Die anderen Anderen - Sammelband 2 - Melissa Ratsch - E-Book

Die anderen Anderen - Sammelband 2 E-Book

Melissa Ratsch

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Beschreibung

Lass dich im zweiten Sammelband der »Die anderen Anderen« tiefer in eine Welt ziehen, in der Fabelwesen Wirklichkeit sind die Liebe ein gefährliches Spiel spielt. Begleite die einsame Yuki Onna Yue und der Ifrit Samir, finden zueinander, während sie gegen einen dunklen Feind kämpfen, der ihre Welt bedroht. Natalia, die Hackerin mit einer Lamia in ihrer Seele, wird von verführerischen Träumen heimgesucht, die mehr als nur ihre Ruhe stören. Noel und Loana, ein ungleiches Paar, die gemeinsam gegen einen alten Fluch auflehnen, und Reika, deren Feuermagie ebenso wild ist wie ihre Gefühle für Dastan. Letztendlich kämpft die verstoßene Deva nicht nur um ihr Leben und ihre Freiheit, sondern auch um ihr Glück

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Melissa Ratsch

Die anderen Anderen - Sammelband 2

Diese Sammlung von Band 7 bis 11 der abgeschlossenen Romantic-Fantasy-Reihe »Die anderen Anderen« ist dein Ticket in eine Welt, in der Fabelwesen unter uns weilen. Ein Muss für alle Fans des Übernatürlichen!

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin

Über das Buch

Neuschnee – Die anderen Anderen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog ~ 1 ~

Epilog ~ 2 ~

Traumwandler – Die anderen Anderen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Nachtgeheimnis – Die anderen Anderen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog ~ 1

Epilog ~ 2

Höllenfeuer – Die anderen Anderen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Wasserflüstern – Die anderen Anderen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Danksagung

Epilog

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Über die Autorin

Die 1987 geborene Autorin schreibt schon seit ihrer Jugend Kurzgeschichten und Romane – anfangs aus der Not heraus, da einfach nichts ihrem Geschmack entsprach und die Ideen in ihrem Kopf viel interessanter waren. Daraus ergaben sich im Laufe der Jahre mehrere Kurzgeschichten und Romane, die sie seit 2017 veröffentlicht.

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Über das Buch

Lass dich im zweiten Sammelband der »Die anderen Anderen« tiefer in eine Welt ziehen, in der Fabelwesen Wirklichkeit sind die Liebe ein gefährliches Spiel spielt.

Begleite die einsame Yuki Onna Yue und der Ifrit Samir, finden zueinander, während sie gegen einen dunklen Feind kämpfen, der ihre Welt bedroht. Natalia, die Hackerin mit einer Lamia in ihrer Seele, wird von verführerischen Träumen heimgesucht, die mehr als nur ihre Ruhe stören. Noel und Loana, ein ungleiches Paar, die gemeinsam gegen einen alten Fluch auflehnen, und Reika, deren Feuermagie ebenso wild ist wie ihre Gefühle für Dastan. Letztendlich kämpft die verstoßene Deva nicht nur um ihr Leben und ihre Freiheit, sondern auch um ihr Glück

All ihre Schicksale sind verwoben in einem Kampf um Liebe und Überleben gegen einen Feind, der keine Gnade kennt. Werden sie die Dunkelheit überwinden und ihre Liebe bewahren können? Finde es im finalen Band der abgeschlossenen Romantic-Fantasy-Reihe »Die anderen Anderen« heraus!

Sammelband Nr. 1 umfassten folgende Teile der abgeschlossenen Reihe »Die anderen Anderen«:

Schlangengift

Sturmwind

Irrlicht

Fuchsfeuer

Blutdurst

Sammelband Nr. 2 umfasst die letzten Teile der abgeschlossenen Reihe »Die anderen Anderen«:

Neuschnee

Traumwandler

Nachtgeheimnis

Höllenfeuer

Wasserflüstern

Neuschnee – Die anderen Anderen

Ich bin kalt wie Eis,

aber in den richtigen Händen,

schmelze ich.

Kapitel 1

»Marleen!«

Lautes Quietschen folgte diesem Ausruf – und eine Horde verrückter Frauen stürmte aus der Haustür, so dass sich Marleen unverhofft in einer festen Umarmung ihrer Mutter und ihrer ältesten Schwester wiederfand.

»Was machst du denn hier?«, wollte Sofia wissen, die versuchte sich an Anna vorbei zu drängen. Doch ihre Tochter blieb hartnäckig und drückte Marleen einen Kuss auf die Wange.

»Ihr wolltet doch erst morgen kommen«, kam es von Sara.

Marleen lachte, löste sich aus Nadjas Umklammerung und legte einen Arm um ihre jüngere Schwester. »Wir wollten das traditionelle Geburtstagsfrühstück nicht verpassen.«

Warmes Gelächter aller Cromwells flutete die Veranda und fast hätte Marleen das leise Seufzen hinter sich überhört, wenn sie nicht so fest mit dem Mann dort verbunden gewesen wäre.

»Fühlst du dich ausgegrenzt?«, fragte sie still an ihren Gefährten gerichtet.

»Ich hatte schon geahnt, dass ich abgeschrieben bin, wenn wir hier sind«, hörte sie Lír murmeln, doch gleichzeitig mit seinen Worten schwangen Belustigung und Freude durch ihre Verbindung mit.

Marleen drehte lachend den Kopf zu ihm und fragte laut: »Könnte bitte jemand Lír umarmen, damit er sich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlt?«

Sofort trat Luna vor und schnurrte: »Aber sicher doch.«

»Bin ich froh, dass ich gegen eure Hexenstimmen immun bin«, lachte Lír und erwiderte Lunas Umarmung. Sofort erhob sich Protest unter den Frauen, der jedoch schnell wieder von Gelächter abgelöst wurde.

»Wollen wir eigentlich ewig hier auf der Veranda stehen?«, fragte Sara, die ihren dünnen Cardigan um sich geschlungen hatte. Fünf Augenpaare sahen sie irritiert an.

»Frierst du etwa?«, wollte Sofia wissen.

»Sirenen frieren nie«, fügte Marleen hinzu. »Was ist mit dir los?«

»Ich werde eben alt.«

Kollektives Stöhnen ging durch die Gruppe, Lír war so klug hinter vorgehaltener Hand zu lachen.

Nadja verdrehte die Augen und hob hervor: »Du wirst morgen sechsundzwanzig, nicht zweihundert.«

»Soll ich das Thea petzen?«, fragte Anna süffisant, was dazu führte, dass Saras graue Augen kugelrund wurden und sie schnell den Kopf schüttelte.

Lachend gingen sie ins Haus hinein, Marleen und Lír legten ihre Jacken ab und betraten das gemütliche Wohnzimmer.

Von einer neuen Welle von Heimweh, Sehnsucht und Wehmut ergriffen blieb Marleen an der Schwelle stehen und betrachtete den Raum. Er hatte sich kaum verändert, nur der Kachelofen war neu, den sie ihrer Familie zu Weihnachten geschenkt hatte. Ansonsten strahlte das Zimmer noch dieselbe Wärme und Heimeligkeit aus wie zu der Zeit als Marleen hier gelebt hatte.

Es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen und nicht schon drei Jahre her.

Sie fühlte Lír neben sich, der einen Arm um ihre Schultern legte und ihr einen Kuss auf die Schläfe drückte. Wortlos hatte er sie verstanden, spürte die heftigen Gefühle durch die dünne Trennwand ihrer Gedanken.

»Steht da nicht so rum wie bestellt und nicht abgeholt«, schimpfte Sofia hinter ihnen. Sie hatte eine Kanne Kaffee und einen Teller mit Cookies in Händen. »Setzt euch hin.«

»Ja Grandma«, antwortete Marleen artig und erntete ein Augenrollen von der aktuellen Familienmatriarchin der Cromwells in New Port.

Wenige Augenblicke später saßen sie alle, manche auf den Sofas oder Sesseln, einige auf dem Boden, tranken Kaffee und krümelten mit den Keksen den Boden voll. Dabei redeten sie durcheinander, erzählten sich die Neuigkeiten, die sich seit ihrem letzten Telefonat ereignet hatten und tauschten Klatsch aus.

Obwohl Marleen die Reise noch in den Knochen steckte – trotz Übernachtung in London hatten sie fast dreizehn Stunden Flug inklusive eines Umstiegs in Frankfurt und einer zweieinhalbstündigen Fahrt von Portland nach New Port hinter sich – fühlte sie sich voller Leben und auch der Inkubus an ihrer Seite schien noch nicht müde zu sein.

Es machte Marleen wie jedes Mal ungemein glücklich, wenn sie sah, dass der Mann, den sie und ihre Sirene über alle Maßen liebten, und die Frauen ihrer Familie sich so glänzend verstanden. So wie jetzt, als Anna ihn gnadenlos aufzog und Lír es ihr genauso heimzahlte.

Einige Zeit später wechselten sie alle in die Küche und während Nadja und Sofia das Abendessen vorbereiteten saßen sie am Esstisch und unterhielten sich weiter.

