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Er stahl die mächtigste Reliquie des Reiches. Jetzt muss er sie zurückstehlen, um zu überleben. Regensburg, 996 n. Chr.: Für den jungen Gaukler und Taschendieb Cunrat ist das Leben ein täglicher Kampf ums Überleben. Als ihm ein unvorstellbarer Reichtum für einen einzigen, waghalsigen Diebstahl geboten wird, zögert er nicht. Seine Aufgabe: die Heilige Lanze aus den Gemächern von König Otto III. zu stehlen – jene Reliquie, die dem Herrscher Unbesiegbarkeit verleihen soll. Doch der Auftrag, der ihm ein besseres Leben versprach, entpuppt sich als tödliche Falle. Kaum hat Cunrat die Lanze übergeben, wird er zum meistgesuchten Mann im Reich. Gejagt von den Schergen des Königs und verraten von seinen skrupellosen Auftraggebern, erkennt er, dass er nur eine Spielfigur in einem weitaus größeren Spiel war. Während die Herrschaft des jungen Königs zu zerbrechen droht, bleibt Cunrat nur eine verzweifelte Chance: Er muss das Unmögliche wagen und die Lanze zurückerobern.
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cunrat und die heilige Lanze: Historischer Roman
Copyright
Glossar: Personen, Orte & Begriffe
Personen
Orte
Begriffe & Gegenstände
Kapitel 1: Der König und der Gaukler
Kapitel 2: Das Gewicht des Silbers
Kapitel 3: Der Schatten des Mönchs
Kapitel 4: Im Haus des Löwen
Kapitel 5: Zwei Herren dienen
Kapitel 6: Wein und Wahrheit
Kapitel 7: Das Spiel der Könige
Kapitel 8: Die Geister der Straße
Kapitel 9: Der Preis des Landes
Kapitel 10: Das Fundament aus Stein und Schweiß
Kapitel 11: Echos auf dem Marktplatz
Kapitel 12: Die Stadt der Spione
Kapitel 13: Der Wettlauf gegen die Morgendämmerung
Kapitel 14: Die Maske des Verräters
Kapitel 15: Der Schlüssel und die Feder
Kapitel 16: Das Lied des Rotkehlchens
Kapitel 17: Das Gewicht einer Krone
Kapitel 18: Die goldenen Fesseln
Kapitel 19: Im Schatten des Throns
Titelseite
Cover
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
von Herbert Carlsen
Er stahl die mächtigste Reliquie des Reiches. Jetzt muss er sie zurückstehlen, um zu überleben.
Regensburg, 996 n. Chr.: Für den jungen Gaukler und Taschendieb Cunrat ist das Leben ein täglicher Kampf ums Überleben. Als ihm ein unvorstellbarer Reichtum für einen einzigen, waghalsigen Diebstahl geboten wird, zögert er nicht. Seine Aufgabe: die Heilige Lanze aus den Gemächern von König Otto III. zu stehlen – jene Reliquie, die dem Herrscher Unbesiegbarkeit verleihen soll.
Doch der Auftrag, der ihm ein besseres Leben versprach, entpuppt sich als tödliche Falle. Kaum hat Cunrat die Lanze übergeben, wird er zum meistgesuchten Mann im Reich. Gejagt von den Schergen des Königs und verraten von seinen skrupellosen Auftraggebern, erkennt er, dass er nur eine Spielfigur in einem weitaus größeren Spiel war. Während die Herrschaft des jungen Königs zu zerbrechen droht, bleibt Cunrat nur eine verzweifelte Chance: Er muss das Unmögliche wagen und die Lanze zurückerobern.
Seine Jagd katapultiert ihn aus den schmutzigen Gassen Regensburgs in die Höfe der Mächtigsten – zwischen den ehrgeizigen Herzog Heinrich von Bayern und den undurchschaubaren Meisterspion des Königs. Aus dem Dieb wird ein Spieler in einer Partie, in der die Krone des Heiligen Römischen Reiches auf dem Spiel steht.
Ein fesselnder historischer Roman über Verrat, Loyalität und den unbändigen Willen eines Außenseiters, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Atemlose Spannung im Mittelalter: Folgen Sie Cunrat auf seiner gefährlichen Reise durch ein Reich am Rande des Bürgerkriegs.
Intrigen und Machtspiele: Erleben Sie die skrupellosen Pläne der Fürsten und Kleriker, die um den Thron kämpfen.
Ein unvergesslicher Held: Vom Straßenjungen zum Spion – eine beeindruckende Entwicklung voller Mut und List.
Wird ein einfacher Dieb das Schicksal eines Reiches verändern, oder wird er von den Mühlen der Macht zermahlen?
Kann ein einfacher Dieb das Schicksal eines Reiches verändern, oder wird er von den Mühlen der Macht zermahlen? Finden Sie es heraus in diesem epischen Abenteuer voller historischer Details und nervenaufreibender Wendungen.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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Cunrat mit den flinken Fingern: Ein junger Gaukler und Taschendieb aus Regensburg. Er ist ein Waisenjunge, der sich mit Geschicklichkeit und schnellem Verstand auf der Straße durchschlägt.
Affra die Hungrige: Ein armes Waisenmädchen und Cunrats engste Freundin. Sie kennt die Schattenseiten der Stadt und die Kunst des Überlebens durch Betteln und Gelegenheitsarbeiten.
Der blinde Hantz: Ein alter, blinder Bettler und Freund von Cunrat und Affra. Was ihm an Augenlicht fehlt, macht er durch sein scharfes Gehör und sein Gespür für Gerüchte und versteckte Wahrheiten wett.
