Curd Jürgens - Heike Specht - E-Book

Curd Jürgens E-Book

Heike Specht

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Beschreibung

Bonvivant und Querdenker Er war ein Star des deutschen Nachkriegskinos, seine Weltläufigkeit, die vielen Frauen, die glamourösen Partys waren legendär. Doch er war auch der bestbezahlte und meistbeschäftigte deutsche Schauspieler seiner Zeit und der einzige von Weltformat. Diese Biographie erzählt erstmals sein Leben zwischen Set und Jet-Set. Auf der Grundlage bislang unerschlossener Archivmaterialien und mit exklusiven Fotos. Seine erste Geliebte sei seine Arbeit gewesen, sagte Jürgens. Er spielte in fast hundert Theaterstücken und drehte während seiner fünfzig Jahre währenden Karriere in den USA und Europa 140 Filme. Aufgewachsen in München und Berlin, bleibt er nach 1933, anders als seine Familie, in Deutschland, dreht aber ausschließlich unpolitische Filme. Nach Kriegsende gelingt ihm 1955 mit Carl Zuckmayers Des Teufels General der internationale Durchbruch. Er dreht mit Yves Montand, Brigitte Bardot, Robert Mitchum. Zugleich macht sein turbulentes Privatleben Schlagzeilen. Fünfmal war er insgesamt verheiratet, er sammelte Häuser in den mondänsten Domizilen Europas, sympathisierte aber auch mit der SPD Willy Brandts und den Achtundsechzigern. Heike Specht zeichnet das widersprüchliche Leben des einzigen deutschen Weltstars fundiert und unterhaltsam nach.

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Seitenzahl: 567

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Informationen zum Buch

Bonvivant und Querdenker

Er war ein Star des deutschen Nachkriegskinos, seine Weltläufigkeit, die vielen Frauen, die glamourösen Partys waren legendär. Doch er war auch der bestbezahlte und meistbeschäftigte deutsche Schauspieler seiner Zeit und der einzige von Weltformat. Diese Biographie erzählt erstmals sein Leben zwischen Set und Jet-Set.

Seine erste Geliebte sei seine Arbeit gewesen, sagte Jürgens. Er spielte in fast hundert Theaterstücken und drehte während seiner fünfzig Jahre währenden Karriere in den USA und Europa 140 Filme. Aufgewachsen in München und Berlin, bleibt er nach 1933, anders als seine Familie, in Deutschland, dreht aber ausschließlich unpolitische Filme. Nach Kriegsende gelingt ihm 1955 mit Carl Zuckmayers Des Teufels General der internationale Durchbruch. Er dreht mit Yves Montand, Brigitte Bardot, Robert Mitchum. Zugleich macht sein turbulentes Privatleben Schlagzeilen. Fünfmal war er insgesamt verheiratet, er sammelte Häuser in den mondänsten Domizilen Europas, sympathisierte aber auch mit der SPD Willy Brandts und den Achtundsechzigern. Heike Specht zeichnet das widersprüchliche Leben des einzigen deutschen Weltstars fundiert und unterhaltsam nach.

Heike Specht

Curd Jürgens

General und Gentleman

Die Biographie

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Einleitung – Ein Mensch in eigener Regie

1. Mon Petit

Zeitenwende

Türkenvilla

2. Großstadtgetriebe

Das Jahr der Einsamkeit

Lebenshunger

3. Der Zivilist

Piefke

»Seit heute morgen ist Krieg«

Ein Handkuss für Rosa Albach-Retty

4. Conradinho

»Alles in dieser Welt schwitzt das Verbrechen aus«

Wanderjahre

Herr Burgschauspieler

5. Große Erwartungen

Sag beim Abschied leise Servus

Schwab’s Drugstore

You belong to me

6. A Star is born

Im Wirtschaftswunderland

Der andere Deutsche

Curd Jürgens gibt sich die Ehre

Ein Club mit zwei Mitgliedern

7. Jedermann

Ein-Mann-Betrieb

Solitude

Den Jahren mehr Leben

Anhang

Anmerkungen

Personenregister

Filmographie

Theatrographie

Dank

Bildteil

Über Heike Specht

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Einleitung – Ein Mensch in eigener Regie

»Film ist nix«, schrieb Curd Jürgens in einem Brief kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an seine Mutter.1 Und tatsächlich, hätte man sich in den späten vierziger und den frühen fünfziger Jahren unter seinen Kollegen, unter deutschen Regisseuren und Produzenten, aber auch unter den Kinobesuchern umgehört, hätte vermutlich kaum jemand Wetten darauf abgeschlossen, dass der Schauspieler Curd Jürgens nur wenig später das werden sollte, was der Kolumnist der Münchner Abendzeitung Hannes Obermaier einen deutschen Weltstar nannte. Der Karrieresprung, den Jürgens um die Mitte der fünfziger Jahre vollzog, kam letztlich auch für ihn unerwartet und war geradezu kometenhaft.

Dabei war er sein Leben lang ein fleißiger Arbeiter gewesen, hatte seit seinem Debüt in Willi Forsts Historienfilm Königswalzer im Jahr 1935 über 50 Filme gedreht, auch selber Regie geführt, in den Nachkriegsjahren zeitweilig eine Gastspielbühne geleitet und es unter Berthold Viertel zum angesehenen Burgschauspieler gebracht. Trotzdem schienen Hollywood, ja selbst interessante Hauptrollen in großen deutschen Produktionen zu Beginn der Adenauer-Ära außer Reichweite. Obwohl er schon als junger, gutaussehender Mann davon geträumt hatte, dicke Augenringe und einen Bauch zu haben, um endlich Charakterrollen spielen zu können, war Jürgens vor der Kamera scheinbar auf kaum komplexe Helden- oder Liebhabertypen gebucht. In der wenig innovativen Filmindustrie der Nachkriegszeit wollte sich kaum ein Produzent oder Regisseur auf Experimente einlassen.

Das Jahr 1955 sollte die Wende bringen. Drei Filme, die in diesem Jahr in die Lichtspielhäuser kamen, gingen eigene Wege, wagten es, das Publikum zu überraschen und veränderten damit Curd Jürgens’ Leben. Robert Siodmaks Verfilmung von Gerhart Hauptmanns Bühnenstück Die Ratten zeigte ganz Deutschland, dass Jürgens mehr war als ein attraktiver, hochgewachsener Mann. Yves Ciampis Antikriegsfilm Die Helden sind müde ließ ihn an der Seite der internationalen Stars María Félix und Yves Montand über Nacht zu einem gefragten Schauspieler in Frankreich werden. Helmut Käutners Zuckmayer-Verfilmung Des Teufels General schließlich machte Curd Jürgens nicht nur weltbekannt, sondern zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch zum Prototyp des guten Deutschen in Uniform.

Der Eroberungszug, den Jürgens in der Folge diesseits und jenseits des Atlantiks antrat, suchte seinesgleichen. Jürgens’ Konterfei, gern in Kombination mit dem weiblichen Ko-Star seines nächsten Filmes – Marianne Koch, Maria Schell, bald schon Brigitte Bardot und Ingrid Bergman – zierte nicht nur die Gazetten in Deutschland, sondern sehr bald auch in Frankreich, Italien, England und den Vereinigten Staaten. Jürgens, damals bereits über vierzig, avancierte zum Jugendidol, bezauberte mit seinem rauen und doch auch zärtlichen Charme Frauen in aller Welt und wurde für zahllose männliche Kinobesucher zur Identifikationsfigur. Anfang der sechziger Jahre erreichten ihn monatlich zwischen 2500 und 3500 Fanpostbriefe, ein nicht unerheblicher Anteil davon waren Liebesbriefe.2

Seine Gagen rangierten bald im sechsstelligen Bereich, wurden teilweise in Dollar ausbezahlt und ermöglichten ihm einen Lebensstil, der seine Landsleute, die zaghaft begannen, die Früchte des endlich einsetzenden Wirtschaftswunders zu genießen, sich verwundert die Augen reiben ließ, zuweilen aber auch unverhohlenen Neid provozierte. Rasch machte Curd Jürgens, mehr als von seinen Filmen, von sich selbst reden – mit seinen Domizilen in Südfrankreich, Gstaad, Wien, Paris und auf den Bahamas, seinen extravaganten Autos, seiner Vorliebe für schöne Frauen. Als seine Weltkarriere begann, war er bereits zum dritten Mal verheiratet. Die Ehe mit der ehrgeizigen ungarischen Schauspielerin Eva Bartok sorgte für Furore und einige handfeste Skandale, in deren Verlauf der Schauspieler erstmals merkte, dass der Medienrummel sich auch radikal gegen ihn wenden konnte.

Curd Jürgens war wahrscheinlich der erste deutsche Star der Klatschkolumnisten. Er versorgte die Presse mit Stoff und konnte sicher sein, dass bald jedes Kind sein Gesicht kannte. Er bekam aber auch die Launenhaftigkeit der Medien zu spüren. Überschlug sich die Presse im Jahr 1957 noch mit Meldungen, die den luxuriösen Lebensstil des Schauspielers feierten und voll Stolz verkündeten, dass der deutsche Star in Hollywood in der Villa logierte, in der Fürst Rainier von Monaco wenige Monate zuvor um Grace Kelly geworben hatte,3 überschütteten ihn die Journalisten wenige Jahre später, als er sich von einem Solinger Unternehmen einen Kasten mit goldenem Besteck als Werbemaßnahme schenken ließ, mit ätzendem Hohn und Spott. Sein offensiv zur Schau gestellter Reichtum kostete ihn vor allem in Deutschland und Österreich mehr und mehr Sympathien. Ab Mitte der sechziger Jahre, als er nicht mehr so häufig in großen Hollywoodstreifen mitwirkte und sein Filmruhm zu verblassen drohte, erregten die Statussymbole, mit denen er sich umgab, zunehmend die Missgunst seiner Landsleute.4

Das Verhältnis zwischen Curd Jürgens und den Medien blieb stets ambivalent. Die Leser der Klatschpresse wollten am Prunk und Glamour des Schauspielers teilhaben, gierten nach Neuigkeiten aus seinem Privatleben, nach Skandalen und Berichten über seinen sagenhaften Lebensstil und ereiferten sich gleichzeitig über die zur Schau gestellten Extravaganzen und Eskapaden. Jürgens gab dem Publikum, wonach es verlangte und öffnete immer wieder bereitwillig die Türen zu seinem Privatleben, regelmäßig erschienen üppig bebilderte Homestorys, die Einblick gaben in das sagenhafte Dasein des Schauspielers. Auch seine Partnerinnen kamen ausreichend zu Wort. Vor allem die Französin Simone Bicheron, ab 1958 Madame Jürgens und die Frau, die fast 15 Jahre an seiner Seite bleiben sollte, erstattete den interessierten Leserinnen in aller Welt immer wieder Bericht über ihr Leben mit dem begehrten Frauenheld und Weltstar.

