Danke Lena - Florian Kinast - E-Book

Danke Lena E-Book

Florian Kinast

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Beschreibung

Mit zwölf Weltmeistertiteln, zwei olympischen Goldmedaillen und dem dreimaligen Gewinn des Gesamt-Weltcups zählt Magdalena Neuner zu den erfolgreichsten Biathletinnen aller Zeiten. Im Alter von nur 25 Jahren beendete die populärste deutsche Wintersportlerin, die 2007 und 2011 zur "Sportlerin des Jahres" gewählt wurde, im März 2012 ihre Karriere. Die beiden Wintersport-Experten Florian Kinast und Patrick Reichelt haben Magdalena Neuner seit Beginn ihrer Laufbahn journalistisch begleitet und haben einige ihrer Sternstunden wie die ersten Weltmeistertitel 2007 und ihre Olympiasiege 2010 live miterlebt. In dieser unterhaltsamen Biografie werden Magdalena Neuners Karriere-Highlights noch einmal lebendig: von den sportlichen Anfängen bis hin zur Abschieds-WM 2012 in Ruhpolding. Der Leser erfährt, wie sich die sympathische Wallgauerin ins Rampenlicht fuhr und schoss, warum sich so viele Fans zu ihr hingezogen fühlen, welchen Einfluss Medien, Marketing und Sponsoren hatten - und wie hoch der Preis für diesen Ruhm war. Mit 40 zum Teil noch unveröffentlichten Fotos.

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Florian Kinast

Patrick Reichelt

Die Traumkarriere der Magdalena Neuner

Impressum

Um die Farbbildtafeln verkürzte eBook-Ausgabe der im Copress-Verlag erschienenen Printausgabe

Abbildung Cover: Sven Simon

Bild Innenteil: privat

Umschlaggestaltung: Copress Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Copress Verlag in der Stiebner Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten.

Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

www.copress.de

ISBN 978-3-7679-1142-0

Inhalt

Der Rücktritt, das Vorwort

Die letzte große Bühne – Danke Lena!

Neuner-Festspiele unter dem Zirmberg»… oder Du bist der Depp«Die große Rivalin schlägt zurückDer große Traum platzt am SchießstandEine Nähmaschine zum Abschied

Zwischen Bergen und Buben, Glauben und Musik – Eine Kindheit im Idyll

Tränen beim ersten Foto-TerminAuf Distanz zur »Prinzessinnen-Clique«Kasperl, Bibi Blocksberg, Meister EderDas Leben mit dem behinderten OnkelKeine halben Sachen – auch nicht beim SchuhplattlerLeistungssport statt AbiturZielstrebig, humorvoll, verschmitzt

»Langlaufen und Schießen irgendwie« – Lenas Anfänge im Biathlon

Der Urknall in Ruhpolding»Als hätte sie nie was anderes gemacht«Mit AC/DC nach OberhofFernseh-Premiere mit ZahnspangeElterliches Veto gegen das Weltcup- DebütCrossfire – schon damals auf die falschen Scheiben

Interview mit Uschi Disl»Irgendwann verlierst du die Nerven«

Das Ausnahmetalent testet das Rampenlicht

Die Last der Aaaahs und OooohsSchnelles Wiedersehen im Antholzer TalMit Rückenwind zurück zu den JuniorinnenOslo statt Gurnigl! Abschied aus der zweiten ReiheDie Kräfte gehen zur NeigeDie Vision vom Olympia-Gold

Interview mit Kati Wilhelm»Lena war einfach anders«

Aufstieg aus der Güllegrube

Magda schwärmt von Lena17.000 Euro für die neue WohnungEin Franz, viele Fans: Stürmische Zeiten im ChiemgauEine Nähmaschine im Oberschenkel

Naiv, harmonisch triumphal: Die WM-Festspiele von Antholz

Mitschnabeln statt hinterhertrabenWintermärchenhaft: 17 Handballer und eine NeunerDas Team-Quartier als AquariumDie lange Suche nach dem Vater»Muss der Trubel denn sein?«

Strick-Liesl und Wäsche-Model – Neuners PR-Strategie

Selbst Wallgau muss weichenAuf dem Weg in eine neue DimensionMischung aus Erfolg und PersönlichkeitDas Lächeln passt zu jedem Produkt Der DSV nutzt die Gunst der Stunde

Interview mit Peter Ehm»Lenas Credo: Ehrlichkeit, Bescheidenheit«

Liebesgrüße aus Russland

»Geht aus dem Weg, wenn sie ihre Waffe hebt«Eine Autorität wie BjörndalenDie obskuren VerschwörungstheorienSpekulationen ums Comeback

Die Krönung an der Königsloge

Viele Trophäen, viele Rückschläge»Dickkopf«: Der erste Rüffel vom TrainerDunkle Wolken über der GlückseligkeitTränen, Wut – und erste Rücktrittsgedanken

Interview mit Anders Besseberg»Hätte sie gerne fünf Jahre länger gesehen«

Landei Lena: Zurück ins kleine Nest – Wallgau als Zufluchtsort und Kraftquelle

Unvergessen: Liz Taylor mit MaßkrugEntspannung bei Tee auf der CouchKoller in der finnischen DunkelheitMit dem Hamster zum TierarztDas öffentliche PrivatlebenEdelsteine schürfen an der Isar

Am Rande des Burn-Out: Neuners düstere Krisenzeit

»Plötzlich wildfremde Menschen im Flur«Panikattacken beim TelefonklingelnSie zupfte die Harfe nur noch daheimAls nicht einmal mehr der Mentaltrainer helfen konnteDie Sehnsucht nach den Emotionen

