12,99 €
Goooal! Toni, Du bist ein Fußballgott! I werd narrisch! Die Historie der Fußball-Weltmeisterschaft in all ihren Facetten: Florian Kinast beleuchtet die großen Stars und die tragischen Helden, er porträtiert die legendären Protagonisten. Er erzählt von der Weiterentwicklung der taktischen Spielsysteme und ordnet die Turniere in ihren zeithistorischen und gesellschaftspolitischen Kontext ein. Er schildert, wie sich der Fußball im Lauf der Jahrzehnte veränderte, von einer anfangs reinen Amateurveranstaltung hin zu einem professionellen Mega-vent. Eine spannende, unterhaltsame und kurzweilige Lektüre mit viel Geschichte und Geschichten, mit Analysen und Anekdoten, abgerundet mit einem umfassenden Statistikteil mit allen Spielen, allen Toren und sämtlichen Final-Aufstellungen seit 1930.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 573
Veröffentlichungsjahr: 2022
Florian Kinast
Die Könige der Welt
Taktik, Tragik und Triumphe – Die Geschichte der Fußballweltmeisterschaften von 1930 bis heute
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Das Debüt in Südamerika. Nach 25 Jahren Vorbereitung kommt es in Montevideo endlich zur ersten Weltmeisterschaft. Über einen fußballverrückten König, eine lustige Schifffahrt über den Atlantik und einen Premierentorschützen im Winterpullover – und warum die Deutschen das Turnier mit dezentem Desinteresse verfolgen.
Die Sportseiten der Tageszeitungen waren voll mit Berichten, in den Tagen nach dem Endspiel. Die Münchner Neuesten Nachrichten etwa schrieben interessante Neuigkeiten über den anstehenden Faustkampfabend der Amateurboxer im Mathäser-Festsaal, über die Deutschen Rasenkraftsport-Meisterschaften in Regensburg und das traditionelle Turnfest auf dem Blomberg bei Bad Tölz. Sehr klein und sehr versteckt fand sich eine kleine Notiz über drohende diplomatische Verwicklungen in Südamerika. »Die 2:4-Niederlage Argentiniens gegen Uruguay (…) hat die Fußballanhänger in Buenos Aires derart erregt, dass sie sämtliche Fenster in der uruguayischen Gesandtschaft eingeworfen haben«, stand zu lesen. Und weiter: »Die Polizei musste von der Schusswaffe Gebrauch machen.« Dass der Vorfall wohl »Gegenstand eines Notenwechsels« zwischen den beiden Ländern würde, hieß es noch. Dann waren die elf Zeilen zu Ende.
Und dann ging es noch um eine Tagung des Bayerischen Skiverbands. Dass am anderen Ende der Welt gerade die erste Fußball-Weltmeisterschaft der Geschichte zu Ende gegangen war, die Premiere eines Turniers, das sich in den folgenden Jahrzehnten neben den Olympischen Spielen zum größten globalen Sportspektakel entwickeln sollte, das kümmerte die Öffentlichkeit hier also sichtlich wenig. Deutschland spielte schließlich gar nicht mit. Und man hatte ja letztlich in dieser unruhigen und unguten Zeit nach der Weltwirtschaftskrise und im bevorstehenden Endstadium der wankenden Weimarer Republik auch ganz andere Sorgen.
Aber wie kam’s eigentlich überhaupt zum WM-Debüt?
Entstanden war der Gedanke eines globalen Weltturniers schon Anfang des Jahrhunderts, kurz nachdem der Holländer Carl Anton Wilhelm Hirschmann und der Franzose Robert Guérin am 21. Mai 1904 in der Zentrale des französischen Sportverbandes in der Pariser Rue Saint-Honoré 229 die Fédération Internationale de Football Association, kurz FIFA, gründeten. Mitglieder der ersten Stunde waren die Niederlande, Frankreich, Belgien, Schweden, die Schweiz, Dänemark und Spanien. Und auch der Deutsche Fußballbund (DFB) machte mit, die Anmeldung erfolgte noch am ersten Tag per Telegramm.
Schon im Jahr darauf präsentierte der umtriebige Hirschmann seine Vision einer Weltmeisterschaft und hatte dazu auch gleich einen Spielplan ausgetüftelt. Gruppe 1 mit den britischen Mannschaften England, Schottland, Wales, Nordirland. Gruppe 2 mit Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Spanien. In Gruppe 3 Italien, Österreich, Schweiz und Ungarn. Und in Gruppe 4: Dänemark, Deutschland, Schweden plus ein Vertreter Südamerikas. Brauchte man zur Legitimation eines Weltturniers ja auch. Sonst hätte man ja gleich eine Europameisterschaft spielen können.
Als Austragungsort dachte Hirschmann an die Schweiz. Die Resonanz war zunächst auch überwältigend, von den Mitgliedsverbänden gab es unisono große Zustimmung. Großartig, Spitzenplan. Riesig. Allein, als es um die Umsetzung und ums Mitmachen ging, folgte ein Rückzieher nach dem anderen. Lieber doch nicht, lass mal – am Ende fuhr keine der eingeladenen Nationen in die Schweiz. Die erste Vision einer WM endete in einem Desaster.
Kurz darauf war Fußball dann zumindest im olympischen Programm aufgenommen, und als die Auswahl Großbritanniens bei den Sommerspielen 1908 und 1912 Gold gewonnen hatte, sprang die FIFA flugs als Trittbrettfahrer mit auf, um das Fußballturnier bei den anstehenden, nach Berlin vergebenen Spielen 1916 wenigstens als Amateur-Weltmeisterschaft zu deklarieren. Dazu kam es aber nicht, 1914 begann der Erste Weltkrieg. Berlin bekam Olympia erst 1936 wieder, bei Hitlers Propagandaspielen.
Nach Kriegsende, als sich die olympischen Fußballturniere von 1924 und 1928 zu einem überraschend großen Publikumsmagneten mauserten, der Fußball sich gleichzeitig aber immer mehr professionalisierte und Berufsspieler als Nichtamateure von Olympischen Spielen ausgeschlossen wurden, manifestierte sich erneut der Gedanke einer eigenen Weltmeisterschaft. Folgerichtig der FIFA-Beschluss von 1928, jetzt endlich unabhängig von Olympia ein Weltturnier auszurichten. Fragte sich aber erst einmal: wo?
Viele Mitgliedsverbände favorisierten Deutschland als Gastgeber, doch der DFB zeigte sich wenig begeistert und lehnte sowohl die Ausrichtung als auch die Teilnahme von vornherein ab. Da der deutsche Fußball zu jener Zeit noch aus reinen Amateurkickern bestand, wollte man es vermeiden, gegen mit Berufsfußballern gespickte Verbände wie Österreich, Ungarn oder Italien (überall dort wurde der Fußball in den 1920er-Jahren professionalisiert) anzutreten und sich am Ende fürchterlich zu blamieren. Auch weitere zunächst an der Ausrichtung interessierte Nationen wie Ungarn, Spanien, Italien, Schweden oder die Niederlande zogen sukzessive zurück. Am Ende vergab die inzwischen auf 23 Mitgliedsverbände angewachsene FIFA beim 18. Kongress am 28. Mai 1929 in Barcelona die erste WM der Geschichte nach Südamerika. And the winner is: Uruguay!
Uruguay?
Es gab in der Tat einige gute Argumente, das Turnier dort abzuhalten. Allein schon aus sportlicher Hinsicht, schließlich hatte die wegen der himmelblauen Trikots La Celeste gerufene Mannschaft damals die weltbeste Auswahl. Bis 1924 hatte man wenig bis nichts gehört und gewusst vom Fußball Südamerikas. Dann kamen 1924 Spieler aus Uruguay als erster südamerikanischer Nation überhaupt zum olympischen Turnier nach Paris über den Atlantik geschippert. Man belächelte sie mit der damals sehr geläufigen europäischen Hybris als harmlose Exoten aus einer fernen Welt. Es gibt dazu die schöne Geschichte, wie die Spieler Uruguays am Rande des Trainings einen Beobachter ihres Erstrundengegners Jugoslawien entdeckten. Also stellten sie sich ganz bewusst besonders dämlich an, stolperten über die eigenen Füße, rannten sich gegenseitig über den Haufen, jagten den Ball meterweit über das Tor in die Bäume. Zurück im eigenen Quartier, berichtete der Balkan-Späher schenkelklopfend von sagenhaften Slapstickdilettanten und dass man sich wahrlich keine Sorgen machen müsse. Uruguay, zum Totlachen, fußballerische Vollpfosten, leichtes Spiel.