Otto III.: Der jugendliche König des Reiches. Er ist gebildet, ehrgeizig und träumt davon, das alte Römische Reich unter seiner Herrschaft als Kaiser wiederherzustellen.
Heinrich von Bayern: Ein mächtiger und stolzer Herzog, dessen Familie eine lange Geschichte der Rivalität mit dem Königshaus der Ottonen hat. Sein Vater, „Heinrich der Zänker“, war der erbittertste Gegner von Ottos Thronbesteigung.
Branagorn von Corvey: Ein gelehrter und undurchschaubarer Mönch, der als enger Berater und Vertrauter von König Otto III. dient.
Brun von Kärnten: Der Hofkaplan und Cousin des Königs. Otto III. hat den ehrgeizigen Plan, ihn zum nächsten Papst zu machen.
Nicola di Giuliano: Ein geheimnisvoller Reisender aus Rom, der kurz vor dem König in Regensburg eintrifft. Seine wahren Absichten sind unklar.
Regensburg: Eine der größten, reichsten und wichtigsten Städte des Reiches im 10. Jahrhundert. Aufgrund ihrer strategischen Lage an der Donau ist sie ein zentraler Ausgangspunkt für politische und militärische Unternehmungen nach Osten und Süden.
Ulm: Eine weitere bedeutende Handelsstadt, die Schauplatz eines entscheidenden Rates der Fürsten des Reiches wird.
Mainz: Eine mächtige Stadt am Rhein und Sitz eines der einflussreichsten Erzbischöfe des Reiches. Ein Zentrum kirchlicher Macht und politischer Intrigen.
Sonnenhang: Ein alter, verlassener Hof in der Nähe von Augsburg, der im Laufe der Geschichte eine wichtige Rolle spielt.
Heilige Lanze: Die zentrale Reliquie des Reiches und ein Symbol für die militärische und göttliche Legitimation des Königs. Es wird geglaubt, dass sie Teile eines Nagels vom Kreuz Christi enthält und ihrem Besitzer Unbesiegbarkeit im Kampf verleiht. Wer die Lanze besitzt, so der Glaube, hält das Schicksal des Reiches in der Hand.
Königlicher Rat (Hoftag): Eine Versammlung der mächtigsten Fürsten und Bischöfe (Kurfürsten), die einberufen wird, um über die wichtigsten Angelegenheiten des Reiches zu entscheiden – einschließlich der Wahl eines neuen Königs.
Lehen: Land oder ein Amt, das ein Lehnsherr (wie der König oder ein Herzog) einem Vasallen im Austausch für dessen Treue und Dienste (meist militärischer Art) gewährt.
Allod (Freies Eigentum): Im Gegensatz zum Lehen bezeichnet dies Land, das sich im freien und unbelasteten Besitz einer Person befindet, ohne Verpflichtungen gegenüber einem Lehnsherrn. Es ist die seltenste und sicherste Form von Landbesitz.
Das Jahr des Herrn 996 war ein Jahr der Vorzeichen und des Aufbruchs. Der Winter war lang und unbarmherzig gewesen, ein knochenkalter Würgegriff, der sich erst spät im April lockerte und einem nassen, widerwilligen Frühling Platz machte. Doch nun, im Mai, schien die Sonne endlich wieder mit der Zuversicht eines Herrschers über Regensburg. Sie tauchte die hohen Giebel der steinernen Kaufmannshäuser in honigfarbenes Licht, ließ die bunten Wimpel an den Zunfthäusern leuchten und trocknete den Schlamm in den Gassen zu einer rissigen, staubigen Kruste.
Für die meisten Bewohner der Stadt bedeutete der Sonnenschein vor allem eines: Arbeit. Die Hämmer der Schmiede am Kornmarkt klangen lauter, die Rufe der Händler, die ihre Waren feilboten, schienen fröhlicher, und der Gestank von ungegerbtem Leder, faulendem Fisch vom Flussufer und dem allgegenwärtigen Dung der Zugtiere war unter der Wärme nur noch durchdringender.
Für Cunrat mit den flinken Fingern bedeutete die Sonne etwas anderes. Sie bedeutete Menschen. Wo die Sonne die Leute aus ihren feuchten, dunklen Behausungen lockte, da sammelten sie sich, und wo sie sich sammelten, da gab es gefüllte Beutel und abgelenkte Blicke.
Er stand auf dem Neupfarrplatz, einem belebten Knotenpunkt, wo sich Händler, Mägde und Müßiggänger drängten. Mit seinen vierzehn oder vielleicht fünfzehn Jahren – wer zählte schon die Winter eines Waisenjungen? – war er eine Gestalt aus Sehnen und Knochen, gekleidet in abgetragene Hosen und ein Hemd, das mehr Flicken als ursprünglichen Stoff besaß. Sein Haar, von der Farbe schmutzigen Strohs, fiel ihm in die wachen, grauen Augen, die alles zu sehen schienen.
Gerade jetzt tanzten drei sorgfältig rund geschliffene Kieselsteine durch die Luft, eine flirrende Kaskade, die von einer seiner Hände zur anderen wanderte, hinter seinem Rücken verschwand und über seinen Schultern wieder auftauchte. Er lächelte sein Gauklerlächeln, eine einstudierte Maske aus unbekümmerter Freude, die die Konzentration dahinter verbarg. Ein kleiner Kreis von Zuschauern hatte sich gebildet: zwei Mägde, die kichernd ihre Körbe abgestellt hatten, ein alter Mann, der sich auf seinen Stock stützte, und eine Handvoll Kinder, deren Münder offen standen.