Curd Jürgens – das stellt man rasch fest, wenn man darangeht, eine Biographie des Schauspielers zu schreiben – war ein Mensch mit vielen Gesichtern. Ein Mann, der unterschiedliche Rollen glänzend beherrschte. Es ist kaum möglich, das Bild, das er in der Öffentlichkeit von sich entwarf bzw. das von ihm entworfen wurde, stets trennscharf von seinem performing image als Schauspieler zu unterscheiden. Seine Filmrollen reichten hinein in sein öffentliches, zum Teil auch in sein privates Leben. Umgekehrt ließ sich sein öffentliches Image auch nicht aus seinen Filmen heraushalten. Wurde da des Teufels General in einem Pariser Nachtclub ausgelassen feiernd mit einem Glas Whiskey in der Hand abgelichtet? War das der Frauenschwarm Curd Jürgens, der mit schwarzer Bärenfellmütze als Kurier des Zaren durch die sibirische Steppe galoppierte?

Ganz bewusst pflegte Jürgens sein Image als Bonvivant, als Herzensbrecher, als Weltstar, ließ es zu, dass die Grenzen zwischen Rollenprofil und Persönlichkeit verschwammen. Zu spät erkannte er wohl, dass er als Schauspieler und auch als Privatperson einen Preis für seine enorme Popularität zahlen musste, denn er perfektionierte das Spiel der Selbstinszenierung bis zu einem Grad, an dem er, wie er selber irgendwann gestand, sich selbst kopieren musste. Das Publikum hatte gewisse Erwartungen, und Curd Jürgens zeigte sich ihm so, wie es ihn sehen wollte.5 Als eleganter Gentleman; als Homme à Femmes, immer in Begleitung einer schönen, jungen Frau; als der Verwegene, in einer Hand einen Drink, in der andern eine Zigarette; als Multimillionär, im silbergrauen Mercedes SL oder extravaganten, bananengelben Jaguar.

Das Leben Curd Jürgens’ zu beschreiben ist auch deshalb eine Herausforderung – und gleichzeitig ungemein reizvoll –, weil er in keine Schublade zu packen ist. Er war der elegante Grandseigneur und zugleich der protzende und großsprecherische Grande Gueule. Er genoss es, zu den oberen Zehntausend zu gehören, war überzeugter Rolls-Royce-Fahrer, zugleich hatte er Sympathien für die rebellierende Jugend der 68er und unterstützte Willy Brandt. Er war cleverer, knallhart kalkulierender Geschäftsmann, aber scheute sich nicht, sich zuweilen naiven Träumereien hinzugeben. Er war überzeugter Weltbürger mit österreichischem Pass und wurde in den USA Sinnbild für den guten Deutschen. Er gab sich dem oberflächlichen Jet-Set-Leben hin und war doch ein kritischer und scharfsinniger Zeitbeobachter. Liest und sieht man Interviews und Gespräche mit dem Schauspieler über die Jahrzehnte seines öffentlichen Wirkens, so konstatiert man durchaus Diskrepanzen, ja zuweilen drängt sich der Gedanke auf, Jürgens fand eine gewisse Freude daran, sein Publikum mit extremen zum Teil widersprüchlichen Positionen zu schockieren.

Wer also war dieser Curd Jürgens? Kann man diesen Tausendsassa überhaupt zu fassen bekommen? Die vorliegende Biographie nimmt Curd Jürgens im Kontext des bewegten 20.Jahrhunderts, in das er hineingeboren wurde, in den Blick. Als der Schauspieler am 13.Dezember 1915 in Solln bei München zur Welt kam, war diese gerade dabei, ihr Gesicht heftig und nachhaltig zu verändern. Der Erste Weltkrieg, der eine Phase des Wachstums und Wohlstands und eine Spanne von fast 50 Jahren des Friedens beendet hatte, tobte seit nunmehr über einem Jahr, und die Deutschen hatten die Hoffnungen auf einen raschen Sieg längst begraben. Der Hurra-Patriotismus war einem stillen Sich-ins-Schicksal-Fügen gewichen. Noch stellte kaum jemand die Reichsregierung oder gar den Kaiser in Frage, aber das Vertrauen in das bestehende politische System wurde durch den Flächenbrand doch erheblich erschüttert. Seine ersten Lebensjahre verbrachte Curd in der bayerischen Residenzstadt, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Revolution und Gegenrevolution erschüttert wurde, bis die Eltern in den frühen zwanziger Jahren nach Berlin – nun Hauptstadt eines demokratischen, republikanischen Deutschland – umzogen. Als Sohn eines wohlhabenden und weitgereisten norddeutschen Kaufmannes und einer französischen Mutter genoss er relativ unbeschwerte Teenager-Jahre im kulturell erblühenden Berlin, bis die Nationalsozialisten und ein schwerer Unfall das Leben, wie er es bis dahin gekannt hatte, ein für alle Mal beendeten.

Curd folgte 1933 nicht seiner Familie nach Spanien bzw. in die USA, sondern blieb im nationalsozialistischen Deutschland und wurde Schauspieler. Am Theater, erst in Berlin, dann in Wien, und vor der Kamera verdiente er sein Geld, erfreute sich einer gewissen Beliebtheit. Die große Karriere blieb ihm aber versagt, nicht zuletzt womöglich auch deshalb, weil er es unterließ, Rollen in braunen Propagandastreifen zu übernehmen. Auch nach 1945 arbeitete er wieder als Schauspieler und musste weitere zehn Jahre warten, bis sich doch noch der Weg in die große Welt öffnete und er die Chance zu einer atemberaubenden Karriere ergriff. In der Bundesrepublik Konrad Adenauers diente Jürgens mit seinem ausschweifenden Lebensstil als Projektionsfläche für die Träume seiner Landsleute. Die Attribute, die seinen Reichtum bezeugten –, Reisen in fremde Länder, schnelle Autos, Dolce Vita unter südlicher Sonne, der Genuss exotischer Speisen und Getränke – wurden nun, wenn auch in weit bescheidenerem Umfang, zu Statussymbolen einer immer wohlhabenderen Mittelschicht. In den sechziger und siebziger Jahren wurden die interessanten Filmangebote rarer. Dennoch verschwand Jürgens nie von der Leinwand. Zudem war er nun immer häufiger auf dem Bildschirm in den heimischen Wohnzimmern zu sehen. Wie wenige andere Stars gehörte er bis zu seinem Tod im Jahr 1982 zum festen Inventar der deutschen, österreichischen, aber auch der französischen Film- und Unterhaltungsszene, war als Schauspieler, als Chansonnier und schließlich auch als Autor nicht wegzudenken. Über einen Zeitraum von knapp 50 Jahren stand Curd Jürgens in verschiedenen Ländern auf der Bühne und vor der Kamera, spielte und drehte auf Deutsch, Französisch und Englisch.

Sieht man sich das Leben des vielbeschäftigten Schauspielers näher an, blickt man auf die Kontinuitäten und Brüche, so lassen sich einige Wegmarken, einige Themen ausmachen, die ihn besonders geprägt und beschäftigt haben. Eine Eigenschaft des Menschen Curd Jürgens, die sehr früh erkennbar wird, ist sein ausgeprägter Individualismus. Der selbstbewusste hanseatische Vater und die extravagante französische Mutter haben ihren Sohn von klein auf zu einem unabhängigen Geist erzogen, und es gelang Jürgens, diesen zu bewahren, als viele seiner Zeitgenossen Gefallen daran fanden, in der großen Masse – in einem vermeintlich privilegierten Volk – aufzugehen. Jürgens’ Abneigung gegen jeden Korpsgeist ging Hand in Hand mit seinem Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Auch dieser wurde wohl schon im Elternhaus in ihn gepflanzt und spornte ihn an, über den Tellerrand zu schauen, sich nicht mit dem Status quo abzufinden. Die wilde Entschlossenheit, seinen eigenen Weg zu gehen, hatte darüber hinaus aber auch andere biographische Ursachen. Ein Trauma in Curd Jürgens’ Leben ist zweifellos der schwere Autounfall, den er im Alter von 17 Jahren erlitten hat. Ein ganzes Jahr verbrachte der junge Mann im Krankenzimmer. Die frühe Konfrontation mit Krankheit, ja sogar mit dem Tod, die Erfahrung der Einsamkeit haben den Teenager Curd ohne Zweifel für sein Leben geprägt. Eine gravierende Folge des Unfalls – die schwere Unterleibsverletzung führte zu einer lebenslangen Zeugungsunfähigkeit – nahm darüber hinaus unmittelbar Einfluss auf Jürgens’ Lebensplanung und -gestaltung.

Sein intensiver Wunsch nach Individualität war allerdings gepaart mit einem ausgeprägten Bedürfnis, von Menschen umgeben zu sein. In seiner Autobiographie berichtet er von einem der frühesten Erlebnisse, an die er sich erinnern konnte. Er erwacht als etwa Dreijähriger aus seinem Mittagsschlaf und stellt fest, dass er allein ist. Weder Mutter noch Kinderfrau noch Schwestern sind zu sehen.6 Dieses erste bewusste Wahrnehmen des Alleinseins hat sich ihm offenbar tief eingebrannt. Der Individualist Jürgens suchte stets die Gesellschaft, liebte es, von Menschen umgeben zu sein. Hierin ist vermutlich der Grund sowohl dafür zu sehen, dass er immer eine Frau an seiner Seite hatte, deren Leben sich um ihn drehte, als auch dafür, dass er es genoss, ein volles Haus zu haben. Je mehr Gäste, desto besser, je voller die Tafel, desto schöner.

