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Kann ein Herz aus Metall und Plastik wirklich lieben? Von der Gesellschaft isoliert entwickelt die brillante Wissenschaftlerin Aurora künstliche Bauteile für Menschen. Bis ein Unbekannter ihre Arbeit stehlen will und dabei lebensgefährlich verletzt wird. Um ihn zu retten, ersetzt Aurora einen Teil seines Körpers mit ihren Integrationen. Fox ist von dieser Hilfe nicht begeistert – ist er doch der festen Überzeugung, dass Aurora seinen besten Freund auf dem Gewissen hat. Aber es ist nicht alles so, wie es scheint. Aurora und Fox begeben sich auf die Suche nach den wahren Schuldigen. Dabei kommen sie sich unerwartet näher… Aber kann ein Herz aus Metall und Plastik wirklich lieben?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Über die Autorin
Über das Buch
Die Welt
Phase 1
Phase 2
Phase 3
Phase 4
Phase 5
Phase 6
Phase 7
Phase 8
Phase 9
Phase 10
Phase 11
Phase 12
Phase 13
Phase 14
Phase 15
Phase 16
Phase 17
Phase 18
Phase 19
Phase 20
Phase 21
Phase 22
Phase 23
Phase 24
Phase 25
Phase 26
Phase 27
Phase 28
Epilog
Leseprobe »Ouija – Tote reden zu viel«
Weitere Werke der Autorin
Impressum
Melissa Ratsch wurde 1987 geboren und schreibt schon seit ihrer Jugend – anfangs aus der Not heraus, da einfach nichts ihrem Geschmack entsprach und die Ideen in ihrem Kopf viel interessanter waren. Daraus ergaben sich im Laufe der Jahre mehrere Kurzgeschichten und Romane, die sie seit 2017 veröffentlicht.
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Kann ein Herz aus Metall und Plastik wirklich lieben?
Von der Gesellschaft isoliert entwickelt die brillante Wissenschaftlerin Aurora künstliche Bauteile für Menschen. Bis ein Unbekannter ihre Arbeit stehlen will und dabei lebensgefährlich verletzt wird. Um ihn zu retten, ersetzt Aurora einen Teil seines Körpers mit ihren Integrationen.
Fox ist von dieser Hilfe nicht begeistert – ist er doch der festen Überzeugung, dass Aurora seinen besten Freund auf dem Gewissen hat. Aber es ist nicht alles so, wie es scheint. Aurora und Fox begeben sich auf die Suche nach den wahren Schuldigen.
Dabei kommen sie sich unerwartet näher… Aber kann ein Herz aus Metall und Plastik wirklich lieben?
»Cyborg Hearts« ist eine spannende Liebesgeschichte in einem futuristischen Science-Fiction-Setting. Finde zusammen mit Aurora und Fox heraus, wie weit Menschlichkeit geht… und wo ihre Grenzen liegen.
Die Platine sah aus wie ein Mandala.
Doch statt bunter Farben zog sich ein komplexes Muster aus Silber, Gold und Kupfer über das schwarze Trägermaterial. Ein Kunstwerk aus verschiedenen Materialien, das im grellen Licht ihres Arbeitsplatzes schimmerte. Es war leicht, darin die Orientierung zu verlieren.
Doch nicht für Aurora. Sie konnte jeden Schaltkreis nachvollziehen, wusste wohin die einzelnen Leitungen führten und welchen Zweck die winzigen Prozessoren hatten. Für sie ergab das Chaos Sinn und sie wusste ganz genau, welche Schritte noch nötig waren, um ihre neuste Erfindung zu vollenden.
»Platziere hier einen der Nano-Kondensatoren«, sagte Aurora und deutete mit der feinen Spitze des Werkzeuglasers auf einen freien Fleck. Durch ihr Mikroskop hatte der Bereich die Größe einer Erbse, in Wahrheit war es jedoch nur ein knapper Quadratmillimeter.
»Jawohl«, antwortete Sypher. Sobald Aurora den Laser von der betreffenden Stelle entfernt hatte, begann ihr Assistent mit der Arbeit. Effizient wie immer platzierte er den Kondensator, verlötete die Verbindungen und überzog ihn anschließend mit einer hauchdünnen Schicht Schutzsilikon.
Aurora kontrollierte das Ergebnis, fand keine Fehler. »Sehr gut. Deine Arbeitsweise nähert sich der Perfektion.«
»Danke«, erwiderte Sypher. »Was kann ich als nächstes für dich tun?«
»Hm.« Der aktuelle Abschnitt war fertig, also vergrößerte sie den Ansichtsbereich des Mikroskops und betrachtete mehr von dem Bauteil. Auch mit dieser Auflösung sah es noch immer wunderschön aus. Doch es war unvollendet.
»Ich denke, das war’s für heute.« Aurora versuchte gar nicht erst, ihre Unzufriedenheit darüber zu verbergen. »Solange ich nicht weiß, wie ich den Sensor einbauen soll, um eine Überbelichtung zu verhindern, sind weitere Arbeiten reine Zeitverschwendung.«
»Jawohl. Dann speichere ich das Protokoll der Sitzung und archiviere die Aufnahmen.«
»Ja, danke.«
Aurora schaltete das Mikroskop aus und richtete sich auf. Vor ihren Augen tanzten bunte Flecken von dem grellen Licht. Sie streckte sich, wobei es in ihrem Rücken knackte. Doch der kurze Schmerz wurde sofort von Erleichterung verdrängt.