Uruguay gewann gegen Jugoslawien mit 7:0.
Und Uruguay holte mit einem 3:0 im Finale gegen die Schweiz dann auch souverän die Goldmedaille und verteidigte den Titel vier Jahre später in Amsterdam, im Endspiel gegen den Nachbarn Argentinien.
Aber warum waren die Urus so gut? Die Ursache für das hohe spielerische Niveau von Uruguay wie auch von Argentinien in jenen Jahren war der Einfluss der britischen Einwanderer, die bereits im 19. Jahrhundert dort erste Fußballklubs gegründet hatten. Spielten die Briten erst noch eher elitär unter sich, wurde Fußball mit den Jahren immer mehr zum beliebten Volkssport der Einheimischen. 1916 stieg die erste Südamerika-Meisterschaft. Länderspiele zwischen Uruguay und Argentinien wurden zum Dauerbrenner, bis 1930 trat man 117 (!) Mal gegeneinander an. Die Rede war damals schon vom kreolischen Fußball, einer kreativen, filigranen und technisch versierten Spielweise, mit der man sich in Südamerika emanzipieren und abgrenzen wollte vom rustikalen und kampfbetonten Spielstil der britischen Kick-and-Rush-Immigranten.
Sosehr Uruguay also in der internationalen Fußballwelt sportlich für Furore gesorgt hatte und allein deswegen als würdiger Gastgeber plausibel erschien, so hatte das Land auch wirtschaftlich die besten Reputationen. Uruguay prosperierte damals, der Staat galt als die Schweiz Südamerikas. Montevideo war mit seinem Hafen an der Mündung des Río de la Plata, des Verbindungshafens von Südamerika zum Rest der Welt, eine blühende Handelsmetropole. Exporte von Fleisch und Wolle kurbelten Wirtschaft und Wohlstand kräftig an. Aber auch im sozialen Bereich präsentierte sich Uruguay als modernes und fortschrittliches Land. Schon kurz nach der Jahrhundertwende führte man hier den Achtstundentag ein, die Rente mit 60 sowie die kostenlose Schul- und Hochschulbildung und den Mindestlohn und legalisierte obendrein auch noch die zivilrechtliche Ehescheidung. Ein kleines, verheißungsvolles Paradies, das nach Kriegsende 1918 immer mehr Einwanderer gerade aus Spanien und Italien anlockte.
Dazu kam als überlagerndes politisches Symbol die 100-Jahr-Feier von Uruguays erster Staatsverfassung von 1830. Uruguay stand gut da und konnte es sich leisten, den teilnehmenden Verbänden den Trip auch noch zu bezahlen. Für Kost, Logis und Spesen kam, so wurde es vereinbart, der Gastgeber auf. Ordentlich.
Pokalübergabe anno 1930: FIFA-Präsident Jules Rimet (2. von links) überreicht nach dem Finale Uruguays Verbandspräsidenten Paul Jude die WM-Trophäe.
Und obendrein, auch nicht unbedeutend: Der einflussreiche Strippenzieher hinter Uruguays WM-Bewerbung war ein gewisser Enrique Buero, seines Zeichens Diplomat, Großgrundbesitzer und Rinderzüchter – und ein enger Vertrauter des seit 1921 amtierenden FIFA-Präsidenten Jules Rimet.
Das Spezlwirtschaften bei der FIFA ging schon früh los.
Uruguay 1930, das war die bis heute einzige WM, bei der man sich nicht erst sportlich qualifizieren musste, sondern bei der alle der damals 41 FIFA-Mitgliedsländer sehr herzlich zum Mitspielen eingeladen waren. Allein, das WM-Debüt reizte die übrige Welt wenig. Die beiden asiatischen Verbände Japan und Siam, das heutige Thailand, sagten sofort ab, und auch die Europäer bockten. Zu lange die Überfahrt, zu weit weg von zu Hause. Die heimischen Vereine wollten zudem im Ligabetrieb keine zwei Monate auf ihre Spieler verzichten.
Die Engländer, die 1928 aus der FIFA wieder ausgetreten waren, verweigerten sich dem Turnier aus insularer Überheblichkeit. Sie fühlten sich wie auch bei den beiden folgenden Weltmeisterschaften 1934 und 1938 in ihrem Selbstverständnis als alleinige Fußball-Großmacht zu dominant und waren sich zu gut dafür, sich mit inferioren Nationen um einen unbedeutenden Titel herumzuschlagen. Dass sie dadurch in ihrer splendid isolation jahrelang den Anschluss an die Entwicklung des internationalen Fußballs verpassen sollten und sich selbst ins Abseits schossen, das erfuhren sie dann schmerzhaft in den ersten Turnieren nach 1945.
Als Anfang des Jahres 1930 noch überhaupt keine einzige europäische Nation zur Teilnahme bereit war, spitzte sich die Lage zu, die südamerikanischen Verbände drohten mit einem Kollektivaustritt aus der FIFA, die WM drohte zu platzen. Auf Bitten und Betteln von Jules Rimet ließen sich letztlich drei europäische Länder breitschlagen: Frankreich, Belgien und Jugoslawien. Als vierter Starter kam dann noch Rumänien dazu, was vor allem an dessen fußballverrücktem König lag: Karl II., der nur fünf Wochen vor dem Auftaktspiel in Montevideo den Thron bestiegen hatte und es als seine wichtigste erste Amtshandlung ansah, bei der FIFA die Nationalmannschaft für die WM anzumelden. Mehr noch, der König stellte gleich auch den 19-köpfigen Kader für das Turnier zusammen, und manch ein Spieler, der wegen Betrugs und Schieberei zuvor in Ungnade gefallen und gesperrt war, bekam kurzfristig eine Amnestie. Fußballer waren eben schon damals privilegiert.
So wurde Karl, der König, der erste Monarch, der im 20. Jahrhundert wesentlichen Einfluss auf den Fußball nahm. Der zweite war dann Franz, der Kaiser. Aber dazu später mehr.
Die große Überfahrt: Auf der »Conte Verde« fuhren die Nationalmannschaften von Frankreich, Belgien und Rumänien über den Atlantik nach Uruguay.
Es war am 19. Juni 1930, als die Rumänen für die 10 000 Kilometer lange Reise in Genua die Conte Verde bestiegen, einen mächtigen Atlantik-Luxusliner für 2400 Passagiere. Bald schon bekamen sie Gesellschaft. Am nächsten Halt in Nizza stiegen die Franzosen zu, mit ihnen Jules Rimet, der in seinem Koffer auch die Trophäe für den ersten Weltmeister verstaut hatte. Und in Barcelona gingen noch die Belgier an Bord. Drei WM-Teilnehmer, die nun gemeinsam die zweiwöchige Überfahrt über den Atlantik in Angriff nahmen.
Von den 15 Tagen auf hoher See gibt es viele wunderbare Überlieferungen. Wie sich die Franzosen frühmorgens schon die Liegestühle am Oberdeck sicherten, wie sie ihr kleines Revier Montmartre nannten und auf einem Grammofon Schellackplatten mit heimischen Chansons abspielten. Wie die Rumänen beim Fußballspiel untereinander trotz des ungeraden 19-Mann-Kaders zwei numerisch gleich starke Mannschaften aufboten. König Karl kickte ja auch mit, dann ging es auf. Zehn gegen zehn.
Viel Platz zum Trainieren blieb sonst nicht. Turnübungen wie Seilhüpfen und Bockspringen zwischen sechs und acht Uhr morgens, mehr war nicht drin, man wollte ja die übrigen Passagiere nicht stören.
Fürs Unterhaltungsprogramm sorgten zwei von der Reederei engagierte Opernsänger, Fjodor Schaljapin und Marthe Nespoulous. Bestes Entertainment lieferten auch zwei belgische Schiedsrichter, der hünenhafte John Langenus und der kleine, vollschlanke Henri Christophe. Sie begeisterten das Publikum täglich mit einer launig heiteren Late-Night-Show, irgendwo zwischen Letterman und Harald Schmidt. Man nannte sie auch Pat und Patachon.
Bei einem kurzen Zwischenstopp in Rio de Janeiro sammelte man noch die Auswahl Brasiliens ein und ging am 4. Juli schließlich in Montevideo vor Anker.