Marleen ließ ihren Blick durch die Küche wandern, die sie schon seit ihrer Kindheit kannte. Draußen dämmerte es bereits und sie erahnte nur noch die Landschaft vor den Fenstern. Dennoch wusste sie genau, wie es dort aussah, kannte den Schwung der Klippen und wie sich das Meer dahinter ausbreitete. Der Salzgeruch war so vertraut, auch in England lag er immer in der Luft und doch war es hier ein anderes Aroma.

Lír und sie hatten sich die Zeit genommen, bevor sie zum Haus der Cromwells gegangen waren, einige Minuten hoch über dem Pazifik zu stehen. Marleen hatte gewusst, dass sie dafür kaum noch Gelegenheit haben würde, wenn sie erst ihre Familie begrüßt hätte.

An Lírs Brust gelehnt, seine Arme um ihre Taille, hatte sie das Rauschen der Wellen und die Sonne auf ihrer Haut genossen. Der Wind war kalt gewesen, für Anfang November ganz normal in dieser Gegend, und doch hatte es unglaublich gutgetan.

»Ich habe euch so vermisst«, sagte Marleen in eine der wenigen Gesprächspausen hinein. Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf sie.

»Wir haben dich auch vermisst«, kam es von Luna, die ihr gegenübersaß. Sie war bisher die Einzige, die das Anwesen in St. Ives besucht hatte. Geplant zumindest, denn ihre Tante Helena war ebenfalls schon in Südengland gewesen. Vor einer gefühlten Ewigkeit.

Anna neigte den Kopf und sagte lächelnd: »Und ich dachte, bei dem ganzen Trubel hast du keine Zeit uns zu vermissen.«

»Dafür ist immer Zeit«, betonte Marleen, ehe sie mit einem Seufzen hinzufügte: »Wobei es mir ehrlichgesagt lieber wäre, wenn es mal einige Zeit ruhiger zugehen würde.«

»Das glaube ich dir«, sagte Sofia und auch die anderen Frauen ihrer Familie murmelten ihre Zustimmung. Ein Schweigen entstand, aufgeladen durch die Gedanken, denen jeder nachhing. Marleen musste sie nicht lesen, um zu wissen, was allen im Raum durch den Kopf ging: Die Bedrohung durch die namenlose Organisation, die schon so vielen ihrer Freunde Leid zugefügt hatte.

Und doch … Marleen überkam eine Gänsehaut und sie lehnte sich näher an Lír, als sie an die kühlen Augen des Mannes in schwarzem Anzug dachte, der ihnen so unverhofft geholfen hatte. Nie würde sie die Berechnung, die gnadenlose Intelligenz im Frostgrün seines Blickes vergessen.

Es wäre eine Untertreibung zu behaupten, dass jeder auf dem Anwesen die ersten Tage nach ihrer Rückkehr übernervös gewesen war. Bei jedem unerwarteten Geräusch waren sie zusammengezuckt und hatten mit dem Schlimmsten gerechnet. Besonders Patrik hatte ihr leidgetan, der selbst beim Besuch des Postboten fast einen Herzinfarkt erlitten hätte.

Erst als nach einer Woche immer noch kein Killerkommando das Anwesen an den Klippen gestürmt hatte, hatten sie sich entspannen können – und genießen, dass sie drei neue Mitglieder bei Alii hatten. Vor allem bei den Gedanken an Raven wurde es Marleen ganz warm ums Herz, denn wenn jemand Glück verdient hatte, dann war sie es. Noch jetzt regte sich in Marleen die Unbarmherzigkeit der Sirene, wenn sie daran dachte, was der Banshee in ihrem Leben angetan worden war.

Gefangenschaft, Folter und der Zwang, ihre Gabe zu blutigen Morden einzusetzen … Es war Marleen ein Rätsel wie sie sich ihre Persönlichkeit und vor allem ihren guten Kern hatte bewahren können. Sie würde immer mit Schatten in ihrer Seele leben müssen, doch nun erlebte sie endlich mit Owen an ihrer Seite auch Glück und Lachen.

Denn dass der Lamia sie glücklich machen würde, stand außer Frage. Die beiden zusammen zu beobachten, wie sie beisammen hingen wie Pech und Schwefel und so unübersehbar verliebt waren, war ein schöner Anblick. Jeder gönnte es ihnen von Herzen. Auch Natalia, egal wie viel sie sich darüber beschwerte. Man merkte ihr ganz genau an, dass sie sich für ihren langjährigen Freund freute.

Was sie selbst anging … Marleen würde sie vielleicht nach ihrer Rückkehr darauf ansprechen, was sie bedrückte. Irgendetwas belastete die Hackerin, das sie nachts nicht schlafen und stattdessen durch das Haupthaus wandern ließ. Das wusste Marleen auch ohne ihre neue Lauschfähigkeit zu nutzen.

Der Gedanke an die anderen Kräfte, die sie nach und nach zu sammeln schien – die Giftdrüsen und die Fähigkeit Wasser zu manipulieren – dämpften ihre Euphorie über das Wiedersehen mit ihrer Familie.

»Hey, was ist los?«, fragte Lír, sie fühlte ihn dicht an ihrem Geist. Natürlich hatte er sofort die Veränderung in ihren Gedanken bemerkt.

»Ich mache mir Sorgen darüber, zu was ich mich entwickle«, erwiderte Marleen und mehr musste sie ihrem Gefährten nicht sagen. Viele Stunden hatten sie miteinander darüber geredet. Vor allem, nachdem Shari zweifelsfrei Nagagift in Marleens Speichel festgestellt hatte. Marleen hatte solche Panik gehabt, dass sie Lír mit einem einfachen Kuss umbringen könnte, dass sie sich geweigert hatte ihn überhaupt zu küssen.

Erst nach vielen Diskussionen mit ihm und der Bestätigung von Shari und Eliah, dass Marleen es auf jeden Fall merken würde, wenn sich die Giftdrüsen leerten, war sie wieder lockerer geworden. Dennoch … sie mussten so schnell wie möglich herausfinden, was mit Marleen vor sich ging.

»Hallo, Erde an Marleen!«

Eine Hand wedelte vor ihren Augen und zerrte sie zurück in die Gegenwart.

»Hm?!«

»Wo bist du denn gerade gewesen?« Sara sah sie mit einem breiten Grinsen an, das ihre weißen Zähne zeigte. Viel weiße Zähne.

»Ach … hier und da …«, erwiderte Marleen.

»In unseren Köpfen?«, kam es sofort von Luna, die sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte, als hätte Marleen eine ansteckende Krankheit. Das und der schockierte Ausdruck in ihren grünen Augen brachten Marleen zum Lachen, so dass auch die letzten Reste der düsteren Gedanken von ihr abfielen.

»Nein, ganz sicher nicht«, gluckste sie. »Ich habe das wirklich gut im Griff, dank Loanas Mutter.«

»Elodie heißt sie, nicht wahr?«, wollte Anna wissen und fügte hinzu: »Das ist so ein schöner Name.«

»Finde ich auch. Sie ist auch total nett und ich habe ihr viel zu verdanken. Nicht nur, dass mich die anderen Bewohner nicht in den Keller gesperrt haben.«

»Jetzt übertreib nicht«, forderte Nadja und verdrehte die Augen.

Sofia, die eben den Deckel auf den großen Topf gelegt hatte, um die Sauce für die Nudeln einkochen zu lassen, die es zum Abendessen geben sollte, drehte sich zu ihnen um und fragte: »Sollen wir heute schon mit dem Brainstorming beginnen?«

Sie musste nicht erklären, was sie damit meinte. Doch so sehr Marleen sich auf den Austausch mit ihrer Familie zu ihrer eigenwilligen Entwicklung austauschen wollte, schüttelte sie doch den Kopf.

»Nicht heute und auch nicht morgen. Zum einen bin ich dafür dann doch zu platt von der Reise und zum anderen sollten wir auf Sullivan warten. Ich bin sicher übermorgen auch noch so seltsam.«

Gelächter flutete durch die Küche. Marleen fühlte nicht nur Lírs Belustigung, sondern auch die Vorfreude bei der Erwähnung des Namens seines Großvaters. Er hatte den alten Inkubus genauso lange nicht gesehen wie Marleen ihre Familie. Da Sullivan partout nicht in ein Flugzeug steigen wollte, um nach Südengland zu kommen, und eine Aversion gegen Videochats hatte, freute sich Lír umso mehr ihn in zwei Tagen endlich wiederzusehen.

Schließlich hatte Sullivan ihn praktisch aufgezogen, nachdem seine Eltern gestorben waren.

Genug jetzt mit den trüben Gedanken, sagte sich Marleen. Die konnten warten. Jetzt wollte sie mit ihrer Familie zusammen sein, am kommenden Tag Saras Geburtstag feiern und vor allem endlich wieder den Pazifik durch ihre Kiemen fließen lassen.

Oh, welch süße Heimkehr …

Zehn Stunden später, nachdem Lír und sie wie Steine in Marleens altem Bett geschlafen hatten, schlüpfte Marleen in eine weite Leggins und einen übergroßen Pullover, band sich die langen schwarzblauen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz und verließ das Zimmer. Ihr Gefährte war noch dabei zu duschen, er würde sicher bald nachkommen.