Interview mit Martin Schmitt»Keine Motivation – das geht nicht gut«

Aufs Siegertreppchen, zur Schlachtbank: Triumph und Tränen bei Olympia

Goldtaler und Schokotorte machten AppetitFragerunde zwischen den SchränkenRundumsorglospaket aus dem Bavarian VillageZiehen und Zerren hinterm ZielstrichDie Spekulationen um den StaffelverzichtDie Nerven lagen immer blankerVia Rathausbalkon in die Heimat

Gold schürfen in der Ölstadt – die Jagd nach dem Rekord

Das Sammeln geht weiterBestätigung für den FrauenversteherAuf den Schultern eines Engländers Tränen vor dem Fernseher

Die letzte Kugel – Das Schaulaufen bis Sibirien

Mit Autobatterie und Dixi-KloDie Vorahnung der TeamkollegenSouverän im Liebes-SturmVerfolgungsrennen mit PaparazziDie Rücktrittserklärung, eine ErlösungAuf die falsche Bahn geratenFreudiger Familienbesuch und ein trauriger KönigDer letzte Auftritt als finaler Genuss

Anhang

Magdalena Neuner – eine Blitzkarriere in Zahlen, Daten und Fakten

Der Rücktritt, das Vorwort

Nach dieser Saison ist Schluss!

Ich habe mich entschieden: Nach dieser Saison werde ich meine Biathlonkarriere beenden.

Liebe Fans, liebe Besucher meiner Homepage, nun ist es wieder so weit: Das erste Weltcupwochenende liegt hinter mir und jetzt geht es weiter nach Hochfilzen.

Bevor die nächsten Wettkämpfe anstehen, habe ich jedoch noch etwas Wichtiges, das ich Euch gerne mitteilen möchte. Eigentlich hatte ich geplant, Euch das schon vor zwei Wochen zu sagen, aber leider war mir das aus organisatorischen Gründen nicht möglich und ich musste einen späteren Termin wählen. Das war mir sehr unangenehm, weil ich eigentlich von Anfang an, ehrlich und offen mit dem Thema umgehen wollte.

Immer wieder wurde ich in den letzten Interviews gefragt, wie lange ich denn noch Biathlon machen werde. Es wurde sehr viel spekuliert und ich musste mich immer herauswinden und um den heißen Brei herumreden. Ich habe gesagt, sobald ich mehr weiß, werde ich dies bekanntgeben. Ich habe eine Entscheidung getroffen, die für mich persönlich richtig und auch sehr gut überlegt ist, und ich bin froh, dass ich endlich ehrlich das aussprechen kann, was ich denke.

Ich werde meine Karriere als Biathletin nach dem Winter beenden. Für einige von Euch ist das jetzt sicherlich sehr überraschend und unangenehm. Das kann ich gut nachempfinden und verstehe, dass diese Entscheidung nicht leicht nachvollziehbar ist und jeder von Euch anders darüber denkt. Lange Zeit habe ich mit mir gehadert, mir Gedanken gemacht, die Situation aus mehreren Blickwinkeln betrachtet und habe dabei natürlich auch an Euch gedacht. Ich habe es mir mit Sicherheit nicht leicht gemacht. Doch mittlerweile habe ich eine Entscheidung getroffen und habe einfach das Gefühl, dass die Zeit reif ist für eine Veränderung und mich nach dem Sport etwas Neues, ganz Tolles erwartet!

Zum einen sehne ich mich nach Normalität, nach ein wenig mehr Ruhe und danach, einfach mal die Dinge machen zu können, die ich in meinem Sportlerleben nie machen konnte; zum anderen bin ich sehr motiviert neue Dinge auszuprobieren, habe schon viel getestet und mit Sicherheit auch Fähigkeiten in anderen Bereichen. Vielleicht könnt Ihr mir ja dabei helfen, neue Ideen zu entwickeln. Dafür wäre ich Euch sogar sehr dankbar und bin offen für Anregungen, wenn sie zu mir passen.

Irgendwann spielt auch das Thema Familienplanung für mich eine Rolle, das können bestimmt gerade die Frauen unter Euch gut nachvollziehen. Doch vorher möchte ich einfach erst mal noch ein paar Dinge ausprobieren. Zur Zeit bin ich noch dabei, den C-Lizenz Trainerschein zu machen und freue mich darauf, Kindern und Jugendlichen meine Erfahrungen, die ich als Sportlerin gemacht habe, als Trainerin weiterzugeben.

Auf jeden Fall werde ich Euch erhalten bleiben, eben einfach nur an einer anderen Stelle und ich würde mich freuen, wenn Ihr mich auf meinem neuen Lebensabschnitt begleitet. Über diese zukünftigen Entwicklungen halte ich Euch regelmäßig auf dem Laufenden. Die letzten Jahre waren eine ganz besondere und aufregende Zeit für mich – und ich genieße meine Zeit im Sport immer noch sehr!

Jetzt freue ich mich erst einmal sehr auf den bevorstehenden Winter, vor allem natürlich auf die WM in Ruhpolding. Auf Euch Fans, die tolle Stimmung in den Stadien und die schönen Dinge, die ich im Sport noch erleben darf. Es wird für uns alle bestimmt eine ganz schöne Saison und ich würde sagen – lasst sie uns einfach so richtig genießen und zusammen feiern!

Eure Magdalena

Mit diesen Worten machte Magdalena Neuner am 6. Dezember 2011 auf ihrer Webseite offiziell, worüber zuvor in der Medienwelt schon kräftig spekuliert worden war. Der Winter 2011/12 würde für die dann gerade 25-Jährige der letzte als aktive Biathletin sein. Nach der Weltmeisterschaft in Ruhpolding würde die Skijagd ihr vielleicht schönstes Lächeln und der deutsche Wintersport einen echten Superstar verlieren. Überraschen konnte das nicht, Neuner hatte schon länger angedeutet, dass ihre sportlichen Ziele wohl nur noch kurzfristiger Natur sein würden. Und doch verfehlte der Vollzug, an dem die Wallgauerin bereits seit Sommer gefeilt hatte, seine Wirkung nicht. Der angekündigte Ausstieg der wohl weltbesten Biathletin brachte es in allen Nachrichtenmedien unter die Topmeldungen. Die Pressekonferenz im österreichischen Hochfilzen, in der Neuner ihren Entschluss erklärte, wurde für Biathlon-Verhältnisse zu einem Medienspektakel.