„Seht her, edle Damen und Herren von Regensburg!“, rief Cunrat mit einer Stimme, die geübt war, den Lärm des Marktes zu übertönen. „Seht die tanzenden Steine von Avalon, die einst dem großen Zauberer Merlin gehörten! Sie gehorchen nur dem, der ein reines Herz und flinke Finger besitzt!“
Ein paar Münzen klirrten in den kleinen Holzbecher, den er vor sich aufgestellt hatte. Es war nicht viel. Ein paar Heller, kaum genug für ein trockenes Brot. Aber der Tag war noch jung.
Während seine Hände ihr hypnotisches Spiel vollführten, tanzten seine Augen über die Menge. Sie taxierten die Gürteltasche des wohlbeleibten Tuchhändlers, der mit einem Kunden feilschte. Sie bemerkten den schimmernden Silberverschluss am Umhang einer Dame, die naserümpfend an einem Fischstand vorüberging. Seine Finger juckten, aber nicht heute. Nicht hier. Eine solche Darbietung war eine Investition. Er baute sich einen Ruf als harmloser Gaukler auf, eine vertraute Erscheinung. Das machte die Leute unvorsichtig. Für den Diebstahl wählte er andere Orte, andere Momente.
Als der Applaus abebbte und die kleine Menge sich zerstreute, ließ er die Steine in einem Beutel verschwinden und kniete nieder, um seinen kargen Lohn einzusammeln.
„Merlins Steine, soso“, krächzte eine vertraute Stimme neben ihm. „Ich dachte, du hättest sie letzte Woche am Ufer der Donau gefunden.“
Cunrat grinste, diesmal echt. „Affra! Du solltest meine Kunst nicht vor dem zahlenden Volk herabwürdigen.“
Affra die Hungrige hockte neben ihm. Sie war vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als er, ein dürres Mädchen mit einem Gesicht, das zu alt für ihre Jahre wirkte. Schmutz klebte auf ihren Wangen, und ihr Haar war ein verfilztes Nest, aus dem zwei riesige, hungrige Augen blickten, so braun wie feuchte Erde. Ihr Hunger war so sprichwörtlich geworden, dass niemand sie mehr anders nannte.
„Kunst füllt den Magen nicht“, erwiderte sie und spähte in seinen Becher. „Das reicht nicht einmal für uns zwei.“
„Es ist ein Anfang“, sagte Cunrat und stand auf. „Wo ist Hantz?“
„Wo er immer ist, wenn große Neuigkeiten die Stadt durchströmen“, sagte Affra und deutete mit dem Kopf in Richtung der Steinernen Brücke. „Er sitzt am Tor und lauscht.“
Sie gingen zusammen, zwei unscheinbare Schatten im Gewimmel der Stadt. Cunrat steckte die Münzen in einen versteckten Beutel in seiner Hose. Er hatte gelernt, dass der offensichtlichste Ort für Geld auch der erste war, den andere Diebe aufsuchten.
„Große Neuigkeiten?“, fragte er. „Welche?“
„Du hast es nicht gehört?“, fragte Affra ungläubig. „Die ganze Stadt redet von nichts anderem. Der König kommt. Otto. Noch heute.“
Cunrat blieb stehen. Das waren in der Tat große Neuigkeiten. Ein Königsbesuch war ein Ereignis, das den Rhythmus der Stadt völlig veränderte. Es bedeutete Prunk und Soldaten, aber auch Festmähler und die Hoffnung auf königliche Großzügigkeit. Es bedeutete aber auch schärfere Wachen und eine geringere Toleranz für Gestalten wie ihn.
„Otto III.“, murmelte er. „Der Knabenkönig.“
„Pass auf, was du sagst“, zischte Affra und sah sich nervös um. „Er ist gesalbt und gekrönt. Und er kommt nicht zum Spielen. Hantz sagt, er sammelt sein Heer. Er will über die Berge nach Italien ziehen und sich vom Papst zum Kaiser krönen lassen.“
Sie fanden den blinden Hantz an seinem üblichen Platz, im Schatten des Brückentors, das auf die Steinerne Brücke führte. Hantz war ein Mann unbestimmbaren Alters, sein Gesicht eine Landkarte aus Falten und Narben, sein Bart verfilzt. Ein schmutziges Tuch war über seine Augen gebunden, die er vor Jahren durch ein Fieber verloren hatte. Doch was ihm an Sehkraft fehlte, machte er durch seine anderen Sinne mehr als wett. Hantz hörte das Gras wachsen und die Lügen in den Herzen der Menschen. Sein Geist war ein Sammelbecken für alle Gerüchte, Geschichten und Wahrheiten, die durch die Gassen Regensburgs flüsterten.
Er saß mit dem Rücken an die kalte Steinmauer gelehnt und kaute an einem trockenen Stück Brot, das ihm jemand zugeworfen hatte. Als Cunrat und Affra sich näherten, hob er den Kopf, als könnte er sie sehen.