Aurora rollte auf ihrem Stuhl zurück und beobachtete Sypher dabei, wie er den Arbeitsplatz aufräumte. Fast schon grazil bewegten sich die vier Roboterarme, die an der Decke über ihrer Werkbank befestigt waren. Die Konstruktion bewegte sich an Schienen durch den Raum und gelangte so an jeden Bereich des Labors. Eine unglaubliche Erleichterung für ihre Arbeit und noch ein Grund, warum sie auf Sypher nicht mehr verzichten konnte.
Er war nicht nur das Gehirn ihres Forschungs- und Wohnturms, managte ihre Termine und ihren Tagesablauf, sondern er war auch die einzige Person, die es länger mit ihr aushielt – auch wenn viele andere Menschen auf der Welt eine KI niemals als eigenständige Person ansehen würden.
Aber die meisten Menschen sind auch Dummköpfe, dachte Aurora missmutig.
Sie stand auf, verließ ihr Labor und steuerte das Treppenhaus ihres Wohnturms an. Sypher brauchte keine Überwachung und ihr Kopf war schon wieder voll mit Ideen und Theorien, wie sie das Sensorproblem lösen sollte.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ging sie hinauf in ihre Privaträume. Sonnenlicht flutete durch die halb geschlossenen Solarpaneele, doch das musste im Mittsommer in der Antarktis nichts heißen. Aurora warf einen Blick auf die Uhr und ächzte leise. Es war schon kurz nach drei Uhr. Die Tage rannen ihr nur so durch die Finger.
»Sypher, wie steht es um meine Blutzucker- und Nährstoffwerte?«, fragte Aurora auf dem Weg zum Kühlschrank.
»Liegen im Normalbereich«, antwortete ihre KI sofort. »Ich lege dir jedoch nahe, ein Produkt mit erhöhtem Kaliumgehalt zu konsumieren.«
»Na schön.« Aurora nahm eine der entsprechenden Flaschen mit Flüssignahrung aus dem Kühlfach, schüttelte sie und trank einen großen Schluck. Sie hatte sich schon vor Jahren an die körnig-sämige Konsistenz gewöhnt.
Während sie die Flasche leerte, ging sie zu ihrem Sofa und checkte ihre Mails an einem ihrer unzähligen Datenpads. Sie alle waren mit Sypher und Auroras privater, gesicherter Cloud verbunden und ermöglichten es ihr, immer auf ihre Unterlagen zuzugreifen.
Wie leider zu oft waren die an sie geschickten Nachrichten ermüdend. Die meisten löschte Aurora ungelesen, doch bei der Vorletzten hielt ihr Finger über dem Display inne.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass Violet mich versucht hat zu kontaktieren?« Sie griff nach ihrem Headset.
»Du hattest mir die Anweisung gegeben, deine heutige Arbeitssession nicht zu stören.«
»Ja, stimmt schon.« Aurora tippte die Nummer der Ärztin ein und lauschte dem Freizeichen. Dabei kratzte sie mit dem Daumennagel über das Flaschenetikett. Sie konnte sich schon vorstellen, wie ungehalten Violet darüber war, dass sie sie ignoriert hatte.
Doch als ihre Freundin abnahm, war sie bester Laune.
»Aurora, meine Liebe«, sagte Violet. »Wie schön, dass du mich zurückrufst. Ich hätte ehrlich gesagt nicht so schnell damit gerechnet. Hattest du dich mit Sypher mal wieder im Labor eingeschlossen?«
»Ja, so ungefähr. Aber für heute bin ich dort schon fertig.«
»Ach ja? An was arbeitest du denn gerade?«
»An der Platine für das optimale Zusammenspiel von Pupillar-Reflex und Retina-Belichtung.«
»Wow, das klingt unglaublich spannend.«
»Ja, leider stecke ich gerade in einer Sackgasse fest«, seufzte Aurora.
»Falls du dich mit mir darüber austauschen willst, kann ich gerne nächste Woche vorbei kommen.«
»Nein, dafür ist es noch zu früh.« Stille dehnte sich zwischen ihnen aus und Aurora runzelte die Stirn. »Violet … warum hattest du angerufen? Du wolltest doch sicher nicht nur über meinen aktuellen Forschungsstand sprechen, oder?«
»Scharfsinnig wie immer«, sagte Violet amüsiert. Doch bei ihren nächsten Worten war ihre Stimme ernst. »Ich hatte gestern wieder einen sehr interessanten Videocall mit dem Forschungsleiter von Synthics und –«
»Nein«, sagte Aurora sofort. »Ich weiß ganz genau, auf was du hinaus willst und meine Antwort bleibt bei Nein.«
»Willst du dir nicht wenigstens einmal anhören, was er zu sagen hat?«
»Auf keinen Fall«, konterte Aurora. »Außerdem weißt du ganz genau, dass ich erst die ganzen Kinderkrankheiten ausmerzen muss, um auch nur im Ansatz über eine solche Kooperation nachzudenken.«
»Du bist wie immer zu perfektionistisch«, entgegnete Violet.