Schon auf dem Flur im Obergeschoss hörte sie das geschäftige Treiben in der Küche. Ein breites Grinsen im Gesicht ging sie hinunter und sah sich ihrer Mutter sowie Luna und Nadja gegenüber. Der Esstisch bog sich bereits unter so vielen Pancakes, dass es an ein Wunder grenzte, dass er nicht schon zusammengebrochen war. Und die anwesenden Frauen waren damit beschäftigt noch mehr der fluffigen Köstlichkeiten zuzubereiten.

»Guten Morgen«, sagte Marleen, ließ sich von Anna umarmen und nahm von Luna sofort einen weiteren gefüllten Teller entgegen.

»Hey Süße«, kam es von Nadja, die halb in der Vorratskammer steckte. »Habe ich das richtig gehört oder haben Lír und du gestern keinen Sex mehr gehabt?«

»Stimmt.« Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ihre Mutter sie an. »Ich hatte fest damit gerechnet, dass hier mal wieder die Wände wackeln würden.«

Nadja knallte die große Sirupflasche so heftig auf den Tisch, dass Marleen Angst um das Glas hatte.

»Ich wusste es«, verkündete sie. »Es ist dir doch mittlerweile zu langweilig nur mit einem Typen zu vögeln.«

»Wer hat die Wette denn dann gewonnen?« Luna sah zwischen den Frauen hin und her.

Marleen begann zu glucksen. Immer lauter und lauter, bis es sich zu einem ausgewachsenen Lachanfall steigerte.

»Ihr seid sowas von verrückt!« Sie lehnte sich mit der Hüfte gegen die Arbeitsplatte, schüttelte noch immer lachend den Kopf und fügte hinzu: »Erstmal – ja Mom, wir haben gestern nicht miteinander geschlafen. Das haben wir heute Morgen unter der Dusche getan. Und nein, es ist mir nicht zu langweilig mein restliches Leben nur mit Lír zu vögeln.«

»Ach«, kam es mit tiefer Stimme hinter ihr, kurz bevor besagter Mann in die Küche kam. Seine bernsteinfarbenen Augen glommen auf, als würde man auf ein Kohlefeuer blasen und ließ damit Marleens Körpertemperatur ansteigen. Das zusammen mit seinem verwegenen Grinsen reichte schon aus, dass ihr noch genauso heiß wurde wie am ersten Tag, als sie ihn im Café ihrer Familie zum ersten Mal gesehen hatte.

Nein, das stimmte nicht. Das Gefühl war noch viel intensiver geworden.

Während ihr Gefährte, der wie sie ein Monster war, seinen Arm um sie legte und den Damen einen guten Morgen wünschte, sagte Marleen verschnupft: »Ich kann nur nicht glauben, dass ihr Wetten abgeschlossen habt.«

»Es war Sofias Idee!«, kam es postwendend von Luna.

»Ihr seid so ein verrückter Haufen«, lachte Lír.

»Das hat Marleen auch eben gesagt.« Anna zwinkerte ihm zu, während sie noch einen Stapel Pancakes auf den Tisch quetschte.

»Wo steckt eigentlich Sofia?«, wollte Marleen wissen. Dass Sara noch schlief, war kein Wunder, selbst wenn sie nicht Geburtstag gehabt hätte. Sie schaffte es selten ohne Wecker aus dem Bett.

»Sie müsste gleich wieder da sein«, antwortete Nadja. »Sie wollte die Champagnerflaschen aus dem großen Kühlschrank im Café holen.«

»Gibt es denn noch etwas zu tun?«, erkundigte sich Lír.

Anna schüttelte den Kopf, deutete auf den Tisch und befahl ihnen, sich zu setzen. Kurz darauf kam dann auch Sofia mit dem Alkohol zurück, öffnete eine der Flaschen und füllte die Gläser am Tisch, während Anna ging, um das Geburtstagskind zu wecken.

Lír neben ihr beugte sich zu ihr, so dass sie seinen Geruch nach Mann und Seife erhaschte, und fragte halblaut: »Wer soll denn das alles essen?«

»Wie gut kennst du meine Familie?«, fragte Marleen und grinste vor sich hin, was den Mann an ihrer Seite zum Lachen brachte.

»Stimmt, wie konnte ich das nur vergessen.«

Sie unterhielten sich locker miteinander, umgeben von dem herrlichen Duft des Frühstücks, bis sie Stimmen und Schritte auf der Treppe hörten. Als Sara und Ana zurück in die Küche kamen, standen Marleen, ihre Schwestern, ihre Großmutter und Lír auf und sangen laut und fröhlich ›Happy Birthday‹. Ihre jüngste Schwester sah noch etwas verschlafen aus, die blutroten Locken unordentlich zu einem Dutt aufgesteckt, doch sie grinste glücklich in die Runde.

Nachdem die letzte Strophe gesungen war, wurde Sara von einem Meer aus Umarmungen, Küssen und Glückwünschen begraben. Es wurde viel gelacht, kleine Sticheleien ausgeteilt und noch mehr gelacht. Nadja drückte jedem ein Champagnerglas in die Hand, alle wiederholten ihre Geburtstagswünsche, stießen miteinander an und tranken … bis auf Sara.

»Was ist los?«, fragte Anna sofort, die hellen Brauen zusammengezogen.

»Ist der Schampus nicht gut?«, wollte Sofia wissen und roch an ihrem Glas, während Luna verkündete: »Ich habe alle Gläser aus derselben Flasche gefüllt.«

»Ich bemerke nichts«, sagte Lír und nippte nochmal an seinem Glas.

»Es liegt nicht am Sekt«, verkündete Sara und grinste breit – und da fiel der Groschen.

»Oh. Mein. Gott!«, kreischte Marleen, drückte Lír ihren Champagner in die Hand und zog ihre jüngere Schwester in eine typische Cromwell-Umarmung: Mit so viel Körperkontakt wie möglich.

»Du bist schwanger!«

Sara konnte kaum mehr tun, als wage zu nicken, und das Chaos brach aus. Alle Cromwells redeten durcheinander, schoben sich immer wieder abwechselnd zur Seite, um Sara zu umarmen, ihr Küsse auf die Wangen zu drücken und ihr den Pullover hochzuziehen, um über den noch flachen Bauch zu streichen.

»Wie weit bist du?«

»Warum hast du es uns noch nicht früher gesagt?!«

»Wann ist denn das passiert?«

»Hast du deswegen gestern gefroren?«

»Wie konntest du es uns verschweigen?!«

»Ich werde Großmutter!«

»Und ich Tante!«

»War es Absicht oder ein Unfall?«

»Wir müssen sofort Thea anrufen.«

»Und Helena!«

»Vergesst Romy und Diana nicht …«

»Ich hole das Telefon!«, kam es von Anna und sie verließ das Zimmer – hüpfend wie ein Teenager und nicht wie eine fünfzigjährige Frau. Was vielleicht daran lag, dass sie noch aussah wie dreißig und eben … nun, eine Cromwell war.

Marleen zumindest konnte es einhundertprozentig nachempfinden, denn auch sie hatte das Bedürfnis, vor Freude auf und ab zu springen. Trotz der Aufregung in ihr und um sie herum hielten zum Glück ihre telepathischen Schilde und sie hörte nur ihre eigenen Gedanken.

Und natürlich die des einzigen Mannes im Raum, der eben Sara wieder absetzte, nachdem er sie in die Arme genommen und einmal im Kreis gedreht hatte, so dass die junge Sirene ausgelassen gelacht hatte.

Als Lír sich wieder zu ihr gesellte, fragte er: »Ich nehme an es ist nicht üblich nach dem Vater zu fragen und ob Sara es ihm sagen wird?«

»Nein«, erwiderte Marleen und schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »So ist es Familientradition.«

»Das dachte ich mir schon.«

Ein ungutes Gefühl im Magen setzte Marleen an: »Es ist …«

»Du brauchst es nicht zu erklären«, unterbrach er sie und gab ihr einen schnellen Kuss. »Ich weiß ganz genau warum. Es ist nötig zum Schutz deiner Nichte.«

»Ja.« Und mehr brauchte Marleen dazu nicht zu sagen.

Stattdessen machte sie sich daran Saras Sekt gegen Cranberrysaft auszutauschen, sie auf einen Stuhl zu drücken und ihr mit den Worten »du isst ja jetzt für zwei« einen Berg Pancakes vorzusetzen. Also einen noch größeren als ohnehin.

Gelächter erklang im Esszimmer, die Stimmung war, wenn möglich, noch aufgekratzter als am vorigen Abend. Vor allem als Anna mit dem Telefon zurückkam und sie es tatsächlich schafften, mit Thea und Sofias Schwestern, eine Telefonkonferenz einzuleiten. Helena war im Moment irgendwo zwischen China und Thailand und hatte entweder keinen Empfang oder das Handy war aus.

Bei dem Telefonat wurden schließlich auch alle Fragen von Sara beantwortet:

Dass sie ungefähr im dritten Monat war und es entweder ein Geschäftsmann aus Salem, ein Fernfahrer aus Seattle oder ein Tourist aus Brasilien gewesen war. Unbeabsichtigt.