Die Jugoslawen indes reisten separat an, sie bestiegen in Marseille die SS Florida. Ursprünglich hätte auf diesem Schiff als einziger afrikanischer WM-Starter auch die Mannschaft Ägyptens mitfahren sollen, die bei Olympia 1928 immerhin das Halbfinale erreicht hatte. Doch auf der Überfahrt von Kairo über das Mittelmeer sorgte schwerer Sturm für massive Verspätung. Als das Schiff in Südfrankreich anlegte, war die Florida schon weg.
Unser nächster fahrplanmäßiger Halt: Marseille. Das Anschlussschiff nach Montevideo, planmäßige Abfahrt 18. Juni von Pier 5, wird leider nicht erreicht. Per Telegramm nach Uruguay sagten die traurigen Ägypter schließlich ihre Teilnahme ab – und zuckelten wieder zurück nach Kairo.
Erst nachdem endlich alle Überseenationen angekommen waren und auch die gemeinsam auf der Munargo angereisten US-Amerikaner und Mexikaner an Land gegangen waren und man sich sicher sein konnte, wer alles dabei ist, wurde der Spielplan ausgelost. Ganz bewusst verzichtete man dabei auf einen reinen K.-o.-Modus, man wollte es den extra angereisten Europäern nicht zumuten, dass sie bei einer Niederlage in der ersten Runde gleich wieder über den Atlantik zurückgeschickt würden. Also steckte man die 13 Mannschaften in eine Vierer- und drei Dreiergruppen, die Gruppensieger jeweils qualifizierten sich fürs Halbfinale.
Als exklusiver Spielort war das in Anlehnung an das 100-Jahr-Jubiläum der Verfassung genannte Estadio Centenario geplant, das nach der WM-Vergabe in wenigen Monaten errichtet worden war. Ein gewaltiger Koloss aus Stahlbeton mit vier Tribünenringen für 80 000 Zuschauer, ein »riesiges Amphitheater«, wie Jules Rimet es nannte. Allein das ungemütlich spätherbstliche und frühwinterliche Schmuddelwetter auf der Südhalbkugel sorgte in den letzten Wochen vor Fertigstellung für massive Verzögerungen. Die Folge: Die Schüssel wurde nicht rechtzeitig fertig, weshalb acht Vorrundenspiele in unmittelbarer Nachbarschaft ins Estadio Gran Parque Central und ins Estadio Pocitos ausgelagert werden mussten.
Erst am 18. Juli, fünf Tage nach Turnierbeginn, fand die Einweihung des Centenario samt offizieller WM-Eröffnungsfeier statt. Beim feierlichen Einmarsch der Nationen dabei waren auch die Teams von Mexiko, Brasilien, Bolivien, Belgien und Paraguay, die da schon keine Chance mehr aufs Halbfinale mehr hatten.
Im wirklichen Eröffnungsspiel am 13. Juli, dem allerersten WM-Spiel überhaupt, trafen Frankreich und Mexiko aufeinander. Im garstigen Graupelschauer erzielte der in einen Winterpullover eingehüllte 22-jährige Kfz-Mechaniker Lucien Laurent vom FC Sochaux mit einem herrlichen Volleyschuss das erste Tor der WM-Historie. Das souveräne 4:1 beglückte die Équipe Tricolore so sehr, dass sie zum Feiern gleich einmal ein Bordell in Montevideo aufsuchte. »Es gab ein gigantisches Sauerkraut mit Speck und Würsten«, erinnerte sich Laurent später einmal, »dazu Champagner.« Und aufgrund der Örtlichkeit gab es sicher noch einiges mehr.
Im nächsten Spiel war dann Schluss mit lustig. Gegen Argentinien lag man mit 0:1 hinten, mit aller Macht drängte Frankreich in der Schlussphase auf den Ausgleich. In der 84. Minute stürmte Angreifer Marcel Langiller schließlich allein auf das gegnerische Tor zu, es war die Riesenchance auf das 1:1 – als der brasilianische Schiedsrichter Almeida Rêgo mitten während des Angriffs abpfiff. Einfach so. Sechs Minuten zu früh? Pfeif drauf.
Erst nach wütenden Protesten der Franzosen nahm Rêgo die Partie mit einem Schiedsrichterball wieder auf und ließ die verbleibenden Minuten zu Ende spielen. Es blieb beim 0:1.
Bei einem anderen Vorrundenspiel Argentiniens, dem 6:3 gegen Mexiko, leitete übrigens Boliviens Nationaltrainer Ulises Saucedo das Spiel. Sein Linienrichter: der rumänische Nationaltrainer Costel Rădulescu.
Es ging also alles recht bizarr zu bei der Premiere am Rio de la Plata.
Im ersten Halbfinale trafen die Argentinier schließlich auf die USA. Die Nordamerikaner waren damals mehr als nur ein Außenseiter. Verkümmerte Soccer in späteren Jahrzehnten stiefkindartig hinter den vier großen Profiligen in American Football, Baseball, Basketball und Eishockey, war die Sportart in den Roaring Twenties mit der American Soccer League noch really big in the States. Geprägt von vielen ehemaligen englischen und schottischen Ligaspielern, Auswanderern, die sich nach dem Ersten Weltkrieg ein besseres Leben jenseits des Atlantiks erhofft hatten. Die Stadien waren gut gefüllt, den 3:0-Sieg einer ASL-Auswahl gegen den österreichischen Meister Hakoah Wien 1926 sahen im New Yorker Polo-Grounds-Stadium 46 000 Menschen. Für Furore sorgte auch ein 1:0-Sieg der mittelmäßigen Newark Skeeters 1927 gegen Olympiasieger Uruguay.
Im WM-Halbfinale gegen Argentinien waren die US-Boys freilich chancenlos, die Südamerikaner gewannen 6:1. Einziger wirklicher Aufreger war der Zwischenfall um Jack Coll. Der Co-Trainer der USA war zur Betreuung des verletzten Spielers Andy Auld auf den Platz geeilt, als er stolperte und ihm in seiner Arzneitasche ein Fläschchen Chloroform zerbrach. So trug man nicht nur Spieler Auld vom Feld, sondern auch den völlig benebelten Coach Coll.
Zweifacher Torschütze im Halbfinale beim souveränen Sieg war einmal mehr Guillermo Stábile. Ein filigraner, antrittsschneller Angreifer, der schon als 15-Jähriger die 100 Meter in elf Sekunden lief und seinen Klub CA Huracán 1925 und 1928 zur argentinischen Meisterschaft schoss. In Uruguay wurde Stábile mit acht Toren in vier Spielen der erste WM-Torschützenkönig der Geschichte. Nach der WM beendete er seine Länderspielkarriere schon wieder, wechselte nach Genua und Paris und übernahm 1939 als Nationaltrainer die Mannschaft seines Heimatlands. Ein Amt, das er mehr als zwei Jahrzehnte bis 1960 innehatte. Länger als jeder andere argentinische Nationaltrainer vor und nach ihm; sieben Mal führte er die Albiceleste dabei zur Südamerika-Meisterschaft. Große Erfolge feierte er als Geschäftsmann in der Zuckerbranche, als Multimillionär stieg er in die High Society von Buenos Aires auf. Mit nur 60 Jahren starb Stábile 1966 an einem Herzinfarkt. Die Beerdigung des Mannes, den sie El Filtrador nannten, weil er sich bei seinen Sololäufen den Weg durch die gegnerische Abwehr wie ein Tropfen durch einen Kaffeefilter bahnte, glich einem Staatsbegräbnis.
Weil Uruguay gegen Jugoslawien – anders als 1924 wenig überraschend – erneut deutlich gewann (auch dieses Halbfinale endete 6:1), kam es am 30. Juli im Centenario zum Traumfinale der beiden Nachbarn und Erzrivalen. Ein Endspiel, zu dem sich Zehntausende argentinische Fans auf Schiffen von Buenos Aires über den Río de la Plata aufmachten in der Hoffnung, vor Ort noch ein Ticket zu ergattern. Viele kamen allerdings gar nicht erst in Montevideo an. Das Spiel war längst vorbei, als noch immer etliche Schiffe irgendwo in der Flussmündung im dichten Nebel orientierungslos herumtuckerten.