»Nein, bin ich nicht.« Aurora atmete tief durch und fügte mit weicherem Tonfall hinzu: »Schau Violet, ich bin dir unendlich dankbar für deine Hilfe in der Vergangenheit. Ohne dich wäre ich … na ja, du weißt schon. Außerdem hat Sypher unglaublich viel von dir gelernt. Wir beide stehen in deiner Schuld. Aber für eine Kooperation mit Synthics oder einem anderen Konzern ist es jetzt noch zu früh.«
»Und wo ist der Unterschied zu den Konstruktionsplänen, die ich regelmäßig für dich verkaufe?«
»Das ist etwas anderes«, wehrte Aurora ab. Sie stand auf und entsorgte die leere Flasche im Abfallrecycler. »Das sind nur Pläne von Teilkomponenten. Außerdem muss ich das machen, um meine Ausgaben zu decken. Mir gefällt das nicht, aber die Welt funktioniert nun einmal nicht ohne Geld.«
»Wem sagst du das«, erwiderte Violet. Im Hintergrund hörte Aurora, wie die andere mit einem Kugelschreiber klickte. »Meinst du nicht, dass dir der Austausch mit anderen Wissenschaftlern und Ingenieuren bei eben diesen Kinderkrankheiten helfen könnte? Mason würde sicher –«
»Ich werde ganz sicher nicht mit Mason zusammenarbeiten«, unterbrach Aurora Violet. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf, obwohl die andere sie nicht sah. »Nicht nach dem letzten Mal, als wir uns getroffen haben. Er hat sich unmöglich benommen.«
Violet seufzte tief. »Du warst aber auch nicht gerade die Höflichkeit in Person.«
»Das ist irrelevant«, beharrte Aurora.
Wieder war es kurz still, ehe Violet murmelte: »Na gut, ich will dich auch nicht weiter drängen. Dennoch denke ich, dass deine Arbeit und auch du selbst von einer Kooperation profitieren würdet.«
»Danke für deine Meinung«, erwiderte Aurora betont höflich.
Wie erwartet lachte Violet. »Aber ich kann sie mir sonst wo hinstecken, schon klar.«
Auch Aurora schmunzelte. Violet verstand sie zu einem Teil, was zusammen mit ihren chirurgischen Fähigkeiten ein Segen für Aurora war. Ganz anders als andere, sogenannte Experten. Aurora schüttelte den Kopf und schob diese Erinnerungen beiseite.
»Kommst du mal wieder auf einen Kaffee vorbei?«, fragte sie.
»In nächster Zeit nicht, da ich auf einige Konferenzen fahre. Ich schätze nämlich den Austausch mit anderen aus meinem Fachgebiet.«
»Ja ja, schon verstanden. Meld dich, wenn du wieder in Stigma bist.«
»Mache ich«, erwiderte Violet. Sie verabschiedeten sich und Aurora nahm das Headset von ihrem Ohr. Sie ging ins Badezimmer und zog sich aus.
»Du solltest den Vorschlag von Dr. Pierce annehmen«, meldete sich Sypher zu Wort.
»Nein.«
»Aber die Datenlage ist sehr vielversprechend. Es gab schon seit drei Monaten, acht Tagen und vierzehn Stunden keine kritische Fehlfunktion mehr bei den Integrationen.«
»Ich habe nein gesagt«, beharrte Aurora. Sie stellte sich unter die Dusche und hielt das Gesicht in den warmen Wasserstrahl.
»Der Stresspegel in deiner Stimme legt nahe, dass du Angst vor diesem Schritt hast.«
»Verdammt, Sypher!«, platzte es aus ihr heraus. »Ich treffe die Entscheidungen über meine Forschungsarbeit und niemand sonst. Und jetzt hör auf, dieses Thema anzusprechen.«
»Jawohl.« Obwohl sich seine Tonlage nicht verändert hatte, wusste Aurora ganz genau, dass Sypher unzufrieden mit ihr war.
Resigniert ließ Aurora die Schultern hängen. Das Wasser prasselte weiter auf ihren Rücken, doch das wohlige Gefühl von zuvor war verschwunden. Sie wusste genau, dass sie unfair gegenüber Sypher war. Dennoch fiel es ihr schwer, diesen Fehler zuzugeben.
Aurora schaltete die Dusche aus, schamponierte sich die Haare und sagte schließlich: »Es tut mir leid.«
»Du hast mich darauf programmiert, immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie unangenehm ist.«
»Ja, ich weiß«, brummte sie, drehte das Wasser wieder auf und spülte den Schaum ab. »Vergiss, was ich vorhin gesagt habe. Ich bin gestresst davon, dass ich den Sensor nicht fertigstellen kann.«
»Ich empfehle eine Tasse Tee und eine zwanzigminütige Meditation auf der Terrasse«, erwiderte Sypher sofort und brachte Aurora damit zum Lächeln.
»Ja, das ist eine gute Idee.« Sie stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und trug eine spezielle Polymer-Creme auf ihre Haut auf.
