Sirenengesang - Melissa Ratsch - E-Book

Sirenengesang E-Book

Melissa Ratsch

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Beschreibung

Lässt du dich in ihren Bann ziehen? Marleen lebt mit ihrer verrückten Familie in einem alten Haus auf den Klippen einer amerikanischen Kleinstadt. Aber die Idylle trügt, denn die Cromwell-Frauen hüten ein Geheimnis: Sie sind Sirenen und wenn sie nass werden, bekommen sie Schuppen – wortwörtlich. Doch das ist nicht Marleens einziges Problem. Als der attraktive Lír im Café der Cromwells auftaucht und unangenehme Fragen stellt, muss Marleen eine Entscheidung treffen: Soll sie ihm ihr Geheimnis anvertrauen oder ihn ihrer blutrünstigen Verwandtschaft überlassen? Denn er wäre nicht der erste Mann, der einer Sirene zum Opfer fällt.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Melissa Ratsch

Sirenengesang

Die anderen Anderen

Band 1 der abgeschlossenen Romantic-Fantasy-Reihe "Die anderen Anderen"

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Leseprobe »Schlangengift«

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Über die Autorin

Die 1987 geborene Autorin schreibt schon seit ihrer Jugend Kurzgeschichten und Romane – anfangs aus der Not heraus, da einfach nichts ihrem Geschmack entsprach und die Ideen in ihrem Kopf viel interessanter waren. Daraus ergaben sich im Laufe der Jahre mehrere Kurzgeschichten und Romane, die sie seit 2017 veröffentlicht.

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Über das Buch

Lässt du dich in ihren Bann ziehen?

Marleen lebt mit ihrer verrückten Familie in einem alten Haus auf den Klippen einer amerikanischen Kleinstadt. Aber die Idylle trügt, denn die Cromwell-Frauen hüten ein Geheimnis: Sie sind Sirenen und wenn sie nass werden, bekommen sie Schuppen – wortwörtlich.

Doch das ist nicht Marleens einziges Problem. Als der attraktive Lír im Café der Cromwells auftaucht und unangenehme Fragen stellt, muss Marleen eine Entscheidung treffen: Soll sie ihm ihr Geheimnis anvertrauen oder ihn ihrer blutrünstigen Verwandtschaft überlassen? Denn er wäre nicht der erste Mann, der einer Sirene zum Opfer fällt.

Du liebst romantische Fantasy, dann bist du hier genau richtig!

Sinnlich, humorvoll und mit neuen Ideen startet mit »Sirenengesang« die mittlerweile abgeschlossenen Romantic-Fantasy-Reihe »Die anderen Anderen«. Tauche ein in eine Welt voller Fabelwesen, Dämonen und Gestaltwandler, die dein Herz schneller schlagen lässt und dich bis zur letzten Seite fesselt.

Alle Teile der abgeschlossenen Reihe »Die anderen Anderen«:

Sirenengesang

Schlangengift

Sturmwind

Irrlicht

Fuchsfeuer

Blutdurst

Neuschnee

Traumwandler

Nachtgeheimnis

Höllenfeuer

Wasserflüstern

Für all die starken Frauen dort draußen.

In uns allen steckt eine Cromwell, verdammt!

Kapitel 1

»Er gefällt dir.«

Das breite Lächeln ihrer älteren Schwester zeigte strahlend weiße Zähne. Viele Zähne. Marleen warf ihr einen bösen Blick zu. Sie konnte es nicht leiden, wenn Luna das machte. Vor allem nicht, wenn sie im Café waren.

»Grins noch breiter, dann sieht man deine zweite Zahnreihe. Du siehst aus wie ein verdammter Haifisch.« Luna brach in leises Gelächter aus. Marleen wusste warum – ihr Vergleich hinkte nur ein ganz kleines bisschen. Jedes Wort war wahr.

»Das ändert nichts daran, dass ich Recht habe. Geh zu ihm rüber und sprich ihn an. Oder warte!« Luna stemmte eine Hand in ihre ausladenden Hüften, ihre dunkelgrünen Augen blickten hinterlistig. »Lass ihn noch etwa eine Woche schmoren. Er kommt sicher jeden Tag wieder und bis er sich traut dich anzusprechen, sichert er uns den nächsten Urlaub.«

Marleen warf einen Kaffeelöffel nach ihrer Schwester. Zu ihrem Bedauern wich Luna flink aus, das Grinsen auf ihrem Gesicht wieder genauso breit wie zuvor. Unsicher blickte Marleen sich im Café um – aber niemand schien sich für das Geplänkel zwischen den Schwestern zu interessieren.

»Du bist unmöglich«, zischte Marleen. »Außerdem weißt du genau was passiert, wenn wir Männern zu viel Aufmerksamkeit schenken.« Lunas Augen nahmen einen dunkleren Farbton an.

»Ich hab ja nicht gesagt, dass du ihn gleich auffressen musst. Aber ein bisschen knabbern wird ihn schon nicht umbringen.« Marleen würde ihre linke Hand dafür geben, wenn Luna nur rumalbern würde.

Sie wandte ihren Blick wieder zu dem Mann am Fenster.

»An dem ist genug dran.«

Marleen schnaubte missbilligend. Dennoch konnte sie ihre Augen nicht davon abhalten, über die breiten Schultern und muskulösen Arme zu schweifen, die so appetitlich von einem weißen T-Shirt umschmeichelt wurden.

Weil sie wusste, dass sie sonst den restlichen Tag über keine Ruhe haben würde, murmelte sie: »Ich überleg es mir.« Luna kicherte neben ihr, ziemlich unartig.

