Crash-Kommunikation - Peter Brandl - E-Book

Crash-Kommunikation E-Book

Peter Brandl

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Beschreibung

Wie kommt es trotz höchster Sicherheitsvorkehrungen immer wieder zu katastrophalen Flugzeugunglücken? Ebenso gut kann man fragen: Wie ist es möglich, dass ein Autokonzern Schadsoftware einbaut, um Grenzwerte einzuhalten, und tatsächlich glaubt, damit durchzukommen. Crash-Kommunikation zieht verblüffende Parallelen zwischen Luftfahrt und Unternehmen und zeigt, dass der Faktor "menschliches Versagen" einer fatalen Logik folgt. Die überarbeitete und erweiterte Neuauflage bietet einen originellen und hoch aktuellen Zugriff auf grundlegende Fragen der Führung und der Kommunikation. Dabei werden neueste technologische Entwicklungen berücksichtigt, die neben Komfort- und Effizienzgewinn auch Gefahrenpotenziale mit sich bringen. Eine spannende und unterhaltsame Lektüre, die Managern und Führungskräften zeigt, wann im "Unternehmenscockpit" die Warnlämpchen angehen sollten.

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Peter Brandl

Crash-Kommunikation

Warum Piloten versagenund Manager Fehler machen

Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft.

Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss.

Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-830-6

ISBN epub: 978-3-95623-697-6

Unter Mitarbeit von Dr. Petra Begemann, Bücher für Wirtschaft + Management, Frankfurt am Main, www.petrabegemann.de

Lektorat: Sabine Rock, Frankfurt / Main | www.druckreif-rock.de

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorenfoto: Max Kratzer

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

5., überarbeitete und erweiterte Neuauflage 2018des unter der ISBN 978-3-86936-055-3 erschienenen Titels

Das E-Book basiert auf dem 2018 erschienenen Buchtitel "Crash-Kommunikation" von Peter Brandl, ©2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Copyright © 2010, 2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

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Inhalt

Vorwort zur Neuauflage

Vorwort

Einführung: Von Crashs und ihren Ursachen

1.Vergessen, die Landeklappen auszufahren

oder: Wenn der Stress die Regie übernimmt

Das Crash-Beispiel: Madrid, August 2008

Ein Unternehmensbeispiel: KfW – eine Bank verschenkt 320 Millionen

Stress und die Folgen

Die Tücken der menschlichen Wahrnehmung

Professionelles Stressmanagement im Unternehmen

Stress – und was Sie tun können

2.Wer kritisiert schon einen Kapitän?

oder: Wenn der Chef das Problem ist

Das Crash-Beispiel: Puerto Plata, Februar 1996

Ein Unternehmensbeispiel: Jürgen Schrempp und seine Welt AG – Milliardenverluste für DaimlerChrysler

Wenn der Kapitän am Steuerknüppel sitzt

Machtdistanz und Firmenerfolg

Kooperative Führung in der Praxis

Schlechte Kooperation – und was Sie tun können

3.Landen bei schlechtem Wetter

oder: Wenn man auf sein Ziel fixiert ist

Das Crash-Beispiel: Zürich, November 2001

Ein Unternehmensbeispiel: VW und der Vorstoß in die automobile Oberklasse

Verliebt ins Ziel und blind für Gefahr

Der menschlich-irrationale Umgang mit Risiken

Professioneller Umgang mit Zielen und Risiken im Unternehmen

Zielfixierung – und was Sie tun können

4.Maschine im Sinkflug und keiner merkt’s

oder: Wenn man das Wesentliche aus den Augen verliert

Das Crash-Beispiel: Miami, Dezember 1976

Ein Unternehmensbeispiel: Dr. Jürgen Schneider – wie man Bankern Sand in die Augen streut

Operative Hektik und geistige Windstille

Situationsbewusstheit – Staying ahead of the aircraft

Professionelle Steuerung im Unternehmen

Operative Hektik – und was Sie tun können

5.»Ich dachte, Sie fliegen!«

oder: Wenn Zuständigkeiten verschwimmen

Ein Irrflug-Beispiel: Minneapolis, Oktober 2009

Ein Unternehmensbeispiel: Airbus – die Führungskrise einer Doppelspitze

Der alltägliche Sand im Getriebe

Heikle Balance: Regulation und Eigenverantwortung

Professionelle Arbeitsteilung im Unternehmen

Unklare Zuständigkeiten – und was Sie tun können

6.Blame Culture

oder: Wenn Fehler vertuscht werden

Das (Beinahe-)Crash-Beispiel: Nordatlantik, Juli 1987

Ein Unternehmensbeispiel: Weltwirtschaftskrise – Hauptsache, die Banker sind schuld

»Positive Fehlerkultur«: Was heißt das eigentlich?

Fehlertypen und Fehlerketten: den eigenen Blick schärfen

Professionelles Fehlermanagement im Unternehmen

Fehlervertuschung – und was Sie tun können

7.Crash-Kommunikation

oder: Wenn Killerphrasen den Ton angeben

Das Crash-Beispiel: Dawson, Texas, Mai 1968

Ein Unternehmensbeispiel: Grundig – der Niedergang einer Traditionsmarke

»Destruktive Kommunikation« – der Crash beginnt beim Reden

Alltägliche Kommunikationssünden

Professionelle Kommunikation im Unternehmen

Destruktive Kommunikation – und was Sie tun können

8.Et hätt noch immer jot jejange

oder: Wenn wir automatisch in den Crash steuern

Technikgläubigkeit – ungebremst in den Crash

Der Flat Crash von 2010

Verantwortungsdelegation – der Computer macht keine Fehler

Experten warnen vor Gefahren – die neue Bedrohung: automatisch in den Abgrund

Was kann man tun?

Schluss

Ressourcen nutzen – Company Resource Management

Anmerkungen

Über den Autor

Vorwort zur erweiterten Neuauflage

Vor über sieben Jahren ist die erste Auflage dieses Buches erschienen. Seither hat sich viel getan. Jede Menge neue Technologien, Industrie 4.0 und Disruption sind nur wenige der Schlagworte, die permanent in den Medien auftauchen. Und die Tatsache, dass die Globalisierung wirklich stattfindet, dürfte inzwischen auch beim Letzten angekommen sein.

Aufträge werden über strukturierte Portale einfach an Anbieter irgendwo auf der Welt vergeben. Telefon- und Skype-Konferenzen verbinden uns über Tausende von Kilometern und doch: Die grundlegenden Herausforderungen bleiben die gleichen. Der Mensch ist immer noch nicht (oder immer weniger) an die Herausforderungen angepasst, die die heutige Umwelt an ihn stellt. Und leider kommt es auch heute noch immer wieder zu Flugunfällen.