Wenig später trat sie in Funktionsleggins und einem Langarmshirt auf die Dachterrasse hinaus. Ein milder Wind strich über sie hinweg, trug den Salzgeruch des nahen Meeres mit sich. Die angenehmen Temperaturen waren einer der wenigen Vorteile, die das Abschmelzen der Polkappen nach der Klimakatastrophe vor über einhundert Jahren mit sich gebracht hatte.
So gedieh auch der kleine Garten optimal, den Aurora angelegt hatte. Statt wie von Sypher vorgeschlagen zu meditieren, widmete Aurora sich der Pflege der Pflanzen. Die Begrünung gehörte nicht zu der Bepflanzung, die zusammen mit den Solarpaneelen Teil jeder Wohnturmkonstruktion in Stigma waren. Sie sorgte für optimale Luftfeuchtigkeit und Sauerstoffwerte in den großen Hemisphären-Städten. Der letzten Zuflucht der Menschheit.
Auroras eigener, kleiner Wohnturm befand sich am Stadtrand und ganz in der Nähe der Kuppel, die sich bei den teilweise schweren Stürmen am Südpol schloss. Jetzt jedoch war sie geöffnet und kühler Wind strich über Aurora hinweg. Anders als in den anderen Hemisphären-Städten auf der Welt lebten nicht viele Menschen in der Antarktis. Trotz der milden Temperaturen im Mittsommer gab es noch immer sechs Monate Dunkelheit. Das zusammen mit der Tatsache, dass Stigma eine Sackgasse des weltweiten Verbindungsnetzes aus Hochgeschwindigkeitszügen, sorgte für die vergleichsweise geringe Bevölkerungszahl.
Doch genau das machte den Reiz für Aurora aus. Hier hatte sie genug Ruhe für ihre Forschung und zumindest während der Sommermonate ging sie ihrem Gärtnerinnenhobby nach. Tatsächlich waren die simplen Handgriffe ähnlich beruhigend wie eine Meditation. Beim Abschneiden welker Triebe, beim Auflockern der Erde und beim Unkrautjäten kamen ihre Gedanken zur Ruhe.
Endlich.
Kurz nach achtzehn Uhr – die Sonne stand noch immer hoch am Horizont – zog Aurora ihre Gartenhandschuhe aus. Nicht ganz freiwillig.
»Ja ja, schon gut, Sypher«, murrte sie. »Ich weiß, dass ich etwas essen muss. Manchmal bist du schlimmer als eine überfürsorgliche Mutter.«
»Du hast mich darauf programmiert, die Vitalwerte und auch die Nährstoffkonzentrationen in deinem Blut zu überwachen und entsprechende Hinweise zu geben, solltest du die optimalen Parameter verlassen.«
Aurora grinste über Syphers gewohnt analytische Ausdrucksweise. Sie stieg die Treppe hinunter und ging in die Küche.
»Leite bitte die Abendverdunkelung ein«, bat Aurora, während sie sich die Hände wusch.
»Jawohl.« Keine Sekunde später tönten sich die Fensterscheiben, so dass weniger Sonnenlicht hereinfiel.
Aurora griff nach einem Geschirrtuch und lehnte sich mit der Hüfte gegen die Anrichte. »Vielen Dank. Wie wäre es dann mit einem Update meiner Werte?«
»Natürlich«, erwiderte Sypher. »Der Blutzuckerspiegel ist zu niedrig und legt eine baldige Nahrungsaufnahme nahe. Die restlichen Blutwerte befinden sich im Normalbereich, genauso wie die relevanten Neurotransmitter. Dein Hormonhaushalt ist für den aktuellen Zyklusabschnitt ausgeglichen, lediglich dein Oxytocin-Wert ist zu niedrig.«
Aurora rollte mit den Augen. »Hatte ich dir nicht gesagt, dass du den aus der Analyse herausnehmen sollst?«
»Ja, aber der Wert ist wichtig für dein seelisches Gleichgewicht.« Als sie nicht antwortete, fuhr Sypher fort: »Der Homo sapiens gehört zu den eusozialen Spezies, was bedeutet, dass längerfristiges Überleben nur in der Gruppe möglich ist. Anhaltende Isolation ist somit gegen die menschliche Natur.«
Für mich nicht, dachte Aurora, sprach es jedoch nicht laut aus. Sich mit Sypher in dieser Hinsicht zu streiten war sinnlos. Er würde nur weiter darauf beharren, dass sie ihn zum Sammeln von Fakten programmiert hatte, und sie würde ihm nur androhen, seine Festplatte zu formatieren – und doch nicht mehr Sozialkontakte pflegen. Es hatte einen Grund, warum sie mit Maschinen und KI besser klar kam als mit echten Menschen.
»Sonst gibt es keine Auffälligkeiten in meinen Werten?«, fragte Aurora.
»Nein.«
»Sehr gut.« Sie stieß sich von der Anrichte ab, ging zu ihrem Kühlschrank und legte Zutaten für einen Auflauf auf die Arbeitsfläche. Beim Essen war Aurora noch nie wählerisch gewesen, so dass sie meistens zwischen fünf bis acht Gerichten wechselte. Ihre wöchentlichen Lebensmittellieferungen waren darauf abgestimmt und sie musste sich nicht immer wieder Gedanken darüber machen, was sie kochen sollte.