Unter denen, die vor Ort im Stadion waren, war die Stimmung aufgeheizt. Schiedsrichter John Langenus etwa, der noch auf der Überfahrt für gute Laune gesorgt hatte, war nun gar nicht mehr zum Lachen zumute. Der Belgier, der sich während der WM mit Kolumnen für den Kicker noch etwas dazuverdiente, fürchtete um Leib und Leben, er stellte am Tag vor dem Finale einige Bedingungen. Sonst könne das Spiel ein anderer pfeifen. So forderte er, unmittelbar nach Abpfiff von Bodyguards zum Hafen gebracht zu werden, um das nächste Schiff nach Europa zu besteigen. Zudem ordnete er an, sämtliche Zuschauer beim Einlass kontrollieren zu lassen. Die Maßnahme hatte Erfolg, das Sicherheitspersonal konfiszierte 1600 Revolver, die die Fans schon allein der guten Tradition wegen mit sich führten. Tore wurden in Uruguay auf den Rängen damals gerne mit Böllerschüssen bejubelt.
Recht harmlos mutete dagegen der Disput zwischen beiden Mannschaften an, die sich vor Anpfiff nicht auf den Spielball einigen konnten. Salomonisch ordnete Langenus an, in der ersten Hälfte mit dem Ball der Argentinier zu spielen, in der zweiten mit dem der Urus. Zu Beginn dominierten die Gäste, mit seinem achten und letzten WM-Tor brachte Stábile Argentinien vor der Halbzeit noch mit 2:1 in Führung. Dann kippte die Stimmung. Und das Spiel.
Bis heute erzählt man sich in Argentinien, dass man das Finale letztlich vor allem wegen der Einschüchterungen und Drohungen seitens der Gastgeber verloren habe. In der Pause etwa hätten die argentinischen Spieler in der Kabine Briefe vorgefunden, in denen ihnen und ihren Familien Schlimmes geschworen wurde für den Fall, sie würden den Titel holen. Verteidiger Fernando Paternóster zitierte man in der Überlieferung mit den Worten: »Wir verlieren lieber, sonst sterben wir alle.« Und Francisco Varallo, der letzte Überlebende des Finales, erzählte in einem Interview später: »Es war die Hölle. Die Uruguayer wollten uns umbringen. Sie können sich das nicht vorstellen. Wie im Krieg.« Auch sein Vater sei damals im Stadion gewesen. Doch aus Todesangst habe er die Fahne Uruguays geschwenkt und gegen die Mannschaft seines Sohnes gebrüllt.
Männer, die mit Mützen spielten: Argentiniens Torwart Juan Botasso (links) ist beim Tor zum 1:0 Uruguays chancenlos: Im Hintergrund Schiri John Langenus – ebenfalls mit Mütze.
4:2 gewann Uruguay das Finale am Ende, für die Entscheidung mit dem Tor in der 89. Minute sorgte Héctor Castro, der als 13-Jähriger bei einem Unfall mit einer Säge die rechte Hand verloren hatte. Man nannte ihn auch El Divino Manco, den göttlichen Einhändigen.
Zur endgültigen Krönung wurde das Spiel auch für José Leandro Andrade, den einzigen schwarzen Finalspieler, der bei den beiden Olympiasiegen Uruguays in den Zwanzigerjahren als kongenialer Spielgestalter brillierte und den der Weltverband der Fußballhistoriker und Statistiker (IFFHS) einmal zum weltbesten Fußballer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kürte. Geboren als Nachfahre von Sklaven im armen Nordosten des Landes war er in der Jugend bei einer Tante in Montevideo untergekommen, wo er sich als Tänzer und Trommler durchschlug, als Schuhputzer und Zeitungsverkäufer. Dann kam der Aufstieg im Fußball, durch seine Spielübersicht, seine Leichtfüßigkeit, seine Akrobatik. Andrade gilt als einer der ersten Spieler, die den Fallrückzieher und den Scherenschlag in Perfektion beherrschten.
Zu einem einschneidenden Punkt in seinem Leben gerieten die Sommerspiele 1924 in Paris, wo Andrade nicht nur auf dem Platz zur Attraktion wurde, sondern auch in den ausschweifend schillernden Nachtklubs rund um den Montmartre, die er allabendlich aufsuchte. Die weiße Oberschicht der Pariser Boheme war beeindruckt von dem dunkelhäutigen Gast, als exotisches Faszinosum reichte man Andrade von einer exzentrischen Jetset-Party zur anderen herum. Nach den Spielen blieb er gleich in Paris. Das leichte Leben, die Unbeschwertheit, die vielen Frauen – Andrade genoss den Ruhm, der ihm dann auch etwas zu Kopf stieg. Als er wieder nach Uruguay zurückkehrte, sah man ihn meist mit Lackschuhen, Herrenrock und Zylinder herumlaufen. Ab Ende der Zwanzigerjahre ging es dann bergab, Andrade fing sich die Syphilis ein, und als er im olympischen Halbfinale gegen Italien 1928 gegen den Pfosten lief, zog er sich eine schwere Augenverletzung zu, von der er sich nicht mehr erholen sollte. Das WM-Finale in Montevideo wurde für La Maravilla Negra, das schwarze Wunder, so sein Spitzname, das letztes Länderspiel. In den Jahren danach stürzte er immer tiefer ab, und auch der Traum, in seinem geliebten Paris noch einmal durchstarten zu können, erfüllte sich nicht. In den politisch und wirtschaftlich angespannten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg interessierte sich in Frankreich keiner mehr für ihn. Wer wollte schon etwas von einem wissen, der ein gutes Jahrzehnt zuvor nur kurz mal als halbes Weltwunder in der besseren Gesellschaft für Staunen und Raunen sorgte, dessen Zeit längst vorbei war. Vom Glück verlassen schlitterte Andrade zurück in Uruguay in den Ruin, gelegentliche Jobs bei der Stadtverwaltung hielten ihn nur kurzfristig über Wasser.
1956 spürte der deutsche Journalist Fritz Hack nach langer Recherche den einstigen Weltstar in Montevideo auf. Hack fand ihn in einer »spartanisch eingerichteten Behausung«, Andrade sei »total dem Alkohol verfallen und durch seine Augenverletzung inzwischen halbseitig erblindet« gewesen. »Meinen Fragen konnte er nicht folgen«, so Hack weiter. Ein Jahr später starb Andrade in Montevideo völlig verarmt und einsam mit nur 56 Jahren.
Für Gastgeber Uruguay jedenfalls endete die Heim-WM mit einem standesgemäßen Triumph, der Tag nach dem Finale wurde kurzerhand zum Feiertag erklärt. Der Finalsieg von 1930 war für lange Zeit das letzte bedeutsame Ereignis, an dem sich die Menschen erfreuen konnten. Als sich drei Jahre später Präsident Gabriel Terra nach einem Staatsstreich zum Diktator erklärte und fortschrittliche Sozialreformen wieder sukzessive einkassierte, war die Blütezeit einer jungen und modernen Nation erst einmal vorbei.
Während in Buenos Aires aufgebrachte argentinische Fans kurz nach dem Finale – wie die Chronisten der Münchner Neuesten Nachrichten notierten – Steine auf die Botschaft Uruguays warfen, machte sich in Montevideo John Langenus mit seinen Leibwächtern schleunigst von dannen und bestieg den italienischen Passagierdampfer SS Duilio nach Genua. Längst auf dem Heimweg waren da schon wieder die frühzeitig ausgeschiedenen europäischen Mannschaften.
Eine herrliche Anekdote wurde vom deutschstämmigen Mittelfeldspieler der rumänischen Mannschaft mit dem grandiosen Namen Alfred Eisenbeisser überliefert. Auf der Überfahrt zurück über den Atlantik zog sich Eisenbeisser eine schwere Lungenentzündung zu. Kaum im Hafen von Genua angekommen, brachte man ihn in ein Sanatorium und verabreichte ihm die Letzte Ölung. Tief bestürzt reisten seine Mitspieler mit dem Zug heim nach Bukarest und übermittelten dort die Nachricht vom Tode ihres lieben Freundes und Kollegen. Noch in Abwesenheit des Leichnams wurde wenig später die Trauerfeier angesetzt. Doch als Mama Eisenbeisser an jenem Tag gerade das Haus in Richtung Kirche verlassen wollte, stand wer vor der Tür? Sohn Alfred, putzmunter und leibhaftig. Die Mutter fiel erst einmal in Ohnmacht.
Bis 1944 spielte Eisenbeisser aktiv Fußball, parallel dazu glänzte er noch sehr erfolgreich in einer ganz anderen Sportart: im Eiskunstlauf. Bei der EM1934 wurde er mit seiner Partnerin Irina Timcic Siebter im Paarlauf, bei Olympia 1936 in Garmisch-Partenkirchen kamen die beiden auf Platz 13.