Ein weiteres Charakteristikum seiner Person, ein Motiv, das in seinem Leben immer wieder auftaucht, korrespondiert mit Jürgens’ Individualismus und Nonkonformismus. Der Schauspieler wirkt stets ein wenig aus der Zeit gefallen. Seinem Auftreten als Privatperson, als öffentliche Figur, aber auch seinen Filmrollen haftet ein Hauch von Anachronismus an. Er bleibt Zivilist, als seine Generationsgenossen in Uniform steckten. Er wirkt mit Mitte 30 schon arriviert wie ein Herr um die 50 und er erlebt mit Mitte 50 an der Seite ausgesprochen junger Frauen einen späten Frühling. Er ist im von älteren Männern dominierten deutschen Nachkriegskino zu jung für die wichtigen Rollen, für den unabhängigen Film, wie er sich in den sechziger Jahren etabliert, schon zu alt und zu sehr Star. Er inszeniert sich als Lebemann der alten Schule und gehört als internationaler Jet-Setter in Bezug auf Konsum- und Freizeitkult doch zur Avantgarde. Diese Unzeitgemäßheit machte es ihm im frühen Nachkriegskino schwer, Hauptrollen zu ergattern, passte er doch häufig nicht in das vorgegebene Schema, nach dem die Produzenten besetzten. Andererseits wirkt Curd Jürgens in den besseren seiner Filme moderner, universeller und weniger zeitverhaftet als beispielsweise ein Heinz Rühmann oder ein Rudolf Prack, die die Biederkeit der fünfziger Jahre in ihren Rollen ausstrahlten und auch später nicht ablegen konnten.

Rekonstruiert man ein Leben, so stellt sich stets die Frage, aus welchen Quellen sich das Bild der Person, deren Biographie es zu schreiben gilt, zusammensetzt. Im Fall Curd Jürgens’ haben wir das große Glück, auf einen Nachlass zurückgreifen zu können, der neben zahlreichem Material zu seinem umfangreichen Schaffen – Drehbüchern, Programmen, Geschäftskorrespondenz, Szenenfotos und dergleichen – auch einen Einblick in das private Leben des Schauspielers erlaubt. Tagebücher, die Jürgens in bestimmten Phasen seines Leben geführt hat, aber auch Briefe und Kalender ermöglichen es, hier und da einen Blick hinter die Fassade des vielbeschäftigten Stars zu werfen. Gerade in der frühen Nachkriegszeit und den späteren sechziger Jahren, in denen Jürgens in einer schweren persönlichen Krise steckte, begegnet er uns als nachdenklicher, sensibler, selbstzweifelnder, zuweilen zutiefst verletzter Mann. Curd Jürgens zitierte gern Otto von Bismarck, wenn er sagte, es gebe in seinem Leben Falten, in die lasse er niemanden hineinschauen.7 Einige wenige autobiographische Notizen, Briefe und Tagebucheinträge lassen uns erahnen, was sich in den Falten verborgen haben mochte. Es ist Curd Jürgens’ fünfter Ehefrau Margie zu verdanken, dass der Nachlass ihres Mannes nun im Archiv des Deutschen Filminstituts in Frankfurt am Main liegt und wir uns mit seiner Hilfe ein differenziertes Bild dieses deutschen Weltstars machen können. Wäre es nach Jürgens selbst gegangen, so wären sämtliche Unterlagen in Rauch aufgegangen. »Komm’, machen wir den Swimmingpool leer und eine große Party, dann verbrennen wir den ganzen Quatsch, hat er mehrfach gesagt«, erinnert sich Margie Jürgens.8

Bei einem Mann wie Curd Jürgens, der immer gut war für eine Schlagzeile, eine Skandalmeldung, aber durchaus auch ein relativ offenes, nachdenkliches Interview, ist es darüber hinaus selbstverständlich unerlässlich, sein Leben und Werk im Spiegel der medialen Berichterstattung zu betrachten. Das öffentliche Bild, das er anstrebte, das Image, das ihm zugesprochen wurde, die Träume, die die Zuschauer und Leser mit ihm verbanden, aber auch die Aversionen, die er zuweilen bei Presse und Publikum auslöste, all das muss einfließen in die Biographie des Mannes Curd Jürgens.

Schließlich liegen uns mit Curd Jürgens’ Autobiographie … und kein bisschen weise und seinem Roman Der Duft der Rebellion zwei Bücher vor, die wir als Quellen heranziehen werden. Dabei gilt es, wie bei jeder Auswertung autobiographischer Dokumente, den Schreibkontext und die Schreibabsicht im Blick zu behalten. Curd Jürgens war ein Medienprofi. Als er sich Mitte der siebziger Jahre an seine Memoiren setzte, wusste er, was die Leute von ihm erwarteten. Auch bei der Abfassung seiner Erinnerungen war er einer gewissen Imagepflege verpflichtet und bei seinem Buch … und kein bisschen weise ging die Rechnung auf. Was passierte, wenn er die Erwartungen der Medien bzw. des Publikums nicht erfüllte, sollte er, wie wir sehen werden, bei seinem zweiten Buch zu spüren bekommen.

Jürgens’ Autobiographie erschien in den siebziger Jahren in einer ganzen Welle von Prominenten-Memoiren, die vielfach hohe Auflagen erzielten. Hildegard Knefs Der geschenkte Gaul, Lilli Palmers Dicke Lilli– gutes Kind und schließlich auch Curd Jürgens’ … und kein bisschen weise wurden zu Bestsellern. Jürgens tourte im Auftrag des Verlags wochenlang durch die Republik, machte Lesungen und signierte Bücher. Auffallend an seinen Memoiren ist, dass er der Zeit seines Karrierehochs nicht das Hauptaugenmerk schenkt. Vielmehr berichtet er ausführlich von seiner Kindheit und Jugend, dem verhängnisvollen Unfall und dem langen Krankenhausaufenthalt, aber auch von seiner Zeit am Wiener Burgtheater während der Kriegsjahre.

Bemerkenswert ist außerdem die überraschende Erzählsituation, die der Autor wählt. Ursprünglich hatte Jürgens aus der Perspektive eines Patienten auf der Psychiater-Couch über sein Leben berichten wollen.9 Der Schauspieler war viele Jahre mit dem Psychoanalytiker und Aggressionsforscher Friedrich Hacker befreundet, und vermutlich hatte ihn diese Beziehung auf die Idee gebracht. Hacker stammte aus Wien, musste aber als Jude nach dem »Anschluss« Österreichs vor den Nationalsozialisten fliehen. In den Vereinigten Staaten arbeitete er als Psychiater und widmete sich mit der emigrierten »Frankfurter Schule« der Erforschung des »autoritären Charakters«. In Wien gründete er 1968 die Sigmund-Freud-Gesellschaft und knappe zehn Jahre später das Institut für Konfliktforschung. Jürgens hatte Hacker als Patient kennengelernt, dann wurden die beiden enge Freunde fürs Leben. Angeregt durch den renommierten Psychiater, beschäftigte sich der Schauspieler mit den Lehren Sigmund Freuds, Alfred Adlers, Wilhelm Reichs und C.G.Jungs.

Tatsächlich hat Jürgens’ Autobiographie zuweilen den Charakter einer psychoanalytischen Sitzung, nur dass er sich nicht einem Arzt öffnet, sondern sein Leben vor einer Toten ausbreitet. Am 5.Juni 1974 starb Curd Jürgens’ Freundin, die Ägypterin Mathilda Mizart, während eines Besuches in Südfrankreich bei einem Autounfall im Jeep des Schauspielers. Jürgens selbst war zum Zeitpunkt des Unglücks bei Dreharbeiten in Wien. Mathilda und Curd waren erst seit wenigen Wochen ein Paar gewesen, aber Jürgens, mehr als doppelt so alt wie die junge Frau, hatte dennoch, so berichtet er zumindest in seinen Memoiren, bereits Hochzeitspläne gehegt. Mathildas Tod traf Jürgens schwer und stürzte ihn in eine Phase voller Grübeleien und dunkler Gedanken. Gleichzeitig schien ihm das Adressieren einer Toten, die ihn im Grunde wenig gekannt und nur eine kurze Zeit an seiner Seite verbracht hat, geeignet, um das Gespräch über sein Leben aufzunehmen. Jürgens beginnt seine Memoiren mit Mathildas Beerdigung und offenbart im ersten Satz des zweiten Kapitels: »Ich liebe dich, Mathilda.«10 Man wundert sich ein wenig über den 60-Jährigen, der hier mit einiger Inbrunst, in einem Zustand scheinbar naiver Verliebtheit und Schwärmerei eine junge Frau Mitte zwanzig seiner Liebe versichert, ihr ein Leben erzählt, das aus ihrer Sicht das ihres Vaters, ja sogar ihres Großvaters sein konnte. Zuweilen berühren einige Textstellen auch etwas peinlich, z.B. wenn Jürgens Intimitäten preisgibt, den Leser einen recht unverhüllten Blick in sein Schlafzimmer werfen lässt und ihn mit seinen Versagensängsten als Mann konfrontiert.11

Das Erzählen für Mathilda, das ist an dieser Stelle zu konstatieren, ist letztlich ein Kunstgriff. Der Tod der jungen Frau schuf einen Erzählanlass, der es dem Autor ermöglichte, über sein Leben zu berichten. »Als Mathilda starb«, so Jürgens zum Erscheinen seines Buches im Stern, »habe ich das in komödiantischer Koketterie als Einschnitt in mein Leben betrachtet und als Vorwand benutzt – jetzt konnte ich erzählen.«12 Die Tatsache, dass er einer Toten die Beichte ablegte, wie der Verlag das Buch im Klappentext anpries, dass er sich in einen vermeintlichen Dialog »mit der intimen Offenheit zweier Liebenden« begab, verschaffte ihm ein gehöriges Maß an Freiheit beim Erzählen. Immer wieder kommt Mathilda zwar zu Wort, kommentiert sie sein Tun, hinterfragt sie seine Motive und Absichten, aber am Ende handelt es sich natürlich immer um Jürgens, der in die Rolle der jungen Frau schlüpft. Das gibt der Autor unumwunden zu, wenn er mit provozierender Direktheit schreibt: »Und schon bin ich dabei, dein Leben in die Hand zu nehmen: es zu deformieren, es zu dramatisieren, mich in den Mittelpunkt zu setzen oder mich in pathetischer Bescheidenheit hinter dir zu verstecken, je nachdem, wie’s gebraucht wird. Dein süßes, strahlendes Leben wird zum Requisit der Rolle, die ich mir insceniere.«13 Die auf Mathilda gerichtete Erzählperspektive ist dennoch reizvoll, berichtet hier doch nicht nur ein Mann um die sechzig einer jungen Frau aus seinem Leben, sondern auch ein Deutscher, der im Zweiten Weltkrieg bereits erwachsen war, einer jungen Ägypterin mit jüdischen Wurzeln.