Durch diese Routine hatte sie mehr Gehirnleistung frei für die wirklich wichtigen Dinge. Zum Beispiel darüber nachzudenken, wie sie die visuelle Einheit endlich vollendete. Noch war das Teil nicht wichtig, aber Aurora war lieber gut vorbereitet. Früher oder später würde sie es brauchen, daran führte kein Weg vorbei.
Gedankenverloren starrte sie auf ihre Hand und hielt darin inne, den Tofu und das geschnittene Gemüse in die Auflaufform zu schichten. Langsam öffnete und schloss sie die Finger, beobachtete jedes Gelenk bei der Arbeit. Alles sah normal aus, selbst die feine Faltenbildung der Haut während der Bewegung.
»Aurora?«, fragte Sypher und riss sie aus ihren Gedanken. »Ist alles in Ordnung? Hast du ein Missempfinden in deiner Hand?«
»Nein.« Eilig schüttelte Aurora den Kopf und schob die Auflaufform in den Ofen. Gedanklich abermals mit dem technischen Problem beschäftigt, setzte sie sich auf die Couch und machte sich Notizen auf ihrem Tablet.
Auch der restliche Abend verlief wie unzählige zuvor: Aurora nahm ihr Abendessen zu sich, ging mit Sypher die noch offenen Projekte durch und bestellte mit seiner Hilfe neue Materialien.
»Okay, Sypher«, sagte sie und ging zu ihrer Couch hinüber. »Was gibt es in der Welt neues?«
Wie gewünscht listete Sypher die Weltnachrichten auf. Diese wurden hauptsächlich von irgendeinem Onlinegame dominiert, dessen neustes Update alle Rekorde brach.
»Du könntest ebenfalls an solchen Onlineevents teilnehmen«, schlug Sypher vor. »Eine virtuelle Gruppenaktivität hat einen ähnlichen Effekt auf die menschliche Psyche wie reale Interaktionen.«
Aurora grinste und lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Du gibst nie auf, oder?«
»Nein, das ist nicht Teil meiner Programmierung.«
»Na schön. Dann sag mir doch mal, worum es in diesem Onlinegame geht.«
»Jawohl«, erwiderte Sypher und Aurora hätte schwören können, dass er zufrieden klang. »Es heißt ›Fight Of Lumia‹ und wird fünf gegen fünf gespielt. Ziel der gegnerischen Teams ist es … Pollenflugradar.«
Sie runzelte die Stirn. »Sypher, was sollte denn das?«
»Ich bin mir nicht sicher. Es scheint als … Jodmangel.«
»Was zum Henker …?« Mit einem mulmigen Gefühl griff Aurora nach ihrem Smartphone und checkte den Systemstatus des Wohnturms. Sypher war darin integriert und wenn er solche Sprachaussetzer hatte, dann stimmte etwas nicht damit. Wehe, die Techniker der Stadtenergieversorgung hatten wieder ein Update für die Solarpaneele eingespielt, ohne sie vorher darüber zu informieren.
Doch schon wenige Klicks später wusste Aurora, dass es nicht an einem Update der Energieversorgung lag und auch nicht an einem Bug in Syphers Sprachsteuerung.
Nein, jemand hatte ein Störprogramm in das System ihres Wohnturms geschleust, um die Überwachungstechnik auszuschalten, und das beeinträchtigte auch einige Funktionen von Sypher.
»Scheiße, jemand ist im Gebäude!« Aurora sprang auf und rannte zur Treppe. »Sypher, aktiviere sofort das Reset-Protokoll und führe einen Neustart durch.«
»Aurora, ich rate dir dringend davon ab, in dein Labor zu gehen. Es könnte … Wintersonnenwende.«
»Spar dir deinen Atem und mach den Reboot! Ich lasse nicht zu, dass jemand meine Arbeit stiehlt!«
»Morgendämmerung«, antwortete Sypher und sie hoffte, dass er damit endlich ihren Befehl bestätigte. Sie hatte mittlerweile den letzten Treppenabsatz erreicht und zwang sich, einen Moment tief durchzuatmen.
Ja es wäre logischer, die Polizei zu rufen, statt die Eindringlinge auf eigene Faust zu stellen. Doch das hier war kein gewöhnlicher Wohnturm und ihre Forschung war nicht für die Augen anderer bestimmt. Besonders nicht für die der Ordnungshüter.
»Okay«, wisperte Aurora. Sie straffte die Schultern und öffnete vorsichtig die Labortür, um sich hindurch zu schieben. Die Mittsommersonne vergoldete den Raum. Er war leer und sah auf den ersten Blick aus wie immer. Doch das hier war ihr Lebenswerk und sie bemerkte sofort, dass jemand hier gewesen war. Einige der fertigen Prototypen lagen nicht korrekt auf ihren Halterungen.
Fluchend ging Aurora zu ihrer Werkbank hinüber und scannte dabei alle Ecken des Labors, doch noch immer entdeckte sie keinen Eindringling. Wer auch immer hier gewesen war, hatte sich offenbar schon wieder aus dem Staub gemacht. Was hatte er mitgehen lassen?