Bei der zweiten Fußball-Weltmeisterschaft gehörte Eisenbeisser dem rumänischen Kader nicht mehr an – 1934 in Mussolinis faschistischem Italien. Als der Fußball erstmals zum Politikum wurde.
0 Tore erzielte Bolivien in den Spielen gegen Jugoslawien und Brasilien (je 0:4). Immerhin wurden die Anden-Kicker wegen ihrer mit Buchstaben bedruckten Trikots zu Publikumslieblingen. Die Aufstellung der elf Spieler ergab vor Anpfiff den Schriftzug: URUGUAYVIVA.
14 Jahre nach der WM wurde Alexandre Villaplane hingerichtet. Der französische Mannschaftskapitän von 1930 hatte im Zweiten Weltkrieg als Milizenführer mit den deutschen Besatzern kollaboriert. Nach der Befreiung Frankreichs verurteilte ihn ein Gericht zum Tod durch Erschießen. Das Urteil wurde am zweiten Weihnachtsfeiertag 1944 vollstreckt.
16 Kilo nahm der jugoslawische Torwart Milovan Jakšić auf der zweiwöchigen Atlantik-Überfahrt dank der guten Schiffsküche zu. Trotzdem erreichte die Mannschaft das Halbfinale.
21 Jahre fuhr die 1923 vom Stapel gelassene Conte Verde, die 1930 drei europäische Teams nach Uruguay geschippert hatte, über die Weltmeere. Zwischen 1938 und 1940 brachte der Dampfer Tausende jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich nach Schanghai. Im Zweiten Weltkrieg geriet das Schiff in Besitz der japanischen Marine. 1944 wurde die Conte Verde bei einem amerikanischen Luftangriff vor der Küste Kyotos versenkt.
31 Jahre alt war Uruguays Trainer Alberto Suppici beim Finalsieg. Er ist bis heute der jüngste Trainer, der eine Mannschaft zum WM-Titel führte.
35 Zentimeter hoch und 3,8 Kilo schwer war der WM-Pokal, die vom französischen Bildhauer Abel Lafleur geschaffene Coupe Jules Rimet. 1970 ging die Trophäe dauerhaft an den damals dreimaligen Weltmeister Brasilien über. 1983 wurde der Pokal aus einer Vitrine des Verbands in Rio de Janeiro gestohlen – und nie mehr gefunden. Vermutlich hatten ihn die Diebe danach eingeschmolzen.
68 Jahre nach der WM-Premiere erlebte Debüt-Torschütze Lucien Laurent als einzig verbliebener Spieler des damaligen Frankreich-Kaders 1998 den ersten WM-Titel seines Heimatlandes.
76 Jahre lang gab es in den Statistiken unterschiedliche Einträge zum Torschützen des 2:0 im Spiel der USA gegen Paraguay. 2006 sprach die FIFA den Treffer offiziell Bertrand Patenaude zu. Da der US-Stürmer beim 3:0-Sieg auch die beiden weiteren Tore schoss, wurde er der erste Spieler, dem bei einer WM ein Hattrick glückte.
100 Jahre alt wurde Francisco Varallo. Als letzter Teilnehmer des allerersten WM-Endspiels starb der Argentinier am 30. August 2010.
300 Zuschauer verfolgten das Vorrundenspiel zwischen Peru und Rumänien im Estadio Pocitos. Bis heute die WM-Partie mit der geringsten Besucherzahl aller Zeiten.
Startaufstellung Uruguay (oben) gegen Argentinien (unten), WM-Finale 1930
Die Welt zu Gast beim Duce: Benito Mussolini hat zwar keine Ahnung von Fußball, weiß aber das Turnier perfekt für sich zu inszenieren. Korrupte Funktionäre und groteske Schiedsrichterentscheidungen ebnen dem Gastgeber den Weg zum Titel. Deutschland feiert sein WM-Debüt und hebt die Hand zum Führergruß.
Die Welt war eine andere, vier Jahre später im Sommer 1934. Und die Weltmeisterschaft war es auch.
Die Premiere in Uruguay 1930, das war noch eine größtenteils unbeschwerte Veranstaltung. Vieles lief holprig, allen voran bei der mühsamen Akquirierung europäischer Nationen. Auch in Montevideo selbst gab es Kuriositäten und Ungereimtheiten und schräge Schiedsrichterentscheidungen. Aber irgendwie schwang dort bei allen Pleiten, Pech und Premierenpannen dank der Vision von FIFA-Boss Jules Rimet, dieses »Humanisten und Idealisten«, wie ihn sein Enkel Yves einmal nannte, noch ein Hauch von kindlicher Freude mit, schwebte über allem das Ideal vom völkerverbindenden, weltumspannenden Großereignis. Uruguay 1930 war fast so etwas wie ein aufregend anarchisch infantiles Abenteuer. Der Fußball spielte noch im Sandkasten.
Ganz anders dann die zweite Auflage des Turniers 1934. Als der Fußball erstmals großdimensional politisch instrumentalisiert wurde, als ein totalitäres Regime ein sportliches Megaevent zur pompösen Selbstinszenierung nutzte. 1934 kam die WM nämlich ins faschistische Italien, zu Benito Mussolini. Die Welt zu Gast beim Duce.
In den zwölf Jahren seit dem berüchtigten Marsch auf Rom, mit dem Mussolini und seine Partito Nazionale Fascista (PNF) 1922 die Alleinherrschaft in Italien übernommen hatten, erkannte der Duce schon recht bald das Potenzial des Sports als vortreffliches Mittel zur gleichschaltenden Massenbegeisterung. Panem et circenses, Brot und Spiele, das war schon für die Kaiser im alten wie auch nun für den Diktator im neuen Rom ein probates Instrument, um der Bevölkerung nicht nur ein angenehmes Unterhaltungsprogramm zu liefern, sondern die Menschen immer mehr auch von der Stärke der eigenen Weltanschauung zu überzeugen. Eine gute Deckfarbe, um nationale Wirtschaftskrisen und individuelle Existenzängste zu übertünchen, um mit schönen Menschen und gestählten Körpern die Stärke der eigenen Rasse, die Überlegenheit der Herrenmenschen und die Identität der Nation zu bewerben. Das war bei Hitler später ja auch nicht anders.
Dabei hatte Mussolini für Fußball wenig übrig. Tennis, Fechten, Reitsport, das gefiel ihm schon besser. Zu einem seiner Prestigeprojekte wurde ab 1928 der Bau des Foro Mussolini (heute Foro Italico) im Norden Roms, am Westufer des Tiber. Ein gewaltiger, mit 60 monumentalen Athletenstatuen aus reinem Carrara-Marmor gesäumter Sportstättenkomplex. Es gab dort Veranstaltungen mit Turnen, Gymnastik und Militärparaden. Doch Mussolini erkannte nicht nur aufgrund seiner fußballbegeisterten Söhne Bruno und Vittorio, zweier glühender Tifosi des Hauptstadtklubs Lazio: Die größte Faszination auf die Massen würde doch der Fußball ausüben.
Fußball war in Italien damals schon sehr populär. Um 1880 kickten Genueser Kaufleute erstmals in Mannschaften organisiert gegeneinander, 1893 gründete sich mit dem Genoa CFC der älteste noch heute existierende Fußballklub. 1897 folgte Juventus Turin, 1899 der AC Mailand, 1908 Stadtrivale Inter. Meisterschaftsrunden wurden – ähnlich wie in Deutschland bis zur Einführung der Bundesliga 1963 – erst dezentral in Regionalwettbewerben ausgespielt, deren Sieger sich daraufhin für ein Endrundenturnier qualifizierten. Ab 1929 spielten die 18 besten Mannschaften gemeinsam in einer landesweiten Liga, der Serie A, jeder gegen jeden, von Triest bis Turin, von Brescia bis Neapel. Das fiel in jene Zeit, in der Mussolini den Neubau imposanter Großstadien im ganzen Land vorantrieb und die modernen Arenen gleich einmal mit den passenden Namen ausschmückte. Das Stadio Municipale Benito Mussolini in Turin. Das Stadio Nazionale del PNF in Rom. Oder das Stadio Littorio in Triest; benannt nach dem aus hölzernen Ruten und einer Axt bestehenden, auch Fasces genannten Liktorenbündel, aus dem sich wiederum das Wort Faschismus herleitete.