Doch eine Entwicklung sticht besonders heraus: die Automatisierung. In diesem Bereich haben sich in den letzten Jahren so massive Veränderungen ergeben, die jeden Einzelnen betreffen. Insofern war es nur konsequent, die Neuauflage dieses Buches um ein Kapitel zu diesem Thema zu erweitern.

Happy landings!

Peter Brandl

Berlin im Januar 2018

Vorwort

Ende der 1970er-Jahre gab es auf Teneriffa einen verheerenden Unfall mit zwei Jumbojets. Zwei voll besetzte Flugzeuge rasten auf der Startbahn ineinander. Die Folge: 583 Tote – die schlimmste Katastrophe aller Zeiten in der zivilen Luftfahrt. Wie war es möglich, dass zwei voll funktionierende Flugzeuge in einen derart dramatischen Crash verwickelt wurden? Welche Faktoren mussten zusammenkommen, welche Umstände mussten eintreten, um am Ende ein solches Desaster zu verursachen?1

Was Crew Resource Management bedeutet

Als eine Konsequenz dieses Unfalls entstand eine neue Wissenschaft: »CRM«. In der Fliegerei heißt CRM nicht Customer Relationship Management, sondern Crew Resource Management. Dabei geht man der Frage nach, warum Flugzeuge abstürzen, obwohl das Flugzeug funktioniert und es keine technischen Fehlfunktionen gibt. Häufig wird in diesem Zusammenhang von »menschlichem Versagen« gesprochen. Doch streng genommen ist diese Bezeichnung falsch. Eigentlich müsste es »menschliches Funktionieren« heißen. Wenn ich jetzt neben Ihnen stünde und Sie stark in den Oberarm kneifen würde, dann würden Sie höchstwahrscheinlich empört fragen: »Geht’s noch?« oder »Was soll das?«. Würde ich Ihnen mit der Faust in den Bauch schlagen, dann würden Sie sich mit hundertprozentiger Sicherheit nach vorn krümmen. Genauso wie es auf der körperlichen Ebene Auslöser gibt, die geradezu zwangsläufig in einer bestimmten Reaktion münden, gibt es auch auf der psychologischen Ebene und der Verhaltensebene solche Auslöser. Wenn bestimmte Faktoren in einer bestimmten Reihenfolge eintreten, folgen die entsprechenden Reaktionen mit an Sicherheit grenzender und vorhersagbarer Wahrscheinlichkeit. Die Schlüsselfrage lautet daher: Welches sind die Faktoren, die katastrophale Konsequenzen nach sich ziehen?

Wie Luftfahrt, Management und Geschäftsleben zusammenhängen

Dieser Frage geht das Crew Resource Management nach. Seit dem Flugzeugcrash auf Teneriffa hat man bereits viele Antworten gefunden, die das Fliegen sicherer machen. Faszinierend ist, dass sich viele dieser Fragen und Antworten beinahe eins zu eins auf das Management oder das Geschäftsleben übertragen lassen. Welche Lehren können also Manager und Führungskräfte aus den Erkenntnissen der Katastrophenvermeidung in der Luftfahrt (und damit auch aus folgenschweren Flugzeugabstürzen) ziehen? Genau davon handelt dieses Buch.

Über den Autor

Die Idee, Management und Fliegerei zusammenzubringen, drängt sich jemandem, der in beiden Welten zu Hause ist, förmlich auf. Als Führungskraft und Manager konnte ich oft genug erleben, wie kleine Kommunikationspannen sich im Unternehmen zu großen Problemen hochschaukeln. Als Linienpilot habe ich während der Ausbildung zahlreiche Crash-Beispiele analysiert und das Crew Resource Management selbst durchlaufen. Und als Trainer und Managementcoach bekomme ich nahezu täglich bestätigt, dass auch Unternehmen nur selten aufgrund dramatischer Einflüsse von außen in Schieflage geraten: Verantwortlich für den Crash sind auch hier fast immer Fehler im Unternehmenscockpit. Dabei ist systematische Crashprävention im Unternehmen ebenso möglich wie in der Luftfahrt. Aber lesen Sie selbst!

Wangen, im Dezember 2009

Peter Brandl

Einführung: Von Crashs und ihren Ursachen

Menschliches Versagen und »Human Factors«

Über drei Viertel aller Unfälle in der Luftfahrt sind auf »menschliches Versagen« zurückzuführen, also nicht auf schlechtes Wetter, Materialfehler oder Fehler der Flugverkehrskontrolle ATC (Air Traffic Control). »Menschliches Versagen« – diese Formel kennen wir alle aus den Abendnachrichten. Auch bei anderen Unglücken mit vielen Toten, vom schweren Verkehrsunfall bis zum Störfall im Atomkraftwerk, wird sie zuverlässig bemüht. Und fast immer schwingt in ihr eine Schuldzuweisung mit: Jemand trägt die Verantwortung für das Geschehen, weil er sich falsch verhalten hat. Im angloamerikanischen Sprachraum ist man hellsichtiger als bei uns: Dort spricht man nicht von schuldhaftem »Versagen«, sondern schlicht von »Human Factors«, die zu Pannen und Unfällen führen – von menschlichen »Faktoren«. Anders ausgedrückt: Menschen sind so. Menschen übersehen oder missinterpretieren Dinge, sie treffen – besonders unter Stress – übereilte Entscheidungen, sie sind vor Angst wie gelähmt oder blenden offensichtliche Gefahren einfach aus. Salopp gesagt: Shit happens.

Um noch einmal auf den verheerenden Crash von Teneriffa zurückzukommen, der in der Luftfahrt den Anstoß für die systematische Analyse der menschlichen Faktoren, Einflüsse und Begrenzungen gab: Wie kann es sein, dass zwei erfahrene Piloten im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zwei technisch intakte Flugzeuge am Boden zusammenstoßen lassen? Nachvollziehbar wird das kaum Fassbare, wenn man sich folgende Faktoren vergegenwärtigt:

Teneriffa: ungünstige Faktoren

– Beide Flugzeuge, eine KLM-Maschine aus Amsterdam und eine Maschine der Pan Am aus New York, hatten außerplanmäßig auf Teneriffa landen müssen. Der eigentliche Zielflughafen auf Gran Canaria war wegen einer Bombendrohung kurzfristig gesperrt worden.

– Bei beiden Maschinen handelte es sich um eine Boeing 747, ein Großflugzeug, das auf Teneriffa/Los Rodeos nur auf der Startbahn rollen konnte, da es zu breit für die eigentlichen Rollbahnen (neben der Startbahn) war.

– Während die Maschinen am überfüllten Flughafen warteten, zog Nebel auf.

– Die Flugsicherung dirigierte beide Maschinen auf die einzige Piste. Beide Piloten und die Flugsicherheit wussten voneinander. Sie wussten, dass sie sich in unmittelbarer Nähe befanden, hatten aber keinen Sichtkontakt. Ein Bodenradar gab es nicht.