Dieses Buch soll dem Leser nicht nur eine hochbegabte Sportlerin näherbringen, sondern auch einen außergewöhnlichen Menschen. Und es soll sie noch einmal in Erinnerung rufen, die größten und schönsten Erfolge dieser einzigartigen Karriere, aber auch einige dunklere Momente einer ganz besonderen Laufbahn.

Florian Kinast und Patrick Reichelt im März 2012

Magdalena Neuner und Autor Florian Kinast beim Weltcup in Antholz 2007.

Die letzte große Bühne – Danke Lena!

Immerhin hatte auch jemand an Blumen gedacht. Als die tollen Tage von Ruhpolding ein Ende gefunden hatten, da trug Magdalena Neuner neben ihren Skiern auch einen dicken Strauß roter Rosen auf dem Arm. Und dann war in der trüb verregneten Chiemgau Arena die Zeit gekommen, Danke zu sagen. Ein Sponsor hatte dafür weithin sichtbar ein gewaltiges Transparent über den Aufsprunghügel der Schanze der mondänen Anlage im Miesenbacher Tal spannen lassen. »Danke Magdalena« stand darauf über Magdalena Neuners lächelndes Konterfei geschrieben. Claus Pichler, Ruhpoldings Bürgermeister und Chef des Organisationskomitees der Biathlon-Weltmeisterschaft drückte Neuner eine Akkreditierung auf Lebenszeit für die kommenden Wettbewerbe in seiner Gemeinde in die Hand. Verbunden mit dem Dank für all die schönen Stunden, die die wohl beste Biathletin aller Zeiten den vielen Fans im Chiemgau beschert hatte. Die Türen im erklärten Mekka der Skizweikämpfer würden ihr und »den hoffentlich vielen Neuners« immer offen stehen. Da wollte sich auch Magdalena Neuner selbst nicht lumpen lassen. Natürlich griff auch die Wallgauerin zum Mikrophon. Um den Unentwegten zu danken, die trotz der unwirtlichen Bedingungen auf der Tribüne geblieben waren. Stellvertretend für die vielen Menschen, die ihr bei dieser Weltmeisterschaft, wie in all den Weltcupjahren in Ruhpolding so viel Zuneigung gegeben hatten. »Ich kann mich nur bedanken, dass ihr mich immer so unterstützt habt«, sagte Neuner mit merklich feuchten Augen, »auch wenn ich euch nicht immer jeden Wunsch erfüllen konnte.«

Da trat plötzlich auch in den Hintergrund, dass diese letzte große Bühne ihrer kurzen aber umso heftigeren Karriere sportlich nicht ganz den rauschenden Ausklang mit sich gebracht hatte, den viele – natürlich auch Neuner selbst – gerne erlebt hätten. Im abschließenden Massenstart schlitterte die 25-Jährige irgendwo mit dem Feld über die Ziellinie. Als Zehnte des Tages, fernab von der norwegischen Weltmeisterin Tora Berger, die sich auf der Schlussrunde gegen ihre hartnäckigsten Verfolgerinnen Marie-Laure Brunet (Frankreich) und Kaisa Mäkäräinen (Finnland) durchgesetzt hatte. Es blieb verhaltener Applaus statt der Ovationen, die die Rekordweltmeisterin so oft hatte genießen dürfen. Und am Ende war Neuner einfach nur erleichtert, dass diese Tage auch für sie Vergangenheit waren. »Es war eine tolle WM«, betonte sie, »aber ich bin froh, dass es jetzt vorbei ist«. Die knapp zwei Wochen in Ruhpolding hatten auch an ihren Nerven kräftig gezehrt. Und das lag weniger an dem Mammutprogramm von sechs Rennen, das der Liebling der deutschen Wintersportfans unter dem Zirmberg zu absolvieren hatte. Der gewaltige WM-Trubel hatte Neuner schwer zugesetzt. Natürlich hatte der Deutsche Skiverband (DSV) einiges dafür getan, um seine Athleten vor dem schlimmsten Wirbel zu schützen. Ganz für sich im abgelegenen Landhotel Maiergschwendt durften sich Neuner und Co. auf ihre Einsätze vorbereiten. Sponsortermine, auch Fotoshootings wie das für ein großes Sportmagazin und auch die Pflichtbesuche nach Medaillengewinnen im deutschen Haus wurden auf ein erträgliches Minimum beschränkt. Und doch war Neuner letztlich am Ende ihrer Kräfte. »Bei mir ist die Luft raus«, sagte sie, »das kann sich keiner vorstellen, wie brutal der Druck ist – vor allem wenn man Magdalena Neuner heißt.«