»Manchmal kann ich nicht glauben, dass wir verwandt sind – so prüde, wie du bist.«

»Luna hat Recht«, sagte eine weiche Stimme hinter ihr. Nadja, die älteste von ihnen, kam aus der Küche. Über ihrer Schulter hing ein Spültuch. Um ihre Lippen tanzte dasselbe durchtriebene Lächeln wie bei Luna.

»Selbst Grandma findet es bedenklich, wie abstinent du in letzter Zeit geworden bist.«

Statt rot zu werden, wie die meisten Leute in einer solchen Situation, stieß Marleen nur ein ärgerliches Knurren aus. Scheppernd wurde vor ihr auf dem Tresen ein Tablett mit schmutzigem Geschirr abgestellt.

»Spielt Marleen wieder den Pitbull?«

»Sara, halt die Klappe und arbeite gefälligst weiter.«

Missmutig drückte Marleen ihrer jüngeren Schwester ein neues Tablett in die Hand, vollgestellt mit Tassen und Gläsern. Mit einem Luftkuss in ihre Richtung zog Sara wieder ab. Niemand, nicht einmal der miesepetrigste Mensch der Welt, konnte ihr die Laune verderben. Auch wenn Marleen sich manchmal wirklich Mühe gab – und noch nicht einmal ein Mensch war.

»Ich werde ihm einfach ihre Handynummer zustecken«, sagte Luna zu Nadja. Während die beiden Kriegsrat abhielten, widmete sich Marleen wieder der Kaffeemaschine. Sie liebte dieses Monstrum aus Chrom und Plastik. Der Duft von geröstetem Kaffee und warmer Milch gehörte zu den ersten, an die sie sich erinnerte.

Schon seit Generationen gehörte den Frauen ihrer Familie dieses Café – zusammen mit dem großen Haus an den Klippen, in das es integriert war. Die Männer der Familie … na ja, das war ein anderes Thema.

Marleen erinnerte sich an keinen Tag in ihrem Leben, an dem sie morgens nicht das Rauschen des Meeres gehört hatte. Den frischen Geruch nach Salz nahm sie schon gar nicht mehr wahr. Als hätte er sich bereits unter ihre Haut gesetzt.

Unweigerlich wanderte ihr Blick doch wieder zu der einsamen Person am Fenster. Er ist wirklich knackig, dachte sie bei sich. Ihr Blut sirrte durch ihre Adern, wenn sie die Augen über seinen Körper wandern ließ.

Marleen war weder dumm noch eingebildet – sie wusste, dass der Mann wegen ihr seit einigen Tagen ins Café kam. Und warum sollte er auch nicht an ihr interessiert sein. Mit ihrem taillenlangen blauschwarzem Haar, den dunkelblauen Augen und der milchweißen Haut war sie ein lohnenswerter Anblick.

Leider wäre ich seiner Gesundheit nicht förderlich, dachte Marleen selbstironisch. Die Frauen der Familie Cromwell waren … sehr speziell. Was zwangsläufig zu den Männern der Cromwells führte, die meist nur eins waren: tot.

Eine lästige kleine Angewohnheit, ein bisschen wie ein Fluch, der leider nicht aussterben wollte. Dumm nur, dass keine Frau aus der Blutlinie Cromwell jemals auch nur annähernd hässlich war und sich immer irgendjemand fand, der sie schwängerte. Aussterben, auch wenn es zum Wohle der Menschheit wäre, würden sie wohl niemals.

Marleen seufzte und sah wieder auf den Cappuccino, den sie gerade zubereitete. Es war wirklich ärgerlich. Ihrer Großmutter hatte sie einmal hitzig versprochen, bis zu ihrem Tod Jungfrau zu bleiben. Sofia hatte sie mit großen Augen angesehen, war in schallendes Gelächter ausgebrochen und hatte sich fast fünf Minuten nicht mehr eingekriegt.

»Schätzchen«, hatte sie schließlich geprustet, »du wirst noch bevor du achtzehn bist dein Versprechen brechen und glaub mir – deine Großmutter wird dich dazu beglückwünschen.« Sofia hatte sie tatsächlich lachend in die Arme genommen – am Tag nach ihrem sechzehnten Geburtstag. Gott sei Dank war Sam Brown damals noch mit dem Leben davongekommen.

»Elende Hormone«, knurrte Marleen vor sich hin.

»Lästige kleine Biester, nicht wahr?« Die tiefe Stimme ließ Hitze in Marleens Körper aufwallen. Der Geruch nach Seife und Mann verdrängte für einen Moment den Dunst der Kaffeemaschine, in dem sie stand. Unwillkürlich leckte sich Marleen über die Lippen, als sie den Blick hob.

Wie gebannt hingen die Augen des knackigen Mannes vom Fenster an ihrem Mund.

Du bist ein Miststück und ein Luder, dachte Marleen bei sich. Dieser Gedanke veranlasste sie zu einem lasziven Lächeln. Marleen konnte sich zwar dagegen wehren, eine Cromwell zu sein, aber schaffen würde sie es nie. Niemals.

»Ach, Kontrolle wird überbewertet«, hörte sie sich schnurren. Luna und Nadja lachten leise und verschwanden in der Küche. Marleen war ihnen sehr dankbar – noch ein Haifischgrinsen von ihrer zweitältesten Schwester, und Marleen hätte sie mit Wasser übergossen. Etwas, das für diejenigen aus ihrer Blutlinie weit mehr Unannehmlichkeiten bedeutete als nur eine ruinierte Frisur.

Der Mann ihr gegenüber erwiderte ihr Lächeln. Seine braunen Augen funkelten amüsiert.

»Ich heiße Lír.« Über den Tresen hinweg reichte er ihr die Hand. Marleen wusste, dass sie sie nicht ergreifen sollte, tat es aber trotzdem. Seine Haut fühlte sich etwas rau an, sehr warm und einfach herrlich. Das Sonnenlicht aus dem Oberlicht malte goldene Reflexe in sein blondes Haar.

