekostet. Ihr seid zwei von gegenwärtig fünf Personen, die eure Ausbildung schon haben oder noch dabei sind, sie zu absolvieren. Eure verdammten Ellbogen und Hände gehören nicht euch, ihr verdammten Mutterficker, sondern sie gehören dem schwedischen Steuerzahler, und auch wenn es nicht gerade Steuerzahler waren, an denen ihr gestern abend geübt habt, riskieren die Steuerzahler jetzt trotzdem, mit euch eine Fehlinvestition bezahlt zu haben. Wie zum Henker kann so etwas passieren?«

»Es ging so gottverdammt schnell …«, versuchte Stålhandske lahm.

»Na was denn sonst? Das fehlte noch! Ihr wart doch beide nicht blau? Natürlich ging es schnell, das beherrschen wir ja gerade!«

»Schon. Nun ja. Aber ich meine die Vorgeschichte. Wir hatten gar nicht die Absicht …«

»Was für gottverdammte Absichten hattet ihr dann?«

»Diese Neonazis oder was sie sonst waren, waren dabei, einen Einwanderer zu mißhandeln. Die Allgemeinheit hat natürlich nicht gewagt einzugreifen, und wir haben uns gedacht, wir sollten denen Bescheid stoßen … oder, nun ja, sie ablenken …«, nahm Lundwall einen Anlauf.

»Das kann euch doch scheißegal sein. Ihr seid doch keine Polizisten. Wenn euch die sogenannte Gewalt auf den Straßen empört, könnt ihr die Wache 1 anrufen, das heißt diejenigen, die im Augenblick verdächtigt werden. Statt dessen greift ihr auf den Straßen Stockholms zu militärischer Gewalt. Begreift ihr wirklich nicht, was das bedeutet?«

Lundwall und Stålhandske hätten möglicherweise das starke Bedürfnis verspürt, sich zu verteidigen, wenn ein anderer, und zwar jeder andere, sie so zurechtgewiesen hätte. Doch Carl war viel mehr als ihr Chef. Er war ein Chef, zu dem sie absolutes Vertrauen hatten; sie würden ihm überallhin folgen, sogar auf eine Expedition mit Tarnanzug und rußgeschwärztem Gesicht ins Fegefeuer, wenn er es verlangt hätte.

Folglich hatten sie keinerlei Möglichkeit, sich zu verteidigen.

»Okay«, sagte Carl, als ihm aufging, wie sehr er die Oberhand hatte. »Jetzt habt ihr also den Nahkampf an der minderbemittelten Jugend Stockholms geübt. Wenn das Recht seinen üblichen Lauf nimmt, bekommt ihr ein Jahr Gefängnis pro Nase und werdet gefeuert. Natürlich haben wir die Absicht, nach Möglichkeit dafür zu sorgen, daß die Gerechtigkeit nicht ihren Lauf nimmt.«

Carl lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Damit wollte er deutlich markieren, daß der offizielle Teil des Gesprächs beendet war.

»Das ist sehr edelmütig«, sagte Stålhandske ohne Ironie.

»Nein, aber vernünftig«, erwiderte Carl. »Ihr würdet für die Firma einen höchst spürbaren Verlust bedeuten, etwa wie zwei abgestürzte Jäger. Unser Hauptinteresse besteht darin, daß alle Maschinen zur Basis zurückkehren. Wie viele Zeugen gibt es?«

»Schwer zu sagen. Es war ja dunkel, und das zuschauende Publikum stand ein Stück entfernt. Ein Dutzend Skinheads, würde ich sagen«, erwiderte Joar Lundwall.