Und Jürgens kreiert noch eine weitere Figur, die vermeintlich mit ihm um Deutungshoheit streitet. Der zynische Wegbegleiter, der Todfeind, der »Analytiker meiner Gefühle, der Bremsklotz meiner Spontanität«, der Jürgens angeblich durchs Leben begleitet, taucht auch im Buch immer wieder auf, sitzt dem Autor im Nacken, gibt bissige Kommentare von sich, stellt in Frage und soll dem Autor gleichzeitig sein Bemühen um Aufrichtigkeit, sein ehrliches Streben nach Authentizität bescheinigen.

Hätte er die Patient-Psychiater-Perspektive beim Niederschreiben seiner Memoiren eingenommen, hätte Curd Jürgens vermutlich hier und da noch genauer hinsehen müssen. Mit Friedrich Hacker im Hinterkopf wäre es ihm vielleicht schwerer gefallen, manche Rollen, die er auch als Autor spielt, durchzuhalten. Der Psychiater kannte Curd Jürgens vermutlich wie kaum ein anderer. »Unermüdlich«, erinnert sich Hacker an seinen Freund Curd, »und mit nahezu unheimlichem Geschick arbeitete er an seinem öffentlichen Bild, oder besser an seinen verschiedenen Images«.14 Dies eingedenk, stellen Curd Jürgens’ Memoiren eine wertvolle Quelle dar, und zwar in doppelter Hinsicht: Als Sammelsurium für Informationen zu seinem Leben und als Mittel zur Selbstdarstellung. Friedrich Hacker staunte über Curd Jürgens’ vielfältige, zum Teil widersprüchliche Images und vermochte doch, den Menschen hinter den vielen verschiedenen Rollen, die er einnahm, zu erkennen: »ein mit sich ringender Mensch, der wirklich sehr exponiert ist, vielleicht auch deshalb, weil er sich selbst exponiert. Er ist ein Mensch in eigener Regie.«15

1. Mon Petit

Zeitenwende

Man saß, die Herren im Smoking, die Damen in Abendrobe, an langen Tafeln, speiste die erlesensten Gerichte von feinstem Porzellan. Auf den gestärkten weißen Tischtüchern funkelten die geschliffenen Gläser mit dunklem, schwerem Rotwein, das goldene Besteck glänzte frisch poliert neben den makellos gefalteten Servietten. Hilfreiche Geister füllten lautlos Gläser nach, räumten ab, brachten immer wieder neue Schüsseln und Platten, erfüllten jeden Wunsch. Die Menüreihenfolge war bis ins kleinste Detail geplant, die Blumenarrangements üppig, die Kandelaber sorgsam geputzt. Nichts wurde bei diesen Anlässen dem Zufall überlassen, alles folgte einer wohlüberlegten Choreographie, die durch die sachverständige Routine aller Beteiligten nur noch deutlicher zutage trat. Am Kopfende des Tisches saß der Hausherr, groß, stattlich, souverän mit der Dame an seiner Seite plaudernd oder laut dröhnend und theatralisch Anekdoten zum besten gebend.

Wenn Curd Jürgens eines seiner berühmten Diners in seiner Villa am südfranzösischen Cap Ferrat gab, spielte er seine über die Jahrzehnte wohl beständigste und vielleicht auch beliebteste Rolle – die des perfekten Gastgebers. Er entwickelte größten Ehrgeiz darin, seinen Gästen einen unvergesslichen Abend zu bereiten, verwöhnte sie mit Köstlichkeiten, teuersten Tropfen, für ihr leibliches Wohl war ihm kaum etwas zu teuer, zu extravagant. Dass der berühmte Schauspieler bei der Gelegenheit allen Anwesenden zeigen konnte, dass er selbst das schönste Haus, die bezauberndste Frau, den besten Koch und ganz nebenbei auch den erlesensten Geschmack hatte, war sicher eine ebenso starke Motivation wie das Bedürfnis, Freunde und Bekannte um sich zu haben, sie an seinem Reichtum und Luxus teilhaben zu lassen. Wenn Curd Jürgens sich die Ehre gab, kamen sie alle, vom frisch entdeckten Filmsternchen bis zum berühmten Hollywoodstar, vom schwerreichen Unternehmer bis zur jet-settenden Aristokratin.

Ob in seinem Schloss-ähnlichen Anwesen am Cap Ferrat, später in Vence, in seinem Chalet in Gstaad, seiner Wohnung mitten in der Wiener Altstadt oder seinem Traumhaus auf den Bahamas, Curd Jürgens war bestrebt, seinen Gästen, aber auch sich selbst einen unvergesslichen Abend zu bereiten. Seine Häuser stattete er mit reichlich Zimmern aus, in denen er großzügig Gäste beherbergte. Mal für ein Wochenende, manchmal auch für mehrere Wochen oder Monate. Seine vierte Ehefrau Simone meinte, dass ihrem Mann mehr an seinem Ruf als grandioser Gastgeber gelegen war, als an seinem Schauspielerruhm. Gleich einem Fürsten habe Jürgens stets an seinen Festtafeln gethront.16

Die Vorliebe für luxuriöse, ausschweifende Feste und Diners ist zweifellos ein Familienerbe. Als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns aus Hamburg und einer Französin vom Südufer des Genfer Sees ist Curd Jürgens in einem kosmopolitischen, großbürgerlichen Haus aufgewachsen. Die Familie seines Vaters stammte aus Schleswig-Holstein, das bis zum Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 Teil des Dänischen Königreiches war. Jürgens’ Urgroßvater siedelte nach Hamburg über, und der Familie gelang in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts der Sprung ins gehobene Wirtschaftsbürgertum der Stadt. Hatte es der Urgroßvater noch als Fleischer zu einigem Wohlstand gebracht, schaffte dessen Sohn den Schritt vom Handwerk zum bürgerlichen Büroberuf und wurde Bankier. Des Großvaters Söhne wiederum waren Kaufmänner, Fabrikanten und Notare in Norddeutschland.17

Ein wenig lesen sich die Passagen über sein Elternhaus in Curd Jürgens’ Memoiren … und kein bisschen weise wie Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Sein Vater Kurt und seine Mutter Marie-Albertine Noir lernten sich im St. Petersburg der Zarenzeit kennen. Kurt Jürgens betrieb ein florierendes Geschäft mit Produkten aus Zentralasien, vornehmlich Kaviar, verkehrte in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen der Stadt und sprach fließend Russisch. Marie-Albertine verbrachte einige Jahre bei einer wohlhabenden Familie als private Französischlehrerin. Was die Mutter bewogen hatte, ihre Heimat zu verlassen und nach St. Petersburg zu ziehen – ein für eine junge Frau aus bürgerlicher Familie um die Jahrhundertwende doch eher ungewöhnlicher Schritt –, erfahren wir leider nicht. Mit Kurt Jürgens machte Marie-Albertine, genannt Moussia, allerdings zweifellos einen guten Fang, entpuppte sich der Deutsche doch als geschickter und vom Erfolg verwöhnter Kaufmann.

Das Ehepaar Jürgens pflegte fernab der Heimat einen großbürgerlichen Lebensstil. Die Geschäfte liefen gut. Dennoch brach die Familie ihre Zelte in Russland vor Curds Geburt ab. Wann genau das Ehepaar Jürgens zurück nach Deutschland ging, ließ sich nicht ermitteln, klar ist aber, dass Curds Schwestern, die Zwillinge Marguerite und Jeannette, bei einer Europareise der Eltern 1909 im schweizerischen Luzern zur Welt kamen. Möglicherweise hatte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs etwas mit der Rückkehr der Familie zu tun. Als am 28.Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajewo durch die Schüsse eines serbischen Separatisten starben und nur wenige Wochen später, am 1. August, Kaiser Wilhelm II. die Mobilmachung anordnete und Russland den Krieg erklärte, wurde die Situation für deutsche Staatsangehörige im Zarenreich brisant. Waren sie bis dahin wohlgelittene Gäste gewesen, die das russische Wirtschaftsleben in einigen Sektoren auf willkommene Weise in Schwung gebracht hatten, wurden sie nun über Nacht zu feindlichen Ausländern erklärt. Nicht wenige Deutsche ließen während der ungewissen Wochen der Juli-Krise und der Zeit unmittelbar nach Kriegsbeginn nichts unversucht, um ihre Familie und ihr Vermögen aus dem Russischen Reich zu retten.

Falls Kurt und Moussia Jürgens das Zarenreich kriegsbedingt verlassen mussten, so blieben sie dem Land dennoch auch nach 1914 eng verbunden. Russland und Zentralasien standen weiterhin im Fokus der geschäftlichen Interessen des umtriebigen Kaufmanns. Kurt Jürgens reiste auch in späteren Jahren, als die Familie längst ihren Wohnort ins bayerische Solln, später nach Berlin verlegt hatte, regelmäßig ans Schwarze und ans Kaspische Meer. Curd Jürgens’ Elternhaus war auf vielfältige Weise durch den langen Aufenthalt des Vaters und der Mutter im zaristischen Russland geprägt. Die Eltern hielten viel auf Gastfreundschaft, feierten mit reichlich Kaviar und Krimsekt auch in den zwanziger Jahren rauschende Feste, die eher in ein Palais in St. Petersburg als in das Berlin der Weimarer Jahre passten.