Er war so lebendig. Etwas, dass auf Marleen schon immer wie eine Droge gewirkt hatte. Ein Grund, warum sie niemals von sich aus zu ihm gegangen wäre. Aber nun war er hier – selbst schuld an dem, was ihm widerfahren könnte. Marleen bemühte sich, ihre Stimme neutral klingen zu lassen. Der falsche Tonfall und sie raubte dem armen Mann den Verstand – wortwörtlich. Vor allem, wenn sie wie jetzt vor Verlangen glühte.

»Hallo, ich bin Marleen«, sagte sie. Soweit es möglich war, wurde das Blut in ihren Adern noch heißer. Sie hatte einfach zu lange gewartet, hatte sich zu lange gewehrt. Der Herr möge ihr beistehen – oder besser dem gutaussehenden Lír. Denn noch während er sich ihre Telefonnummer aufschrieb, wusste Marleen, dass sie ihn mit Haut und Haaren verschlingen würde.

»Marleen, wir überlassen dir auch die Entscheidung.«

»Bitte!«

»Komm schon. Die anderen sind immer so grob, wenn sie mir die Knoten aus den Haaren ziehen.« Vier ungehaltene Augenpaare richteten sich gleichzeitig auf Sara. Diese hob abwehrend die Hände vor sich.

»Ladies, schaut mich nicht so bösartig an. Es ist die reine Wahrheit. Selbst du bist ziemlich ruppig, Grandma.«

Sofia verdrehte die grünen Augen. »Ich hab eben einfach keine Geduld. Das ist etwas, dass man nicht einmal mit dem Alter dazulernt.«

»Bitte Mutter, du gibst dir doch nur nicht genug Mühe«, kicherte Anna.

»Ich bin noch nicht zu alt, um dir eine Tracht Prügel zu verpassen.« Kaum einen Wimpernschlag später waren die fünf Frauen um Marleen in harmlose Streitereien vertieft.

Marleen seufzte schicksalsergeben – an diesem Tag konnte sie sich wohl gegen nichts zur Wehr setzen.

»Also gut«, sagte sie laut genug, damit sie das Geschnatter übertönte. »Ich komme mit. Aber nur, wenn wir im Haus bleiben. Heute ist Flut und ich habe keine Lust, das ganze eklige Zeug, das die Wellen vom Meer herangetragen haben, in meinen Haaren wiederzufinden.«

»Du bist so zimperlich«, neckte Sara sie, während Luna ihr einen Kuss auf die Wange drückte.

»Da ich dich kenne, meine liebe Schwester, habe ich bereits heute Morgen die Heizungen angeworfen.«

»Und damit mal wieder die Gasrechnung gesprengt.« Anna grinste ihre zweitälteste Tochter liebevoll an.

Bevor Luna etwas erwiderte, klatschte Sofia in die Hände und scheuchte sie alle Richtung Kellertreppe.

»Kommt schon Kinder, die Nacht dauert nicht ewig und ich werde nicht jünger.«

Nadja kicherte leise. »Du siehst auch schon ganz verschrumpelt aus.«

»Meiner Haut fehlt es eben an Feuchtigkeit«, verteidigte sich Sofia.

Marleen grinste vor sich hin. Ihre Großmutter sah keinen Tag älter aus als vierzig, obwohl sie schon weit über achtzig Jahre alt war. Ein Geschenk ihrer guten … Gene. Keine Cromwell wurde je wirklich alt. Sie wurden zwar älter, aber keine der Frauen ihrer Familie hatte sich je mit grauen Haaren oder Falten herumschlagen müssen.

Innerlich seufzte Marleen. So schön die Vorstellung auch war, diese Jugend hatte einen Preis.

Hör schon auf!, mahnte sie sich selbst. Ich habe heute schon genug dunklen Gedanken nachgehangen. Entschlossen, den Abend und die Nacht inmitten ihrer Familie zu genießen, schaltete sie das Kellerlicht an.

Der »Keller« war nicht wie der gewöhnlicher Häuser, zumal er viel weitreichender war, als es das Gebäude darüber vermuten ließ. Tatsächlich erstreckte er sich bis in die Klippen hinein. Als Kinder waren Marleen und ihre Schwestern unzählige Male durch die vielen Tunnel und Gänge gerannt, die das Untergeschoss mit dem Strand, dem Rand der Klippen und einer kleinen Lagune verband.

Sanftes Licht erhellte eine Welt, die ganz den Cromwells vorbehalten war. Marleens Herz wurde augenblicklich leichter. In die anthrazitfarbenen Felsen der Klippen war ein riesiges Wasserbecken gehauen worden, immer wieder unterbrochen von kleineren Felsen. Jede Generation der Cromwells hatte etwas hinzugefügt – einen Wasserfall, einen kleinen Bachlauf, später elektrisches Licht und schließlich Marleen und ihre Schwestern mit der Heizung.

Das Becken wurde mit Meerwasser gefüllt, das durch ein ausgeklügeltes System aus Naturfiltern und Wasserrädern, angetrieben durch Windkraft, ständig ausgetauscht und gereinigt wurde. Schon vor Jahrzehnten war diese Technik perfektioniert worden.

Der verführerische Duft von warmem Salz sickerte in jede von Marleens Poren, streichelte ihre Sinne. Die Haut schien plötzlich zu straff auf ihren Knochen zu sitzen. In all ihren Zellen pulsierte das Leben. Die Stimmen ihrer Familie waren nur noch ein diffuses Rauschen im Hintergrund, während ihre Beine sie ganz automatisch näher an den behauenen Beckenrand trugen.