„Ah“, sagte er mit seiner tiefen, rauen Stimme. „Der Meister der fliegenden Steine und die Hüterin des leeren Magens. Euer Schritt verrät euch. Cunrat, du bist leichtfüßig und unzufrieden. Affra, du schleichst, als wolltest du dem Boden nicht zur Last fallen.“
„Und du, Hantz, hörst wieder einmal mehr, als gut für dich ist“, sagte Cunrat und hockte sich zu ihm. „Also, der König kommt.“
Hantz nickte langsam. „Er ist schon fast da. Ich höre das Dröhnen der Hufe auf der Straße von Westen. Ein ganzes Heer. Ritter aus Sachsen, aus Franken, aus Schwaben. Und mitten unter ihnen der Junge, der sich ein Imperium erträumt, wie es Karl der Große einst besaß.“ Er beugte sich vor, seine Stimme wurde zu einem konspirativen Flüstern. „Und er bringt sein größtes Heiligtum mit.“
Affra rückte näher. „Was für ein Heiligtum?“
„Die Heilige Lanze“, sagte Hantz, und das Wort schien in der Luft zu hängen. „Die Lanze des Schicksals. Man sagt, der Legionär Longinus habe damit die Seite unseres Herrn Jesus Christus am Kreuz durchbohrt. Andere sagen, es seien Nägel vom heiligen Kreuz selbst darin eingeschmiedet. Sein Urgroßvater, König Heinrich, hat sie erworben. Und sein Großvater, Otto der Große, hat mit ihr die Ungarn auf dem Lechfeld vernichtend geschlagen. Seitdem ist sie ein Zeichen der Macht. Wer die Lanze besitzt, so heißt es, ist unbesiegbar.“
Cunrat schnaubte verächtlich. „Eine Lanze. Ein Stück Holz mit einer Metallspitze. Ich habe hunderte davon gesehen.“
„Nicht wie diese“, widersprach Hantz ernst. „Diese Lanze ist mehr als Holz und Metall. Sie ist ein Symbol. Ein Versprechen. Ohne sie, so flüstern die Priester, kann kein König zum Kaiser werden. Otto würde eher seine Krone verlieren als diese Lanze.“
In diesem Moment schwoll der Lärm in der Stadt an. Glocken begannen zu läuten, erst eine, dann eine zweite, bis der ganze Himmel von ihrem metallischen Klang erfüllt war. Menschen strömten aus den Häusern und drängten sich an den Straßenrändern. Rufe wurden laut: „Er kommt! Der König kommt!“
Das Trio wurde von der Menge mitgerissen. Cunrat, kleiner und wendiger als die meisten, schlüpfte zwischen den Beinen eines Bierbrauers und dem Korb einer Marktfrau hindurch und zog Affra hinter sich her. Hantz hielt sich an seiner Schulter fest, sein Gesicht der Richtung des Lärms zugewandt, ein Ausdruck höchster Konzentration auf seinen Zügen.
Sie fanden einen Platz auf den Stufen eines Hauses, von wo aus sie einen guten Blick auf die breite Straße hatten, die zur Bischofspfalz führte, wo der König residieren würde.
Und dann sahen sie ihn.
Die Prozession war ein Fest für die Augen, ein Fluss aus Farbe und Stahl. Vorneweg ritten die Bannerträger, ihre Lanzen mit den flatternden Wimpeln der großen Herzogtümer geschmückt. Dahinter die Ritter in ihren Kettenhemden, die in der Sonne blitzten wie die Schuppen eines Drachen. Ihre Gesichter waren wettergegerbt und hart, die Gesichter von Männern, die für den Krieg lebten.
Und dann, umgeben von seiner persönlichen Leibwache, ritt der König.
Otto III. war jünger, als Cunrat erwartet hatte. Ein Knabe noch, kaum älter als er selbst, mit feinen Gesichtszügen und ernsten, dunklen Augen, die über die Köpfe der johlenden Menge hinwegzusehen schienen, als suchten sie den Horizont, wo Rom lag. Er saß auf einem prächtigen weißen Hengst, sein purpurner Umhang flatterte im Wind. Er wirkte zerbrechlich und doch von einer unerschütterlichen Autorität, eine seltsame Mischung aus Kind und Herrscher.
„Er sieht aus, als würde er lieber ein Buch lesen als ein Heer führen“, flüsterte Affra.
„Täusche dich nicht“, brummte Hantz. „In diesem Kopf wohnen die Geister römischer Kaiser. Er träumt nicht von Spielzeugsoldaten, sondern von einem Reich Gottes auf Erden, regiert von ihm als Kaiser und einem Papst seiner Wahl.“
Direkt neben dem König ritt ein Priester von hoher Statur, sein Gesicht asketisch und klug. „Brun von Kärnten“, identifizierte Hantz das Geräusch der seidenen Roben. „Sein Hofkaplan. Der Mann, den er auf den Stuhl Petri setzen will.“
Ein Stück dahinter folgte eine weitere Gruppe hochrangiger Adliger. An ihrer Spitze ein junger Mann, dessen Blick eine Spur zu stolz, dessen Haltung eine Spur zu steif wirkte. Er lächelte der Menge zu, aber sein Lächeln erreichte seine wachsamen Augen nicht.
„Und das“, sagte Hantz leise, „ist Heinrich, der neue Herzog von Bayern. Sein Vater, der Zänker, hat bis zu seinem Tod versucht, Otto vom Thron zu stoßen. Der Sohn mag dem König jetzt die Treue schwören, aber das Blut des Zänkers fließt auch in seinen Adern.“
Cunrat achtete kaum auf die Gesichter. Seine Augen suchten etwas anderes. Und dann sah er sie. Getragen von einem Ritter, der direkt hinter dem König ritt, auf einem samtenen Kissen ruhend, lag eine Lanze. Sie sah nicht besonders prunkvoll aus. Der Schaft war aus dunklem, glatt poliertem Holz. Die Spitze war lang und blattförmig, aus einem Metall, das in der Sonne fahl schimmerte. Ein goldenes Band war um die Tülle gewickelt, dort, wo die Spitze auf dem Holz saß. Sie sah funktional aus, tödlich. Eine Waffe, die zum Gebrauch gemacht war.