Curd Gustav Andreas Gottlieb Franz Jürgens kam am 13.Dezember 1915 in Solln bei München zur Welt. Längst war am Ende des zweiten Kriegsjahres klar, dass dieser Waffengang nicht so schnell entschieden sein würde, wie viele dies noch im August 1914 gehofft hatten. Mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 hatte dieser Krieg, der als Großer Krieg in die Geschichtsbücher eingehen sollte, nicht viel zu tun. Das Jahr 1915 hatte zunächst einige Erfolge an der Ostfront gebracht. Aber noch immer waren die deutschen Truppen dort gebunden und konnten nicht nach Westen verlagert werden. Im deutsch-französischen Grenzgebiet und in Belgien lagen sich deutsche und französische Soldaten seit vielen Monaten in Gräben verschanzt gegenüber. Im April des Jahres 1915 hatten die Deutschen bei Ypern in Flandern erstmals Chlorgas eingesetzt. Tausende alliierter Soldaten hatte dieser Giftgasangriff das Leben gekostet. Dieser Krieg setzte neue Maßstäbe, nicht nur was seine Reichweite betraf, sondern auch im Hinblick auf die Grausamkeiten, die er für alle Beteiligten bereithielt. Noch stand der politische Burgfrieden aller Reichstagsparteien, doch die SPD brachte im Herbst 1915 eine »Friedensinterpellation« ein, die klären sollte, unter welchen Bedingungen Deutschland zu Friedensverhandlungen bereit wäre.

Auch das alltägliche Leben der Daheimgebliebenen, der Zivilisten, wurde mehr und mehr durch den Krieg geprägt. Die Preise für Brot, Getreide, Butter und Kartoffeln stiegen stetig, was zu Protesten und Demonstrationen führte. Wie oft in Kriegszeiten mussten nun, da die Familienväter an der Front waren, zu Hause die Frauen das Ruder übernehmen. Vor allem sie gingen nun auf die Straße und forderten eine bessere Versorgung. Es ist kein Zufall, dass die Frauenemanzipation in den Jahren des Ersten Weltkriegs einen entscheidenden Schub erhielt. Auch in Curd Jürgens’ Leben scheinen die ersten Jahre offenbar vor allem von den Frauen seines engeren Umfeldes – seiner Mutter, seinen älteren Schwestern, seiner Tante und der Kinderfrau – geprägt gewesen zu sein. Aber anders als bei vielen seiner Generation war dies nicht dem Umstand geschuldet, dass der Vater im Krieg gewesen wäre. Kurt Jürgens war bereits zu alt für den Frontdienst, als erfolgreicher Kaufmann aber war der Vater geschäftlich viel unterwegs. Bedenkt man die Weltgegenden, mit denen er Handel trieb, und die Tatsache, dass das schnellste Fortbewegungsmittel in jenen Jahren die Eisenbahn war, so wird klar, dass seine Reisen oftmals eher Expeditionen waren, die ihn zuweilen monatelang von der Familie fernhielten. In dieser Zeit war Nesthäkchen Curd der umsorgte kleine Hahn im Korb im Frauenhaushalt Jürgens. Die lebenslustige Mutter war in den ersten Lebensjahren des Kindes ohne Zweifel die wichtigste Bezugsperson. Seine Mutter, angetan in ihrer eierschalenfarbenen Tunika, gut gelaunt in ihrem üppigen, von Jasminranken gesäumten Ziergarten stehend – das war eine von Curd Jürgens’ frühesten und liebsten Erinnerungen: »Ein Gefühl unendlicher Geborgenheit umfing mich, wenn sie mich in diesem Kleid in die Arme nahm.«18

Die Feststellung, dass Curd Jürgens’ Vater im sogenannten Großen Krieg nicht »diente«, ist von einiger Bedeutung. Dem Vater haftet in Curd Jürgens’ Memoiren so gar nichts Militärisches an. Nichts vom damals so verbreiteten Hurra-Patriotismus, von Säbelrasseln, preußischer Zackigkeit ist an der Beschreibung seiner Person auszumachen. Vermutlich war der Ausbruch des Krieges für den gut vernetzten Geschäftsmann zunächst einmal in erster Linie eine Beeinträchtigung seiner Geschäfte, und als weitgereister hanseatischer Kaufmann war ihm engstirniger Nationalismus vermutlich ohnehin wesensfremd. Hinzu kam, dass Kurt Jürgens mit einer Französin verheiratet war. In einer Zeit, als im hochgerüsteten Deutschen Reich der linksrheinische Nachbar und vermeintliche Erbfeind leidenschaftlicher gehasst wurde als je zuvor, stellte die multikulturelle und bilinguale Familie Jürgens sicher eine exotische Ausnahme dar. Das Vorbild des Vaters war in dieser Hinsicht, wie wir später sehen werden, zweifellos prägend. Mochte das Kriegerische in Curds Kindheit noch so gegenwärtig sein, sein frühestes und wichtigstes männliches Leitbild blieb Zivilist. Fotos vom Vater in Feldgrau, mit glänzenden Orden oder Pickelhaube, sucht man in den Alben der Familie Jürgens vergeblich.

Der Erste Weltkrieg spielt in Curd Jürgens’ Memoiren keine Rolle. Nur einmal blitzen in seinen Erinnerungen die chaotischen Zustände der unmittelbaren Nachkriegszeit auf. Seine ersten Lebensjahre verbrachte Curd in Solln bei München, wo in den Monaten nach Kriegsende die bisherige Ordnung auf dramatische Weise auf den Kopf gestellt wurde. Als erster deutscher Monarch war am 7. November der bayerische König Ludwig III. aus der Residenzstadt geflohen und hatte sich nach Österreich abgesetzt. An seiner Stelle übernahm ein aus Berlin stammender Journalist die Regierungsgeschäfte. Die Bayern rieben sich ungläubig die Augen. Kurt Eisner war das, was viele Münchner verächtlich einen Kaffeehaus-Literaten nannten, und er wurde von vielen Bayern nicht nur als Preuße gehasst, sondern von vielen auch aufgrund seiner jüdischen Abstammung verachtet. Misstrauisch beäugte man den Mann, der mit seinem wirren Bart und der grauen Mähne aussah wie ein biblischer Prophet. Sein Ziel, Bayern in eine demokratische und soziale Republik umzubauen, scheiterte denn auch kläglich, denn diese erste freie, demokratische Wahl wurde für den Mann, der mehr idealistischer Intellektueller als pragmatischer Politiker war, zum Debakel. Seine Partei, die unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), erlangte nicht einmal drei Prozent der Stimmen, woraufhin Eisner beschloss, bei der eröffnenden Sitzung des Landtages am 21.Februar 1919 seinen Rücktritt bekannt zu geben. Dazu kam es jedoch nicht, weil der erste bayerische Ministerpräsident auf dem Weg zum Landtag von dem eben aus der Armee entlassenen Leutnant der Kavallerie Anton Graf von Arco-Valley erschossen wurde. Arco-Valley bewegte sich in rechtsnational-revanchistischen Kreisen und stand der völkisch-antisemitischen Thule-Gesellschaft nahe.

Am Tag der Ermordung Eisners kam es im Parlament außerdem zu einer brutalen Schießerei, bei der der Vorsitzende der SPD, die bei den Wahlen die zweitstärkste Kraft geworden war, schwer verletzt wurde. Panikartig flüchteten die Abgeordneten. In diesem politischen Chaos installierte sich eine Gruppe von Intellektuellen um den Anarchisten und Pazifisten Gustav Landauer sowie die Schriftsteller Erich Mühsam und Ernst Toller und gründete einen sozialistischen Zentralrat. Dessen ungeachtet tagte im März auch wieder der Bayerische Landtag und wählte den Sozialdemokraten Johannes Hoffmann zum Ministerpräsidenten. Für einige Monate existierten zwei Regierungen, eine bayerische Räterepublik, deren Macht allerdings kaum über München hinausreichte, und Johannes Hoffmann und seine Mehrheitssozialdemokraten, die sich inzwischen im oberfränkischen Bamberg eingerichtet hatten.

Das Frühjahr 1919 wurde von vielen Münchnern als verwirrend und gefährlich empfunden. Die alte Ordnung war dahin, der Machtkampf um die neue noch nicht entschieden. Die Straßen waren unsicher, unzählige aus dem Feld zurückkehrende Soldaten schlossen sich linksrevolutionären, aber auch rechtsgerichteten, paramilitärischen Bünden an. Demonstrationen, Straßenkämpfe und Saalschlachten gehörten bald zum Alltag.