»Sypher?«, fragte Aurora, ohne eine Antwort zu erhalten. Offenbar war der Reboot noch in vollem Gange und ihr treuer Freund stand ihr nicht zur Verfügung. Da zusammen mit Sypher auch noch das Turmsystem offline war, konnte sie ihre Materialliste nicht abrufen. Wo hatte sie noch gleich die Ausdrucke von Letztem …
»Sie!«, zischte eine tiefe Stimme hinter ihr.
Aurora wirbelte herum und sah sich einem großgewachsenen Mann gegenüber, der in der Tür zum Labor stand. Er trug schwarze Kleidung. Unter einer Baseballmütze lugten dunkle Haare hervor. Aurora hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber das war auch nicht nötig, um zu wissen, was er hier gesucht und wohl auch gefunden hatte.
Er hielt einen Prototypen für ein integriertes Energiemodul in der Hand.
»Gib sofort zurück, was du gestohlen hast!«, verlangte Aurora.
Ohne nachzudenken ging sie mit großen Schritten auf den Einbrecher zu und wollte ihm das Bauteil aus der Hand reißen, doch er wich vor ihr zurück. Hass brannte in seinen Augen.
»Sie haben meinen besten Freund auf dem Gewissen!«
»Du bist ja verrückt!« Abermals versuchte Aurora, an das empfindliche Bauteil zu gelangen. Doch der Mistkerl drehte sich immer weg. »Gib mir das zurück! Du hast doch keine Ahnung, was du da in der Hand hältst!«
»O doch«, sagte der Mann. »Das ist der Beweis dafür, dass Sie illegale Experimente an Menschen durchführen!«
»Was?!«, entwich es Aurora und für einen Moment wurde ihre Wut durch Schock ersetzt. »Was hast du da gerade gesagt?«
»Jetzt tun Sie nicht so überrascht, Dr. Thatcher.« Er sprach ihren Namen aus wie eine Verwünschung. »Sie haben auf die Risiken geschissen und einfach damit angefangen, den Menschen zu einem mechanischen Ersatzteillager umzufunktionieren. Das … das ist krank!«
»Du bist einer dieser Fanatiker, oder?«, fragte Aurora. Dabei näherte sie sich langsam dem Eindringling. »Du bist sicher auch gegen Impfungen, weil sie in die Natur eingreifen.«
Der Mann runzelte die dunklen Brauen. »Was? Nein! Das ist doch etwas völlig anderes!«
Aurora nutzte sein Zögern aus und packte den Energiekern in seiner Hand. Doch der Mann riss seinen Arm zurück und dabei entglitt der Kern sowohl seinem als auch Auroras Griff. Mit einem Klirren landete er auf dem Boden. Ein Teil der Ummantelung platzte ab und das Licht der Energiezellen drang nach draußen. Abermals griff der Dieb danach, aber das war schlecht!
»Fuck!«, fluchte Aurora. »Lass das sofort fallen!«
»Einen Scheiß werde ich!«
»Du verstehst das nicht!« Aurora wollte ihm das Bauteil abermals entreißen, aber der Mann wich vor ihr zurück. Mittlerweile wurde das Leuchten immer heller und sie schätzte, dass sie maximal noch dreißig Sekunden hatten.
»Wir müssen sofort hier verschwinden, sonst fliegt das Labor in die Luft.« Während Aurora sprach, bekam sie endlich das Handgelenk des Mannes zu fassen. Sie drückte gerade so fest zu, dass es unter ihren Fingern knirschte und der Mann schmerzhaft aufjaulte.
»Fuck!«, fluchte der Mann und ließ endlich den Energiekern fallen. Der dampfte bereits, der stechende Geruch von Ozon verbreitete sich. Endlich erkannte auch der Dieb den Ernst der Lage. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf das qualmende Bauteil.
»Jetzt komm endlich!«, forderte Aurora. Sie hielt noch immer das Handgelenk des Mannes fest, drehte sich um und zerrte ihn mit sich. Die ersten Meter stolperte der Mann hinter ihr her, ehe er von selbst anfing zu laufen.
Doch sie waren nicht schnell genug.
Sie hatten kaum die Labortüren erreicht, da knisterte es laut hinter ihnen und eine Explosion zerriss die Luft. Die Druckwelle schleuderte Aurora und den Mann aus dem Labor ins Treppenhaus. Dort schlug sie hart auf dem Boden auf, während Hitze und Trümmerteile über sie hinwegfegten. Das meiste bekam der Dieb selbst ab, doch auch Aurora wurde getroffen.
Hustend krümmte sie sich zusammen. In ihren Ohren klingelte es, ihre Lungen brannten und Tränen verschleierten ihr die Sicht. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre sie aus dem zehnten Stock gesprungen und auf dem Boden aufgeschlagen, doch viel schlimmer war die Sorge um ihre Arbeit.
»Sypher!«, schrie sie. »Sypher, bitte!«
»Aurora«, sagte endlich ihr treuer Freund. Hustend rollte sie sich auf den Rücken und blinzelte in Richtung ihres Labors.
»Riegle sofort das Labor ab und öffne die CO²-Tanks.«
»Jawohl.« In der nächsten Sekunde schlossen sich mit einem metallischen Knirschen die Sicherheitstore und sperrten das Feuer darin ein. Dumpf hörte Aurora ein Zischen und ihre Schultern sanken nach unten. Das CO² würde die Flammen ersticken und die Reste ihres Labors retten.