Neuner-Festspiele unter dem Zirmberg

In der Tat waren diese größten Welttitelkämpfe der Biathlon-Geschichte vor allem Neuner-Festspiele gewesen. Kaum ein Fan, der nicht mit Neuner-Fähnchen oder -Schal ausgerüstet gewesen wäre. Kaum ein Transparent, das nicht von einer Grußbotschaft an die scheidende Ausnahme-Athletin geziert gewesen wäre. So wie bei jenem jungen Mädchen, das sich ein Plakat mit der, von Herzen verzierten Aufschrift »Magdalena grüßt Magdalena – danke für alles« auf den Rücken gepinnt hatte. Und auf der Anlage selbst brachen jedes Mal Jubelstürme los, wenn die blonde Bayerin in Erscheinung trat. Zu Beginn der großen Tage in Ruhpolding hatte sie die große Last der öffentlichen Liebe noch schlicht weggelächelt. Während sich die Konkurrenz vor den Erwartungen wegduckte, bekräftigte Neuner noch einmal die hohen Ziele, die sie über die Saison hinweg immer wieder formuliert hatte. Optimale sechs Medaillen, da hatte sie sich festgelegt, wolle sie in den sechs Wettbewerben vor eigenem Publikum holen. Selbst Chefcoach Uwe Müssiggang wollte da nur den Hut ziehen: »Ich war schon immer fasziniert, wie klar Magdalena ihre Ziele formuliert hat. Andere würden sich das vielleicht nicht trauen, weil sie denken, dann würde der Druck zu groß und der Rucksack, den sie mitschleppen, zu schwer. Für Lena war das nie ein Rucksack, der sie belastet hat, sie ist da ganz unkompliziert.«

Und das Unternehmen sechs Mal Edelmetall begann ja dann auch ganz verheißungsvoll. In der Mixed-Staffel leistete sich Magdalena Neuner zwar mit insgesamt drei Fehlern wie Startläuferin Andrea Henkel leichte Wackler am Schießstand. Doch in der tiefen, von der Märzsonne aufgeweichten Spur zeigte sie schon einmal ihre Klasse und lief als Dritte bis auf gut 18 Sekunden an das führende Quartett aus Norwegen heran. Keine überragende, aber doch eine gute Ausgangsposition für Andreas Birnbacher. Und der Lokalmatador legte einen entfesselten Auftritt auf seiner Heimanlage hin. Schockte die Konkurrenz mit makellosen Schießeinlagen und war auch auf der Strecke die Nummer eins seiner Runde. Als der Schlechinger ins Ziel zurückkam, da stand für Schlussläufer Arnd Peiffer ein unfassbares Polster von rund einer Minute auf der Uhr. Das sich allerdings als ein wenig trügerisch erweisen sollte. Denn die obligatorischen Kontrollen der Trefferbilder an der Schießanlage zeigten, dass Norwegens Altmeister Ole Einar Björndalen irrtümlich ein Fehler angelastet worden war – der erfolgreichste Biathlet der Geschichte hatte sogar eine Strafrunde absolvieren müssen. Die Jury entschied schnell, dass das Missgeschick mit einer Zeitgutschrift von knapp 30 Sekunden für die Extrameter und einen überflüssigen Nachlader auszugleichen war. Doch diese Erkenntnis war es nicht, die Peiffer und damit das deutsche Quartett aus der scheinbar sicheren Goldspur riss. Der junge Hoffnungsträger aus Clausthal-Zellerfeld hatte schlicht nicht mit der grellen Sonne gerechnet, die auf seiner Runde aus denkbar ungünstigem Winkel auf den Schießstand fiel. Im Gegensatz zu den schärfsten Rivalen hatte sich der 24-Jährige nicht mit einer Sichtblende ausgerüstet. Vor allem das Stehendschießen wurde für ihn zum kapitalen Blindflug. »Es war eigentlich reines Glück, dass ich überhaupt etwas getroffen habe«, befand er später schwer frustriert. Peiffer kam mit einer Strafrunde davon. Doch auch die war zu viel, um Norwegens Ausnahmekönner Emil Hegle Svendsen und den überraschend starken Slowenen Jakov Fak in die Schranken zu weisen.

Immerhin: Es blieb die Bronzemedaille. Was unter anderen Umständen wohl als großer Erfolg bewertet worden wäre in einem Wettbewerb, in dem mindestens zehn bis zwölf Nationen als heiße Medaillenanwärter eingestuft worden waren. Beim Pechvogel selbst wollte ausgelassene Freude über das erste Edelmetall in Ruhpolding allerdings nicht aufkommen. Dass die BILD-Zeitung dann auch noch spottete »Panne-Mann verballert Lenas erstes Gold« dürfte Peiffers Laune nicht eben besser gemacht haben. Neuner selbst sprang dem unglücklichen Teamkollegen zur Seite und nutzte die erste Pressekonferenz zu einer Breitseite gegen den Berichterstatter. »Die Leute sollen sich wirklich überlegen, was sie schreiben«, wetterte sie, »der Arnd hat einen tollen Job gemacht und Bronze gerettet. Und außerdem ist es nicht mein Gold, sondern es geht einzig und alleine um die Mannschaft.« Die scheidende Biathlon-Königin trauerte dem entgangenen Gold keineswegs nach – im Gegenteil, sie hatte mit der ersten Plakette von Ruhpolding sogar eine Lücke in ihrer Trophäensammlung geschlossen. »Es ist meine erste Bronzemedaille bei einer WM, das ist doch toll.« Sprach’s und schickte eine Mahnung an die so erwartungsvolle deutsche Öffentlichkeit hinterher. »Bei der Siegerehrung habe ich gesehen, wie ausgelassen sich die Slowenen über Silber gefreut haben«, sagte Neuner, »daran sollte sich vielleicht manch einer mal ein Beispiel nehmen.«