Das agrarisch und konservativ geprägte, eher behäbige Land geriet in einen Strudel dramatischer Ereignisse von Revolution und Gegenrevolution, der vor allem die Residenzstadt München nachhaltig verändern sollte. Der anarchistisch-pazifistische Zentralrat um die Intellektuellen Landauer, Mühsam und Toller wurde im April ersetzt durch Männer, die sich stärker am russischen Vorbild orientierten und einen Münchner Sowjet bildeten. Die Führung übernahmen die Kommunisten Eugen Leviné, Max Levien und Towia Axelrod. Hatte das neue System in München schon kaum Freunde, so schlug ihm in der bayerischen Provinz völlige Ablehnung entgegen. Auch die Reichsregierung in Berlin war alarmiert. Währenddessen spitzte sich die Lage in München zu. Lebensmittel wurden knapp, denn die Bauern, die mit der Revolution so gar nichts am Hut hatten, sorgten für eine Blockade. Vor allem an Milch fehlte es. Schon kursierten Schauergeschichten von hungernden Kindern.19

In diesen unruhigen Zeiten bekam die Familie Jürgens Besuch. Der Schauspieler beschreibt in seiner Autobiographie, wie eines Nachmittags drei uniformierte Männer Sturm läuteten und eine Hausdurchsuchung machten. »Maman und Tante Alice erschienen in der Halle. (…) ›Je vous en prie, Messieurs, entrez‹, sagte Maman, als ob sie niemals Deutsch gehört hätte. Der dritte, der schon am Treppenabsatz stand, kam zurück und sah meine Mutter und meine Tante an wie einen Tandlerstand auf der Auer Dult.«20

Die Uniformierten stellten sich als Ortskommando des Spartakus vor und teilten mit, dass Nachbarn der Familie Jürgens Informationen geliefert hätten, dass in ihrem Haus Nahrungsmittel gehortet würden. »Maman, die natürlich jedes Wort verstand, tat so, als kämen liebe Freunde zum Tee: ›Spartacus? Oh, enchantée, Messieurs. Darf ich Ihnen etwas anbieten?‹« Die Mutter führte die Herren durch die zahlreichen Räume und bugsierte sie nach einiger Zeit charmant vor sich hin plaudernd an der letzten Tür des Korridors vorbei zur Haustür. »Und schon komplimentierte sie den verlegenen Stoßtrupp zur Haustür hinaus. Noch einen Augenblick atemloser Spannung, endlich hören wir das Starten des Panzerautos. Maman schaut zu Liesl, dann zu Tante Alice und geht (ich immer noch meine Hand in die Falten ihres Kimonos verkrallt) zurück zum Korridor. Bleibt vor der Tür stehen, die nicht geöffnet werden mußte, da Maman – wohlberechnet! – genau vor ihr durch ihr deutsches Kauderwelsch die Aufmerksamkeit der Besucher abgelenkt hatte.« Die Mutter zieht den Schlüsselbund hervor und öffnet die Tür zur kleinen Schatzkammer, in der die kluge Hausfrau seit Wochen Schinken, Kaffee und Kernseife gebunkert hatte.21

Für Curd Jürgens ist diese Episode seiner frühen Kindheit verknüpft mit dem erstmaligen bewussten Wahrnehmen des Gefühls der Angst. Gleichzeitig fand der kleine Junge die Hausdurchsuchung, das Vorfahren des gepanzerten Wagens und das Erscheinen der drei Uniformierten vermutlich spannend. Die Geschichte, wie Moussia Jürgens die Soldaten der Münchner Räterepublik an der Nase herumgeführt hat, ging jedenfalls in die Annalen der Familie ein. Immer wieder lobte der Vater, der wenig später von einer Geschäftsreise in den Weiberhaushalt zurückkehrte, die Chuzpe seiner Frau.

Außerhalb Münchens wurde der Widerstand gegen das kommunistische Experiment von Tag zu Tag stärker. Bürgerwehren und paramilitärische Gruppen sammelten sich. In sogenannten Freikorps taten sich demobilisierte Soldaten zusammen, um gegen den Münchner Sowjet loszuschlagen. Unterstützt wurden diese dubiosen, zum Teil revanchistischen, antisemitischen und völkischen Gruppen beim Kampf gegen den »roten Feind« von der Reichswehr. Die Räterepublik antwortete auf die Bedrohung mit der Bildung einer Roten Armee, bestehend ebenfalls aus entlassenen Soldaten und radikalen Gewerkschaftlern. Der vereinten Schlagkraft der zahlreichen Freikorps und einiger Verbände der Reichswehr, die Reichswehrminister Gustav Noske auf Bitten des sich im Bamberger Exil befindlichen bayerischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann entsandte, konnte die Bayerische Rote Armee aber dauerhaft nicht standhalten. Einige Tage währte der blutige Kampf der Revolutionäre gegen die Konterrevolutionäre und endete schließlich mit dem Einmarsch der Weißen in die Stadt an der Isar.22

Nach und nach kehrte man in der bayerischen Residenzstadt zum Alltag zurück und mit dem Ende der bäuerlichen Blockade gegen das »Rote München« besserte sich auch die wirtschaftliche Situation der Münchnerinnen und Münchner wieder. Nach den Ereignissen der vergangenen Monate, die zuweilen karnevalesk und komisch angemutet hatten, zuweilen aber auch schlicht brutal und gefährlich gewesen waren, sehnte man sich nach Ruhe und Ordnung. Und oberflächlich betrachtet, kehrte das Land zu einer Art Normalität zurück. Doch sosehr man auch die Münchner Gemütlichkeit beschwor, die tiefe Verunsicherung durch den verlorenen Krieg, das abrupte Ende des alten Systems, die drastische Agitation linksextremistischer, aber auch nationalistischer und revisionistischer Gruppen und schließlich der blutige Kampf der Roten gegen die Weißen, hatten München aufgewühlt, verstört und verändert.23

Von den verhängnisvollen politischen und sozialen Umwälzungen, aber auch den schleichenden atmosphärischen Veränderungen im Bayern der Nachkriegsjahre ist in Curd Jürgens’ Memoiren wenig zu spüren. Seine frühe Kindheit in der geräumigen Jugendstilvilla, genannt La Bessonière, im Süden Münchens erscheint idyllisch und wohlbehütet – Weltkrieg und anschließender Revolution zum Trotz. Tatsächlich trieb Curds Vater bereits kurz nach Kriegsende schon wieder Handel mit Russland, wo die alten Machthaber auf ungleich dramatischere Weise durch neue ersetzt worden waren als in Deutschland. Aber auch in der nun bolschewistischen Sowjetunion ließen sich Geschäfte machen. Kurt Jürgens importierte allerhand Produkte aus dem ehemaligen Zarenreich, hauptsächlich Getreide.24

Auf Krieg und Revolution in Deutschland jedoch folgten Jahre der Inflation. Die Entscheidung der Berliner Regierung, die Geldmenge zu erhöhen, um die enormen Kriegsschulden zu bewältigen, hatte verheerende Folgen. Man konnte förmlich zusehen, wie das Ersparte an Wert verlor. Während der Hyperinflation 1923 stiegen die Preise für Produkte des täglichen Bedarfs wie Milch, Butter oder Briefmarken auf aberwitzige Millionenbeträge. Der kleine Curd bekam, so erinnert er sich, für ein Stück Alteisen, das er auf der Straße gefunden hatte, beeindruckende zwei Milliarden Mark bezahlt. Die Enttäuschung, die das Kind erlebte, als es im Laden um die Ecke für die astronomisch hohe Summe lediglich fünf Bonbons erstehen konnte, lässt sich leicht ausmalen.25

Ein Jahr nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik wurde Curd in Solln eingeschult, denn zunächst scheinen Kurt Jürgens’ Geschäfte einigermaßen erträglich gewesen zu sein. Die Hyperinflation konnte aber auch an ihm nicht spurlos vorübergehen. Die Geldanlagen und Ersparnisse des Kaufmannes verloren rasant an Wert. Im Jahr 1924 suchte Kurt Jürgens für seine Familie ein neues Zuhause in Berlin. Möglicherweise waren die wirtschaftlichen Einbußen und die Tatsache, dass das Vermögen mehr und mehr dahinschmolz, der Hauptgrund, nach Berlin zu ziehen. Denkbar aber auch, dass Kurt und Moussia Jürgens das politische und gesellschaftliche Klima in Bayern zunehmend missfiel. Aus der liberalen, gemütlichen, kunstliebenden Stadt an der Isar war in den Jahren nach dem Krieg ein Sammelbecken anti-moderner, antidemokratischer, antisemitischer und rassistischer Strömungen geworden. Im Zuge des Kapp-Putsches war es auch in München zum Generalstreik gekommen. Diesen wiederum nutzten erzkonservative Kräfte, um die sozialdemokratische Regierung um Johannes Hoffmann zu Fall zu bringen. Ihm folgte der BVP-Politiker Gustav von Kahr als neuer bayerischer Ministerpräsident. Unter von Kahr, dessen erklärtes Ziel es war, Bayern zu einer »Ordnungszelle« auszubauen, folgte auf die atmosphärischen Verwandlung in der Stadt nun auch der strukturelle Umbau des Staates. Die offizielle bayerische Politik bekam immer reaktionärere Züge.26 Antidemokratische, antisemitische und völkische Gruppierungen konnten fortan darauf vertrauen, dass der Staat das rechte Auge zudrückte. In diesem Klima gelang es einem Mann und seiner Partei, emporzusteigen, die das Schicksal Deutschlands und der Welt nur zehn Jahre später aufs grausamste prägen sollten – Adolf Hitler und der NSDAP. Wenige Monate bevor die Familie Jürgens Bayern verließ, scheiterte der Putsch des ehemaligen Kunstmalers und Weltkriegsveteranen kläglich. Sein Marsch nach Berlin kam im November 1923 nur bis zur Feldherrnhalle. Auch wenn der Hitler-Putsch grotesk in sich zusammengebrochen war, er hatte doch vielen liberal gesinnten Bürgern der Stadt auf einen Schlag klargemacht, dass Münchens Gesicht sich für immer verändert hatte. Hitler selbst landete zwar in Festungshaft in Landsberg, aber die radikalisierte Stimmung in der Stadt war nicht mehr zu ignorieren. Nicht wenige Intellektuelle und Künstler verließen München in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, unter ihnen Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht, und ließen sich im weltoffenen und modernen Berlin nieder.