– Die Besatzung der Pan Am kannte den Flughafen nicht. Das und der Ausfall der Mittelbeleuchtung auf der Piste trugen dazu bei, dass sie die entscheidende Abbiegung verpasste, um die Piste zu verlassen und sich hinter der KLM aufzustellen, als die Flugsicherung sie von der Piste lotsen wollte.

– Der Kapitän der KLM (nebenbei: der damals dienstälteste Pilot der KLM und Chefausbilder für die Boeing 747) missverstand ein Kommando der Flugsicherung, möglicherweise wegen des starken spanischen Akzents des Fluglotsen. Die Flugsicherung gab der KLM zwar die Flugstrecke frei (»Route Clearance«), hatte aber noch keine Starterlaubnis (»Take off Clearance«) erteilt, weil die Position der Pan-Am-Maschine unklar war. Erst nach dem Unfall auf Teneriffa wurden für beide Anweisungen exakte Phrasen eingeführt.1

– Der KLM-Kapitän hatte bereits 3,5 Stunden Verspätung. Damit bestand die Gefahr, dass er die maximal zulässige Dienstzeit überschreiten würde. Er hätte dann auf Teneriffa übernachten müssen, und mit ihm alle Passagiere. Der Kapitän stand also unter Zeitdruck und wollte starten.

– Der KLM-Kopilot widersprach nicht, möglicherweise weil er sich das einem so erfahrenen Piloten gegenüber einfach nicht traute. Dieser war Trainingskapitän und in den Niederlanden so etwas wie ein fliegerischer Halbgott.

Der Zusammenstoß: unvermeidbar?

All das führte schließlich dazu, dass die KLM-Maschine anrollte. Als die beiden Piloten in einer Entfernung von etwa 700 Metern die jeweils andere Maschine sahen, war es bereits zu spät: Obwohl die Pan-Am-Maschine noch versuchte, die Piste zu verlassen, und der KLM-Kapitän sich bemühte, sein Flugzeug vom Boden wegzureißen, kam es zum Crash mit fast 600 Toten.

Bei der Aufarbeitung solcher Vorfälle ist in der Presse oft von einer »Verkettung unglücklicher Umstände« die Rede: die Sperrung eines anderen Flughafens, das schlechte Wetter, die identische Größe der Maschinen, die Bedingungen auf Teneriffa (nur eine entsprechende Startbahn), der Zeitdruck … Doch:

Was wäre wenn? – Gegenfragen

– Was wäre passiert, wenn der Kopilot der KLM-Maschine dem fliegenden Kapitän widersprochen hätte?

– Was wäre passiert, wenn die Cockpitmannschaft der Pan-Am-Maschine bei der Flugsicherung Alarm geschlagen hätte (Wir wissen nicht, wo wir uns befinden!)?

– Was wäre passiert, wenn der spanische Fluglotse besser Englisch gesprochen hätte?

– Was wäre passiert, wenn der KLM-Kapitän sicherheitshalber beim entscheidenden Kommando der spanischen Flugsicherung nachgefragt hätte?

– Was wäre passiert, wenn die KLM sich vorsichtshalber erkundigt hätte, ob die Piste frei ist? (Ist doch ein guter Plan, wenn ich nur 700 Meter weit sehen kann, aber drei Kilometer zum Abheben brauche, oder?)

– Was wäre passiert, wenn der Pilot der KLM für alle hörbar gesagt hätte: »KLM – beginne mit dem Start!«?

Die Rolle der Kommunikation

Wäre nur eine dieser Möglichkeiten genutzt worden, wäre die Geschichte wohl anders verlaufen. Im schlimmsten Fall hätten die KLM-Mannschaft und ihre Passagiere auf Teneriffa übernachten müssen und möglicherweise hätte das manche Passagiere verärgert – aber der Crash wäre wahrscheinlich verhindert worden und alle würden noch leben. Eigentliche Ursache des verheerenden Unfalls war also nicht der Nebel oder eine ausgefallene Pistenbeleuchtung. Die eigentliche Ursache waren Kommunikationspannen.

Pannen im Unternehmen

Was hat all das mit Ihnen und Ihren Aufgaben im Unternehmen zu tun? Vielleicht denken Sie einmal an die letzte gravierende Panne zurück, die dort passierte. Möglicherweise waren die Ursachen ähnlich banal und »menschlich«. Möglicherweise wollten auch Sie ein Ziel »auf Teufel komm raus« erreichen und haben Warnsignale und Bedenken systematisch ausgeblendet. Auch bekannte Topmanager sind dagegen nicht gefeit – denken Sie beispielsweise an Jürgen Schrempp, der immer noch an seiner »Welt AG« bastelte, als Außenstehenden wie Unternehmensangehörigen längst klar war, dass die Daimler-Chrysler-Mitsubishi-Welt nicht funktionierte. Oder denken Sie an Wendelin Wiedeking, der kein Jota von seinen kühnen Plänen einer VW-Übernahme abrückte, Porsche damit Milliardenschulden aufbürdete und letztlich zur Beute von VW machte. Oder an den Existenzgründer um die Ecke, der seinen Käse- oder Weinladen nur einen Steinwurf von einem etablierten Konkurrenten eröffnet und fast sicher Schiffbruch erleidet. Im Nachhinein scheint allen dreien die Sicht ähnlich vernebelt gewesen zu sein wie den Piloten auf Teneriffa.

Konsequenzen menschlichen Fehlverhaltens

Fehler, die der menschliche Faktor verursacht, haben unterschiedliche Konsequenzen: Was beim Verkauf von Käse oder in der Automobilproduktion »nur« Geld und Arbeitsplätze kostet, kann in anderen Bereichen lebensbedrohlich werden. In sicherheitsrelevanten Bereichen, etwa in der Luftfahrt, der chemischen Industrie, in Krankenhäusern oder Kernkraftwerken, versucht man daher, den menschlichen Faktor durch spezielle Trainings besser in den Griff zu bekommen. In »normalen« Wirtschaftsunternehmen spielt der menschliche Faktor bislang erstaunlicherweise keine Rolle. Dabei können Tunnelblick und Fehlentscheidungen, Handlungsunfähigkeit oder Aktionismus im Management ebenfalls »lebensbedrohliche« Folgen für ein Unternehmen haben – und schlicht in die Insolvenz führen.

Wie es zu Insolvenzen kommt

Wer nach den Ursachen für Insolvenzen fahndet, stößt oft auf Begründungen wie »geringe Eigenkapitalquote« oder »mangelnde Liquidität«. Das ist ungefähr so, als wenn man sagen würde, Flugzeuge stürzten deswegen ab, weil Berge im Weg seien oder der Treibstoff ausgehe. Die Auslöser zu benennen ist offenbar leichter, als tiefer – nach den eigentlichen Ursachen – zu graben. Wie kommt es dazu, dass manche Manager sehenden Auges in die Pleite wirtschaften? Selbst Insolvenzverwalter, eine eher nüchterne Berufsgruppe, führen »weiche« Faktoren ins Feld, wenn man sie nach den Ursachen von Insolvenzen fragt. Eine Studie, für die 2006 125 Insolvenzverwalter befragt wurden, ergab unter anderem:

– »96 Prozent der Insolvenzverwalter glauben, Unternehmer hegten die Hoffnung, es werde ›irgendwie von selbst wieder aufwärts gehen‹.