Ja, sie hätte es verschwiegen, weil sie es unbedingt Marleen und Lír persönlich hatte sagen wollen – an dieser Stelle bekam Marleen tatsächlich Tränen der Rührung in die Augen. Wie unschicklich für eine blutrünstige Sirene.

Während sie all diese Themen abklapperten, Thea gute Ratschläge gab und auch Sofia und Anna sich in dieser Hinsicht nicht lumpen ließen, was oft der Anlass zu neuem Gelächter war, vernichteten sie tatsächlich alle Pancakes und leerten die Champagnerflaschen.

Egal wie es laufen würde, da war Marleen sich sicher, würde ihre jüngere Schwester das wunderbar hinbekommen.

Schließlich war Sara eine Cromwell, verdammt nochmal.

Kapitel 2

Wie erwartet, fand Lír seine Nixe am nächsten Morgen an den Klippen hoch über dem Meer. Gekleidet in Stiefeln, Jeans und einem dicken Pullover, das dunkle Haar zu einem Zopf geflochten, zeichnete sich ihre kurvige Silhouette gegen den grauen Novemberhimmel ab.

Die Hände in den Taschen seiner Jacke schlenderte er auf sie zu. Es war ein schönes, aber auch eigenwilliges Gefühl, wieder hier in New Port zu sein und mit den Sirenen zusammen zu sein. Es war so viel passiert, seit sie das letzte Mal hier gewesen waren. Es kam Lír vor wie ein anderes Leben, als er mit der vagen Hoffnung in diese Kleinstadt gekommen war hier etwas über den vermeintlich verschollenen Zweig seiner Familie zu erfahren.

Was er stattdessen gefunden hatte … war einfach unglaublich. Nicht nur die Frau, die sein Herz und seine Seele besaß. Und deren Gedanken so stürmisch und unruhig waren wie das Meer tief unter ihnen.

»Hey du«, murmelte Lír, stellte sich hinter sie und legte seine Arme um ihre Taille. Den Kopf auf ihrem Scheitel aufgestützt ließ auch er seinen Blick zum Horizont wandern.

»Hey.« Marleen legte ihre Hände auf seine Unterarme. »Musstest du vor den Weibern fliehen?«

»Nein«, lachte Lír und meinte es ernst. Ein schwächerer Charakter hätte vielleicht schon die Flucht vor den Sirenen ergriffen, doch er hatte sich schon vom ersten Besuch in dem Haus auf den Klippen pudelwohl gefühlt.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Sara schwanger ist. Ich dachte eigentlich, dass es Nadja zuerst treffen würde. Sie ist …« Marleen zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: »Es liegt nicht daran, dass sie die Älteste von uns ist. Sie ist einfach eher der Typ dafür. Was nicht heißen soll, dass Sara keine wunderbare Mutter sein wird.«

»Natürlich wird sie das.«

Marleen drehte sich zu ihm um und lächelte ihn an, während sie ihre Arme um seinen Hals legte.

»Bist du traurig, dass wir vielleicht keine Kinder bekommen können?«, fragte sie ihn in ihren Gedanken. Lír hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde. Nicht nur, weil er die meiste Zeit konkret wusste oder zumindest ahnte, was seine Sirene dachte.

Sie beide hatten sich schon darüber unterhalten, seit Shari vor einiger Zeit auf diesen Gedanken gekommen war. Von den sechzehn Arten von anderen Anderen, die es laut dem ›Buch über die Fabelwesen‹ gab, waren sechs rein männlich, sieben rein weiblich und nur drei mit gemischten Geschlechtern.

Sirenen bekamen somit nur Töchter und Inkubus nur Söhne, was im Umkehrschluss bedeutete, dass sie zusammen sehr wahrscheinlich keinen Nachwuchs haben würden. Nicht, dass sie es beide in nächster Zeit darauf angelegt hätten. Sie hatten Zeit und außerdem wäre in der aktuellen Situation auf dem Anwesen ein Kind zu bekommen keine gute Idee.

Lír wusste jedoch, dass Kalliope und Damian – sie eine Harpyie und er ein Neck – gerne Kinder und damit Nichten oder Neffen für Kalliopes Halbschwester Phoebe hätten, die noch ein Teenager war. Ein Teil von Sharis Forschungsarbeiten beschäftigte sich mit dieser Frage.

Es war schließlich gut möglich, dass sich die limitierenden Faktoren beider Arten gegenseitig aufhoben. Lír hoffte es für die beiden und auch für die anderen Paare bei Alii, die eine ähnliche Konstellation ihrer Arten aufwiesen.

Das alles im Hinterkopf antwortete er Marleen: »Nein, bin ich nicht. Wir haben im Moment alle Hände voll damit zu tun uns um die Bewohner des Anwesens zu kümmern.«

»Vergiss meine ausufernden Fähigkeiten nicht.«

»Dafür wollen wir ja nun eine Lösung finden«, erwiderte Lír und küsste seine Gefährtin auf den Scheitel.

Sie seufzte tief, presste sich damit näher an ihn. »Hoffentlich. Wann müssen wir Sullivan abholen?«

»Demnächst«, sagte Lír. Sein Großvater, der eigentlich in Sacramento in Kalifornien wohnte, war auf dem Weg zu ihnen nach Oregon.

Er hatte am vergangenen Abend den Fernzug nach Norden genommen, der die ganze Nacht durchgefahren und vor etwa dreißig Minuten in Corvallis angekommen war. Von dort hatte Sullivan bei den Cromwells angerufen, bevor er in seinen Anschlusszug gestiegen war, damit sie wussten, wann sie ihn am Bahnhof in New Port abholen mussten. Für den letzten Teil der Strecke würde er etwas mehr als eine Stunde benötigen.

Sein Anruf war vor vierzig Minuten gekommen, es war also an der Zeit sich langsam auf den Weg zu machen.

In Marleens saphirblauem Blick stand ein Lächeln. »Ich freue mich so ihn widerzusehen und bin gespannt, wie er sich mit meiner Familie versteht.«

»Telefoniert hat er mit Sofia ja schon oft genug«, sagte Lír mit einem Grinsen. Hand in Hand begaben sie sich auf dem Weg zurück zum Haus, spekulierten und lachten dabei über die möglichen Szenen, die sich in wenigen Stunden im Haus der Cromwells abspielen würden.

So wie am vergangenen Tag auch war das Café geschlossen, so dass auf dem Parkplatz davor nur die Autos der Cromwells sowie der Mietwagen von Lír und Marleen standen. In diesen stiegen sie ein und fuhren zum Bahnhof. Auf ihrem Weg kamen sie an der Bibliothek vorbei.

»In die wollte ich auch noch gehen«, verkündete Marleen und sah aus dem Fenster zu dem Gebäude.

»Um nochmal wegen dem Fabelbuch nachzufragen?«, vermutete Lír, woraufhin sie entschieden nickte.

»Es muss doch irgendeinen Hinweis geben, woher es stammt und wer es geschrieben hat.«

Lír murmelte etwas Zustimmendes, den Blick wieder auf die Straße gerichtet. Er war es gewesen, der vor all den Jahren bei seiner Suche nach seiner Familie das Buch in der örtlichen Bücherei entdeckt hatte. Kunstvoll verziert, mit detaillierten Illustrationen und sehr konkreten Informationen über sechzehn Arten von Fabelwesen, hatte das ›Buch über die Fabelwesen‹ seine Neugier geweckt gehabt. Vor allem, als er entdeckt hatte, dass alle Angaben über Inkubus absolut korrekt, wenn auch etwas lückenhaft gewesen waren.

Nachdem er es Marleen gezeigt und sie ihm den Eintrag über die Sirenen bestätigt hatte, hatten sie das Buch nicht hierlassen können, sondern mit ihm als Grundlage ihre Suche nach den anderen Anderen gestartet.

Und sieh, an wo wir gelandet sind, dachte Lír und lächelte vor sich hin.

Der einzige Haken an dem ›Buch über die Fabelwesen‹, was auch seinen Freund Patrik anfangs kaum Ruhe gelassen hatte, war, dass das Buch keinerlei Impressum hatte. Nirgends war der Autor oder der Verlag verzeichnet. Auch damals, als Lír es mitgenommen hatte, war der Bibliothekar ganz verwundert gewesen, denn er hatte das Buch nicht in der Datenbank gehabt.

Seither hatten sie immer wieder versucht mehr darüber herauszufinden, aber ihr Exemplar schien tatsächlich das einzig bekannte weltweit zu sein.

Sehr mysteriös.

Die restliche Fahrt zum kleinen Bahnhof von New Port legten sie schweigend zurück. Dort angekommen dauerte es nur wenige Minuten, bis der Zug aus Corvallis einfuhr – und Lírs Aufregung und Vorfreude steigerte sich mit jeder Sekunde. Suchend sprangen seine Augen durch die Traube aus Fahrgästen, die sich auf den Bahnsteig ergossen …

»Da ist er«, verkündete er, griff Marleens Hand fester und zog sie mit sich direkt auf den Mann zu, der ihn großgezogen hatte. Mit seinen ein Meter achtzig war Sullivan nur geringfügig kleiner als Lír und stach aus der Menge hervor. Sein grauer Schopf tat sein Übriges. Mit großen Schritten ging Lír ihm entgegen, Sullivan hatte ihn ebenfalls entdeckt.