Türkenvilla

Im Jahr 1924 also zog die Familie Jürgens nach Berlin Steglitz um. Curd hatte wohl zunächst Mühe mit dem Umzug, machten sich seine Klassenkameraden doch wegen seines bayerischen Dialekts lustig über ihn. Auch war das neue Zuhause in Steglitz weit weniger imposant und großzügig als das bisherige Domizil der Familie in Solln. Offenbar gelang es aber Curds Vater rasch, die während der Hyperinflation erlittenen Verluste wieder wettzumachen. Er spekulierte erfolgreich an der Börse. Außerdem konnte er einen weitreichenden Handelsvertrag mit der Sowjetunion abschließen. Exklusiv importierte er nun Kaviar und Gefrierfisch aus dem riesigen Reich. Für Curd und seine Schwestern war der Anblick großzügig gefüllter Kaviarschalen auf dem Abendbrottisch nichts Ungewöhnliches. »Wir Kinder bekommen bei jeder Gelegenheit Kaviar und haben keine Ahnung, daß es eine Luxusdelikatesse ist. Wir kombinieren es nur, weil er (der Vater, H.S.) manchmal, wenn als ›Sakuska‹ Heringe serviert werden, zu sagen pflegt: ›Wenn es so wenige Heringe gäbe wie Kaviar, wären Heringe die teuerste Delikatesse.‹«27

Der Rubel rollte wieder. Ja, die Geschäfte liefen so gut, dass der Vater nicht nur einen Wagen, einen grauen Talbot Cabriolet, anschaffte und einen Chauffeur anstellte, sondern auch ein neues Heim für die Familie im schicken Berliner Westend bauen ließ. Der Wilde Westen Berlins war in den frühen zwanziger Jahren das Trendviertel der Stadt. In Charlottenburg traf sich die kulturelle und intellektuelle Avantgarde, auch zahlreiche Filmschaffende lebten hier. So ließen sich die Schauspielerinnen Lil Dagover, Jenny Jugo und Mady Christians, der Schauspieler Gustaf Gründgens und auch der Regisseur Veit Harlan im Westend nieder.28

Das Haus der Familie Jürgens in der Oldenburgallee stach zweifellos aus den großbürgerlich gediegenen Villen der Nachbarschaft heraus. Mit seinem Flachdach und der fensterlosen Fassade erweckte das Gebäude den Eindruck, es sei auf einem opulenten Perserteppich direkt aus Zentralasien eingeschwebt. Kein Wunder, dass das ungewöhnliche Zuhause der Familie in der Nachbarschaft und von Curds Freunden »Türkenvilla« getauft wurde. Eine steile Treppe führte zur Haustür, wo der Besucher mit den Worten »Bismillah rahman rahim« begrüßt wurde: »Im Namen Allahs, des Barmherzigen«. Diese Formel, die zu Beginn einer jeden Sure des Koran steht, war in schönster arabischer Schrift über dem Eingang angebracht. »Der Alte Herr hat seine Nostalgie für Turkestan hier Stein werden lassen«, schreibt Curd Jürgens in seinen Erinnerungen. »Die Villa könnte in Khokand, Samarkand oder Taschkent stehen. Doch im Garten wachsen Pappeln und Stachelbeeren, statt Hibiskus und Feigenbäumen.«29

»Das Weiß des Hauses und der Balustrade«, so Jürgens weiter, »knallte hart in die Landschaft der vornehm-zurückhaltend rostroten und graubraunen Villen mit ihren grünen Holzzäunen. Blickfang von weit her, arrogant und eigentbrötlerisch.«30 Aber nicht nur ihr Heim hob sich optisch von den Häusern der Nachbarn ab. Die ganze Familie wirkte wohl etwas exotisch und war sich dessen sehr bewusst, ja pflegte diesen Status. Schon die Tatsache, dass Curds Schwestern eineiige Zwillinge waren, machte die Familie zu etwas Besonderem, glichen sich Jeannette und Marguerite doch bis aufs Haar und nutzten diese Ähnlichkeit nicht selten, um der Familie und Freunden Streiche zu spielen. Auch der Umstand, dass die Umgangssprache im Hause Jürgens Französisch war, darf in dieser Zeit, in der der Begriff bilinguale Erziehung noch nicht existiert hat, als etwas Außergewöhnliches gelten. Jürgens erinnert sich, dass seine Mutter durchgesetzt hatte, dass im Haus nur Französisch gesprochen wurde. Vor allem als die Kinder klein waren, wurde auf strenge Einhaltung dieser Regel geachtet.31 Curds Mutter kultivierte ihren französischen Akzent mit der gleichen Hingabe wie ihren Chauvinismus gegenüber allem Deutschen. Wann immer ihr etwas an ihren Kindern missfiel, stammte es »aus der teutonischen Ecke«.32 Sie belächelte die in ihren Augen etwas unbeholfenen und grobschlächtigen Deutschen. Diese skeptische Distanz der Mutter gegenüber seinem Vaterland hat den jungen Curd Jürgens zweifellos nachhaltig geprägt.

Neben der französischen Kultur, die Curd sozusagen mit der Muttermilch verabreicht bekam, sog der Junge ganz selbstverständlich und mühelos weitere kulturelle Einflüsse auf, schließlich hatten seine Eltern jahrelang im Zarenreich gelebt und sprachen, wenn die Kinder sie nicht verstehen sollten, miteinander Russisch. Darüber hinaus gingen in der Oldenburgallee 57 Gäste aus aller Welt ein und aus. Mit Krimsekt und Kaviar, zuweilen auch mit reichlich Wodka hieß man Freunde, Bekannte und Geschäftspartner aus Russland, Persien, aber auch Frankreich und Großbritannien willkommen. In seinen Memoiren berichtet Jürgens von zwei Dauergästen in der Türkenvilla. Wieder fühlt man sich bei der Schilderung der beiden illustren Mitbewohner an ein orientalisches Märchen erinnert. Onkel Costia, eigentlich Constantin Wladimirowitsch Hensel, war in Turkestan jahrelang des Vaters Assistent gewesen und lebte nun im Souterrain des Hauses. Dort hortete er allerhand »Krimskrams und vergilbte Fotos: die Eltern und er auf Kamelen durch die Wüste reitend, Maman verschleiert, der Alte Herr mit Vatermörder und breitkrempigem Panama«. Neben Onkel Costia logierte Nadejda Siegel – »ungeheuer groß und sanft wie ein Dromedar nach der Tränke« – in der Türkenvilla.33 Wie genau diese Witwe eines Deutschrussen in den Jürgens’schen Haushalt geraten war, erfährt man nicht. Aber bei der Lektüre der Memoiren entsteht ein eindrückliches Bild vom bunten Leben im Elternhaus Curd Jürgens’, wo man am späten Nachmittag das Grammophon anwarf und sich auf einen Drink im Salon traf und abends dank des weitgereisten Hausherren und seiner französischen Gattin schon in den zwanziger Jahren Speisen genoss, von denen die meisten Einwohner Berlins zum damaligen Zeitpunkt noch nie gehört hatten. Das Lieblingsgericht des jungen Curd war Pilaf, langkörniger Reis mit Curry, Karotten, Hammelfleisch, Rosinen und Nelken. Den »Pilaf turkestan« seiner Mutter liebte er besonders. Der Vater hatte einen gewissen Hang zu pathetischem Zeremoniell, er liebte es, Geschichten zu erzählen.34 Wenn attraktive Damen und seriöse Herren bei einem guten Glas Rotwein oder einer prickelnden Schale Champagner andächtig seinen Anekdoten lauschten, hatte Kurt Jürgens seinen großen Auftritt. Diese Gastgeberqualität erbte sein Sohn, war Curd Jürgens doch berühmt dafür, seine Gäste nicht nur angemessen zu verköstigen, sondern sie auch hervorragend zu unterhalten.

Legendär waren die opulenten Weihnachtsfeste in der Türkenvilla. In Curd Jürgens’ Nachlass befindet sich eine Fotografie, die die Familie versammelt an einer reich gedeckten Tafel vor halbgeleerten Sektgläsern zeigt. Kurt Jürgens, sein Sohn und Onkel Costia tragen schwarzen Frack, weiße Fliege und weißes Einstecktuch, während sich die Mutter und die Zwillingsschwestern in schwarze Abendroben geworfen haben. Im Hintergrund strahlt der hell erleuchtete riesige Weihnachtsbaum. Das Bild hält an diesem 24. Dezember der frühen dreißiger Jahre einen Moment fest, der sicher zu den Höhepunkten im Jahreslauf der Familie gehörte und der, was allerdings alle Beteiligten zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen können, sehr bald der Vergangenheit angehören soll. Ein letztes Mal, bevor die politischen Ereignisse in Deutschland und ein ganz persönlicher Schicksalsschlag das Leben des jungen Curd auf den Kopf stellen, versammelte sich die Familie Jürgens im Salon der Villa und feierte standesgemäß die Heilige Nacht.

Heiligabend in der Oldenburgallee war denn auch lebenslang maßgebend für Curds Vorstellung davon, wie ein ordentliches Weihnachtsfest aussehen sollte. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, seine Mutter und seine Schwester Jeannette samt Familie lebten inzwischen in den Vereinigten Staaten, schrieb er seinen Lieben einen Brief, in dem er sich wehmütig an die schönen Feiern in Berlin und München erinnerte: »Die Weihnachtsfeste in München und in der Oldenburgallee, das sind Erinnerungen, die man sein ganzes Leben lang nicht vergisst.« Er glaube, so schreibt er, dass man auch als Erwachsener immer versuche, diese Feste so zu feiern, wie man sie als Kind kennengelernt habe. Allerdings, so räumt er ein, wenn man als Kind und Jugendlicher solch grandiose Feiern erlebt habe wie er und seine Schwestern, sei es schwer, dem Vorbild der Eltern nahezukommen. Curd bedankt sich bei seiner Mutter für all die schönen Weihnachtsabende, die sie ihm bereitet habe und verspricht, sobald die Zeiten wieder besser würden, die ganze Familie wieder zusammenzubringen: »Und wir werden in Wien feiern, denn wir brauchen Schnee, es muss kalt sein und die Glocken der alten Kirchen läuten. Für jeden ein kleines Geschenk, ein gutes Diner, alle zusammen, Rotwein, eine Flasche Champagner. Oh Mutschilein, wie gerne würde ich Dir dieses Geschenk machen.«35