Sie fühlte kräftige Finger auf ihrer Schulter, einen Schritt bevor sie ins warme Wasser gefallen wäre.

»Du wartest immer viel zu lang.« Die dunkelblauen Augen ihrer Mutter sahen sie tadelnd, wenn auch liebevoll an. »Marleen, du solltest öfter hier herunterkommen. Nicht erst, wenn du beim bloßen Anblick von Wasser Kiemen bekommst.«

Behutsam berührte Marleen ihren Hals, fühlte tatsächlich bereits die ersten Kerben in der Haut. Unausgesprochen hing ihre Befürchtung zwischen ihr und Anna. Diese küsste sie auf die Stirn.

»Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie ich so ein feinfühliges Wesen auf die Welt setzen konnte.«

Marleen lächelte entschuldigend.

»Nun komm. Hier unten wirst du schon niemanden beißen, mein Schatz.«

Marleens Lächeln weitete sich zu einem durchtriebenen Grinsen aus. »Da wäre ich mir nicht so sicher – deine anderen Töchter haben mich heute ganz schön geärgert.«

»Sei nicht so zimperlich«, entgegnete Luna. Ohne jegliche Scham stand sie splitternackt vor ihnen. Ihre helle Haut schimmerte im diffusen Licht wie eine Perle. Ihr dunkelblondes Haar wellte sich in einer langen Kaskade bis hinunter zu ihrem Po.

»Außerdem willst du ja nicht als miese Petze dastehen, oder?«

Anna küsste Marleen auf die Stirn, ehe sie sich daran machte die Schnürung ihres Wickelkleids zu lösen. »Ich mische mich nicht ein – da könnte ich mich ja genauso gut in ein Becken mit Säure stürzen.«

Sofia schlang von hinten die Arme um Anna und sagte: »Du und Helena wart auch nicht besser.«

Bei der Erwähnung ihrer Tante musste Marleen wieder grinsen. Sie mochte Helena wirklich sehr, auch wenn sie sie nur sehr selten zu Gesicht bekam. Wie auch ihre beiden Großtanten war Helena eine Frau, die es nirgendwo länger als ein paar Wochen aushielt. Darum war es für sie und ihre Schwestern immer ein großes Ereignis, wenn ihre Tante für ein paar Tage wieder hier ins Haus zog.

Ungeduldig zupfte Sara an Marleens Kleidung.

»Runter damit«, ordnete sie an. Etwas irritiert bemerkte Marleen, dass sie die Einzige war, die noch angezogen war.

»Weil du immer so viel deinen Gedanken nachhängst«, kommentierte Luna ihre verwunderte Miene. »Der arme Kerl aus dem Café heute tut mir jetzt irgendwie leid. Solltest du dich je dazu durchringen, mit ihm zu schlafen, wird er das Gefühl haben mit einem teilnahmslosen Fisch zu vögeln.«

Nadja schnippte ihrer jüngeren Schwester gegen ein Ohr. »Luna, mäßige deine Wortwahl!«

»Was? Der Vergleich mit dem Fisch ist doch gar nicht so schlecht …« Statt sich zu schämen, grinste Luna verschlagen.

Marleen verdrehte die Augen und schälte sich aus ihren Klamotten. Achtlos warf sie ihre Jeans und das schulterfreie Top auf eine der Liegen in der Nähe. Sobald die feuchte Luft sie von Kopf bis Fuß einhüllte, verdoppelte sich ihr Herzschlag.

»Hört auf zu streiten«, murmelte sie, den Blick bereits fest auf das Wasser gerichtet.

Das leise Rauschen des Wasserfalls dröhnte überlaut in ihren Ohren. Der Drang, endlich ins Wasser zu gehen, war verhängnisvoll. Selbst wenn in diesem Moment das Haus über ihr zusammenstürzen und die Hölle losbrechen würde, Marleen könnte sich nicht davon abhalten in dieses Becken zu steigen.

Doch statt kopfüber hinein zu springen, zwang sie sich mit dem letzten Rest Disziplin dazu, die Steintreppe zu nehmen. Ein beinah ekstatisches Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als sie den einen Fuß ins Wasser tauchte. Schmerz und Euphorie schossen gleichzeitig durch ihren Körper, lähmten und belebten sie im selben Atemzug. Es war das Schönste und Schrecklichste zugleich, was sie jemals gefühlt hatte.

Immer weiter stieg sie ins Wasser, bis es ihr schließlich bis zur Brust reichte. Die Wasseroberfläche leckte wie ein Liebhaber über ihre Brustwarzen. Ihr langes Haar sog sich voll, wurde schwer und warm auf ihrem Rücken. Aber das alles bemerkte sie kaum. Vielmehr wurde Marleens Aufmerksamkeit davon aufgezehrt, wie sich ihr Körper veränderte, neu formte.

Versteckt unter der Wasseroberfläche zerfaserten ihre Beine. Kein einziger Blutstropfen verfärbte das Wasser und dennoch war innerhalb von wenigen Augenblicken kaum noch mehr von ihren Beinen übrig als zwei blutige, zerrissene Fleischstränge.

Immer weiter arbeitete das Gewebe, bewegte sich, zwang sich selbst in eine andere, unmenschliche Form. Neue Qual durchströmte Marleens Körper, als ihr vormals geteilter Unterkörper zu einem Ganzen verschmolz, länger wurde und sich an den Enden lange, biegsame Knorpelstreben bildeten.

Krampfhaft sog Marleen Luft in ihre Lungen, fühlte die kühle Berührung des Sauerstoffs bereits an den Schlitzen in ihrem Hals. Wie scharfe Klingen durchstießen Schuppen das blutige Fleisch ihres Unterkörpers. Einige Herzschläge später war das wunde Gewebe von einem schillernden, überirdischen Blau überzogen. Entlang ihrer Wirbelsäule schoben sich ebenfalls Schuppen durch die Haut.