»… oder Du bist der Depp«

Und Magdalena Neuner wusste ja nur zu gut, dass ihre wohl größte Chance auf einen Titel bei dieser Heim-WM unmittelbar bevorstand. Von den acht Sprintrennen des Winters hatte die Wallgauerin bis dahin atemberaubende sechs gewonnen. Selten hatte eine Athletin eine einzelne Disziplin derart deutlich dominiert. In Ruhpolding allerdings schwebte nun ein kleiner Unsicherheitsfaktor über Neuners Spezialdisziplin: Das milde Wetter. Nicht wenige hatten den späten WMZeitpunkt kritisiert. Stephane Bouthiaux, Frankreichs Männertrainer und damit Coach des neuen Überfliegers Martin Fourcade, reihte sich in den Kreis der Kritiker ein. »Ich habe absolut kein Verständnis für die IBU«, wetterte der Franzose in Richtung Weltverband, »wie kann ich im März eine WM in Mitteleuropa machen. Faire Wettbewerbe sind so unmöglich.« Bouthiaux` Ahnung: Die angegriffene Spur werde sich im Verlauf eines Rennens derart verschlechtern, dass Athleten mit höherer Startnummer chancenlos sind. Wolfgang Pichler, der knorrige Ruhpoldinger, der seit Sommer die Geschicke von Russlands Frauen lenkte, hatte derweil eine ganz andere Befürchtung. Was wäre, wenn der Nachmittagsschatten unter dem Zirmberg die Temperaturen vielleicht doch wieder in den Bereich des Gefrierpunkts absinken lässt? Wären auf einer vereisenden Strecke nicht Läufer mit höherer Startnummer im Vorteil? »Du kannst hier die richtige Karte ziehen oder du bist der Depp«, befand er ziemlich lapidar.

Beim Sprint der Frauen schlossen sich die großen Verbände dann doch der französischen Ahnung an. Die Favoritinnen ließen sich allesamt im Vorderfeld eingruppieren. Am spätesten noch Magdalena Neuner, deren Nummer 29 sich allerdings als echter Vorteil erwies: Sie hatte auf der Schleife, die die Veranstalter sogar mit Brezensalz gepflegt hatten, im Blick, wie es ihren Konkurrentinnen erging. Und so wusste sie auch vom kleinen Missgeschick von Darja Domratschewa, ihrer großen Widersacherin dieser Weltcup-Saison. Die Weißrussin hatte sich am Schießstand zwar keinen Fehler erlaubt, aber sie hatte Probleme mit ihrer Waffe, die sie wertvolle Sekunden gekostet hatten. Der Schützling des deutschen Trainerfuchses Klaus Siebert war über die Saison hinweg die einzige Läuferin gewesen, die Neuner auch in der Spur in schwere Bedrängnis bringen konnte. Nach ihrem Patzer war klar: Mit zwei Mal »Null« wäre der Weg zum Weltmeistertitel frei. Und Magdalena Neuner tat, was von ihr gefordert war. Ohne Fehler brachte sie die beiden Schießeinlagen hinter sich und bescherte den 28.000 Biathlon-Fans in der restlos vollgepackten Arena ihren ersten Glücksrausch. Der Jubel, als die 25-Jährige dann auch tatsächlich mit gut 15 Sekunden Vorsprung auf Domratschewa und sogar 37 Sekunden auf die ukrainische Überraschungs-Dritte Vita Semerenko über die Ziellinie rauschte, dürfte noch im nahe gelegenen Salzburg zu hören gewesen sein. Und selbst Wolfgang Pichler, der im Vorfeld noch gestichelt hatte (»Hier werden Medaillen ganz schwer hergehen«) verbeugte sich tief vor der nun alleinigen Rekordweltmeisterin. »So a varreckts Luder«, entfuhr es dem 57-Jährigen mit breitem Grinsen. Ein höheres Lob ist aus bayerischem Mund kaum zu bekommen. Natürlich war auch der zum Champions Park umfunktionierte Kurpark im Herzen der 6800-Seelen-Gemeinde voll gepackt, als sich Neuner wenige Stunden später ihre elfte Goldmedaille um den Hals hängen lassen durfte. Rund 5000 Menschen verwandelten den sonst so beschaulichen Platz in ein beeindruckendes schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer.

Und natürlich witterte die verzückte Fangemeinde die Chance auf mehr. Denn der Sprintsieg bescherte Magdalena Neuner ja auch eine glänzende Ausgangsposition für die bereits Tags darauf wartende Verfolgung. Wie es gehen könnte, machte dem deutschen Liebling der Massen schon einmal der Franzose Martin Fourcade vor, der als erster Sprint-Weltmeister überhaupt auch das folgende Jagdrennen für sich entscheiden konnte. Der Ausnahmeläufer leistete sich sogar satte vier Schießfehler. 600 Extra-Meter in der Strafrunde hatte er sich damit also eingehandelt, doch am Ende reichte die Kraft immer noch, um den schwedischen Routinier Carl-Johan Bergman locker nieder zu spurten.

Die große Rivalin schlägt zurück

Bei den Frauen deutete ziemlich lange alles auf eine noch größere Demonstration der Stärke hin. Denn auch Magdalena Neuner behielt in der Verfolgung lange das Heft fest in der Hand. Ein Fehler beim zweiten Schießen war zu verschmerzen, weil auch Domratschewa patzte. Und als die Weißrussin beim dritten Besuch am Schießstand wieder eine Scheibe stehen ließ, da war der Goldhauch in der Arena schon wieder spürbar. Doch diesmal blieb das ganz große Happy-End aus. Eine Strafrunde wäre für Neuner beim letzten Schießen wohl zu verkraften gewesen. Doch gleich das erste Projektil verfehlte das Ziel derart deutlich, dass der Trainerstab um Frauen-Bundestrainer Gerald Hönig schon ein ähnliches technisches Missgeschick wie zum WMAuftakt bei Ole Einar Björndalen witterte. Aber die Wallgauerin hatte beim Anlegen wohl schlicht zu viel Druck auf den Abzugshebel gebracht und den Schuss zu früh ausgelöst. Noch eine zweite Scheibe blieb schwarz. Und diesmal war es Domratschewa, die die Gunst der Stunde nutzte. Die Weißrussin behielt die Nerven und als Neuner mit 13 Sekunden Rückstand aus der Strafrunde zurück auf die Strecke lief, da ahnte sie schon, dass dieser Tag kein goldenes Ende nehmen würde. »Dafür ist Dascha eine zu gute Läuferin«, sagte sie. Auf der Schlussrunde nahm die 25-Jährige deshalb schon lieber Fahrt heraus, um Kräfte zu sparen für die noch strapaziösere zweite WM-Hälfte. Das ganz große Gefühlskino durften diesmal jedoch andere genießen. Domratschewas Coach Klaus Siebert war 1979 in den Farben der DDR selbst der erste Weltmeister von Ruhpolding. Was er als Aktiver geschafft hatte, das blieb ihm als Coach über zwölf Weltmeisterschaften hinweg versagt. Ob als Privattrainer von Ricco Groß oder als Chefcoach in Österreich, China und nun eben Weißrussland – einen Weltmeister produzierte der Sachse, der erst Monate zuvor von einem Krebsleiden geheilt worden war, nie. Bis zu diesem Moment, in dem Darja Domratschewa ausgerechnet an der Stätte seines eigenen sportlichen Märchens triumphierte. »Das ist schon ein Traum«, schwärmte Siebert mit feuchten Augen.