»Das Feuer ist gelöscht«, sagte Sypher. »Ich beginne mit dem Absaugprozess. Geschätzte Zeit bis zum gefahrlosen Betreten der Räume: Zwanzig Minuten. Die Statik des Wohnturms ist intakt. Willst du einen vorläufigen Schadensbericht des Labors?«
»Nein.« Aurora wischte sich über den Mund, Blut befleckte ihren Handrücken. »Wie ist mein Zustand?«
»Eine Prellung an der linken Hüfte und dem linken Knie, zudem mehrere Hämatome an den Unterarmen. Alles in allem unkritisch.«
»Ja, so fühlt es sich auch an«, murmelte Aurora. Sie hatte also Zeit, sich mit dem Mann zu beschäftigen, der beinah ihr Lebenswerk zerstört hatte.
Der Dieb lag neben ihr und rührte sich nicht. Sein Gesicht war blutverschmiert, der Brustkorb hob und senkte sich, aber das war nur noch eine Frage der Zeit. Denn die Blutlache unter ihm wurde merklich größer, unter anderem gespeist aus der Verletzung an seiner linken Hand, ausgelöst durch einen offenen Bruch.
Außerdem fraßen sich die ätzenden Trümmerteile des Energiekerns in seine Beine. Diese waren zudem seltsam verdreht, was auch hier auf Knochenbrüche und innere Blutungen schließen ließ. Wahrscheinlich hatte er zudem ein massives Schleudertrauma erlitten und dem Pfeifen in seiner Lunge nach zu urteilen, war sicherlich einer der Flügel kollabiert.
Er starb und Aurora wusste es.
Die Frage war nur: Würde sie etwas dagegen unternehmen? Sie musste sich schnell entscheiden, denn lange würde der beschädigte Körper des Diebs nicht mehr durchhalten – vor allem nicht, wenn die Reste des Energiekerns ihn langsam vergifteten. Wahrscheinlich würde der Mann nicht einmal so lange überleben, bis die Rettungskräfte eintrafen.
Ein Teil von Aurora sagte ihr, dass er den Tod verdient hatte … doch der andere konnte nicht vergessen, was er zu ihr gesagt hatte. Die Beschuldigung, sie hätte Experimente an seinem Freund durchgeführt und dadurch dessen Tod verursacht.
»Verdammt!« Aurora knirschte mit den Zähnen und fällte eine Entscheidung. »Sypher, wie ist der Zustand des OP-Bereichs im Erdgeschoss?«
»Keinerlei Beschädigungen, alle Geräte sind intakt.«
Erleichtert atmete sie aus. »Und das Materiallager?«
»Ebenfalls unbeschädigt.«
»Prima, dann bereite schon einmal alles für einen Eingriff vor.« Während Aurora sprach, rappelte sie sich auf. Schmerz schoss durch ihre Hüfte und das linke Bein hinunter, aber das ignorierte sie.
»Bist du dir sicher?«, fragte Sypher hörbar zögerlich. »Der Mann hat dir nicht sein Einverständnis gegeben.«
»Ja, ich bin mir sicher. Er stirbt, wenn ich nichts unternehme und das liegt sicher nicht in seinem Interesse. Jetzt mach schon!«
Während sie sprach, packte sie den Mann an den Schultern, um einen Arm um seinen Brustkorb zu legen. Sofort tränkte warmes Blut ihre Kleidung, wo sie sich berührten. Obwohl ihm das sicher Schmerzen bereiten musste, wachte er nicht auf.
»Jawohl«, bestätigte Sypher.
Aurora setzte sich in Bewegung und gab ein leises Grunzen von sich, denn der Weg nach unten war die pure Hölle. Die Prellungen in der Hüfte und dem Knie quälten sie, verstärkt durch das Gewicht des Mannes. Er wog sicher mehr als hundertsechzig Pfund und da er noch immer bewusstlos war, fiel es Aurora schwer, ihn zu bewegen.
Dennoch schaffte sie es nach unten in den OP-Bereich. Grelles Licht erhellte den Tisch in der Mitte, es roch nach Desinfektionsmittel. Über ihren keuchenden Atem hinweg hörte Aurora die Mechanik der Roboterarme, die Sypher steuerte.
Völlig verschwitzt und mit hämmerndem Herzen wuchtete sie den Verletzten auf den Tisch. »Führ sofort einen Ganzkörperscan durch.«
»Jawohl.«
Aurora drehte sich um, ging zu einer der Kühleinheiten und holte einen Injektor. Zurück bei dem Dieb rammte sie ihm die Spritze in den Oberschenkel und drückte den Kolben ganz nach unten. Das würde ihn so lange am Leben halten, bis Sypher seine Arbeit vollbracht hatte.