Mit seiner jahrzehntelangen Fußballgeschichte, aber gerade auch mit den modernen Arenen konnte Italien also mit den besten Voraussetzungen aufwarten, als es im Oktober 1932 beim FIFA-Kongress in Zürich um die Frage des Ausrichters der zweiten Weltmeisterschaft ging. Neben Italien hatte auch Schweden großes Interesse bekundet, doch als der Weltverband mit der klaren Ansage ums Eck kam, anders als in Uruguay 1930 nicht nur an einem Standort, sondern in mehreren Städten spielen zu wollen, zogen die Skandinavier zurück.
Italien konnte dagegen ordentlich wuchern: Mit Turin, Mailand, Triest, Genua, Bologna, Florenz, Rom und Neapel hatte man gleich acht Städte im Angebot, genau das, was die FIFA hören wollte. Zudem hatte Mussolini signalisiert, dass sein Land für sämtliche Kosten in Höhe von 3,5 Millionen Lire (berücksichtigt man damalige Löhne und Lebenshaltungskosten, entspricht das heute umgerechnet etwa 4,3 Millionen Euro) aufkommen würde. Auch das kam gut an. Folgerichtig erhielt Italien widerstandslos den Zuschlag. Und Giorgio Vaccaro, der Chef des Organisationskomitees, frohlockte, die WM möge demonstrieren, »dass die faschistische Ideologie für die Reife des Menschen unumgänglich ist und letztlich alles auf die Inspiration des Duce zurückzuführen ist«. So hörte sich das damals an.
Ein weiterer Unterschied zur Premiere 1930: Anders als damals, als man mit Mühe 13 Nationen zusammenkratzen konnte, war das Interesse an einer Teilnahme natürlich gerade unter den europäischen Ländern merklich gestiegen. Da mit 32 der mittlerweile 47 FIFA-Mitgliedsländer mehr Nationen mitspielen wollten, als es Teilnehmerplätze gab, fand somit erstmals ein Qualifikationsturnier statt. Festgelegt war dabei mit einem sehr europalastigen Kontinentalschlüssel schon vorab die Verteilung der 16 Startplätze.
Mitspielen in Italien durften letztlich satte zwölf Nationen aus dem Erdteil des Gastgebers, zwei Vertreter aus Südamerika, ein Team aus Nord- und Mittelamerika sowie eine Mannschaft aus Afrika und Asien. Sehr schnell wurde klar, dass die WM dabei ohne den amtierenden Weltmeister auskommen musste, denn Uruguay erklärte seinen Verzicht. Eine beleidigte Retourkutsche für das Fernbleiben so vieler europäischer Nationen bei der eigenen Heim-WM1930. Eine WM ohne Titelverteidiger, das gab es seitdem nie mehr.
Mit dabei in der europäischen Qualifikation war nun in einer Dreiergruppe mit Luxemburg und Frankreich auch die deutsche Nationalmannschaft, die 1930 auf die Reise über den Atlantik noch verzichtet hatte und sich jetzt, am 11. März 1934, auswärts in Luxemburg erstmals in ihrer Geschichte auf den Weg zu einer Weltmeisterschaft machte. Weil sich sowohl der Gruppenerste als auch der Gruppenzweite für Italien qualifizierte und nur je ein Spiel zwischen den drei Ländern anstand und weil Frankreich in Luxemburg schon 6:1 gewonnen hatte, reichte der DFB-Auswahl ein 9:1 gegen Luxemburg. Deutschland stand vor seinem WM-Debüt.
International war die Auswahl des 1900 gegründeten Deutschen Fußballbundes bis dahin nicht wirklich aufgefallen. Bis Mitte der 1920er-Jahre hatte man in 58 Länderspielen 30-mal verloren, das Niveau war eher zweit- bis drittklassig. Große Erfolge bei den Fußballturnieren der Olympischen Spiele waren auch ausgeblieben, außerdem war Deutschland 1920 und 1924 noch aufgrund von Sanktionen infolge des Ersten Weltkriegs ausgeschlossen. Es waren jene Jahre, in denen der deutsche Fußball standhaft den Amateurgedanken zu proklamieren suchte und sich den Professionalisierungstendenzen anderer europäischer Nationen widersetzte. Der Berufsfußballer war in Deutschland eine unwillkommene Spezies.
Da wackelte sein Trainerstuhl noch nicht: Nationaltrainer Otto Nerz (Mitte) führte die DFB-Auswahl bei der ersten WM-Teilnahme in Italien gleich auf Platz 3.
Amateurhaft bis dilettantisch organisiert war auch die Führung des DFB. Zuständig für die Aufstellung der Nationalmannschaft war ein Spielausschuss, der sich aus Proporzgründen mehr um die paritätische Berücksichtigung von Spielern der jeweiligen Regionalverbände kümmerte als wirklich um die Nominierung der besten Kicker des Landes. Zu einer Zäsur kam es 1926, als sich die Wiederzulassung deutscher Sportler und damit auch der Fußballer zu den Olympischen Spielen 1928 abzeichnete. Auf der Suche nach einem hauptamtlichen Nationaltrainer landete DFB-Präsident Felix Linnemann bei Otto Nerz, einem einfachen Bauernsohn aus der badischen Provinz, der nach 1918 in der Hauptstadt als Volksschullehrer arbeitete, Sport studierte, dazu bei Tennis Borussia Berlin erst fünf Jahre spielte und die Mannschaft ab 1924 auch trainierte.
Doch auch unter Nerz, der mit der deutschen Elf bei Olympia 1928 im Viertelfinale mit 1:4 am späteren Turniersieger Uruguay scheiterte, blieb eine Neuausrichtung hin zu einer Professionalisierung kein Thema. Und auch die Nazis wollten nach ihrer Machtergreifung 1933 davon nichts wissen. Dass Sportler für ihr Tun auch noch Geld bekämen, das widersprach der Leitlinie ihrer Ideologie. Der neue Reichssportkommissar Hans von Tschammer und Osten etwa betonte: »Turnen und Sport sind nicht dazu da, um das persönliche Wohlergehen zu fördern; die Leibeserziehungen bilden vielmehr einen wichtigen Teil des Volkslebens und sind ein grundlegender Bestandteil des nationalen Erziehungssystems.« So schwebte über dem Ligabetrieb der Klubmannschaften selbst weiter der hehre Amateurgeist, die Idee der Einführung einer Profiliga durch einen neu gegründeten Berufsspielerverband wurde mit allem Nachdruck abgeschmettert.
Gleichzeitig legte das Regime aber großen Wert auf eine international konkurrenzfähige Nationalmannschaft. Umso mehr nach dem Austritt des Deutschen Reichs aus dem Völkerbund im Oktober 1933, denn nun fiel den Fußballern eine repräsentative Rolle für positive Imagepflege im Ausland zu. Gerade in Italien, wo Deutschland zu jener Zeit nicht gut gelitten war. Denn Hitlers damals schon weit gediehene Ambitionen einer raschen Annexion Österreichs hatten Mussolini und seine Parteigranden auf den Plan gerufen. So übernahm Italien noch im Frühjahr 1934, kurz vor der WM, zusammen mit Großbritannien und Frankreich erst eine Sicherheitsgarantie für Österreich und stärkte mit den Römischen Protokollen vom März 1934 ganz bewusst die Unabhängigkeit des Nachbarn nördlich des Brenners. Ein zu starkes Deutschland, das war Mussolini suspekt.
Um sich als gute wie auch erfolgreiche Botschafter des Reichs zu präsentieren, erhielten die deutschen Nationalspieler weitreichende Privilegien. So mussten sie sich etwa nicht mehr wie bisher Urlaubstage freischaufeln, wenn sie auf Lehrgänge und zu Spielen reisten. Ab sofort konnten sie sich bei unverminderter Lohnfortzahlung ganz auf den Fußball konzentrieren. Im Gegenzug erhielt der jeweilige Arbeitgeber für den Ausfall seiner Arbeitskraft eine direkte Entschädigung von der Regierung in Berlin. Dazu gab es geldwerte Geschenke, Steuervorteile oder schöne Anzüge. Dem Reich war der Erfolg seiner Fußballer schon etwas wert.
Großer Nutznießer der Einführung des subventionierten Staatsamateurs war der Trainer, der seine besten Spieler zu Trainingslagern und Testspielen einberufen konnte, wann immer er wollte. Otto Nerz hatte nun alle Freiheiten.