Und Magdalena Neuner? Die Frau, die sogar von den internationalen Fangemeinden gefeiert wurde, haderte im Ziel zwar ein wenig mit dem letzten Stehendschießen: »Die zwei Fehler ärgern mich schon ein bisschen.« Doch den Frieden hatte sie mit Silber schnell geschlossen. »Ich habe jetzt einen kompletten Medaillensatz gewonnen, das ist doch super«, sagte sie. Sprach`s und genoss ein bisschen Auszeit von der Weltmeisterschaft. Zur Halbzeit hatte der Deutsche Skiverband einen Familienabend angesetzt, einer Party, bei der die Athleten im Kreis ihrer Lieben für ein paar Stunden Abstand vom strapaziösen WM-Alltag nehmen sollten. Männer-Bundestrainer Fritz Fischer wurde dabei an so ziemlich allen Instrumenten auffällig, derer er habhaft werden konnte. Neuner versuchte sich dagegen spektakulär gemeinsam mit Freundin und Zimmerkollegin Miriam Gössner als Sängerin. Was eine schöne Einstimmung war, auf die Dinge, die bei dieser WM noch kommen würden. Allen voran auf den Wettbewerb, der ihr in den sechs Jahren im Weltcup am meisten zu schaffen gemacht hatte: den Einzelwettbewerb.

So viel hatte Magdalena Neuner schon gewonnen, doch zu einer Medaille bei einem Großereignis hatte es auf diesen verflixten 15 Kilometern noch nie gereicht. Auch im Weltcup fällt ihre Bilanz in dieser Disziplin, die Schießfehler mit einer Strafminute so heftig ahndet, vergleichsweise bescheiden aus. Nur ein einziges Mal, in Antholz 2010 bei der Generalprobe für die Olympischen Spiele in Vancouver grüßte das schönste Lächeln des Weltcups nach einem Einzelwettbewerb von der höchsten Stufe des Siegertreppchens. Und nun sollte gerade hier also zumindest eine Medaille herausspringen. Was Mut machte: Auch auf der langen Strecke hatte Neuner, die 2009 sogar schon einmal die kleine Kristallkugel in dieser so aufreibenden Disziplin für sich entschieden hatte, in dieser Abschiedssaison ihre Qualität bewiesen. Bei beiden Auflagen, in Östersund und Nove Mesto, brachte sie es immerhin auf Platz drei. »Ich weiß, dass ich es kann«, war sich Neuner sicher.

Der große Traum platzt am Schießstand

Alles gerichtet also eigentlich für einen weiteren WM-Feiertag. Die Sonne strahlte über der Chiemgau Arena, die ein weiteres Mal mit 26.000 Zuschauern fast aus den Nähten platzte. Auch die Strecke präsentierte sich so gut wie nie bis dahin in den tollen Tagen von Ruhpolding. Doch es deutete sich ernüchternd früh an, dass Neuners großes Medaillenmärchen an diesem Nachmittag nicht fortgeschrieben werden würde. Gleich beim ersten Schießen ließ die Wallgauerin zwei Scheiben stehen. Und fügte sich damit ziemlich nahtlos ins Bild des deutschen Teams ein. Auch Andrea Henkel und Tina Bachmann patzten bei dieser ersten Liegendeinlage zweimal, nur Miriam Gössner kam zunächst mit einem Fehler davon. Da war es auch ein schwacher Trost, dass es Darja Domratschewa noch schlechter ergangen war – der Weißrussin blieb nach vier Fehlern nicht einmal mehr ein Hoffnungsschimmer. Was war geschehen? Die Windverhältnisse am Schießstand hatten sich nach dem Anschießen vor dem Start entscheidend verändert. Natürlich haben die Betreuer die Athletinnen auf der Strecke auf die drehenden Luftbewegungen hingewiesen. Passierte es im falschen Stil, wie Magdalena Neuner später anmerkte? »Die Trainer haben eine gewisse Nervosität verbreitet«, erklärte sie, »so etwas überträgt sich natürlich auch einmal auf die Athleten.« Wie auch immer – in jedem Fall zogen Neuner & Co. beim Anblick der Windfähnchen offenkundig die falschen Schlüsse. Und mussten sich dafür später ihrerseits Kritik von den Übungsleitern gefallen lassen. »Mich wundern die Fehler schon«, merkte Frauen-Bundestrainer Ricco Groß an, »die Verhältnisse waren nicht leicht, aber die Läuferinnen sind alle so erfahren, dass man von ihnen eigentlich schon verlangen kann, auf diese Situation richtig zu reagieren.«