Zwischen den Knorpeln am Ende spannte sich eine durchsichtige, aber ledrige Membran. Gleichzeitig wuchsen an ihren Hüften und ihrem unteren Rücken entlang weitere Knorpel, bildeten sich zu fächerartigen Auswüchsen.

Anschließend verformte sich ihr Hals, die Kiemenschlitze wurden tiefer. Ihre Ohren wurden in die Länge gezogen, wurden spitz und an den Enden beinah durchscheinend. Die Metamorphose ihrer Hände war weit weniger schmerzhaft. Ihre Finger wurden lediglich etwas länger, krallenartiger. Das Wachstum ihrer Eckzähne war innerhalb eines Herzschlags beendet. Als letztes änderte sich die Textur ihrer Haut, die ohnehin milchweise Farbe nahm das helle Schillern von Perlmutt an, wenn das Licht darauf traf.

Alles hatte kaum zehn Minuten gedauert, aber Marleen war es wie eine Ewigkeit erschienen. Als sie nun einatmete, klang es nicht mehr krampfhaft, nicht mehr als würde sie unendliche Qualen erdulden. Sanft und gleichmäßig floss ihr Atem durch Nase und Kiemen. Erst jetzt wurde sich Marleen wieder der Geräusche in ihrer Nähe bewusst.

Da sie als erste ins Wasser gegangen war, steckten ihre Verwandten noch mitten im Formwechsel. Marleen hätte tiefstes Mitleid empfunden, wenn sie nicht genau wüsste, dass der Schmerz nach wenigen Herzschlägen bereits vergessen war.

Nadja, keinen Meter neben ihr, war als zweite fertig. Ihre blauen, fast violetten Augen reflektierten auf gespenstige Art und Weise das Licht. Es war kein Weiß mehr darin zu sehen – nur bodenlose Tiefe. Ein Lächeln ließ die dolchscharfen Eckzähne zum Vorschein kommen. Nadjas Gesicht wirkte dennoch feiner, filigraner.

»Besser als ein Orgasmus, wenn der Schmerz endlich nachlässt. Nicht wahr?«

Marleen nickte. Wäre sie nicht ihre Schwester, wäre sie nicht genauso eine Kreatur wie sie, Marleen hätte sich beim Klang von Nadjas Stimme die Kleider vom Leib gerissen und sie angebettelt, sehr unanständige Dinge mit ihr zu tun. In ihren menschlichen Hüllen konnten sie die Verführung in ihren Stimmen beherrschen, aber nach der Wandlung war das unmöglich. Nicht, wenn sie ihr wahres Gesicht zur Schau trugen.

Neben ihr schlug das Wasser kleine Wellen und Luna lehnte sich mit einem seligen Seufzen an den Beckenrand. Ihre Augen, zwei grüne Tintenkleckse in ihrem perlenfarbenen Gesicht, funkelten mutwillig.

»Schön, nicht wahr?«

Sofia glitt lautlos neben sie, warf ihrer frechen Enkelin einen bösen Blick zu. »Lass Marleen endlich in Ruhe. Oder glaubst du tatsächlich, dass sie länger als einen Monat hierauf verzichten könnte?« Mit ihrem weißblonden Haar sah sie Luna fast zum Verwechseln ähnlich. Nur ein bisschen reifer, facettenreicher.

»Könnten wir das Thema bitte lassen?« Marleen versuchte, eine tadelnde Miene aufzusetzen, doch es gelang ihr nicht. Nicht jetzt, nachdem sie sich so viel leichter fühlte als zuvor. Mochte sie es auch nicht wahrhaben, die menschliche Gestalt war anstrengend. Etwas weniger gefährlich, aber anstrengend. Vor allem, wenn sie immer auf der Hut sein musste, nicht von zu viel Wasser berührt zu werden.

Nicht, dass sie sich nicht gegen die Verwandlung wehren konnte – aber es tat weh. Sehr, sehr weh. Dagegen waren die Qualen von eben wie ein Mückenstich. Es war nie ratsam, sich Mutter Natur und ihrem Willen entgegenzustellen. Die Lady war ziemlich bestialisch in ihren Strafen.

Aber jetzt … Marleen seufzte und ließ sich rückwärts ins Wasser fallen. Jetzt war Marleen einfach nur glücklich, zu dieser schrägen Familie zu gehören. Lächelnd und mit kleinen Bewegungen ließ sie sich auf den tiefsten Punkt des Beckens sinken – fünfzehn Meter unter der Oberfläche. Das schwarze Haar wie eine lebende Wolke um sie herum, atmete sie tief durch. Das Wasser kitzelte an den winzigen Lamellen ihrer Kiemen.

Anna sank neben sie, die Lippen ebenfalls zu einem Lächeln verzogen. Das diffuse Licht von oben ließ das helle Blau ihrer Schuppen wie Aquamarine funkeln. Liebevoll strich sie über Marleens filigrane Seitenflosse.

»Na, bist du nicht froh eine Cromwell zu sein?« Annas Stimme klang seltsam verzerrt, aber immer noch wie sie selbst. Marleen lachte und kleine Luftblasen stiegen nach oben.

»Es hätte mich schlimmer treffen können.« Anna lachte ebenfalls. Der Schall trug weit durch das Wasser, lockte die anderen Frauen der Familie an.

»Ja, du könntest eine verdammte Baumnymphe sein. Und glaub mir, als Ficcus hat man nur halb so viel Spaß.«

Sara ließ sich langsam auf sie sinken, bis ihre Brüste den Übergang zwischen Haut und Schuppen berührten. Ihr Lächeln hätte einem Mann gegenüber als schamlose Einladung gegolten. Ihre Stimme strich wie Samt über Marleens Sinne.