»Scan abgeschlossen«, informierte er Aurora. »Sechs gebrochene Rippen, der rechte Lungenflügel mehrfach durchstoßen und kollabiert und Ruptur der Leber. Außerdem sind fünfundachtzig Prozent der linken Hand zertrümmert, genauso wie beide Beine und das linke Hüftgelenkt ist ebenfalls zersplittert.«
»Nicht schön, aber das klingt machbar für dich«, erwiderte Aurora. Sie ging zum Materiallager. »Das sind alles OPs, die dir Violet schon gezeigt hat. Worauf wartest du noch?«
»Auf deine Autorisierung.«
»Oh, natürlich.« Aurora drehte sich um, sah zu dem noch immer blutenden Mann und dem über ihm schwebenden OP-Roboter. Sie vergaß immer wieder die Sicherheitsprotokolle, die sie Sypher für medizinische Eingriffe einprogrammiert hatte.
»Mein Name ist Aurora Thatcher und ich autorisiere diese Operation.«
»Jawohl«, antwortete Sypher. Sofort setzten sich die mechanischen Arme in Bewegung, entfernten die Kleidung des Mannes, legten einen Venenzugang und begannen mit der Beatmung. Aurora wandte sich wieder dem Materiallager zu.
Zum Glück für den Dieb hatte sie alle nötigen Ersatzteile vorrätig.
Zwei Tage zuvor
An einem kornblumenblauen Himmel stand die Sonne im Zenit, schickte ihre heißen Strahlen auf die Erde hinunter. Ein lauer Wind ließ die Baumkronen rascheln und trug einen Hauch Meersalz mit sich. Vögel flogen zwitschernd umher.
Es war ein viel zu schöner Tag für eine Beerdigung.
Die wenigen Trauergäste, die zusammen mit Fox auf den Friedhof von Gamma gekommen waren, entfernten sich langsam. Wahrscheinlich wollten sie der Mittagshitze entkommen, die die afrikanische Hemisphären-Stadt fest im Griff hatte.
Fox hingegen fror. Die kalte Trauer in seiner Brust strahlte in seinen ganzen Körper aus, machte ihn taub für alles andere.
Wie war es möglich, dass sein bester Freund tot war?
Der Mann, den er seit seiner Jugend kannte und mit dem er immer in Kontakt gestanden hatte, selbst nachdem sich ihre Wege getrennt hatten? Warum lagen Dominics sterbliche Überreste in dem schlichten Sarg aus Recycelmaterial, bereit wieder Teil des natürlichen Nährstoffkreislaufs zu werden?
»Warum?«, fragte Fox rau.
Es war niemand da, um ihm zu antworten. Es gab keinen Dominic mehr, mit dem er über alles reden konnte. Vor drei Wochen war sein bester Freund gestorben und Fox fühlte sich noch immer wie betäubt. Halb in der Hoffnung gefangen, alles nur geträumt zu haben.
Zum tausendsten Mal spielte sich in Fox‘ Kopf der Moment ab, als er die schreckliche Nachricht erhalten hatte. Er hörte noch genau das Geräusch seines Zeichenstifts, der ihm aus der plötzlich schlaffen Hand gefallen war. Vergessen waren die Probleme gewesen, die ihm das aktuelle Pflanzprojekt bereitet hatte.
Fox schluckte hart an dem Kloß in seinem Hals vorbei. Er zückte sein Handy und scrollte zu der Nachricht. Las sie noch einmal, als würde es irgendetwas ändern.
Sehr geehrter Mr. Kindell,
wir schreiben Ihnen, da Sie als einzige Kontaktperson von Dominic Jonasson eingetragen sind. Bedauerlicherweise ist Mr. Jonasson bei einem Zwischenfall ums Leben gekommen. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an die unten genannten Kontaktdaten.
Mit freundlichen Grüßen,
Anwaltskanzlei Bougainvillea
Der »Zwischenfall« war eine Medikamenten-Studie gewesen. Das hatte Fox zumindest eine KI-Callcenter-Stimme mitgeteilt. Dominic hatte immer wieder solche verrückten und teilweise gefährlichen Nebenjobs angenommen, da er chronisch pleite gewesen war.
Jetzt jedoch war es ihm zum Verhängnis geworden. Bei Dominic war es zu unvorhergesehenen Nebenwirkungen gekommen. Da er sich freiwillig für die Studie gemeldet und auch die Risiken gekannt hatte, war der Fall sofort zu den Akten gelegt worden.
Keine Ermittlungen, keine strafrechtliche Verfolgung, kein Prozess. Dominics Tod war ein bedauerlicher Zwischenfall für den Pharmakonzern, mehr nicht.
Doch Fox konnte und wollte das nicht akzeptieren. Seit dem Moment, als er seine Heimat Alpha verlassen hatte, um nach Gamma zu reisen, versuchte er mehr herauszufinden. Welches Medikament da getestet worden war, wer die Studie geleitet hatte, wer seinen besten Freund umgebracht hatte.
»Ich finde es heraus«, versprach Fox. Mehrere Minuten starrte er noch in das Loch in der Erde, ehe er sich abwandte und zum Ausgang des Friedhofs ging. Dabei spielte er wieder im Kopf alle Möglichkeiten durch, die er hatte, um mehr über diese Medikamentenstudie herauszufinden.
Leider war die Liste sehr kurz, denn Fox war weder ein Hacker, noch ein investigativer Journalist oder sonst jemand, der es schaffte, an geheime Forschungsunterlagen zu kommen.