Und so hatte man eben schon mit dem ersten Schießen gehörig Druck auf die eigenen Schultern gebracht. Magdalena Neuner kämpfte verbissen. Gehörte in der Spur wieder zu den schnellsten, bei der zweiten Schießeinlage stand immerhin die Null. Was den Horizont angesichts von rund einer Minute Rückstand auf Platz drei zumindest noch leicht in Bronze schimmern ließ. Daran änderte auch nicht viel, dass Neuner beim dritten Besuch am Schießstand erneut ein Ziel verfehlte. Die Amerikanerin Susan Dunklee, die sich mit der Startnummer eins (»Ein beängstigendes Gefühl, so ein Rennen vor so vielen Leuten zu eröffnen«) fast unbemerkt im Spitzenfeld festgebissen hatte, hatte der Deutschen immer noch nur gut eine Minute voraus. Ein makelloses viertes Schießen und Neuner wäre mit dem Rückenwind des leise Hoffnung schöpfenden Publikums wohl wieder in den Medaillenkampf zurückgekehrt. Die 25-Jährige riskierte viel und verlor alles: Drei Scheiben blieben stehen. Auf der Schlussrunde blieb nicht mehr als Schadensbegrenzung. Während sich Tora Berger mit nur einem Fehler ihre zweite Goldmedaille in Ruhpolding nach dem Gewinn der Mixed-Staffel sicherte – die Norwegerin setzte sich vor der Französin Marie-Laure Brunet und Helena Ekholm (Schweden) durch, die sich ebenfalls nur je eine Fahrkarte geleistet hatten. Neuner blieb Platz 23, schlechter war sie im gesamten Winter nie dagestanden. Und auch ihre Teamkolleginnen konnten an diesem verkorksten Tag nicht entscheidend in die Bresche springen, Andrea Henkel (4 Fehler) stand als 20. noch am besten da. So tief auf den Ergebnislisten hatte man deutsche Läuferinnen bei einer WM seit zweieinhalb Jahrzehnten nicht mehr suchen müssen. Und natürlich hatte die Abfuhr auch an einer so ausgemachten Frohnatur wie Neuner gezehrt. In den Minuten danach präsentierte sich die Wallgauerin, die ihren Traum vom sechsfachen Edelmetall in Ruhpolding so unsanft begraben musste (»Hört sich blöd an, aber mir ist es lieber so als Vierte«) merklich gereizt. Zwei Tage danach erklärte sie, die ausgegebenen sechs Medaillen seien doch vor allem das gewesen, was die Reporter gerne hören wollten, »ich muss mir nichts mehr beweisen«. Spätestens hier konnte man ahnen, dass die Last, das Gesicht der größten Biathlon-WM aller Zeiten zu sein – am Ende hatten atemberaubende 240.000 Menschen die elf Wettbewerbe verfolgt – eben auch an einer ausgemachten Frohnatur nicht spurlos vorbei gehen würde.

Doch wie hatte sich dieses Einzel-Debakel auf das Team ausgewirkt? Kollektive Verunsicherung oder vielleicht doch ein Jetzt-erst-Recht-Gefühl für die so prestigeträchtige Staffel am vorletzten WM-Tag? Aus der bis dato so unglücklich geschlagenen Männer-Abteilung gab es immerhin Rückenwind. Schlussläufer Arnd Peiffer, Andreas Birnbacher & Co. hatten sich tags zuvor nur den illustren Ensembles aus Norwegen und Frankreich geschlagen geben müssen und dem Deutschen Skiverband eine viel umjubelte Bronzemedaille beschert. Und die Frauen? Wollten es nun zumindest besser machen als im Saisonverlauf, als man das Podest in drei Anläufen stets verfehlte. Die Trainer hatten sich dabei eine veränderte Taktik ausgedacht. Anders als etwa ein Jahr zuvor in Sibirien sollte Magdalena Neuner nicht als Schlussläuferin, sondern nach der soliden Tina Bachmann bereits an Position zwei starten. Die dahinter steckende Idee war leicht zu erraten: Man wollte diese Staffel aus einer Position der Stärke von vorne gestalten und die vermeintliche Wackelkandidatin Miriam Gössner als dritte Läuferin mit einem möglichst großen Polster auf die Runde schicken.

Eine »Nähmaschine« zum Abschied

Und die Sache ließ sich zunächst ja auch gar nicht schlecht an. Bachmann leistete sich nur einen winzigen Nachlader beim ersten Schießen und legte auf der Strecke eine bärenstarke Vorstellung hin. Praktisch zeitgleich mit der französischen Vorzeigeläuferin Marie-Laure Brunet kehrte sie ins Ziel zurück. Beste Voraussetzungen also eigentlich für Neuner. Sie übernahm zwar in der Spur erwartungsgemäß sofort das Kommando. Doch schon beim ersten Schießen zeigte sich, dass ihr die Sicherheit der ersten WM-Hälfte abhanden gekommen war. Drei Projektile rauschten am Ziel vorbei. Ausgerechnet im Liegendschießen – jener Disziplin also, in der Neuner mit einer Trefferquote von 91 Prozent in dieser Saison zu den stärksten der Szene zählte. Das verlorene Terrain auf die führenden Teams aus der Slowakei und Frankreich hatte Neuner bis zur Rückkehr in den Schießstand schon wieder herausgelaufen. Dort allerdings unterlief ihr ein folgenschwerer Fehler. Statt im gewohnten Tempo zügig in die Anlage einzufahren, schlitterte Neuner hinter der betont langsamen Anastasia Kuzmina in den Stand. Als die 25-Jährige das Gewehr schließlich anlegte, war ihr Puls bereits unter jene Regionen abgesackt, in denen sie die Schießübungen normalerweise absolviert. Die Folge ist das berüchtigte Muskelzittern, das die Biathleten »Nähmaschine« nennen. »Eigentlich hatte ich von Beginn an eine«, sagte sie. Vier Fehler waren die Folge. Neuner musste in die Strafrunde, und das war ein Handicap, das auch für eine Ausnahmeläuferin nicht wettzumachen ist. Sie lief zwar bis zur Erschöpfung, am Ende schickte sie Gössner aber doch statt mit einem dicken Polster mit knapp elf Sekunden Rückstand auf die Runde.