»Hallo mein Junge«, sagte er und schloss Lír fest in die Arme.

»Großvater.«

Sie lösten sich voneinander und Lír bemerkte, wie sehr sich der alte Inkubus freute, seinen Enkel zu sehen. Die dunkelbraunen Augen mit der hellen Maserung, die Lír schon immer an Walnussholz erinnert hatten, lachten ihm aus Sullivans Gesicht entgegen.

Sein Haar war an den Schläfen nun komplett weiß, er hielt sich aufrecht und hatte noch eine gute Figur, trotz des kleinen Bauchansatzes, aber dennoch … Man mochte ihn jünger als vierundsiebzig schätzen, doch ein alter Mann war er trotzdem. Er würde in den nächsten zwanzig Jahren sterben, da er als Inkubus nur eine normale menschliche Lebensspanne hatte.

Im Gegensatz zu Lír, der dank seiner Sirenen-Gefährtin sehr viel länger leben würde ohne nur einen Tag zu altern. Er würde Sullivan überleben und auch seinen Freund Patrik.

Lírs Herz tat ihm bei dem Gedanken weh. Sofort fühlte er Marleen dichter an der Barriere zwischen ihren Gedanken, sie übermittelte ihm wortlos ihre Zuneigung und ihren Trost.

»Gut siehst du aus«, brummte Sullivan, ehe er sich von Lír löste und zu Marleen sah. Sein Blick wurde weicher. »Und du bist noch genauso schön wie bei unserem letzten Treffen.«

»Du Charmeur«, lachte die Sirene, umarmte Sullivan fest und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Wir sind so froh, dass du hier bist. Wie war die Zugfahrt?«

»Besser als fliegen.«

Lír lachte und schüttelte den Kopf, nahm den Koffer seines Großvaters und zu dritt gingen sie zum Auto zurück. Marleen hatte sich bei Sullivan eingehakt und sie unterhielten sich angeregt.

Die lockere Stimmung hielt weiter an, vor allem während die Cromwells seinen Großvater in ihrem Haus begrüßten. Es war ein eigenwilliges Gefühl, als er sah wie Sofia und Sullivan sich unterhielten und dabei im Hinterkopf zu haben, dass Marleens Großmutter mit ihren zweiundachtzig Jahren sogar noch älter war als sein Großvater – und dabei locker als Marleens Schwester hätte durchgehen können.

Ihre überraschend freundliche und wohlerzogene Schwester.

»Muss ich mir Sorgen machen, weil sie sich so gut benehmen?«, fragte Lír die Sirene an seiner Seite, die ihm daraufhin einen schelmischen Blick zuwarf. Sie wusste genau, dass er darauf anspielte, dass noch keine ihrer Verwandten die Sirenenstimme benutzt hatte.

»Das hält nicht lange an, glaub mir. Spätestens heute Abend wird Sullivan sich wünschen taub zu sein oder meine Familie strangulieren zu können.«

Lír lachte leise vor sich hin, nippte an seiner Kaffeetasse und lauschte weiter den Gesprächen im gemütlichen Wohnzimmer der Cromwells. Er hatte sich keine Sorgen darüber gemacht, dass sein Großvater und Marleens Familie sich nicht verstehen würden.

Sie hatten sich zwar bereits telefonisch ausgetauscht, dennoch war dieses persönliche Kennenlernen eine ganz eigene, besondere Gelegenheit für alle. Für einige Momente vergaß Lír sogar, dass sie nicht aus einem beunruhigenden Grund hier zusammensaßen, sondern so tun, als würden sich tatsächlich nur die Familie O’Callahan und Cromwell kennenlernen, weil Marleen und er ein Paar waren.

Natürlich war es lächerlich in dieser Fantasie zu verweilen.

»Wann wollen wir über Marleen reden?«, fragte der alte Inkubus und sah dabei zu Lírs Gefährtin. Sofort erhielt die Stimmung im Raum einen Dämpfer.

Sofia, die neben Sara auf einem der kleineren Sofas saß, zuckte mit den Schultern und sagte: »Von mir aus sofort.«

»Wir haben alle Unterlagen schon hier«, sagte Anna, griff neben sich und hob einen Ordner in die Höhe.

Ein Prickeln lief durch Lírs Körper und er erwiderte den Druck von Marleens Fingern, die sie mit seinen verschränkt hatte. Sie hatten in unzähligen Telefonaten und Videochats schon versucht zusammen mit ihrer Familie sowie Shari und Nikolai, die sich auf dem Anwesen mit diesem Phänomen beschäftigten, herauszufinden warum Marleen mehr und mehr neue, übernatürliche Fähigkeiten dazugewann.

Kein anderer Anderer auf dem Anwesen in Südengland zeigte diese Eigenschaft. Das machte nicht nur Marleen nervös, sondern ihn auch. Noch kam sie mehr oder weniger gut mit den Veränderungen zurecht, aber wer wusste schon wie lange noch.

Das Schlimmste daran war die Unwissenheit, warum das passierte. Niemand hatte bisher eine Erklärung finden können.

»Ich habe mir auch Notizen gemacht«, sagte sein Großvater. »Ich hatte vorgestern einen Einfall.«

Sullivan bückte sich, zog aus seinem Aktenkoffer einen kleinen Notizblock und seine Lesebrille. Er blätterte etwas, bis er scheinbar die passende Stelle gefunden hatte.

»Ah ja … Marleen, in welcher Reihenfolge sind die neuen Fähigkeiten aufgetreten?«

»Erst die Telepathie, dann das Gift und danach die Wassermagie.«

»Hm«, murmelte Sullivan und strich sich über seinen gestutzten Bart. Die Geste war so schmerzlich vertraut, dass Lír lächeln musste. Wie viele Abende waren sie zusammengesessen, hatten den Spuren ihrer vermeintlich verschollenen Blutlinie nachgejagt und sich den Kopf zerbrochen, wo sie weitersuchen konnten. Immer, wenn sein Großvater tief in Gedanken war, machte er diese Geste.

»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte Lír.

»Ich glaube, ich weiß worauf Sullivan hinauswill«, kam es von Luna. Alle Augenpaare richteten sich auf Marleens Schwester mit den blonden Haaren.

»Was denn?«

Sie sah zu Sara, die die Frage gestellt hatte, und antwortete: »Marleen hat die eigentlichen Eigentümer dieser Fähigkeiten genau in derselben Reihenfolge kennengelernt.«

»Stimmt«, entwich es Marleen. »Erst Lír, dann Shari und Eliah und dann kam Damian auf das Anwesen.«

Anna blinzelte überrascht und fragte: »Heißt das, dass du als nächstes anfängst den Wind zu manipulieren? So wie Kalliope und Phoebe?«

»Oder du bekommst dieses Dämonengesicht, wenn du wütend bist«, stichelte Luna und gluckste vor sich hin.

Lachend fügte Nadja hinzu: »Sie ist auch ohne schon zum Fürchten, wenn sie sauer ist.«

»Kinder!«, verlangte Sofia und hob die Hände, als ihre Enkelinnen drauf und dran waren vom Thema abzuschweifen.

Marleen neben ihm räusperte sich. »Es ist zumindest ein Ansatz. Sollte ich anfangen Stürme heraufzubeschwören, dann können wir es als sicher ansehen.«

»Schön und gut«, warf Lír ein, »aber warum machst du das?«

»An eine verborgene Sirenenfähigkeit glaube ich nicht.«

»Woher willst du das wissen Grandma?«, fragte Marleen. »Keine von uns oder unseren Vorfahrinnen hat unseres Wissens nach so viel Zeit mit anderen Anderen verbracht. Es könnte doch sein, dass euch dasselbe passiert, wenn ihr länger auf dem Anwesen lebt.«

»Ganz ehrlich meine Liebe, ich denke nicht«, sagte Sullivan sanft. Seine braunen Augen hinter den Brillengläsern musterten Marleen aufmerksam. »Ich denke wirklich, dass das sonst nicht zu eurem Repertoire gehört.«

Lír fühlte, wie unwohl Marleen bei dieser Aussage wurde. Das Rumoren ihrer Gedanken nahm zu und glich unruhiger See.

»Anna, kann ich bitte mal sehen?«, fragte Sullivan und streckte die Hand nach dem Ordner aus. Sofort reichte sie ihn weiter. Er schlug ihn auf, las und tippte auf einen Absatz. »Und wie war das nun während Marleens Schwangerschaft? Habt ihr etwas finden können, dass ungewöhnlich gewesen wäre?«

»Du denkst immer noch daran, dass es etwas Biologisches sein könnte?«, fragte Lír nach, woraufhin sein Großvater nickte.

»Obwohl wir das schon verworfen hatten, habe ich mir die Einträge nochmal angesehen«, sagte Sofia. Sie sie zuckte mit den Schultern und Anna fügte hinzu: »Ich kann mich wirklich an nichts Ungewöhnliches erinnern. Es ging mir genauso gut oder schlecht wie davor bei Nadja und Luna.«

»Du hattest eine ungesunde Vorliebe für Kiwi-Marmelade«, sagte Sofia mit einem breiten Grinsen, was zu Gelächter unter ihren Enkelinnen führte.