„Da ist sie“, flüsterte Cunrat, mehr zu sich selbst.
„Ja“, bestätigte Hantz. „Der Nagel im Herzen des Reiches.“
Die Prozession zog vorbei und ließ eine Wolke aus Staub und aufgeregtem Gemurmel zurück. Die Leute begannen sich zu zerstreuen, die einen zurück zu ihrer Arbeit, die anderen, um über das Gesehene zu tratschen.
„Heute Abend gibt es ein Festmahl“, sagte Affra, und ihre Augen leuchteten bei dem Gedanken auf. „Der König speist die Armen. Es wird Fleisch geben, Cunrat! Und richtiges Brot!“
Cunrat hörte sie kaum. Sein Blick hing noch an der Stelle, wo die Lanze verschwunden war. Ein Stück Holz und Metall. Aber ein Stück Holz und Metall, das einem König mehr bedeutete als seine Krone. Ein seltsamer, kitzelnder Gedanke begann in seinem Hinterkopf Form anzunehmen, eine Mischung aus Verwegenheit und Gier. Was wäre, wenn…?
Er schüttelte den Kopf, um die törichte Idee zu vertreiben. Die Heilige Lanze stehlen? Das war kein Taschendiebstahl. Das war Selbstmord.
Sie verbrachten den Nachmittag damit, durch die Stadt zu streifen. Die Anwesenheit des königlichen Hofes hatte Regensburg verwandelt. Überall waren Soldaten. Die Gasthäuser waren überfüllt, und aus den Küchen der reichen Bürgerhäuser, in denen die Adligen untergebracht waren, strömten verlockende Düfte.
Gegen Abend, als die Schatten länger wurden, trennte sich Cunrat von seinen Freunden. Er wollte noch eine Runde über den Markt drehen, bevor das Festmahl begann, in der Hoffnung, dass die Aufregung des Tages den einen oder anderen Händler unvorsichtig gemacht hatte.
Er schlenderte durch eine der engeren Gassen hinter dem Dom, als eine Gestalt aus einem dunklen Torbogen trat und ihm den Weg versperrte. Cunrat erstarrte, seine Hand wanderte instinktiv zu dem Messer, das er in seinem Stiefel versteckt hielt.
Der Mann war von mittlerer Statur, sein Gesicht lag im Schatten einer Kapuze. Seine Kleidung war unauffällig, aber von guter Qualität – zu gut für einen Bewohner dieser Gasse. Er war kein Bettler und kein einfacher Handwerker.
„Cunrat mit den flinken Fingern?“, fragte der Mann. Seine Stimme war ruhig und kultiviert.
Cunrat sagte nichts. Er wich einen Schritt zurück, bereit zur Flucht.
„Keine Sorge“, sagte der Mann und hob besänftigend eine Hand. An einem seiner Finger blitzte ein goldener Ring. „Ich will dir nichts Böses. Im Gegenteil. Ich komme, um dir ein Angebot zu machen.“
„Ich handle nicht mit Fremden in dunklen Gassen“, erwiderte Cunrat misstrauisch.
„Das wirst du aber, wenn du hörst, was ich zu bieten habe“, sagte der Mann. Er trat einen Schritt näher ins Licht. Sein Gesicht war rasiert, seine Züge unauffällig. Er hätte jeder sein können. „Dein Ruf ist dir vorausgeeilt, Junge. Man sagt, keine Mauer ist dir zu hoch und kein Schloss vor dir sicher. Man sagt, deine Finger sind so schnell wie die Gedanken eines Dichters.“
Cunrat entspannte sich ein wenig. Schmeichelei war eine Währung, die er verstand. „Man sagt vieles. Das meiste davon sind Lügen.“
„Ich glaube nicht“, sagte der Mann. „Ich glaube, du bist genau der Richtige für eine kleine Aufgabe. Eine Aufgabe, die dir mehr Silber einbringen wird, als du in einem Jahr mit Jonglieren und dem Leeren von Taschen verdienen könntest.“
Jetzt war Cunrats Interesse geweckt. „Was für eine Aufgabe?“
Der Mann sah sich um, obwohl die Gasse leer war. „Eine heikle Aufgabe. Eine, die Diskretion erfordert. Es geht um unseren jungen König.“
Cunrat spürte einen kalten Schauer. „Ich lasse mich nicht in die Angelegenheiten von Königen verwickeln.“
„Das tust du bereits, indem du hier stehst“, sagte der Fremde sanft. „Hör zu. Der König ist jung und ungestüm. Er ist umgeben von Schmeichlern, aber seine Sicherheit wird sträflich vernachlässigt. Einige seiner treuesten Berater sind darüber in großer Sorge. Sie wollen ihm eine Lektion erteilen. Eine harmlose Lektion, die ihm zeigt, wie verwundbar er ist.“
„Und was hat das mit mir zu tun?“
„Wir möchten, dass du etwas stiehlst“, sagte der Mann direkt. „Etwas aus seinen Gemächern in der Pfalz.“
Cunrats Herz begann schneller zu schlagen. „Ihr seid verrückt.“
„Wir sind vorsichtig“, korrigierte der Mann. „Es geht nicht um den Wert des Gegenstandes. Er ist, für sich genommen, fast wertlos. Es geht um die Geste. Wenn ein einfacher Straßendieb in der Lage ist, ihm das Wertvollste zu nehmen, was er besitzt, dann wird er vielleicht verstehen, dass auch ein Mörder diesen Weg finden könnte. Du würdest dem König einen Dienst erweisen.“
Cunrat lachte bitter. „Einen Dienst, der mich an den Galgen bringt, wenn ich erwischt werde.“
„Du wirst nicht erwischt“, sagte der Mann mit Überzeugung. „Heute Abend ist das große Festmahl. Alle werden trinken und feiern. Die Wachen werden müde und unaufmerksam sein. Die Gemächer des Königs werden so gut wie unbewacht sein. Für einen Kletterkünstler wie dich ist es ein Leichtes, über die Gartenmauer zu steigen und ein offenes Fenster zu finden.“
„Welcher Gegenstand?“, fragte Cunrat, seine Gier kämpfte gegen seine Angst.