– 95 Prozent halten Angst vor Bloßstellung im Bekanntenkreis und in der Branche für einen Grund, die Insolvenz zu verzögern.

– 88 Prozent meinen, die Situation werde zu lange als Krise und nicht als Insolvenz eingestuft.«2

Die Natur des Menschen: nahezu unverändert

»Es ist irrational, was da passiert«, kommentiert Professor Georg Bitter vom Zentrum für Insolvenz und Sanierung an der Universität Mannheim (ZIS), das die Erhebung im Auftrag der Euler Hermes Kreditversicherung durchführte, die Situation.3 In solchen Bewertungen schwingt immer ein wenig Erstaunen mit: Wie kann es sein, dass der Mensch im 21. Jahrhundert so irrational reagiert? Dabei ist das Ganze gar nicht so erstaunlich, denn die biologische Grundausstattung des Menschen hat sich in den letzten Jahrtausenden kaum verändert. Unsere Wahrnehmung, unsere Reflexe, unsere biologischen Möglichkeiten sind noch dieselben wie die unserer Urväter. Die Evolution verläuft eben in sehr langen Zyklen – auch wenn mancher unkt, Säuglinge kämen heute schon mit einem extrem flexiblen »Handydaumen« auf die Welt.

Unsere Welt: dramatisch verändert

Radikal verändert hat sich dagegen unsere Umwelt. Dafür muss man nur auf die evolutionsgeschichtlich völlig unbedeutende Zeitspanne von 100 bis 150 Jahren zurückblicken: Während unsere Urururgroßväter noch Wochen auf die Postkutsche warten mussten, wenn ein Brief unterwegs war, flitzen heute E-Mails im Sekundentakt hin und her. Während unsere Großmütter noch den Küchenherd anfeuerten, ist für die Beherrschung heutiger Hightechküchen bisweilen ein Informatikstudium hilfreich. Und während unsere Vorfahren mangels Elektrizität und angesichts harter körperlicher Arbeit mit den Hühnern zu Bett gingen, können wir heute Abend für Abend unter zahlreichen Unterhaltungsangeboten wählen. Ließ man früher im Handelskontor in aller Ruhe Briefe tippen, ist heute fast jede Führungskraft damit konfrontiert, dass das E-Mail-Postfach überquillt, das Telefon pausenlos klingelt, ein Meeting das andere jagt, mindestens drei Mitarbeiter eine »wichtige« Frage haben und das Gespräch mit dem Vorstand am nächsten Tag eigentlich längst vorbereitet sein müsste …

In den »Firmen-Cockpits« geht es kaum weniger stressig zu als im Cockpit eines modernen Flugzeugs. Und ein solches Cockpit sieht nicht nur so aus, als biete es mehr Informationen, als sie ein normaler Mensch verarbeiten kann: Das ist tatsächlich so. Als Pilot weiß ich, wovon ich rede. »Der technische Fortschritt überfordert das Orientierungsvermögen der Menschen«, stellt der Spiegel in einer Titelgeschichte über das »Lebensgefühl Angst« (!) im Sommer 2006 dazu lapidar fest.4 Und doch müssen Sie im Arbeitsalltag Tag für Tag mit der wachsenden Fülle an Informationen und der enormen Beschleunigung aller Prozesse, die die moderne Technik erst ermöglicht hat, »irgendwie« klarkommen. Denn umkehrbar ist diese Entwicklung wohl kaum.

Von der Luftfahrt lernen!

Allerdings beschäftigt man sich in der Luftfahrt mit Strategien, wie diese Komplexität trotz unserer überholten biologischen Grundausstattung beherrschbar wird. Wie können wir Komplexität reduzieren, Informationen zusammenfassen und so verheerende Fehler vermeiden – auch wenn die Menschen noch genauso von Emotionen beeinflusst und in ihrer Wahrnehmung genauso limitiert sind wie ihre Vorfahren? In Wirtschaftsunternehmen sucht man solche Strategien vergeblich, sieht man einmal von Kernkraftwerken, Chemieproduktionen und ähnlichen gefahrenintensiven Bereichen ab. Uns Menschen fehlt eine »Gebrauchsanweisung für das Leben im 21. Jahrhundert«, und vielen Managern fehlt ein strategisches Sicherheitsnetz, das sie im Alltag vor »menschlichem Versagen« schützt. Anregungen zur Entwicklung solcher Schutzmechanismen für den Unternehmensalltag finden Sie in diesem Buch.

1. Vergessen, die Landeklappen auszufahren

oder: Wenn der Stress die Regie übernimmt

+ + + 20. August 2008, Flughafen Madrid/Barajas + + + Eine Maschine der Spanair stürzt unmittelbar nach dem Start ab und geht in Flammen auf. 154 Tote + + +

Augenzeugen sprechen von »Hölle« und »Inferno«: Die MD 82 der spanischen Fluggesellschaft Spanair stürzt kurz nach dem Start nur wenige Kilometer vom Flughafen Madrid entfernt in ein Flusstal. 154 der 172 Menschen an Bord kommen in den Flammen um. Zunächst wird über einen Triebwerksausfall spekuliert, doch wenige Wochen später steht die eigentliche Crashursache fest: Die Cockpitcrew hat vergessen, beim Start die Landeklappen auszufahren. Dadurch gewann das Flugzeug nicht ausreichend an Höhe.

Experten verweisen auf einen »technischen Defekt«, denn das für solche Fälle vorgesehene Alarmsystem habe versagt. Doch eigentlich ist das Ausfahren der Klappen bei Start und Landung eine absolute Routineangelegenheit, die jeder Pilot im Schlaf beherrscht. »Klappenfahren« vor einem Start ist für einen Piloten ungefähr so selbstverständlich wie Schuhe anziehen vor dem Verlassen des Hauses für Sie. Wie kann man so etwas »vergessen«?

Hauptursache für Fehler: Stress

Jeder von uns hat schon Fehler gemacht, die idiotisch waren. So dumm, dass wir dankbar waren, wenn uns niemand dabei beobachtet hat. »Menschliches Versagen« ist nicht auf Piloten beschränkt: Wenn kritische Faktoren zusammenkommen, sind wir alle zu erschreckenden Fehlleistungen fähig. Mit etwas Glück geht die Sache glimpflich ab, etwa wenn wir eine rote Ampel »übersehen« oder unsere EC-Karte im Geldautomaten vergessen. In der Fliegerei können solche Fehler verheerende Folgen haben – in Unternehmen ebenfalls. Einer der wichtigsten Faktoren, der zu krassen Fehlleistungen führt, ist schlicht – Stress.