»Kiwi-Marmelade?«, fragte Marleen nach und verzog das Gesicht. »Das ist ja ekelhaft.«

Anna zuckte grinsend mit den Schultern. »Ich konnte sie auch kurz nach deiner Geburt nicht mehr leiden, selbst der Geruch war unerträglich.«

»War das bei mir auch so?«, wollte Luna wissen – und es entbrannte eine lebhafte Diskussion, was Anna und auch Sofia während ihren Schwangerschaften an Gelüsten an den Tag gelegt hatten: Von den klassischen Gewürzgurken und eingelegten Heringen bis hin zu Corndogs mit Vanilleeis waren allerhand Dinge dabei, die einem schon vom Zuhören den Magen verdarben.

»Ihr macht mir ja Hoffnungen«, warf Sara mit einem Lachen ein, eine Hand auf ihrem Bauch liegend.

Grinsend beugte sich Marleen an Lírs Seite nach vorne und fragte: »Wie wäre es mit einer Avocado mit Karamellsauce?«

Ein kollektives Aufstöhnen ging durch die Anwesenden, mehr als ein halbes Dutzend Mundwinkel wurden angewidert nach unten gezogen.

»Lírs Mutter hat während ihrer Schwangerschaft Unmengen an Donuts mit Preiselbeerfüllung verspeist.«

Überrascht und mit einer Mischung aus Wehmut und Freude sah Lír seinen Großvater an. Er erinnerte sich kaum noch an seine Mutter und seinen Vater, die Bilder waren schon in seiner Teenagerzeit verblasst. Hätte er nicht das kleine Fotoalbum, das er wie einen Schatz hütete, dann würde er sich vielleicht gar nicht mehr an ihre Gesichter erinnern können.

»Das wusste ich gar nicht.«

»Ich habe auch lange nicht daran gedacht«, murmelte Sullivan, ein schiefes Lächeln auf den Lippen.

Anna neigte lächelnd den Kopf zur Seite und sagte in neckenden Tonfall: »Kein Wunder, dass du so ein Süßer geworden bist.«

Gelächter erfüllte das Zimmer und wusch regelrecht die Anspannung von ihnen ab. Es war eine ganz andere Form der Magie, die nichts mit ihrer sonstigen Nichtmenschlichkeit zu tun hatte, die die Cromwells in der Lage waren zu weben.

Nein, sie hatte viel mehr mit Liebe und einem unerschütterlichen Familienzusammenhalt zu tun.

»Okay, das ist dann wohl eine Sackgasse«, verkündete Marleen und brachte damit die Aufmerksamkeit aller wieder zurück auf das Ursprungsthema. Anspannung kroch in ihre Schultern – und Lír wusste schon, was sie gleich fragen würde.

»Mom?«, kam es schon von ihr, sie beugte sich ein Stück vor und wartete, bis Anna sie ansah. »Mom, ich weiß dieses Thema war bisher immer unwichtig und es würde mich auch nicht interessieren, wenn ich gerade nicht Fähigkeiten sammeln würde wie andere Leute Briefmarken, aber …«

»Du willst wissen, wer dein Vater ist?«, kam es da schon von der blonden Sirene. Dieses Mal war ihr Lächeln angespannt, nicht so locker wie noch vor wenigen Minuten.

»Ja«, bestätigte Marleen, Aufruhr in ihren Gedanken und Gefühlen. Die Anspannung jedes Einzelnen war beinah mit Händen zu greifen, während sie auf Annas Antwort warteten.

Kapitel 3

Das kleine Radiogerät in der winzigen Küche war ihre einzige echte Verbindung zu der Welt, die jenseits des Schnees, der Wälder und der Wildnis lag. Manchmal, an guten Tagen mit klarem Himmel, schnappte sie mit etwas Geschick Signale von tausenden Meilen Entfernung auf.

An Tagen wie diesem jedoch, wo der Wintersturm Schnee und Eis um ihre Hütte peitschen ließ, als wolle er mit den harten Kristallen das Holz fortschmirgeln, da empfing sie gerade einmal den örtlichen Sender.

Krächzend und kaum verständlich durch das statische Rauschen, quälte sich die Stimme des Nachrichtensprechers durch den Äther.

»Die Unwetterwarnung der Behörden bleibt bestehen. Bitte verlassen Sie nicht ihre Häuser, bis sich der Sturm gelegt hat.«

Yue lächelte sanft. Die Menschen mussten immer so übertreiben. Sie selbst hatte schon ganz andere Stürme gesehen – solche, die es schafften ganze Städte unter sich zu begraben, dass nur noch eine weiße Ebene übrigblieb. Stürme mit so viel Eis und Kälte, dass Tiere an Ort und Stelle eingefroren waren, wie groteske Eisskulpturen.

Sie lauschte weiter dem Radio, mittlerweile hatte leise Musik den Sprecher abgelöst, während sie sich einen Tee zubereitete und an den kleinen Tisch in ihrer ebenso kleinen Küche setzte. Es gab nur einen Stuhl. Ebenso wie sie nur diese eine Tasse in ihren Händen besaß, einen Teller im Schrank und einen Bestecksatz in der Schublade.

Mehr benötigte sie nicht.

Ein Knirschen drang von dem Lautsprecher des kleinen Elektrogeräts und ließ sie zusammenzucken. Eine hektische Stimme erfüllte ihre bescheidene Hütte: »Eine dringende Suchmeldung: Drei Wanderer werden vermisst. Sie sind in der Nähe des North Face Hiking Trails das letzte Mal gesehen worden, doch laut dem Betreiber der Liftstation sind sie bisher nicht zurückgekehrt. Alle drei Tragen türkisfarbene Skijacken und bunte Mützen. Sollten Sie sie gesehen haben oder sonstige Informationen über den Verbleib der Wanderer haben, dann melden Sie sich bitte unter der Nummer …«

Dem Rest der Nachricht lauschte sie gar nicht mehr. Viel zu sehr beschäftigte sich ihr Verstand mit der Brisanz, der Tragik dieser Durchsage. Der Sturm draußen mochte nicht verheerend sein, doch allemal ausreichen, um diesen drei verlorenen Seelen das Leben zu nehmen. Die Natur verzieh keine Fehler, sie bestrafte sie drakonisch.

»Und nun?«, fragte Yue in die Stille ihres Heims hinein, neigte den Kopf, als würde sie eine Antwort erhalten. Doch was sie hörte, waren keine Worte, sondern nur wieder das Ächzen der Balken und das Prasseln des Schnees gegen die Fensterläden. Heulend strich der Sturm um die Ecken.

Für sie waren diese Geräusche so aufschlussreich wie kunstvoll ausgeschmückte Sätze.

»Hm … so ist das.«

Sie nickte, trank ihren Tee und spülte die Tasse aus. Ohne Eile griff sie nach ihrem altmodischen Fellparka, stieg in ihre dicken Stiefel und schlang sich einen Schal um den Hals. Sie vergewisserte sich, dass sie alle Lampen gelöscht hatte, ehe sie das Haus verließ.

Sofort griff der Schneesturm mit eisigen Fingern nach ihr, zerrte an dem langen Zopf, zu dem sie ihr Haar geflochten hatte, und ließ ihn wie eine Peitsche um ihren Körper tanzen.

»Na na«, tadelte sie mit einem Lächeln und hob eine Hand. Yue trug keine Handschuhe und keine Mütze, das brauchte sie nicht. Nicht einmal den Mantel und die Schuhe hätte sie benötigt, doch sie hatte schon vor langer, langer, langer Zeit gelernt, als es noch nicht so moderne Kleidung gegeben hatte, sondern nur grobe Tierfelle und geflochtenen Schilf, dass das so von den Menschen erwartet wurde.

Normale Kreaturen erfroren bei diesen Temperaturen.

Sie nicht … aber das durfte sie niemanden wissen lassen.

Der Sturm ließ auf ihr Handzeichen von ihrem Haar ab, rieb nur noch sanft gegen ihre Beine wie eine Katze. Die Schneeflocken auf ihren Wangen fühlten sich an wie sanfte Küsse, was sie zum Lächeln brachte. Die Freude blieb aber nicht, denn sie musste sich beeilen. Jede Minute, die sie vor ihrer Hütte stand und sich ablenken ließ, könnte den Tod für diese Menschen bedeuten.

Yue hatte es einmal jemandem versprochen, dass sie nichts unversucht lassen würde zu helfen, wenn sie denn die Gelegenheit dazu hatte. Wenn sie sich sputete und der Sturm nicht den Weg mit umgestürzten Bäumen versperrt hatte, dann würde sie innerhalb einer Stunde ihr Ziel erreicht haben. Vielleicht auch ein bisschen schneller.

Entschlossen ging sie los. Ihre Hütte stand ganz am Rand der Stadt, so dass sie nach wenigen Schritten bereits auf dem Waldweg war, der in das Wandergebiet führte. Zwischen den Bäumen war der Wind weniger heftig, der stete Schneefall blieb jedoch. Er legte sich wie eine Schicht aus weißem Puder über sie, hüllte sie ein.