„Ein alter Speer“, sagte der Mann beiläufig. „Eine Art Talisman, den er mit sich führt. Nichts von materiellem Wert. Du nimmst ihn, bringst ihn mir und erhältst deine Belohnung. Sobald der König seine Lektion gelernt hat, wird der Speer auf mysteriöse Weise wieder auftauchen. Niemand wird je erfahren, wer ihn genommen hat.“
Ein alter Speer. Cunrats Gedanken rasten. Hantz‘ Worte hallten in seinem Kopf wider. Die Heilige Lanze. Otto würde eher seine Krone verlieren als diese Lanze.
Dieser Mann log. Entweder log er, oder er war ein Narr. Aber der Ring an seinem Finger und seine ruhige Art sprachen nicht für einen Narren.
„Warum ich?“, fragte Cunrat, um Zeit zu gewinnen.
„Weil du keinen Namen hast. Du bist ein Schatten, ein Niemand. Selbst wenn man dich beschreiben würde, würde die Beschreibung auf hundert andere Jungen in dieser Stadt passen. Du bist das perfekte Werkzeug. Unsichtbar und nach Gebrauch leicht zu entsorgen.“
Die letzten Worte gefielen Cunrat nicht, aber der erste Teil war wahr. Seine Anonymität war sein größter Schutz.
„Wieviel Silber?“, fragte er direkt.
Der Mann lächelte zum ersten Mal. Es war ein dünnes, freudloses Lächeln. Er griff in seinen Beutel und holte eine Handvoll Silbermünzen hervor. Sie schimmerten im letzten Licht des Tages. Es waren sicher zwanzig oder dreißig Stück. Cunrat hatte noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen.
„Dies ist die Hälfte“, sagte der Mann. „Für deinen Mut. Die andere Hälfte bekommst du, wenn du mir den Speer bringst. Morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, an der alten Eiche hinter dem Kloster St. Emmeram.“
Er streckte Cunrat die Münzen entgegen. Sie waren schwer und kühl. Das Gewicht der Münzen in seiner Hand war real. Es war das Versprechen auf ein neues Leben. Genug, um sich richtige Stiefel zu kaufen, genug, um sich und Affra wochenlang mit warmen Mahlzeiten zu versorgen, genug, um Hantz den besten Wein zu kaufen, den es in Regensburg gab. Genug, um für eine Weile kein Bettler, kein Dieb, kein Niemand mehr zu sein.
Seine Vernunft schrie ihn an, die Münzen wegzuwerfen und zu rennen. Hantz‘ Warnung, Affras besorgter Blick, seine eigene Angst – all das war ein lautes Getöse in seinem Kopf. Aber das kalte, schwere Versprechen in seiner Hand war lauter.
Er dachte an den jungen König, kaum älter als er, der auf einem weißen Pferd saß und von einem Reich träumte. Und er dachte an sich selbst, den Jungen im Staub, der nur von der nächsten Mahlzeit träumte. Warum sollte nicht auch er einmal nach etwas Größerem greifen?
„Gut“, sagte Cunrat und schloss seine Finger fest um das Silber. Seine Stimme klang fester, als er sich fühlte. „Ich werde es tun.“
Der Mann nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. „Ich wusste, wir können auf dich zählen. Sei vorsichtig. Aber sei vor allem erfolgreich.“
Mit diesen Worten zog er sich in den dunklen Torbogen zurück und verschwand so lautlos, wie er erschienen war.
Cunrat stand allein in der Gasse, das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. Das Silber in seinem Beutel fühlte sich plötzlich an wie ein brennendes Kohlenstück. Er hatte gerade zugestimmt, das heiligste Symbol des Reiches zu stehlen. Der harmlose Gaukler war im Begriff, den gefährlichsten Diebstahl seines Lebens zu begehen.
Er fand Affra und Hantz bereits auf dem Weg zur Pfalz, wo die Tore für das Fest geöffnet worden waren. Der Geruch von gebratenem Fleisch und Brot lag in der Luft und zog Hunderte von Armen und Hungrigen an.
„Wo warst du?“, fragte Affra vorwurfsvoll. „Ich dachte schon, du hättest dich davongemacht.“
„Ich musste nachdenken“, sagte Cunrat ausweichend. Er konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Nicht jetzt. Sie würden versuchen, ihn aufzuhalten.