Das Crash-Beispiel: Madrid, August 2008

Funktion der Landeklappen

Um den Spanair-Unfall zu verstehen, muss man wissen, wie ein Flugzeug funktioniert. Vielleicht haben Sie schon einmal beobachtet, wie eine Maschine bei Start oder Landung die Landeklappen ausfährt. Diese Klappen vergrößern die Oberfläche des Flügels und erhöhen dadurch den Auftrieb, der das Flugzeug abheben lässt. Der Auftrieb resultiert letztlich aus zwei Komponenten, nämlich der Oberfläche des Flügels und der Geschwindigkeit der Luft, die den Flügel umströmt. Bei Start und Landung ist das Flugzeug naturgemäß langsamer, und deshalb braucht man die Klappen. Ohne Klappen fliegt der Flieger einfach nicht. Jeder Pilot weiß das, und das »Klappenfahren« ist eine selbstverständliche Routineangelegenheit.

Gründe für einen Startabbruch

Was genau ist damals passiert? Die Crew hatte bereits zwei Startabbrüche hinter sich. Einen Startabbruch können Sie sich so vorstellen: Das Flugzeug steht auf der Piste. Die Motoren drehen hoch, und die Maschine beschleunigt mit Vollgas. Im Cockpit werden währenddessen verschiedene Parameter überprüft. Bestimmte Werte müssen angezeigt werden. Aber es leuchten auch verschiedene Lämpchen auf. Jedes dieser Lämpchen zeigt an, dass das dahinterliegende System einsatzbereit ist. Passt einer dieser Werte nicht oder leuchtet ein Lämpchen nicht rechtzeitig auf, muss der Start abgebrochen werden. In fast allen Fällen hätte der Flug dennoch problemlos durchgeführt werden können, da wirklich nur ein Lämpchen kaputt war. Der Startabbruch ist also normalerweise nur eine Vorsichtsmaßnahme. Nur, von alledem wissen Sie hinten im Passagierraum nichts. Sie merken nur, dass das Flugzeug stark beschleunigt und dann eine Vollbremsung macht und dass es Sie fast aus dem Sitz hebt.

Weitere Hindernisse

Unsere Crew hatte schon zwei Starts wegen blinden Alarms abbrechen müssen. Sie können sich vorstellen, dass die Passagiere inzwischen nicht mehr wirklich entspannt waren. Eine solche Situation wird verschärft durch weitere Faktoren wie »Slots« oder Ruhezeiten der Besatzungen. Ein Slot ist ein Zeitfenster, in dem man zum Beispiel gestartet sein muss. Klappt das nicht, muss ein neuer Slot beantragt werden. Wenn man Pech hat, wartet man dann mehrere Stunden. Aber auch die vorgeschriebenen Ruhezeiten spielen eine Rolle. Die maximalen Dienstzeiten einer Besatzung sind strikt begrenzt. Kann ein Flug etwa wegen einer Verspätung oder verpasster Slots nicht innerhalb der maximalen Dienstzeit zu Ende gebracht werden, muss man für eine neue Besatzung sorgen. Dass das schwierig ist, wenn Sie irgendwo auf der Welt auf einem Flugfeld stehen, können Sie sich sicherlich vorstellen.

Eine brenzlige Situation

Langsam braute sich daher ein explosiver Cocktail zusammen: zwei Fehlversuche; der nächste muss klappen, 162 Passagiere, die langsam rebellisch werden, extremer Zeitdruck, extremer Erfolgsdruck, jede Menge externer Faktoren, die den Druck ins Unermessliche steigen lassen – Stress. All das führte dazu, dass ein unsäglicher Leichtsinnsfehler passierte und die Piloten die Klappen nicht ausgefahren haben. Hätte das Alarmsystem funktioniert, hätte ein Warnton sie auf ihren Fehler aufmerksam gemacht und die Maschine wäre sicher gestartet. Das war aber nicht der Fall. Und auch auf das Abarbeiten der für den Start vorgesehenen Checkliste – das Ausführen sogenannter »Standard Operating Procedures« (SOPs) hatte die Crew leichtsinnig verzichtet.

CRASH-WARNUNG

Ab einem bestimmten Stressniveau unterliegt das Verhalten nicht mehr der rationalen Kontrolle. Es wird reflexartig, unreflektiert und unüberlegt, dafür aber schnell und hektisch.

Ein Unternehmensbeispiel: KfW – eine Bank verschenkt 320 Millionen

Wie schon gesagt: Jeder von uns hat in seinem Leben schon erstaunliche Fehlleistungen vollbracht. Doch was muss passieren, damit ein ganzes Unternehmen »den Kopf« verliert? Was muss passieren, damit eine deutsche Staatsbank wie die KfW 320 Millionen Euro auf Nimmerwiedersehen an ein Pleiteunternehmen überweist? Und was muss passieren, damit ein mittelständisches Unternehmen völlig überhastete und unverhältnismäßige Entscheidungen trifft?

KfW: Pleiten, Pech und Pannen

Die Geschichte der KfW ist bekannt, sie löste im September 2008 einen Sturm der Entrüstung aus: Obwohl die Krise bei der US-Investmentbank Lehman Brothers selbst Gelegenheitszeitungslesern bekannt ist, überweist die KfW noch am 15.09.2008 über 300 Millionen Euro an das insolvente Unternehmen. Niemand hatte die automatische Anweisung des Geldes rechtzeitig gestoppt. Ob wir als Steuerzahler davon jemals etwas wiedersehen würden, war lange Zeit sehr fraglich. Im Dezember 2009 wurde bekannt, dass die KfW 200 Millionen Euro zurückerhält und der Steuerzahler 120 Millionen zahlen muss. Zur Erinnerung: Die KfW stand zu dem Zeitpunkt, als es zu dieser fatalen Überweisung kam, schon seit Monaten in der Kritik, vor allem wegen des Debakels bei der hoch verschuldeten IKB-Bank, an der die KfW mit 43 Prozent beteiligt war. Die KfW musste der IKB mehrfach unter die Arme greifen und wies im Geschäftsjahr 2007 einen Verlust von 6,2 Milliarden Euro auf, den größten Verlust in ihrer Firmengeschichte. Die Vorstandsvorsitzende Ingrid Matthäus-Maier musste erst als Sprecherin der Bank gehen und dann schließlich ganz zurücktreten. Der neue Vorstand Ulrich Schröder war bei der Überweisungspanne erst zwei Wochen im Amt. Man kann sich vorstellen, dass die ehrwürdige KfW in dieser Situation eher einem aufgescheuchten Hühnerhof glich als einer geordneten Institution. Der enorme Druck der Öffentlichkeit, der neue Vorstand, vermutlich die Sorge um Posten und Pöstchen auf allen Ebenen – eigentlich kein Wunder, dass trotz eines Meetings am Freitag vor dem verheerenden »Unfall« am Montag die wirklich entscheidende Entscheidung nicht getroffen wurde: Niemand stoppte die Überweisung.