Noch nutzte Yue nichts von ihrer Macht, so dass sie tiefe Abdrücke mit ihren Stiefeln im Schnee hinterließ, während sie Meile um Meile zurücklegte. Sie kannte dieses Gebiet in- und auswendig, wusste genau, wohin sie sich wenden musste, um an ihr Ziel zu gelangen.

Ihr Atem bildete große weiße Wolken vor ihrem Gesicht, als sie schließlich an der markanten Felsformation ankam, die den Trail kennzeichnete. Sie sah sich um – um sie herum nur Bäume, hohe Schneewehen und kleine Windhosen aus Eiskristallen. Selbst die Tiere hatten sich verkrochen.

Gut so, dann würde sie auch niemand sehen.

Ein tiefer Atemzug, ein zweiter und sie löste die Ketten um das Uralte in ihrer Seele. Die Macht, die sie die meiste Zeit ihres Lebens gut versteckt hielt, damit sie unbemerkt unter den Menschen leben konnte. Damit sie nicht so endete wie ihre Zwillingsschwester.

Nach wenigen Herzschlägen berührte sie nicht länger den Boden. Ihr Haar hatte sich selbst aus dem Zopf befreit und umwogte ihren Körper. Der Schneesturm stockte, wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu wie ein guterzogener Hund.

»Guten Abend«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Würdest du mir bitte zeigen, wo die drei verlorenen Seelen sind?«

Die Antwort kam sofort: Eine Windböe drückte in ihren Rücken, schob sie vorwärts. Schnee tanzte vor ihr und lockte sie nach Nordosten. Bereitwillig eilte sie vorwärts, hinterließ keinerlei Abdrücke mehr im Schnee. Auf diese Art kam sie viel schneller vorwärts, da ihr nichts einen Widerstand entgegensetzte.

Die Zeit war unbedeutend, wenn sie ihr wahres Gesicht zeigte, und so konnte sie nicht einschätzen, wie lange es gedauert hatte, bis sie an einen großen Felsen kam, in dessen Windschatten sich ein undefinierbarer Farbklecks drückte: Vornehmlich türkisfarben waren es ohne Zweifel die drei Wanderer.

Ob sie wohl schon tot waren?

Yue hob die Hände und der Schneefall um sie herum hörte schlagartig auf. Um nichts zu riskieren, ließ sie sich wieder auf die Füße sinken, zog ihre Macht so weit in sich zurück, bis sich ihre Augen von dem gespenstischen Reinweiß wieder zu menschlich-dunkelbraun wandelten.

Nach wenigen Schritten war sie bei den drei Wanderern angekommen, streckte eine Hand aus und schob sie dem ersten in den Nacken. Er fühlte sich kühl, aber nicht totenkalt an … und sie spürte einen Puls. Doch das Wichtigste war, dass er zusammenzuckte und den Kopf hob.

»Wer … wer sind Sie?«, kam es rau von ihm.

»Ich bin hier um Sie zu retten.«

Nun hoben auch seine Kameraden die Köpfe. Ihre Augen waren ein wenig trüb, doch sie konnten sie ohne Probleme fokussieren. Ein gutes Zeichen.

»Stehen Sie auf, wir gehen zur Seilbahnstation.«

»Wir haben uns verlaufen«, murmelte einer von ihnen. Er hatte einen dunklen Vollbart.

»Das weiß ich«, erwiderte Yue mit einem Lächeln. »Ich kenne aber den Weg. Vertrauen Sie mir.«

»Wie ist das möglich?«, wollte der mit der schwarzen Mütze wissen.

Statt ihm zu antworten sagte sie: »Wir müssen uns beeilen, sie stehen alle kurz vor einer Unterkühlung.«

Nun kam endlich Bewegung in die kleine Gruppe, sie schulterten ihre Rucksäcke, auf die sie sich gekauert hatten, und sahen sie erwartungsvoll an.

»Bitte bleiben sie dicht hinter mir.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging los, das typische Knirschen der Schritte der Menschen hinter sich.

Der Weg gestaltete sich mühsamer als gedacht. Der Schneesturm war offenbar nicht glücklich damit, dass sie ihm seine Opfer entriss, denn er stemmte sich mit aller Gewalt gegen sie und die drei erschöpften Männer. Sie musste immer mehr und mehr von ihrer Macht nutzen, um die eisfreie Glocke um sie aufrecht zu erhalten und damit zu gewährleisten, dass die Wanderer nicht noch mehr auskühlten und noch vor ihrem Ziel zusammenbrachen. Immer wieder warf sie einen kurzen Blick nach hinten, um zu kontrollieren, dass die drei ihr noch folgten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen endlich die Lichter der Station in Sicht, das dunkle Gebäude lugte zwischen den Bäumen hervor und sie schickte ein Dankgebet an die Geister, dass sie es geschafft hatten. Sie selbst konnte sich kaum noch vorwärtsbewegen.

»Da vorne ist es!«, rief einer der Männer, neues Leben in der Stimme. Auch in seine Freunde kam mehr Bewegung, sie überholten sie sogar und gingen mit ausgreifenden Schritten auf das hellerleuchtete Gebäude zu.

Ein Lächeln legte sich auf Yues Gesicht, sie blieb am Waldrand stehen. Endlich konnte sie die mühsam errungene Kontrolle über den Schnee und das Eis fahren lassen. Der Quell ihrer Macht in ihrem Inneren war beinah versiegt, war so leer wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Tatsächlich fühlte sie sich extrem schwach … so schwindelig …

Sie musste sich abwenden, um zurück zu ihrer Hütte zu gehen. Sie musste verschwinden, wie sie es immer tat. Aber es kam ganz anders. Die Welt um sie herum drehte sich und sie brach zusammen, nur wenige Meter vor der Eingangstür der Station. Das letzte, was sie wahrnahm, war der kalte Kuss des Schnees auf ihrer Wange und die aufgeregten Stimmen der Wanderer.

»Das ist unmöglich!«

»Sehen Sie sich die Werte an, das Gerät lügt nicht.«

»Aber … aber wie kann das sein?«

»Keine Ahnung. Vielleicht hatte sich der Sanitäter an der Station geirrt.«

»Nein, nicht Matt. Ich kenne ihn persönlich, er macht bei sowas keine Fehler. Und er hat oft genug Kältetote gesehen um sie zu erkennen.«

»Die Vitalwerte der Frau sind aber unauffällig, ihr geht es sogar körperlich hervorragend!«

Ein Läuten erklang, ein unangenehmer und durchdringender Laut.

»O verdammt, der nächste Notfall.«

Schnelle Schritte und dann war Stille um sie herum. Nur entfernt waren noch Stimmen und das leise, gleichmäßige Piepsen von Geräten zu hören.

Wo war sie nur?

Es war warm um sie herum, sie lag auf einer weichen Unterlage und auf ihr befand sich ein angenehmes Gewicht. Ein sauberer Geruch lang in der Luft. Träge öffnete sie die Augen, sah eine weiße Decke über sich. Der ganze Raum, das erkannte sie, als sie sich umsah, war in sterilem Weiß gehalten.

Oh, verdammt.

Sie war in einem Krankenhauszimmer.

Nun ergab auch die eigenartige Unterhaltung des Mannes und der Frau, die eben noch an ihrem Bett gestanden haben musste, einen Sinn. Sie war wohl von der Anstrengung ohnmächtig geworden und man hatte sie hierher gebracht. Yue legte sich eine Hand auf die Stirn und verfluchte sich und das Schicksal.

Nun, es half ja nichts. Eilig setzte sie sich auf, sah sich um und entdeckte auf einem Stuhl neben dem Bett ihre Kleidung. Sie streifte sich das dünne Hemd ab, das man ihr angezogen hatte, und schlüpfte in ihre Hose, den Pullover und den Parka. Aber … wo waren denn ihre Schuhe geblieben?

Suchend sah sie sich im Zimmer um, doch von den Stiefeln war nichts zu sehen. Gut, dann musste sie eben ohne nach Hause gehen. Es machte ihr nichts aus, schließlich würde sie keine Erfrierungen davontragen, doch es ärgerte sie. Nun musste sie sich neue besorgen.

Neuer Tumult bildete sich vor ihrem Zimmer, hektische Schritte und Stimmen, ehe ein ganzer Schwarm an Menschen vor der Tür vorbeieilte. Mit klopfendem Herzen wartete sie, dass jemand sie bemerken würde, doch das geschah nicht. Als sie hinaus auf den Gang trat, der grell erleuchtet war, war niemand mehr zu sehen – und sie nutzte ihre Chance.

Mit schnellen Schritten, die kein Geräusch verursachten, ging Yue den Flur hinunter, schlüpfte durch eine Tür mit der Aufschrift ›Treppenhaus – Notausgang‹ und stieg die Stufen hinunter. Kurz darauf erreichte sie eine weitere Tür, drückte sie auf und befand sich auf einem kleinen, dunklen Hinterhof. Unberührt lag der Schnee hier, kein neuer rieselte vom nachtschwarzen Himmel.

Sie fühlte sich nicht mehr so erschöpft wie vor ihrer ungeplanten Bewusstlosigkeit, doch war sie noch lange nicht wieder in der Lage ohne Abdrücke über der weißen Decke zu schweben.