Mit seinem taktischen Verständnis, seiner theoretischen Expertise, seiner strategischen Weiterentwicklung des Fußballs gilt Nerz als Wegbereiter, als derjenige, der die Basis für seinen Nachfolger Sepp Herberger und, wie manche meinen, sogar für den ersten WM-Titel 1954 in der Schweiz legte. Sehr zu hinterfragen ist bei aller Fachkenntnis im Fußball natürlich seine politische Einstellung. Galt Nerz in der Weimarer Republik noch als SPD-Sympathisant, änderte er seine Ausrichtung ab 1933 radikal und trat kein halbes Jahr nach Hitlers Erfolg bei der Reichstagswahl der SA bei. 1938, nach seiner Ablösung durch Sepp Herberger, wurde er dort Sturmführer, später verfasste er antisemitische Pamphlete über einen »judenfreien Sport in einem judenfreien Europa« und warnte vor der »Gefahr der Verjudung« auch im Fußball. Es ist nicht zu weit hergeholt, in Nerz mehr als einen Mitläufer zu sehen, der sich lediglich mit dem System arrangierte, sondern vielmehr einen doch recht stramm überzeugten Nazi. Noch bis 1945 dozierte Nerz als Professor an der Deutschen Hochschule für Leibeskultur, dann geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, 1949 starb er im Lager Sachsenhausen an Meningitis.
Wie immer erwies sich Nerz auch 1934 in der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft als extremer Disziplinfanatiker, Marke gnadenloser Grasfresser, für den als oberste Maxime Zucht und Ordnung galten – und sonst nicht viel. Seine Spieler weckte er jeden Morgen mit der Trillerpfeife. In einem schrecklichen Vergleich nannte das DFB-Zentralorgan Deutscher Fußballsport angesichts des eisernen Drills die Atmosphäre im WM-Trainingslager 1934 am Comer See das Konzentrationslager Cernobbio.
Etwas weniger drastisch, aber ähnlich im Inhalt, äußerte sich später einmal Sigi Haringer: »Ich habe mich bei Nerz immer gefühlt wie in einer Kaserne.« Eine Kaserne, aus der Haringer übrigens während der WM rausfliegen sollte. Der Münchner Abwehrspieler, der zwei Jahre zuvor mit dem FC Bayern die allererste Meisterschaft in der Klubgeschichte gefeiert hatte, war bei Nerz in Ungnade gefallen und wurde wegen Disziplinlosigkeit aus Italien heimgeschickt. Bemerkenswert, dass bis heute die unterschiedlichsten Versionen zum Grund der Demission herumgeistern. Einmal heißt es, Haringer habe verbotenerweise eine Apfelsine gegessen, was für Nerz ein No-Go war. Apfelsinen, so Nerz, würden die Leistungsfähigkeit vermindern. In einer anderen Überlieferung war Haringer zu spät zum Training erschienen. Am plausibelsten erscheint die Variante, dass sich Haringer eine Halbe Bier genehmigt hatte und auf die Schimpftirade seines Trainers erwiderte: »Bei uns in Bayern is des a Grundnahrungsmittel.« Es sollen seine letzten Worte vor der Heimfahrt gewesen sein.
Überhaupt war Sigi Haringer einer der Aufmüpfigen im bis 1933 vom jüdischen Präsidenten Kurt Landauer geführten FC Bayern. 1937 wurde Haringer in der Münchner Maximilianstraße festgenommen, weil er eine braune Parade zum Gedenken an den Hitler-Putsch von 1923 laut hörbar als Kasperlzug bezeichnete. Beim Führergruß vor den Spielen hob freilich auch er die Hand. Sich zu verweigern, hätte drastische Konsequenzen nach sich gezogen.
Galt Haringer im deutschen Team schon als Routinier, hatte Nerz eine sehr junge, unerfahrene Mannschaft mit nach Italien genommen. Nachdem er Sportlehrer als Beobachter durchs ganze Land geschickt hatte, kamen die 80 talentiertesten Spieler zu einem Sichtungslehrgang in der Sporthochschule Duisburg-Wedau zusammen. Daraus rekrutierte Nerz dann seinen Kader, teils aus Vereinen, die gar nicht zu den 16 Mannschaften der deutschen Meisterschaftsendrunde gehört hatten. Etwa Tormann Hans Jakob von Jahn Regensburg. Paul Zielinski von Union Hamborn. Oder Ernst Lehner von Schwaben Augsburg. Im Schnitt kam der 18-Mann-Kader pro Spieler auf gerade mal 5,8 Länderspiele.
Fünf Spieler hatten dabei noch kein einziges bestritten, drei Akteure erst eines. Einer von ihnen war der erst 19-jährige Edmund Conen vom FV Saarbrücken, der zum ersten deutschen Spieler der WM-Geschichte wurde, dem beim 5:2 zum Auftakt im Achtelfinale gegen Belgien das gelang, was man heute gerne als »lupenreinen« Hattrick bezeichnet. Drei aufeinanderfolgende Tore in einer Halbzeit.
Mit diesem Erfolg war der deutschen Elf ein überzeugender Start ins Turnier geglückt, angeführt von ihrem Kapitän Fritz Szepan von Schalke 04. Szepan war Spielgestalter, Stratege, damals in der Position des Halbstürmers im offensiven Mittelfeld. Der gelernte Klempner, Sohn eines Bergmanns und Kind des Ruhrpotts, war aber noch mehr: Er verkörperte sinnbildlich den Wandel des Fußballs in jener Zeit. War der Fußball in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg noch eher ein Sport von Schülern, Studenten und des Bürgertums gewesen, wurde er ab der Weimarer Republik immer mehr zum breiten Massenphänomen. Ein Sport für den einfachen Mann. Ein Sport fürs Volk. Hatten das Finale um die Deutsche Meisterschaft 1909 zwischen Phönix Karlsruhe und dem Berliner FC Viktoria in Breslau gerade einmal 1500 Besucher verfolgt, so strömten 1923 beim Endspiel zwischen dem Hamburger SV und Union Oberschönweide schon 64 000 Menschen ins Deutsche Stadion nach Berlin.
Mit den Jahren wurden malochende Charaktere wie Szepan oder sein Freund, Mitspieler und Schwager Ernst Kuzorra, der in Gelsenkirchen in jungen Jahren selbst noch in die Zeche einfuhr, zu Idolen, Helden, Identifikationsfiguren. Arbeiter, Malocher, Kohlekumpel. So der Typ: einer von uns. Ein Szepan wie du und ich.
Vor dem allerersten DFB-Spiel bei einer WM hoben die Hand zum Hitlergruß (v. l. n. r): Kreß, Hohmann, Conen, Schwartz, Zielinski, Lehner, Kobierski, Siffling, Janes, Haringer, Szepan.
Charaktere wie Szepan, der sich immer gerne für die NS-Propaganda einspannen ließ, waren in braunen Regierungskreisen gern gesehen. Und so war es nur folgerichtig, dass sich die Spieler selbst bei der WM1934 überwiegend widerstandslos in die Rolle einfügten, die sie zu erfüllen hatten. Vor Anpfiff hoben sie die Hand zum Hitlergruß, auf ihren Trikots trugen sie den Reichsadler und das Hakenkreuz. Aber auch deutsche Fans bekundeten ihre politische Überzeugung. Beim Viertelfinale gegen Schweden im Mailänder San Siro setzten sich laut Zeitzeugenberichten Männer mit weißen und roten Mützen choreografisch so auf die Tribüne, dass die Anordnung die Form eines Hakenkreuzes ergab.
Sportlich lief es für die Nerz-Truppe weiter gut, mit dem 2:1 über Schweden stand man im Halbfinale gegen die Tschechoslowakei, die in jenen Jahren zusammen mit Ungarn und Österreich nicht nur zu den stärksten Fußballnationen Europas zählte, sondern im Gegensatz etwa zum robusten Kick and Rush britischer Mannschaften auch den schönsten Fußball zeigte. Vereinsmannschaften aus Wien, Budapest und Prag dominierten daher auch den 1927 eingeführten Mitropa-Cup, einen mitteleuropäischen Urahnen der Champions League mit feinem Kurzpassspiel, Kreativität, Spielwitz, technischen Schmankerln: Der Calcio Danubio, wie man ihn in Italien nannte, war der legitime Vorläufer des späteren, ab 1958 geläufigen brasilianischen jogo bonito.
So blieb die deutsche Auswahl als Außenseiter letztlich chancenlos gegen den hohen Favoriten. 3:1 gewannen die Tschechoslowaken, alle drei Tore erzielte dabei der spätere Torschützenkönig Oldřich Nejedlý, der nur 1,74 Meter große Stürmer, der in seiner Wendigkeit kaum zu halten war. Der Postbote aus Prag, der auch an diesem Tag lieferte. Dass er seine Gegenspieler immer elegant umspielte und jeglichen Zweikampf ängstlich scheute, soll dabei übrigens seiner physischen Konstitution geschuldet gewesen sein. Nejedlý litt an der Glasknochenkrankheit.