Stressbedingte Fehlentscheidungen überall

Solche Pannen sind nicht auf größere Unternehmen oder bestimmte Branchen beschränkt. Für Verlage ist die Frankfurter Buchmesse der wichtigste Event des Jahres. Ein bekannter Verlag war so mit den Vorbereitungen für diese Messe beschäftigt, dass man die Standbuchung in der Hektik völlig vergaß! Zahlreiche Aktionen waren penibel vorgeplant, nur der Stand dafür fehlte. Und die Wiesbadener SPD versäumte es um die Jahreswende 2007, ihren Oberbürgermeisterkandidaten zur Wahl zu nominieren. Das kam erst dann heraus, als der Kandidat und Stadtdekan seine Anstellung bei der Kirche schon gekündigt hatte und der Wahlkampf bereits anlief. Wir haben in der entscheidenden KfW-Sitzung am Freitag nicht unterm Konferenztisch gesessen und mitgehört, genauso wenig, wie wir den Wiesbadener SPD-Wahlkampf begleitet haben. Aber finden Sie nicht auch, dass beide Debakel fatal an das vergessene Klappenfahren der Spanair-Piloten erinnern? In allen drei Fällen standen die Beteiligten unter starkem Stress.

Stress und die Folgen

Der Mensch: das vernunftbegabte Wesen

Warum kann sich Stress so verheerend auswirken? Warum treffen »eigentlich« besonnene und kompetente Menschen eklatante Fehlentscheidungen, vergessen das Nächstliegende? Warum übersehen wir Dinge, die wir unter normalen Umständen nie übersehen würden? Fragen wie diese drängen sich auf, weil »menschliches Versagen« dem Selbstbild widerspricht, das wir im Alltag gerne pflegen: Wir sehen uns normalerweise als rationale Wesen, die »vernünftig« auf ihre Umwelt reagieren, diese logisch analysieren und »zuverlässig« einschätzen. »Homo sapiens« ist schließlich der Mensch als vernunftbegabtes Wesen. Im Unternehmenskontext, in der Welt der Macher und Manager, gilt diese Prämisse erst recht. Seit dem 18. Jahrhundert ist sie fest in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelt, im Verständnis der Aufklärung wird der Mensch durch seine Ratio bestimmt. »Ich denke, also bin ich«, sagte Descartes; Kant forderte den Einzelnen auf, den Weg der Aufklärung zu beschreiten und gab ihm dazu einen für ihn ungewöhnlich schlichten Rat: »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«

Der Mensch: das emotionale Wesen

Dieses optimistische Menschenbild wird durch die moderne Wissenschaft mehr und mehr erschüttert und widerlegt: Neurologie und Hirnforschung erkennen den Menschen als emotionsgetrieben und von unbewussten Einflüssen gesteuert. Es wird immer deutlicher, wie selektiv unsere Wahrnehmung ist, wie vorurteilsbelastet wir in unseren Urteilen und Einschätzungen sind. Besonders offenbar wird die Irrationalität des Menschen angesichts der eklatanten Fehlleistungen, zu denen er unter Stress fähig ist.

Eine typische Stressreaktion: Großhirn ade!

Typische Stressreaktionen

Vielleicht erinnern Sie sich noch an das letzte Mal, als Sie selbst unter starkem Stress standen. Damit meine ich nicht den üblichen Zeitdruck, den die meisten von uns im Alltag mittlerweile fast ständig empfinden und der uns abends beim Bier über »Stress« klagen lässt. Ich meine vielmehr eine Situation, die Sie als wirklich bedrohlich, vielleicht sogar als Angst einflößend erlebt haben – eine heftige Attacke in einem wichtigen Meeting mit dem Vorstand; ein Zusammenbruch des Servers, der Ihnen den gesamten Geschäftsbetrieb lahmlegt; die Nachricht, dass Ihr größter Kunde insolvent ist. Wahrscheinlich wurde Ihnen heiß, Ihr Puls beschleunigte sich, der Herzschlag dröhnte in den Ohren. Sie hatten möglicherweise das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Waren Sie wie gelähmt? Vielleicht hatten Sie einen Blackout. Gerade dann, wenn wir sie am nötigsten brauchen, scheint uns die Ratio besonders gerne im Stich zu lassen.

Stammhirn versus Großhirn

In akuten Stresssituationen übernimmt das Stammhirn die Regie. Das ist der Bereich unseres Gehirns, in dem die Vitalfunktionen und Grundemotionen lokalisiert sind. Das Stammhirn wird manchmal auch als »Reptiliengehirn« bezeichnet. In dieser evolutionär gesehen ältesten Gehirnregion sind archaische Reaktionsmuster gespeichert – es geht darum, das nackte Überleben zu sichern. Die Möglichkeiten dafür sind überschaubar: angreifen, abhauen oder tot stellen. Das sind exakt die drei Optionen, die schon dem Urmenschen zur Verfügung standen, wenn er auf einen Säbelzahntiger traf. Das Großhirn, das für das Denken, Analysieren und Planen zuständig ist, wird bei akutem Stress weitgehend außer Kraft gesetzt. »Wenn das Stammhirn kommt, geht das Großhirn in die Bar einen trinken«, sage ich in meinen Seminaren gerne scherzhaft. Und sobald das Großhirn Pause macht, kann man schon mal Dinge übersehen, die man sonst niemals versäumen würde, wie etwa das Ausfahren der Klappen oder die Kontrolle einer Millionenüberweisung.

Wenn sich der Fokus verschiebt

Rüdiger Trimpop, Professor für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie an der Universität Jena und einer der renommiertesten deutschen Unfallforscher, liefert dafür eindrucksvolle Beispiele: »Aus der Stress- und Unfallforschung ist bekannt, dass Menschen in Entscheidungssituationen unter Zeitdruck eine Tunnelsicht entwickeln«, erläutert er. Trimpop berichtet von Fluglotsen, die in einer simulierten stressigen Arbeitssituation (Ausfall von Monitoren, brüllender Chef, Störgeräusche aus den Lautsprechern) zwar das Flugzeug, für das sie zuständig waren, sicher zum Boden dirigierten, die aber gleichzeitig eine Kollision zweier anderer Maschinen auf ihrem Schirm glatt übersahen. »Die gesamte Energie, die gesamte Aufmerksamkeit ist auf die eine Aufgabe konzentriert, alles andere wird ausgeblendet. Und je komplexer eine Handlung, desto größer die Wahrscheinlichkeit, sich auf das falsche Thema zu fokussieren«, so Trimpop. Das gilt nicht nur für Fluglotsen: Autofahrer beispielsweise übersehen einen Radfahrer, der ihnen in der Einbahnstraße entgegenkommt, wenn man sie unter Stress setzt. Der Rat des Unfallforschers: »Es geht darum, sich davor zu schützen, nur als Reflex-Amöbe zu reagieren«.1

Kontrollierter Stress

Solange wir noch die Hoffnung haben, eine herausfordernde Situation in den Griff zu bekommen, bleibt eine Stressreaktion kontrollierbar: Das Gehirn wird durch irritierende Signale in Alarmbereitschaft versetzt, die Nebennieren schütten Adrenalin ins Blut aus, das Herz beginnt, schneller zu schlagen, wir sind angespannt und mobilisieren all unsere Energie. Möglicherweise haben Sie sich in der letzten Prüfung, die Sie absolvieren mussten, so gefühlt. Sobald Sie aber die ersten Aufgaben gelöst, die ersten Fragen beantwortet hatten, entspannte sich die Situation wieder.