»Mom hat Recht – sei froh, dass du eine Sirene bist.«

Wie versprochen, flocht Marleen später in der Nacht Saras Haare.

Die Frauen hatten sich an die seichte Stelle des Beckens zurückgezogen, lagen halb im Wasser wie gestrandete Wale. Sofia lachte laut bei dem Vergleich, den Luna ausgesprochen hatte. »Was glaubst du wie ich aussah, als ich mit deiner Mutter schwanger war?«

Anna verdrehte die Augen, grinste aber breit.

Bald darauf waren alle wieder in ihre kleinen, liebenswerten Streitereien und Klatschgespräche vertieft. Marleen atmete tief durch, ein Lächeln auf dem Gesicht. Sie hasste und vergötterte ihre Familie gleichermaßen. Allesamt waren es verlogene, hinterhältige Mistkröten, die ihr dennoch das Gefühl gaben, genau so richtig zu sein, wie sie war.

Kein Monster, dachte sie mit einem Anflug von Bitterkeit. Marleen fügte sich nicht so leicht in ihr Schicksal wie ihre Schwestern.

Vorsichtig entwirrte sie einen Knoten in Saras dunkelrotem Haar. Wie Blut rann es durch ihre Finger, wirkte im gedämpften Licht schwarz und ölig. Mit ihren grauen Augen sah sie Helen zum Verwechseln ähnlich. Noch etwas, dass die Cromwell-Frauen alle gemein hatten: Ihr Aussehen wiederholte sich in unregelmäßigen Abständen durch die Generationen hinweg. Seit es die Fotografie gab, konnte man das Muster noch deutlicher verfolgen. Marleen sah zwar Anna ähnlich, aber ihr genaues Abbild war ihre Urgroßmutter.

Marleen lächelte versonnen vor sich hin. Es gefiel ihr, dass sie wusste, wie sie in einigen Jahrzehnten aussehen würde. Die Cromwells alterten nicht nur nicht wie normale Menschen, sondern sie starben auch nicht so einfach. Es war kein wirklich ewiges Leben, aber eine besonders ausgeprägte Langlebigkeit.

Und Thea hatte sich bisher noch nicht entschlossen, diese Welt zu verlassen. Auch wenn sie aus dem Haus, der Stadt und dem Landstrich hatte verschwinden müssen. Seit die Dokumentationswut der Menschen durch Bilder, Videos und dergleichen unterstützt wurde, war das Risiko gestiegen, dass irgendwer einmal ihre … Dauerhaftigkeit entdeckte.

Liebevoll legte Marleen die Arme von hinten um Saras Schulter.

»Fertig, mein Schatz«, sagte sie und drückte einen Kuss auf die Wange der anderen.

Sara drückte kurz ihre Hände und drehte den Kopf zu ihr um. »Du solltest ihn wirklich anrufen. Er hat dich praktisch mit den Augen ausgezogen.«

Ihre grauen Augen tanzten verschmitzt. Marleen seufzte tief, ließ Sara aber nicht los. Da die anderen Frauen zu sehr in den neusten Klatsch der Stadt vertieft waren, um ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, flüsterte Marleen ihrer Schwester ein Geheimnis ins Ohr. »Ich habe Angst, wieder die Beherrschung zu verlieren.«

Der Schalk verschwand aus Saras Blick. Sie drehte sich ganz zu ihr um und zog Marleen in eine feste Umarmung.

»Süße, so was passiert uns doch nicht jedes Mal. Es hilft dir nicht, wenn du enthaltsam bleibst.« Sanft strich Sara ihr übers Haar. »Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit nur, dass du die Kontrolle verlierst, weil du zu lange gewartet hast.«

Seufzend schmiegte Marleen ihr Gesicht an den Hals ihrer Schwester.

»Ja, ich weiß. Und ich weiß auch, dass hinter euren Sticheleien nur eure Sorge um mich steckt.«

Sara lachte unartig. »Nein, das machen wir nur, weil wir dich so gern zur Weißglut bringen.«

Ohne auf die Worte ihrer kleinen Schwester Rücksicht zu nehmen – die ohnehin nur eine scherzhafte Lüge waren – küsste Marleen sie nochmals auf die Wange. Sie liebte ihre Familie abgöttisch und wusste, dass sie ebenfalls bedingungslos zurückgeliebt wurde. Ganz egal, ob sie eine verführerische Sirene war, die Männer in ihr Bett lockte und ihnen hin und wieder ein großes Stück Fleisch aus dem Körper riss … und es genüsslich verspeiste.

Kapitel 2

Misstrauisch studierte Marleen den Wetterbericht, den der große Flachbildschirm in der Wohnküche anzeigte. Seit es Fernsehen und vor allem das Internet gab, stand immer eins der neusten Geräte in dem gemütlichen Raum. Für die Cromwells war es seit jeher von größter Wichtigkeit, das Wetter genaustens im Auge zu behalten.

»Nicht, dass es wieder wie vor zweihundertvierzig Jahren so einen Skandal wie mit Ari gibt«, pflegte Sofia immer zu sagen. Ihre Ahnin war von einem Gewitter überrascht worden – und hatte daraufhin den gesamten Hafen von New Port in Aufruhr versetzt. Noch heute erzählte man sich überall in der Gegend die Geschichte von der kleinen Nixe mit den roten Haaren und den blauen Augen, die urplötzlich auf der Kaimauer erschienen war, nachdem ein Platzregen eingesetzt hatte.

»Naja«, murmelte Marleen, bevor sie ihren Kaffee austrank. Heute würde ihr so etwas wohl nicht passieren, denn der Wetterbericht sagte für den ganzen Tag strahlenden Sonnenschein voraus. Kein Grund also, nicht auf einen kleinen Stadtbummel zu gehen.