Er zeigte ihnen eine der Silbermünzen. „Ein großzügiger Herr war von meiner Kunst so angetan, dass er mir dies gab.“
Affras Augen wurden groß. „Eine ganze Silbermünze?“
Hantz runzelte die Stirn. „Ein Gaukler bekommt Heller, vielleicht einen Pfennig. Aber eine Silbermünze für ein paar tanzende Steine? Dieser Herr muss entweder ein Narr oder ein Prinz sein. Oder er wollte etwas von dir.“
Cunrat wich seinem unsichtbaren, aber bohrenden Blick aus. „Er war einfach nur großzügig. Kommt, lasst uns essen. Heute Nacht sind wir reich.“
Das Fest war ein organisiertes Chaos. Lange Holztische waren im äußeren Hof der Pfalz aufgestellt worden. Diener trugen riesige Platten mit geröstetem Schwein, Haxen und Bergen von einfachem, dunklem Brot. Fässer mit dünnem Bier und Wein waren angeschlagen, und jeder konnte seinen Becher füllen, so oft er wollte.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Ein Durcheinander aus Lachen, Rülpsen, Schreien und dem Schmatzen hunderter hungriger Münder. Affra aß mit einer Hingabe, die fast religiös war, und stopfte sich die Taschen ihres ohnehin schon ausgebeulten Kleides mit Brot für später voll. Hantz aß langsamer, genoss jeden Bissen und lauschte dabei den Gesprächen um ihn herum, seine persönliche Form des Festmahls.
Cunrat aß kaum. Sein Magen war ein einziger Knoten aus Angst und Aufregung. Er trank zwei Becher des säuerlichen Weins, um sich Mut zu machen. Während die anderen aßen und tranken, bis sie kaum noch stehen konnten, studierte er die Umgebung. Er prägte sich die Positionen der Wachen ein, die gelangweilt an den Toren lehnten. Er bemerkte den Weg, der hinter den Küchengebäuden entlangführte und zu der niedrigeren Mauer des inneren Gartens führte. Er sah die offenen Fenster in den oberen Stockwerken der Pfalz, aus denen das Licht von Kerzen und das gedämpfte Lachen der adligen Gäste drang, die im Inneren ihr eigenes, weitaus feineres Fest feierten.
Die Stunden vergingen. Der Mond stieg höher an den Nachthimmel. Viele der Armen waren bereits im Vollrausch unter den Tischen eingeschlafen. Die Wachen waren träge geworden, ihre Aufmerksamkeit galt mehr den Weinkrügen als ihrer Pflicht.
Die Zeit war gekommen.
„Ich muss mal für mich sein“, murmelte Cunrat zu Affra, die schläfrig an seiner Schulter lehnte.
„Mmh“, brummte sie nur. Hantz schien zu dösen, den Kopf an die Brust gesenkt.
Leise wie ein Kater schlüpfte Cunrat von der Bank. Er hielt sich im Schatten der Gebäude und umrundete den lärmenden Hof. Niemand achtete auf ihn. Er war nur ein weiterer Straßenjunge, der sich in einer Ecke erleichtern wollte.
Er erreichte die Mauer zum inneren Garten. Sie war etwa mannshoch, aus rauem Stein gehauen, der seinen Fingern und Zehenspitzen guten Halt bot. Mit der Gewandtheit einer Eidechse zog er sich hoch, warf einen schnellen Blick über den Rand – der Garten war leer, nur das Plätschern eines kleinen Brunnens war zu hören – und ließ sich auf der anderen Seite lautlos auf den weichen Rasen fallen.
Hier war die Luft kühler, erfüllt vom Duft von Kräutern und feuchter Erde. Das laute Fest war nur noch ein fernes Dröhnen. Er stand vor der Rückseite des Hauptgebäudes der Pfalz. Lichter schienen aus mehreren Fenstern im Erdgeschoss und im ersten Stock. Er erinnerte sich an die Beschreibung des Mannes: die Gemächer des Königs. Die wären sicher im repräsentativen Teil, vermutlich im ersten Stock mit Blick auf die Stadt, nicht auf diesen stillen Garten.
Er schlich an der Wand entlang, die Finger strichen über den kalten Stein. Er suchte nach einem Weg nach oben. Ein stabiles Rankgitter für Weinreben bot sich an. Es knarrte leise unter seinem Gewicht, aber es hielt. Meter um Meter zog er sich hoch, sein Herz ein wilder Trommler in seiner Brust.
Er erreichte die Fenster des ersten Stocks. Das erste war fest verschlossen und von innen verriegelt. Das zweite ebenfalls. Doch beim dritten hatte er Glück. Es war nur angelehnt, um die kühle Nachtluft hereinzulassen.
Er lauschte. Nichts. Keine Stimmen, keine Schritte. Vorsichtig schob er das Fenster weiter auf. Es quietschte leise. Er erstarrte, zählte bis zehn. Nichts geschah. Mit einer letzten, geschmeidigen Bewegung schwang er sich über die Brüstung und landete lautlos auf dem polierten Holzboden eines dunklen Raumes.
Er befand sich in einer Art Vorzimmer. Durch das Fenster fiel genug Mondlicht, um die Umrisse von schweren Möbeln zu erkennen – ein Tisch, einige Stühle, eine große Truhe. Eine Tür führte weiter in das Gebäude hinein.
Er zog sein Messer, nicht als Waffe, sondern als Werkzeug. Die Klinge zwischen den Zähnen haltend, bewegte er sich zur Tür und lauschte erneut. Gedämpfte Geräusche drangen zu ihm durch, aber sie klangen fern. Er drückte die Klinke langsam nach unten. Die Tür war nicht verschlossen.
Der nächste Raum war größer, ein Schlafgemach. Ein riesiges Bett mit schweren Vorhängen stand an einer Wand. Kleidung lag über einen Stuhl geworfen. Auf einem Tisch standen ein Krug, ein Becher und eine brennende Öllampe, die einen kleinen, flackernden Lichtkreis warf. Der Raum war leer. Dies mussten die Gemächer des Königs sein.