Unkontrollierter Stress

Was dagegen in unserem Körper passiert, wenn wir mit einer unkontrollierbaren Stressreaktion kämpfen, beschreibt der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther ebenso eindrucksvoll wie bildhaft: »Dann, wenn alle Wege blockiert oder verbaut sind, gehen zusätzlich zu den Alarmglocken noch die Sirenen an … der Angstschweiß tropft uns von der Stirn. In unserem Gehirn ist der Teufel los, alles geht durcheinander.« In der Folge wird von der Hirnanhangdrüse ein Hormon ausgeschüttet, das wiederum die Nebennieren veranlasst, große Mengen des Stresshormons Kortisol auszuschütten. »Aus der anfänglichen Angst wird Verzweiflung, Ohnmacht, Hilflosigkeit. Die im Körper ablaufende Stressreaktion ist nicht mehr aufzuhalten … Vergeblich suchen wir noch immer nach einer Lösung oder warten darauf, dass ein Wunder geschieht und alles wieder so wird, wie es vorher war.« In der Folge machen sich Resignation, Mutlosigkeit, »ein Gefühl gleichzeitiger Unruhe und Lähmung« breit.2 Ein Zustand, in dem wir weder Prüfungen bestehen noch Flugzeuge fliegen oder ein Unternehmen sicher führen können.

Stress im Unternehmen

Stress ist relativ

Was als stressig empfunden wird, variiert von Mensch zu Mensch. Nicht immer liegt der Fall so eindeutig wie beim Säbelzahntiger. Wesentlich ist das Gefühl von Kontrollverlust, von Überforderung. Reize, die plötzlich auftreten, solche, die als bedrohlich empfunden werden, oder solche, die unbekannt sind, erzeugen Stress. Wenn Ihnen spätabends auf dem Nachhauseweg in einer dunklen Seitengasse plötzlich jemand in den Weg springt, wenn Ihr eben noch friedlicher Gesprächspartner sich plötzlich die Ärmel hochkrempelt und Sie dabei wütend fixiert oder wenn Sie als Sportmuffel im Managementseminar unverhofft im Kletterwald in luftiger Höhe herumturnen sollen, empfinden Sie sehr wahrscheinlich Stress. Ein Kollege hingegen, der begeisterter Freeclimber ist, wird der Übung im Kletterwald recht gelassen entgegensehen, und Vladimir Klitschko wird die Situation in der dunklen Gasse wahrscheinlich anders wahrnehmen als Mutter Beimer.

Mit Übung den Stress kontrollieren

»Stressig« ist also nicht eine Situation an sich, sondern die Bewertung der Situation durch den Einzelnen. In vielen Fällen werden Menschen sich in dieser Bewertung einig sein (Säbelzahntiger und andere ernst zu nehmende Angreifer etwa), in anderen hängt die Wahrnehmung der Situation von Vorerfahrung und Übung ab. Denken Sie beispielsweise an Ihre erste praktische Fahrstunde: Für viele Menschen waren das extrem stressige 60 Minuten, nach denen sie mit steifem Nacken und völlig erschöpft aus dem Wagen gestiegen sind. Heute können sie darüber nur noch lächeln. Die damals unbekannte Situation ist längst zur Routine geworden. Übung und Training kann also helfen, eine Stresssituation als kontrollierbar zu erleben und damit zu bewältigen. Nicht ohne Grund trainieren Piloten gefährliche Situationen immer wieder im Flugsimulator. Das lässt hoffen: Auf alle heiklen Momente, die vorstellbar oder vorhersehbar sind, kann man hintrainieren. Und dieses Training verhindert (mit ein bisschen Glück), dass das Großhirn im Falle eines Falles einen Ausflug macht.

Stressoren-Typen

Vielleicht fragen Sie sich inzwischen, was Säbelzahntiger, Klettergärten oder angriffslustige Fremde in dunklen Gassen mit Ihrem Managementalltag zu tun haben sollen. Natürlich ist die Gefahr, im Büroflur einem Raubtier zu begegnen, vergleichsweise gering. Die Stressoren in den Unternehmen sind anderer Natur, aber nicht weniger wirksam. In der Stressforschung ist man sich heute einig, dass neben »objektiven Stressoren« (wie Hitze, Kälte, Lärm, Schlafentzug, Verletzungen oder akute Gefahr) auch »subjektive« Stressoren eine starke Wirkung entfalten. Solche subjektiven Stressoren sind zum Beispiel Sorgen, ausgelöst durch eine negative Grundhaltung, oder ein stark empfundener Leistungsdruck als Folge von Perfektionismus. Dasselbe gilt für »soziale Stressoren«. »Ähnliche Konsequenzen wie Stress und Zeitdruck könnten emotionale Konflikte, Überforderung und zu große Komplexität auslösen«, warnt Rüdiger Trimpop. Der Mathematiker und Wirtschaftspsychologe Franz Reither, der ein lesenswertes Buch zum Komplexitätsmanagement verfasst hat, schlägt in dieselbe Kerbe: »Kontrollverlust und damit Stress entsteht nicht nur, wenn einem die Dinge ›aus der Hand‹ gleiten. Bereits Ungewissheit und mangelnde Vorhersagbarkeit genügen, um das besagte Gleichgewicht zu verletzen.«3

Ursachen von Stress

Stress am Arbeitsplatz entsteht also auch,

– wenn Menschen nicht wissen, wie es weitergeht,

– wenn Menschen nicht einschätzen können, was um sie herum vor sich geht,

– wenn der eigene Selbstwert durch die Entwicklung bedroht ist (beispielsweise durch Konflikte mit Vorgesetzten, Kollegen oder Mitarbeitern),

– wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie eine Situation nicht mehr beherrschen können.