Eine halbe Stunde später streifte sie bereits durch die Innenstadt von New Port. Der warme Wind vom Meer strich um ihre nackten Beine und bauschte den Faltenrock ihres lilafarbenen Kleids. Ein bisschen kam sie sich vor wie Marilyn Monroe, als sie den Stoff mit einer Hand nach unten drückte, um nicht im Freien zu stehen.

Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Wie alle Cromwell-Frauen war auch Marleen niemals verlegen oder schamhaft gewesen. Ein Grund, warum einige Frauen der Stadt ihre Familie schon immer gehasst hatten. Ein Wunder eigentlich, dass die verklemmten Puritaner ihre Vorfahrinnen nicht alle als Hexen verbrannt hatten.

Hinter sich hörte sie ein enttäuschtes Seufzen, drehte sich um und sah sich zwei alten Männern gegenüber, die vor dem Tabakladen auf einer Bank saßen. Beide hatten ihren Blick fest auf ihre Beine und den Po gerichtet.

Marleen lachte kehlig.

»Damit hätten Sie uns wirklich den Tag versüßt«, krächzte einer der Herren. Auf seinen faltigen Wangen zeigte sich eine gesunde Röte. Und weil Marleen eine Cromwell und damit automatisch ein Miststück war, zog sie einen kleinen Schmollmund und klimperte mit den Wimpern, ehe sie den beiden Herren je eine Kusshand zuwarf.

»Nette Vorstellung«, murmelte es hinter ihr. Marleen lief ein angenehmer Schauer über den Rücken, als sie die Stimme des knackigen Kerls vom Vortag erkannte. Lächelnd drehte sie sich um, gespielte Unschuld in ihrem Blick.

»Hallo Lír.« Ihre Stimme klang jedoch überhaupt nicht nach Unschuld. Innerlich seufzte Marleen. Man konnte eben einfach nicht aus seiner Haut und sie steckte leider Gottes in der einer teuflischen Kurtisane. Ihre Grandma wäre stolz auf sie.

Zufrieden bemerkte sie, wie sich Lírs Pupillen etwas weiteten. Marleen wusste sehr wohl, dass die Korsage ihres Kleids ihre Brüste fabelhaft zur Geltung brachte. Sie musste ihm zu Gute halten, dass er nur einen ganz kleinen Augenblick auf ihr Dekolleté starrte, ehe er den Blick zu ihrem Gesicht hob.

»Was für ein netter Zufall, dass wir uns treffen. Ich wollte dich heute noch anrufen.«

»Und wie gut es sich trifft, dass ich heute einen Tag frei habe.« Marleens Blut rauschte ihren Ohren, als sie ein Stück näher an ihn hintrat. »Hast du denn gerade etwas zu tun?«

Lírs Lächeln verriet ihr genau, dass er selbst ein Treffen mit dem Präsidenten hätte sausen lassen.

»Nein, ich habe nichts vor«, sagte er. Seine tiefe Stimme schwang in ihrem Zwerchfell wider. Galant bot er ihr den Arm. Die warme Sommersonne ließ die feinen Haare auf seinem Unterarm wie gesponnenes Gold schimmern. Zu einem dunkelgrünen Hemd trug er verwaschene Jeans, die so tief saßen, dass Marleen das Wasser im Mund zusammenlief.

Ihr Lachen klang wie das Schnurren einer zufriedenen Katze, als sie sich bei ihm unterhakte.

»Sehr schön. Da du neu in der Stadt bist – soll ich dich ein wenig herumführen?« Als sie seine fragend hochgezogene Augenbraue sah, erklärte sie: »Uns gehört das Café und es ist sehr beliebt. Außerdem leben wir in einer Kleinstadt. Von der Minute deiner Ankunft hat es maximal eine Stunde gedauert, bis die verdammten Klatschmäuler die Neuigkeit überall verbreitet hatten.«

Gemächlich schlenderten sie in Richtung Marktplatz. Marleen war berauscht von der Wärme seines Körpers und dem Duft seiner Haut. Sie war froh, dass ihre Eckzähne dennoch schön brav in ihrem Kiefer schlummerten. Wären sie zum Vorschein gekommen … Nun, Marleen hätte sich wohl von dem leckeren Lír zurückgezogen, weil sie ihn nicht um ein Pfund Fleisch erleichtern wollte. Nicht wie vor Jahren bei …

Lírs leises Lachen brachte sie zurück in die Gegenwart.

»Was erzählt man sich denn so?« Er klang aufrichtig amüsiert. Marleen selbst hasste das viele Gerede in New Port, aber wegziehen wollte sie auch nicht. In den Metropolen war es ihr viel zu laut, zu dreckig und dort lebte nicht ihre Familie.

»Nun, du wurdest nur der ›knackige Goldjunge‹ genannt. Ms. Stanton meinte, du wärst sicher ein Wegelagerer und wärst hierhergekommen, um dich vor den Bullen zu verstecken. Mr. Travis vermutete hingegen, dass du ein erfolgloser Schauspieler wärst, der hier in New Port neue Inspirationen sammeln will.«

Marleens Grinsen wurde breiter, sie sah dem Mann neben sich tief in die Augen. »Und Ms. Glace, die Frau des Pfarrers, sagte, sie hätte von deiner Vermieterin gehört, du hättest einer reichen Erbin das Herz gebrochen, weil du es mit ihrer Schwester und der Cousine gleichzeitig auf ihrem Couchtisch getrieben hättest. Deswegen bist du jetzt auf der Flucht vor ihrem rachsüchtigen Vater.«

Schon vor ihrem letzten Satz war Lír in lautes Gelächter ausgebrochen. Tatsächlich musste er so sehr lachen, dass er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen musste. Marleen wäre am liebsten auf der Stelle über ihn hergefallen, wenn sie nicht am Rand des Marktplatzes gestanden wären.