Aus dem Brief an seine Mutter wird nicht nur eine gewisse Sehnsucht nach den vermeintlich sorgenfreien Tagen der Kindheit spürbar, er illustriert auch die zärtliche Nähe des jungen Mannes zu seiner Mutter und seine Bewunderung für sie. Das Vorbild der Mutter prägte Curd Jürgens’ Vorstellung hinsichtlich Familienleben und geschlechtsspezifischem Rollenverhalten. Moussia stand einem umfangreichen Haushalt vor, hatte aber wohl mit dem täglichen Kleinklein der Hausarbeit nicht viel zu tun. Curd erinnert sich, dass seine Mutter die Vormittage damit zubrachte, sich bei ein, zwei Gläschen Cognac zu frisieren und zu schminken. Wenn er gegen Mittag von der Schule heimkam, saß die Mutter für gewöhnlich in ihrer eierschalenfarbenen Tunika an ihrem Schminktisch. Noch als Herr in fortgeschrittenem Alter, als der er seine Erinnerungen zu Papier bringt, hat Jürgens den zarten Duft des Parfums seiner Mutter und einen Hauch Cognac in der Nase. Sicher erscheinen ihm die Kindheitstage, die sanft nach Quelques Fleurs und ein wenig Bisquit Dubouche riechen, in der Rückerinnerung vor allem vor dem Hintergrund des Auseinanderbrechens der Familie nur wenig später und der entbehrungsreichen Kriegsjahre als goldene Zeit. Wir wissen auch nicht, ob Moussia Jürgens mit ihrem Dasein als reicher Kaufmannsgattin, die den Tag vor allem mit Müßiggang zubrachte, zufrieden war. Festzuhalten ist jedoch, dass Curd in späteren Jahren jene Qualitäten in einer Frau suchen sollte, die er in seiner Mutter gesehen hat. Eine Frau mit Talent zum Glücklichsein, so interpretierte er seine Mutter, und so sollte auch die Frau sein, die ihn durchs Leben begleitete. Moussia Jürgens liebte es, dass Tanzbein zu schwingen. Regelmäßig veranstaltete sie Partys und Bälle. Der kleine Curd musste nach diesen Feiern, für die der Salon und das Esszimmer des Hauses leergeräumt und in einen großen Tanzsaal umfunktioniert wurden, oft im Garten frühstücken. Wenn er dann die unteren Räume betrat, »schlug mir der Dunst von Alkohol und Cigarren« entgegen.36

Sein Elternhaus, das kann man wohl mit Bestimmtheit sagen, hat aus Curd Jürgens nicht nur einen weltläufigen jungen Mann gemacht, der mit vielen Kulturen in Berührung kam, der in der französischen Sprache und Literatur ebenso zu Hause war wie in der deutschen und der viel übrighatte für erlesenste Speisen und Getränke, er war auch zum Individualisten erzogen worden. Kurt Jürgens, der nicht nur erfolgreicher Kaufmann, sondern auch überzeugter Freimaurer war, hatte seinen einzigen Sohn von früh an zu eigenständigem, kritischem Denken erzogen. Gleichzeitig ließ der Vater den jungen Curd spüren, dass er etwas Besonderes, dass er privilegiert war. In einem Gespräch eröffnete er dem Sohn einmal voller Vertrauen darauf, dass seine wirtschaftliche Fortune ihm auch in den kommenden Jahren erhalten bleiben würde, dass Curd später einmal kein Geld verdienen müsse, denn das sei reichlich vorhanden. Er müsse aber gut lernen, denn es gebe nichts Ekelhafteres als dumme reiche Leute.37 In dem Bewusstsein also, niemals selbst für sein Auskommen sorgen zu müssen, stets aus dem Vollen schöpfen zu können, wuchs der junge Curd auf. Im Unterricht – Curd besuchte die Herder-Oberschule in Charlottenburg – engagierte er sich, der Mahnung des Vaters zum Trotz, dementsprechend wenig, begeisterte sich dafür umso mehr für Sport.

Kindheit und Jugend in einem großbürgerlichen Haus im Berliner Westend brachten es mit sich, dass Curd Jürgens es von klein auf gewohnt war, umsorgt zu werden. Nicht nur seine Mutter vergötterte ihn. Seit er laufen konnte, so Jürgens, sei sie stolz auf ihn gewesen und habe ihn als ihr Meisterwerk betrachtet. »Mon Petit«, so nennt sie ihren Sohn in den vierziger Jahren noch immer zärtlich in ihren Briefen. Zu diesem Zeitpunkt war aus dem Kleinen längst ein ein Meter neunzig großer Mann von Mitte dreißig geworden. Stets sorgten auch eine Köchin, ein Hausmädchen und der dienstbeflissene Chauffeur, Herr Guhl, dafür, dass es dem Jungen an nichts fehlte. Simone, Jürgens’ vierte Ehefrau, erinnert sich in ihren Memoiren: »Curd, in einem grandios geführten Elternhaus aufgewachsen mit einem internationalen Handelsherrn als Vater, hatte als Kind schon Kommandieren und nicht Kuschen gelernt.«38 Jürgens war es gewohnt, Personal zu haben und Anweisungen zu geben. Es wird Zeiten in seinem Leben geben, wo er auf dienstreiche Geister verzichten muss, aber in dem Moment, als seine Gagen ihm wieder ein Leben in Wohlstand ermöglichen, knüpfte er, wie wir sehen werden, mühelos an den Lebensstil der Türkenvilla an.

2. Großstadtgetriebe

Das Jahr der Einsamkeit

Dreh- und Angelpunkt in Curd Jürgens’ Memoiren … und kein bisschen weise ist ein schwerer Autounfall, der sich im Sommer 1933, möglicherweise aber bereits im Jahr 1932 in Berlin ereignete. Die Chronologie der Ereignisse ist in dieser Hinsicht etwas holprig. Die Autobiographie benennt unzweifelhaft den August 1933 als Zeitpunkt für den fatalen Zusammenstoß, allerdings legen andere Dokumente nahe, dass er sich bereits im Jahr zuvor ereignet hatte.39 Ob der Unfall nun 1932 oder 1933 passierte, und ob Curd Jürgens, falls der Unfall tatsächlich auf 1932 zu datieren ist, in seinen Erinnerungen die Jahre durcheinanderbrachte oder aber den Unfall aus Gründen der Dramatisierung ganz bewusst in das Jahr, das eine scharfe Zäsur in der Geschichte Deutschlands darstellte, verlegte, ist nicht mehr zu klären. In den Lebenserinnerungen vieler deutscher Juden beginnt mit dem 30.Januar 1933 eine Zeit voller Angst und Schrecken. Curd Jürgens versucht in seinen Memoiren nicht, sich auf plumpe Weise zum Opfer zu stilisieren oder gar den Anschein zu erwecken, er selbst sei auch von Anfang an ein Verfolgter des Regimes gewesen, und doch beginnt mit diesem Jahr für ihn ebenfalls ein Martyrium.

Seine Erzählung folgt damit dem inzwischen ins allgemeine kulturelle Gedächtnis übergegangenen Narrativ, wonach die alles entscheidende Wende in der Geschichte Deutschlands, vielleicht sogar Europas im Jahr 1933 eingeleitet wurde. Dabei stellte sich dieses Jahr für die meisten Zeitgenossen, viele junge Männer und Frauen aus Curds Generation, vermutlich gar nicht sofort als eine solch tiefe Zäsur dar – es sei denn, sie gehörten zu den vom neuen Regime Verfolgten, waren Juden, Sozialisten oder Kommunisten. Obwohl also Nichtjude, ähneln Curd Jürgens’ Lebenserinnerungen dem Drehbuch so vieler Emigranten-Biographien und schaffen somit eine Kluft zwischen dem Erzähler und den neuen Machthabern.40

Waren seine Kindheit und Jugend geprägt von einem liebevollen Elternhaus, in dem man keine finanziellen Nöte kannte, so veränderte jener Unfall, aber auch die sich in Deutschland vollziehenden dramatischen politischen Umbrüche das Leben des jungen Mannes schlagartig und dauerhaft. Curd verbrachte die Sommermonate in London, wo er seine englischen Sprachkenntnisse aufpolieren sollte. Kurt Jürgens hatte den inzwischen Siebzehnjährigen bei der Familie seines engen Geschäftsfreundes Sion Poteliakhoff im schicken Stadtviertel Hampstead untergebracht. Dort sollte Curd auch eine gewisse Weltläufigkeit erlernen. Dem jungen Mann passte dieser Aufenthalt allerdings überhaupt nicht, denn am 13. August sollte in Berlin ein Autorennen stattfinden, an dem Curds Freund und späterer Schwager Herbert mit seinem nagelneuen DKW teilnehmen wollte. Es verstand sich von selbst, dass Curd lieber live am Straßenrand dem Freund die Daumen drücken wollte, als Englisch zu pauken. Er feilte daher fieberhaft an einem Plan, der es ihm ermöglichen würde, den Englandurlaub vorzeitig abzubrechen und doch noch pünktlich zum Autorennen an der Spree zu sein. Ganz bewusst benahm er sich daneben, begegnete Sion Poteliakhoffs Versuchen, ihm die englische Lebensart und Sprache näherzubringen, mit arroganter Ignoranz und bemühte sich erst gar nicht mehr um die Söhne des Hauses. Mit diesem Verhalten, so hoffte er, würde er den Geschäftsfreund des Vaters vor den Kopf stoßen und diesen schon dazu bringen, ihn früher nach Hause zu schicken. »Doch meine Versuche, den Urlaub um den 11. August herum abzubrechen, scheiterten an der Freundestreue Poteliakhoffs zu meinem Vater: ›Dein Vater hat mir ans Herz gelegt, deine Englischkenntnisse zu vervollkommnen, und ich meine, du solltest die Gelegenheit gut nutzen. Wer weiß, wann du sie brauchen wirst!‹«41

Ein Fluchtversuch in der Nacht über das Glasdach des Gewächshauses endete mit vielen Scherben, einer zerrissenen Hose und einigen bösen Schnittwunden. Allerdings scheint dieses Debakel dem alten Poteliakhoff vor Augen geführt zu haben, dass er Curd nicht gegen seinen Willen in London halten konnte. Im Salon der Familie kam es daraufhin zu einem für beide Seiten unangenehmen Gespräch. Poteliakhoff fragte Curd auf den Kopf zu, ob er vielleicht deswegen lieber heute als morgen nach Berlin zurückwolle, weil er nicht gern bei Juden wohne. »Meine Überraschung hätte nicht größer sein können. Im Hause meiner Eltern verkehrten viele Juden. (…) Ich war mit Juden aufgewachsen, und nie war mir ein Unterschied zu anderen Bekannten aufgefallen. Wenn wir zu Hause ›Juden‹ sagten, was oft geschah, so diente das als Typenbezeichnung wie Mercedes, Alfa Romeo, Ferrari und Rolls Royce. Wohl hatte ich in Erinnerung, daß