Doch die 21-jährige Garmisch-Partenkirchenerin zeigte im bestmöglichen Moment, dass in ihr eben doch weit mehr steckt als eine bis dato unauffällige WM vermuten ließ. Mit zwei Nachladern beim ersten Schießen blieb sie der führenden Anais Bescond immerhin auf der Spur. Bei der Rückkehr an den Schießstand musste sie im Gegensatz zur zweimal patzenden Französin nur eine Extra-Patrone in Anspruch nehmen. Staunend verfolgten die 28.000 euphorisierten Fans im Stadion wie Gössner Schlussläuferin Andrea Henkel als Führende ins Rennen schickte. 17,5 Sekunden Vorsprung waren eine Vorgabe, die sich die Thüringerin nicht nehmen ließ. Mit all ihrer Routine räumte die 34-Jährige alle zehn Scheiben direkt ab. Die Schlussrunde wurde dank des Sicherheitsabstands zu den Verfolgern aus Frankreich und Norwegen zum großen Triumphzug. Selbst Männer-Bundestrainer Fritz Fischer ging auf der Strecke vor der vorbeigleitenden Henkel auf die Knie, die schließlich mit hoch erhobener Deutschland-Fahne das goldene Abschiedgeschenk für die scheidende Teamkollegin perfekt machte.

Und selbst Bundestrainer Uwe Müssiggang fand es eine nette Fügung, dass ausgerechnet die Vorläuferin bei diesem Goldcoup gepatzt hatte. »Die Lena hat so viele Rennen für uns gewonnen«, sagte der Medaillenschmied des DSV, »heute haben es einmal die anderen für sie gemacht. Das ist auch ein schönes Zeichen für die Zukunft.«

Wer hätte da schon widersprechen wollen.

Zwischen Bergen und Buben, Glauben und Musik – Eine Kindheit im Idyll

Im Februar 2012, kurz vor ihrer finalen Weltmeisterschaft in Ruhpolding, gab Magdalena Neuner ein langes Interview. Im Zeitgeist-Lifestyle-Magazin »Fit for fun« reflektierte sie noch einmal über ihre Karriere und sagte: »Ich wollte nie berühmt sein. Ich wollte Olympiasiegerin werden.« Freilich, das war womöglich etwas naiv gedacht. Denn natürlich bedingt das eine das andere, sportlicher Erfolg sorgt oft für Ruhm, vor allem in Boom-Sportarten wie dem Biathlon, und wenn man dann noch so aussieht und auftritt und für jedermann sympathisch rüberkommt wie Magdalena Neuner, dann erst recht.

Wer Magdalena Neuner in den fünf Jahren ihrer Welt-Karriere beobachtete, zwischen den ersten WM-Titeln 2007 und dem Karriereende 2012, der konnte feststellen, dass es Neuner tatsächlich selten von sich aus ins Rampenlicht getrieben hat. Sie nahm die Termine für die Medien hin, sie akzeptierte, dass es Teil des Geschäfts war und dazugehörte. Sie vermittelte aber nie das Gefühl, das wirklich zu brauchen. Manchmal war sie mit mehr Begeisterung dabei, manchmal mit weniger.

Und einmal, als sie vor einem Kamera-Objektiv stand und das Blitzlicht aufflackerte, da fing sie auch hemmungslos zu schluchzen an, weil sie in dem Moment einfach gar nicht wollte. Das war 1991 in Wallgau. Als vierjähriges Mädchen, als Model für den örtlichen Fremdenverkehrsverband.

Für den Tourismus in Wallgau begann damals gerade eine Blütezeit. Deutschland war gerade wiedervereinigt, und Hansjörg Zahler, der Bürgermeister, kann sich noch gut an die Szenen erinnern, als die ersten Urlauber aus dem Osten angekommen waren. Wie sie von Norden auf der B11 vom Walchensee herkamen, über die Kuppe unmittelbar vor der Ortseinfahrt, und wie sich dann die ganze Schönheit der weiten Isar-Ebene Richtung Karwendel und Werdenfels vor ihnen auftat. »Zeitweise ist auf der Straße nix mehr vorwärts gegangen«, sagt Zahler. »Auf so ein Panorama waren die nicht eingestellt, die waren fix und fertig.« Für die Neuankömmlinge war es so etwas wie der Blick in das gelobte Land.

Tränen beim ersten Foto-Termin

Noch gewaltiger ist der Blick vom Krepelschrofen. Der Krepelschrofen ist ein kleiner Buckel gleich im Norden von Wallgau, 1160 Meter hoch, kein Hausberg, eher ein Haushügel. Da hinauf geht ein gemütlicher Wanderweg, von oben sieht man die Häuser, die Höfe, die Kirche von Wallgau. Real existierender Postkartenkitsch, wie er idyllischer nicht sein kann. Von hier aus betrachtet wirkt der Ort noch verwurzelter in das oberbayerische Erdreich als eh schon, und wer dann länger dort oben steht und nachdenkt, könnte meinen, dass es Wallgau vermutlich schon seit Anbeginn der Zeit gab, seit der Schöpfung der Welt, und dass das Dorf dem lieben Gott so gut gefiel, dass er daraufhin als passend schöne Kulisse ringsherum die Berge auftürmte, die saftig grünen Wiesen ausbreitete und einen kleinen Graben für das Rinnsal Isar aushob.

Damals jedenfalls, nach der Öffnung der Grenzen und der Wiedervereinigung, blühte der Tourismus auf in dem kleinen Dorf, und deswegen wollte die Gemeinde auch ihren eigenen Werbeprospekt erneuern. Mit Bildern vom Ort, von den Menschen und mit Bildern von Kindern in Tracht. Dabei kamen sie auch auf die kleine Magdalena von der Familie Neuner.