Als er sich wieder gefangen hatte, legte er eine sehr warme Hand auf ihre, die nach wie vor in seiner Armbeuge ruhte.

»Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist.«

»Na gut, das mit dem Schauspieler war gelogen, ich gebe es zu.« Wieder lachte Lír, dieses Mal jedoch leiser.

Sie lehnte sich ein Stück näher zu ihm, bis ihre Korsage seinen Arm berührte. Nur, weil sie sonst nicht widerstehen könnte, ihn doch noch zu küssen. Ihr Blick wanderte jetzt schon besorgniserregend häufig zu seinen geschwungenen Lippen.

»Und was führt dich wirklich nach New Port?«

Seine Augen funkelten noch immer vergnügt. »Was würdest du sagen, wenn es wirklich die Version mit dem rachsüchtigen Vater wäre?«

Marleen lachte kehlig. »Dann würde ich sagen, dass du dich liebend gern in meinem Schlafzimmer vor ihm verstecken könntest.«

Hitze wallte in ihr auf, als sie Lírs glutvollem Blick begegnete.

»Ein verlockendes Angebot«, murmelte er. Seine Augen wanderten von ihren Lippen hinunter zu ihrem Dekolleté. Augenblicklich richteten sich Marleens Brustwarzen auf, ihr Slip wurde auf skandalöse Art und Weise feucht.

Da sie aber noch nie eine vollkommene Sklavin ihrer Lust gewesen war, wollte sie zuerst ihre Neugier befriedigen. Außerdem wusste sie, dass man Vorfreude auskosten musste.

»Der Preis dafür ist aber leider die Wahrheit«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Schließlich muss zumindest einer hier die wahre Geschichte hinter dem ›knackigen Goldjungen‹ kennen.«

Lír sah ihr wieder in die Augen und lächelte langsam. »Abgemacht.«

Erregung summte lauter in jeder von Marleens Körperzellen. Dennoch ließ sie sich bereitwillig von Lír über den Marktplatz in Richtung Meer führen.

Erst als sie durch die verschlungenen, beinah verlassenen Seitenstraßen gingen, sagte er: »Seit etwas über einem Jahr reise ich bereits umher, um etwas mehr über eine bestimmte Familie zu erfahren. Besser gesagt, meine eigene Familie. Wir sind ein wenig … speziell.«

Marleens sexuelle Vorfreude wurde im Keim erstickt, als sie Lír von einer bestimmten Familie hatte reden hörte. Die Cromwells waren regelrecht paranoid, wenn es darum ging, dass andere Leute in ihrer Familiengeschichte herumstochern wollten.

Jetzt mal langsam, sagte sie sich und entspannte sich wieder. Es war sicher nur ein Zufall und irgendwie amüsant, dass er seine Familie so bezeichnete. Dieselbe Beschreibung hatte sie schon tausende Male für ihre eigene Sippschaft verwendet.

»Hm, speziell klingt doch gut. Normal kann jeder«, kommentierte sie seine Worte.

Lírs Lippen verzogen sich zu einem kleinen Grinsen. »Jedenfalls ist es eine ziemlich alte Familie, die sehr viel herumgekommen ist und daher ist es schwer, die Spur nicht zu verlieren.« Er seufzte leidgeprüft. »Vor einigen Monaten schien sich die Spur im Sand zu verlaufen. Aber dann bekam ich von einem meiner Kontakte den Tipp, hier in New Port weiter zu suchen. Und tada – hier bin ich.«

Marleen strich mit den Fingerspitzen der anderen Hand über seinen Unterarm. »Ich muss zugeben, dass finde ich fast noch interessanter als die Geschichte mit dem Couchtisch.«

Mittlerweile hatten sie die Klippen erreicht. Der frische, kühle Wind vom Meer umspielte sie wie die erfahrenen Hände eines Liebhabers. Das Salz in der Luft strich verführerisch über ihre Haut. Unter einem alten, ausladenden Baum blieben sie stehen.

»Wirklich?«, fragte Lír. »Die meisten finden es langweilig, was ich mache.«

Marleen machte eine wegwerfende Handbewegung, neigte den Kopf zur Seite und fragte: »Bist du denn Historiker?«

»Ja, zumindest besagt das mein Diplom. Aber diese Ahnensuche ist auch etwas sehr Persönliches.«

»Das kann ich gut verstehen.« Sie lächelte ihn an und gestattete es sich, sich noch weiter an ihn zu lehnen. »Meine … Tante ist ziemlich besessen von unserer Familiengeschichte. Die Cromwells leben hier schon eine Ewigkeit. Vielleicht solltest du dich einmal mit ihr unterhalten.«

Lírs Lächeln wurde eine Spur durchtriebener. »So schnell wurde ich noch von keiner Frau zu ihrer Familie geschleppt.«

Marleen schlug ihm auf die Brust, lachte und entzog sich im, um an den Rand der Klippen zu treten. Bevor der Wind ihren Rock hochhob, strich sie ihn vorsorglich hinunter. Sie fühlte Lírs warmen Körper an ihrem Rücken.

»Es ist deine Entscheidung«, sagte sie über ihre Schulter hinweg. Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme den verhängnisvollen Klang der Sirene annahm. »Anschließend können wir uns gemeinsam vor der Welt in meinem Schlafzimmer verstecken.«

Anna sah ihre Tochter ungläubig an.

Schon am Tag ihrer Geburt hatte sie gewusst, dass Marleen ihr am meisten Scherereien machen würde. Doch so etwas hätte Anna nie erwartet.

---ENDE DER LESEPROBE---