Cunrats Augen suchten den Raum ab. Und da, an die Wand neben dem Bett gelehnt, als wäre sie ein einfacher Wanderstab, stand sie. Die Lanze.
Sie sah genauso aus wie am Nachmittag. Unscheinbar und doch von einer seltsamen Aura umgeben. Das goldene Band um die Tülle schimmerte im Licht der Öllampe.
Er zögerte nur einen Herzschlag lang. Jeder Instinkt schrie ihn an, umzukehren und zu fliehen. Aber das Gewicht des Silbers in seinem Beutel und das Versprechen auf mehr trieben ihn voran.
Leise überquerte er den Raum. Seine schmutzigen Füße machten keine Geräusche auf den teuren Teppichen. Er streckte die Hand aus. Der polierte Holzschaft fühlte sich kühl und glatt unter seinen Fingern an. Er war schwerer, als er aussah.
Er hob die Lanze an. In diesem Moment war er nicht mehr Cunrat der Gaukler. Er war Cunrat der Dieb. Der Dieb der Heiligen Lanze.
Mit der Waffe des Schicksals in seiner Hand drehte er sich um und schlich zurück zum Fenster, sein Herz ein wilder Vogel, der gegen seinen Brustkorb schlug. Der erste Teil war vollbracht. Der gefährlichste Teil aber lag noch vor ihm.
Der Abstieg war unendlich viel schwieriger als der Aufstieg. Die Lanze war ein unhandlicher, unmöglicher Begleiter. Cunrat versuchte, sie sich auf den Rücken zu binden, aber die Spitze verfing sich im Rankgitter, und der Schaft schlug ihm gegen die Beine. Er versuchte, sie mit einer Hand zu halten, während er sich mit der anderen abstützte, aber sein Griff war unsicher, und die Angst, das verdammte Ding auf die Steinplatten des Gartens fallen zu lassen und einen Lärm zu verursachen, der die ganze Pfalz aufwecken würde, ließ ihm kalten Schweiß auf die Stirn treten.
Schließlich fand er die einzige, wenn auch unelegante Lösung. Er umklammerte die Lanze fest, legte sich bäuchlings auf den Mauervorsprung und ließ sie vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, in die Dunkelheit der äußeren Gasse hinabgleiten, bis die Spitze leise im Dreck des Bodens steckte. Dann erst kletterte er selbst hinab, seine Finger zitterten vor Anspannung.
Für einen Moment stand er nur da, keuchend, das Herz ein wilder Trommler in seinen Ohren. Er hatte es getan. Er hatte das Allerheiligste aus dem Herzen der Macht gestohlen und war unentdeckt geblieben. Ein Gefühl von schwindelerregendem Triumph stieg in ihm auf, so stark, dass ihm für einen Moment die Knie weich wurden. Er, Cunrat, der Niemand, hatte den König bestohlen.
Er packte die Lanze, zog sie aus dem Boden und wischte die Spitze an seinem Hosenbein ab. Jetzt war sie nur noch ein Stück Holz und Metall, ein Beweisstück für ein Verbrechen, das ihn an den Galgen bringen konnte. Der Triumph wich einer kalten, klaren Angst. Er musste verschwinden.
Er hielt sich an die dunkelsten Gassen, presste sich in Nischen und Torbögen, wenn eine späte Wachenpatrouille mit klirrenden Waffen und dem Licht einer Fackel vorbeikam. Die Lanze war ein Verräter. In der Stadt war sie so fehl am Platz wie ein Priester in einem Bordell. Er hielt sie eng am Körper, versuchte, sie unter seinem Arm zu verbergen, aber sie war zu lang, zu offensichtlich. Jeder Schatten schien sich zu einer anklagenden Gestalt zu formen, jedes ferne Geräusch klang wie der Ruf von Verfolgern.
Sein Versteck war ein eingestürzter Keller unter einem ausgebrannten Lagerhaus in der Nähe der Gerbereien, ein Ort, den selbst die Ratten nur widerwillig aufsuchten. Der Gestank von Fäulnis und alter Asche war überwältigend, aber es war sicher. Er schob eine lose Steinplatte beiseite und glitt in die feuchte, kalte Dunkelheit. Dort, eingewickelt in alte, modrige Säcke, verbrachte er den Rest der Nacht, die Lanze neben sich wie einen toten Kameraden, das Ohr bei jedem Geräusch von draußen. Er schlief nicht. Sein Geist raste, malte sich abwechselnd Bilder von unermesslichem Reichtum und dem scharfen Beil des Henkers aus.
Die ersten grauen Streifen des Morgens waren eine Erlösung. Cunrat kroch aus seinem Loch, blinzelte gegen das fahle Licht. Die Stadt erwachte langsam zum Leben. Ein Bäcker schob die ersten Brote in den Ofen, ein Schmied begann, sein Feuer zu schüren. Die Luft war kühl und roch nach Rauch und feuchter Erde.
Er musste die Lanze loswerden. Der Treffpunkt war die alte Eiche hinter dem Kloster St. Emmeram, am Rande der Stadt. Es war ein weiter Weg. Er wickelte den Speer so gut es ging in einen der schmutzigen Säcke, die er im Keller gefunden hatte. Es war eine armselige Tarnung. Er sah aus wie ein Bettler, der eine lange Zeltstange transportierte. Aber es war besser als nichts.
Er erreichte die Eiche, als die Sonne gerade über die Hügel im Osten kletterte. Der Baum war ein uralter Riese, seine Äste wie knorrige Arme, die sich dem Himmel entgegenstreckten. Darunter wartete niemand.