Stressauslösende Situationen in Unternehmen

Damit sind wir schon ziemlich nah an typischen Unternehmenssituationen und ihren Folgen für die Mitarbeiter. Unternehmen strukturieren um; dadurch verändern sich Aufgabenbereiche, aber auch Teams. Eine Fusion mit einem Mitbewerber steht an, und keiner kann abschätzen, wie sich das auf den eigenen Arbeitsplatz auswirkt. Sinkende Absatzzahlen verschärfen den Konkurrenzkampf, intern wie extern. Oft ist es schlicht die zunehmende Komplexität von Aufgaben in einer globalisierten Hightechwirtschaft, die das Gefühl von Ohnmacht und Überforderung und damit Stress auslöst. Macht man sich diese Prozesse bewusst, so lassen sich Handlungsweisen in Unternehmen mit stammhirngesteuerten Reflexen erklären.

Abhauen als Reaktion auf Stress

Da ist zum Beispiel der Geschäftsführer eines mittelständischen Maschinenbauers, der tief in der Krise steckt. Die Umsätze brechen ein, die Billigkonkurrenz aus Fernost macht schwer zu schaffen, zu allem Überfluss hat ein Großkunde den Vertrag gekündigt – eine Insolvenz scheint nicht mehr ausgeschlossen. Man sollte meinen, dass der Geschäftsführer in dieser heiklen Situation mit Volldampf an der Sanierung seines Unternehmens arbeitet. Doch stattdessen lässt er sich für ein zeitraubendes Ehrenamt gewinnen und ist kaum noch vor Ort. Er stürzt sich mit Feuereifer auf repräsentative Aufgaben und mischt aktiv in der Pressearbeit des Vereins mit – von der Bildauswahl bis zur peinlich genauen Korrektur der Satzfehler im neuesten Flyer (!) ist er sich für keine Aufgabe zu schade. Abhauen – eine klassische Fluchtreaktion, erwartungsgemäß mit wenig Erfolg. Das Unternehmen muss Insolvenz anmelden und wird von einem Wettbewerber übernommen.

Totstellen als Reaktion auf Stress

Oder nehmen Sie zahlreiche Traditionsunternehmen, die irgendwann den Zug der Zeit verpassen und sehenden Auges in den Untergang steuern. So konzentrierte Märklin sich unverdrossen weiter auf Modelleisenbahnen, als längst Playstations und Computer in die Kinderzimmer Einzug gehalten hatten und sich fast nur noch ältere Herren für die kleinen Eisenbahnen interessierten. Das Unternehmen musste Insolvenz anmelden. Auch Uhrenhersteller Junghans schaffte die Wende nicht, obwohl die Firma durch Billigkonkurrenz mehr und mehr unter Druck geriet. »Zu spät stellte die Firma von Massenware auf hochwertige Uhren um«, urteilte die Frankfurter Rundschau. Im Januar 2009 wurde das Unternehmen an einen Investor verkauft.4 Nicht eine unvorhersehbare Krise machte den Traditionsmarken den Garaus, sondern ein schleichender Prozess, vor dem die Inhaber offensichtlich die Augen verschlossen. In beiden Unternehmen wird der Vertrieb von Jahr zu Jahr sinkende Absatzzahlen gemeldet haben. In beiden Unternehmen wird die Buchhaltung schrumpfende Gewinne und irgendwann steigende Verluste verzeichnet haben. Offenbar übte sich das Management in Vogel-Strauß-Politik. Man könnte auch sagen: Totstellen – wenn ich mich nicht rühre …

Angreifen als Reaktion auf Stress

Und auch reflexhaftes Angreifen ist Managern nicht fremd. Ein Beispiel: Ein mittelständisches Medienunternehmen geht an die Börse. Der Börsengang spült zwar das erwartete Kapital in die Kasse, doch die kühn gestarteten Projekte – darunter der Einstieg ins Film- und ins Beratungsgeschäft – verschlingen Unsummen und bescheren nur magere Umsätze. Während der Aktienkurs immer weiter in den Keller geht, zettelt der zunehmend unter Druck geratene Vorstand und Mitgründer des Unternehmens zu allem Überfluss noch einen Prozess mit einem Hauptaktionär an. Aus seiner Sicht regiert ihm der zu viel ins Geschäft hinein und maßt sich damit Eingriffe an, die ihm nicht zustehen. In der Presse wird daraufhin mehr über die neuesten Entwicklungen in dieser juristischen Auseinandersetzung berichtet als über die Produkte des Unternehmens. Die Folge: Negativschlagzeilen ohne Ende, sinkende Umsätze, die Aktie stürzt weiter ab. Der Prozess, in dem es unter anderem um den Ausschluss einer Investorengemeinschaft um den Hauptaktionär von den Hauptversammlungen des Unternehmens geht, wird verloren. Am Ende wird der Vorstand entlassen. Das Unternehmen überlebt vorerst, doch der neue Vorstand muss Mitarbeiter entlassen, Programme zusammenstreichen und Kosten sparen, wo es nur geht. Das nennt man dann wohl wildes Angreifen – koste es, was es wolle.

ANTI-CRASH-FORMEL

Fragen Sie sich gerade in schwierigen Situationen gelegentlich: Wer führt hier gerade Regie – Stammhirn oder Großhirn?

Die Tücken der menschlichen Wahrnehmung

Solche Beispiele machen Betrachter oft ratlos: Sehen die Akteure denn nicht, was sie anrichten? Die Umsatzzahlen liegen doch auf dem Tisch; die negativen Presseberichte kann man »eigentlich« ebenso wenig übersehen wie die Flut von Uhren der Billigkonkurrenz im Schaufenster um die Ecke oder auf Branchenmessen. Das führt uns zu einer heiklen Frage.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Die »objektive« Wahrnehmung der Welt

So lautet der provokative Titel eines Buches von Paul Watzlawick. Der bekannte Kommunikationspsychologe und Philosoph war radikaler »Konstruktivist«. Watzlawicks Antwort auf die Titelfrage lautet schlicht: Die Welt ist nicht, wie sie ist – sie ist das, was wir aus ihr machen. Jeder von uns »konstruiert« sich seine eigene Wirklichkeit. Wir leben in dem sicheren Glauben, die Welt »objektiv« wahrzunehmen. Doch diese lieb gewonnene Wahrheit stellen schon lange nicht mehr nur Kognitionspsychologen infrage, denn menschliche Wahrnehmung ist hochgradig selektiv und subjektiv. Ein ebenso simples wie augenfälliges Beispiel: Sie haben sich gestern Abend entschieden, ein neues Auto der Marke XY zu kaufen – Sie denken nur noch über die Farbe nach. Heute Morgen auf dem Weg ins Büro sehen Sie auf dem Arbeitsweg überall Wagen der Marke XY und vergleichen im Geiste die Farben. Hat sich die Zahl der Autos dieser Marke über Nacht explosionsartig vermehrt? Sicher nicht. Gestern haben Sie sie nur nicht gesehen.

Die Tücken der Wahrnehmung