Egal, dachte sie, zog den Reißverschluss ihres Parkas hoch und trat mit bloßen Füßen hinaus in den Schnee. Sie verließ das Krankenhaus, auf ihren Lippen eine alte Melodie, die ihr Herz gleichzeitig klingen und weinen ließ.

Von ihr blieb nur eine schmale Spur aus perfekten Fußabdrücken zurück, die hinaus in die stille Nacht verschwanden.

Kapitel 4

Träge ließ Marleen sich auf den Grund der tiefen Lagune sinken. Das warme Wasser strich über ihre Haut, streichelte ihre Kiemen und ließ sie glücklich vor sich hinlächeln. Sie hatte gar nicht gewusst, wie sehr sie diesen Luxus im Haus ihrer Familie vermisst hatte. Nicht, dass sie es nicht liebte, im offenen Meer zu schwimmen, aber manchmal war es schön, wie in einer übergroßen Badewanne plantschen zu können.

Vor allem ohne ekelhaften Seetang, der sich um die Schwanzflosse legte oder in den Haaren verfing.

Und natürlich das alles zusammen mit den anderen Sirenen. Mit dem Neck zu schwimmen war eben einfach nicht dasselbe. Sicher würde Damian das verstehen.

Lange hielt sie es auf dem Boden des direkt in den Klippenfelsen gehauenen Beckens nicht aus, erhob sich und strebte mit wenigen Flossenschlägen der Oberfläche entgegen. Es gurgelte und gluckste in ihren Lungen und den Kiemenspalten an ihrem Hals, als sich Wasser und Luft mischten.

Marleen strich sich das Haar zurück und schwamm zu dem flachabfallenden Bereich hinüber, an dem sich der Rest der Cromwells bereits eingefunden hatte. Kräftige Fischleiber, in grau, grün, violett und dunkelblau, schimmerten mit perlweißer Haut um die Wette. Weiches Sirenengelächter flutete durch den beheizten Raum und entlockte Marleen ein Lächeln. Sie ließ sich zwischen Luna und Sara ans Ufer spülen.

Die beiden unterhielten sich mit Nadja über ein neues Gericht, das sie planten auf die kleine Speisekarte des Cafés zu nehmen, während Anna und Sofia irgendwelchen Klatsch aus der Stadt austauschten. Es war so herrlich normal, dass auch die letzten Reste der Anspannung von Marleen abfielen.

Nicht, dass sie sich nicht noch immer Sorgen machte über die Veränderungen, die mit ihr vor sich gingen. Aber hier im Kreis ihrer Familie, mit Lír und Sullivan oben im Wohnhaus, ihre Freunde in Südengland und wo auch immer sie sich gerade aufhielten in Sicherheit, da war es leicht einmal abzuschalten.

Vorsichtig, um ihre Schwester nicht zu verletzen, griff Marleen mit ihren krallenbewehrten Händen in Saras schwere, blutrote Locken und begann sie zu entwirren, um sie anschließend zu flechten. Die jüngste der Cromwells warf ihr über die Schulter ein Lächeln zu, ehe sie sich wieder zu Luna und Nadja wandte.

Die vertrauten Handgriffe beschäftigten Marleens Verstand jedoch nicht so weit, um ihn von dem Gespräch am gestrigen Nachmittag abzuhalten.

Ihre Mutter hatte sie bei der Frage nach ihrem Vater mit einem entschuldigenden Lächeln angesehen.

»Tut mir leid Schätzchen«, hatte sie gesagt und mit den schmalen Schultern gezuckt, »ich weiß es wirklich nicht. Damals war alles etwas hektisch hier im Haus, weil Nadja ständig herumrannte und Luna gerade einmal entwöhnt gewesen war. Romy und Diana waren hier um mich und Sofia zu unterschützen, weil wir ja auch noch das Café zu betreiben hatten.«

»Ihr wart wirklich schlimm damals«, hatte Sofia zu Marleens älteren Schwestern gesagt, die daraufhin nur mit den Augen gerollt hatten.

»Du kannst es also nicht einmal eingrenzen?«, hatte Marleen nachgehakt. »Wo es war oder vielleicht wie er ausgesehen hat?«

Anna hatte nur mit dem Kopf geschüttelt.

Wirklich ärgerlich, dachte Marleen nun. Es wäre um einiges leichter gewesen, wenn sie den fraglichen Mann hätten aufspüren können. Nicht, weil Marleen eine Vaterfigur fehlte. Sie hätte wahrscheinlich noch sehr viele Jahre keinen einzigen Gedanken an den namen- und gesichtslosen Mann verschwendet, der bei ihrer Zeugung beteiligt gewesen war. Es war nicht wichtig, genauso wie es nicht wichtig war, dass ihr Vater nicht auch der Vater ihrer drei Schwestern war.

Seit mehreren Generationen von Cromwells war sie die Erste, die sich in einer exklusiven Beziehung mit einem Mann befand. Ansonsten war es ungeschriebene Familientradition die Partner zu wechseln, nicht nur damit diese nicht bemerkten, dass sie mit einem Monster ins Bett stiegen.

Einem, das gelegentlich hungrig wurde und den betreffenden Liebhaber teilweise oder ganz verspeiste. Zum Glück war das schon lange nicht mehr vorgekommen. Der arme Sam Brown war der Letzte gewesen, den es in Marleens Jugend erwischt hatte.

Da es wohl kaum einen Sinn hatte, nach dem One-Night-Stand von vor mehr als achtundzwanzig Jahren zu suchen, der vielleicht seither auch von einem Bus überrollt worden war oder das Land verlassen hatte, mussten sie einen neuen Ansatz finden, wie sie hinter Marleens eigenwillige Entwicklung kamen.

Zudem war es doch sehr unwahrscheinlich, dass es ein anderer Anderer gewesen war. Es hätte ja dann ein Naga, ein Lamia oder ein Pixie sein müssen – und von diesen Spezies hatte Marleen so gar nichts an sich. Auch wenn sie mittlerweile Gift spuckte.

»Fertig Süße«, verkündete Marleen, legte die Arme um Saras Schultern und drückte ihr von hinten einen Kuss auf die Wange.

»Danke schön.« Sie legte ihre Hände auf ihre Unterarme, die Finger ebenso mit scharfen Krallen besetzt wie Marleens. »Du machst das immer noch am besten.«

»Ich strenge mich jedes Mal an«, maulte Nadja sofort, die Brauen über den violett-blauen Augen zusammengezogen. Wie auch bei den anderen Sirenen war kein Weiß mehr in ihrem Augapfel zu erkennen. Nur bodenloses Violett.

Sara lachte, warf ihr eine Kusshand zu, und sagte: »Das habe ich auch nicht abgestritten.«

»Warte nur, bis du so rund wirst, dass du dir die Socken nicht mehr anziehen kannst«, stichelte Luna und sofort entbrannte ein liebevoll-gehässiges Streitgespräch darüber, was Sara alles nicht mehr können würde, wenn die Schwangerschaft weiter fortgeschritten war. Nach wenigen Augenblicken beteiligten sich auch Anna und Sofia an der Alberei, lieferten Geschichten aus ihren eigenen Schwangerschaften, so dass die geheime Grotte bald von schallendem Gelächter erfüllt war.

Saras komplett graue Augen sahen Marleen plötzlich ernst an. »Hast du es schon auf dem Anwesen erzählt?«

»Nein«, erwiderte Marleen. Sie hatte nicht nachfragen müssen, was ihre Schwester mit »es« gemeint hatte.

»Sehr gut«, sagte Sara und lächelte wieder. »Ich wollte es Kalliope persönlich sagen.«

»Dachte ich mir schon.« Die jüngste der Cromwells hatte sich mit der Harpyie angefreundet, als diese vor mehr als einem Jahr für kurze Zeit im Haus der Sirenen gewesen war. Wie lange das schon her war und wie viel seither geschehen war, bescherte Marleen ein Prickeln auf der Haut.

Sie wollte sich gerade tiefer in das warme Wasser der Lagune sinken lassen, als sie unvermittelt Lírs Präsenz stärker in ihrem Kopf spürte.

»Marleen.«

Seine alarmierte Stimme durchfuhr ihre Gedanken und ließ ihre Kehle trocken werden. Sie kannte diesen Tonfall ihres Geliebten nur zu gut. Dazu kam, dass es in seinen eigenen Gedanken rumorte und brodelte. Irgendetwas war passiert.

»Was ist?«

»Ich habe eben mit Natalia und Moira telefoniert.«

»Und?«

»Marleen, du schaust so komisch«, kam es von Nadja, doch sie hörte ihre ältere Schwester wie durch Watte. Marleen hob die Hand, damit sie wartete. Sie konnte sich nur auf ein Gespräch konzentrieren und das telepathische mit ihrem Inkubus war im Augenblick wichtiger.

»Sie schicken uns gleich eine Datei durch, die wir uns unbedingt ansehen sollen. Es ist gut möglich, dass wir eine heiße Spur zu einer Schneefrau haben.«

»Einer Yuki Onna?«

»Genau.« Sie hörte ihn tief einatmen.