Für Deutschland blieb nach der Niederlage gegen die Tschechoslowaken noch das Spiel um Platz 3 in Neapel. Wieder gegen Donaufußballer. Diesmal gegen Österreich, ein ganz besonderes Duell.
Drei Jahre zuvor hatte Österreich die deutsche Auswahl zweimal entsetzlich gedemütigt: Einem 6:0-Auswärtssieg im Mai 1931 in Berlin folgte vier Monate später ein 5:0-Heimsieg in Wien (damals war noch nicht zu ahnen, dass es für 47 Jahre der letzte Erfolg über den Nachbarn sein sollte: bis Córdoba 1978). 1931 war das Jahr, in dem das so viel zitierte Wunderteam entstanden war, das man wegen folgender Anekdote gerne auch das Schmieranskiteam nannte: Einen Tag vor einem Länderspiel gegen Schottland nämlich war der legendäre wie streitbare Teamchef Hugo Meisl im Wiener Ring-Café mit heimischen Sportjournalisten aneinandergeraten. Wutentbrannt zog Meisl einen zerknitterten Zettel aus der Jackentasche, auf den er die Mannschaftsaufstellung für den kommenden Tag gekritzelt hatte, und warf ihn im Hinausgehen den Reportern auf den Tisch mit den Worten: »Da habt’s euer Schmieranskiteam.« Am nächsten Tag gewann Österreich sensationell gegen die als übermächtig geltenden Schotten 5:0. Es folgten eine Woche später der Triumph in Berlin und mit nur zwei verlorenen Spielen in 28 Partien die drei goldensten Jahre der österreichischen Fußballgeschichte. Kurios, dass ausgerechnet eine dieser beiden Niederlagen bis heute als das beste Spiel aller Zeiten einer österreichischen Mannschaft gilt: das 3:4 gegen das übermächtige England im Dezember 1932 im Stadion an der Stamford Bridge. Ein Spektakel, für das sich Zehntausende Menschen für je 20 Groschen Eintritt vor der Wiener Hofburg versammelt hatten, um der Radioreportage aus London zu lauschen, die live aus riesigen Lautsprechern übertragen wurde. Public Hearing am Heldenplatz.
Wiener Teams beherrschten auch den Klubfußball. Im Mitropapokal triumphierte 1930 Rapid, 1931 die Vienna. 1933 gewann die Austriagegen Inter Mailand, das sich auf Geheiß von Mussolini übrigens in Ambrosiana umzubenennen hatte. Inter, kurz für Internazionale, das klang dem Duce zu weltoffen.
Die überragende Persönlichkeit der Austria wie auch Österreichs Nationalmannschaft war dabei Spielmacher Matthias Sindelar, den man wegen seiner schmächtigen Statur auch Der Papierene nannte und der später zu Österreichs bestem Spieler des 20. Jahrhunderts gekürt wurde.
Bei der WM in Italien wollte Sindelar, der Sohn eines mährischen Maurers aus dem Wiener Arbeiterbezirk Favoriten, die da schon etwas in die Jahre gekommene Wunderelf zum Titel führen, doch es waren vor allem die skandalösen und später noch zu erörternden Umstände der Halbfinal-Niederlage gegen Italien, die diesen Traum zunichtemachten.
Das Spiel um Platz 3 begann recht kurios, standen doch vor Anpfiff beide Mannschaften in ihrer bevorzugten Spielkleidung mit weißen Trikots und schwarzen Hosen auf dem Platz. Während ein Autokurier sich auf den Weg machte, um aus einem nahe gelegenen Vereinsheim Ersatztrikots zur farblichen Unterscheidung zu holen, wurde per Losentscheid die Mannschaft von Hugo Meisl dazu verdonnert, sich anders zu kleiden. Weil der eilig entsandte Bote in der Kürze der Zeit im Klubhaus keine jahreszeitgemäßen Shirts fand, wurde Österreich die bis heute einzige Elf in der langen Geschichte des Fußballs, die jemals ein WM-Spiel mit warmen Winterpullovern des SSC Neapel bestritt.
Obendrein geriet die Meisl-Truppe durch den starken Auftritt ihrer Gegner ins Schwitzen. Deutschland gewann durch zwei Tore von Lehner und einmal Conen 3:2. Die Ära des Wunderteams war nun endgültig vorbei.
Italien hingegen fieberte gebannt dem Finale gegen die Tschechoslowakei entgegen. Dass man es dabei nur völlig grotesken Fehlentscheidungen der Schiedsrichter zu verdanken hatte, überhaupt das Endspiel erreicht zu haben, schmälerte die Begeisterung nicht im Geringsten. Betrug? Verschobene Spiele? War da was?
Im Viertelfinale traten die Azzurri beim 1:1 gegen Spanien nach Belieben ihre Gegenspieler um, beim Wiederholungsspiel fehlten sieben Iberer verletzungsbedingt, darunter Torwart Zamora mit einem geschwollenen Auge. Während der Entscheidungspartie transportierten Sanitäter drei Spanier ab, dazu verweigerte der Schweizer Schiedsrichter René Mercet zwei regulären spanischen Treffern die Anerkennung. Italien gewann 1:0. Im Halbfinale gegen Österreich folgte ein monströs schmutziges Foul gegen Sindelar, dazu das irreguläre Tor zum 1:0-Endstand, als drei Italiener Torwart Peter Platzer attackierten und ihn mitsamt Ball über die Linie bugsierten. Als kurz vor Ende bei einem aussichtsreichen Konter Stürmer Karl Zischek nach einer hohen Flanke sich aussichtsreich in Position für das Ausgleichstor wähnte, kam Schiri Ivan Eklind herangestürmt – und köpfte den Ball ins Seitenaus. So schilderten es zumindest die empörten Österreicher, Spieler, Funktionäre, Medien. Weil es TV-Bilder noch nicht gab, fehlt bis heute der Videobeweis.
Dass zugunsten Italiens ziemlich viel geschoben und verschoben wurde bei dieser WM, das gilt jedoch als unstrittig.
Immer wieder wurde im Lauf der folgenden Jahrzehnte gemunkelt, der Duce himself sei es gewesen, der Druck auf die Schiedsrichter ausgeübt habe, Italien notfalls auch mit völlig absurden Entscheidungen zum so prestigeträchtigen Titel zu verhelfen. Der Sporthistoriker Marco Impiglia widerlegte diese These 2014 in einem Aufsatz. Seiner Schlussfolgerung nach steckten dahinter vielmehr enge Seilschaften korrupter und korrumpierbarer Funktionäre. So habe etwa der Chef des Organisationskomitees Giovanni Mauro dem schwedischen Verbandspräsidenten Anton Johanson 1932 die Aufnahme in die FIFA-Regelkommission ermöglicht. Aus tiefer Dankbarkeit soll sich Johanson erkenntlich gezeigt haben, indem er auf Mauros Wunsch nach einem schwedischen Schiedsrichter nicht den über alle Zweifel erhabenen Routinier Otto Ohlson zur WM schickte, sondern den jungen, aufstrebenden Ivan Eklind, dem jedes Mittel recht war, um weiter Karriere zu machen. Genau der richtige Mann für Italiens WM-Mission, zumal das Organisationskomitee damals die Oberhoheit über die Nominierung der Schiedsrichter für die Partien hatte.
Die Weltmeister-Elf mit dem Wappen des Königreichs Italien. Hinten v. l.: Combi, Monti, Ferraris, Allemandi, Guaita, Ferrari; vorne v. l.: Schiavio, Meazza, Monzeglio, Bertolini und Orsi.
Weil Eklind also seine Arbeit gegen Österreich zu voller Zufriedenheit erledigt hatte, durfte er auch im Finale noch mal ran. Und welch Wunder, der junge Schwede leistete auch im Finale gegen die Tschechoslowakei ganze Arbeit und erfüllte die in ihn gesteckten Erwartungen zur Gänze. Er ließ die Italiener in all ihrer Grobheit gewähren, pfiff seltsame Abseitsentscheidungen gegen die Tschechoslowaken, denen er obendrein klare Elfmeter verweigerte. So gewann Italien recht knapp mit 2:1 nach Verlängerung, den Pass zum entscheidenden Tor durch Angelo Schiavio vom AC Bologna gab der damalige Spielmacher und Star der Mannschaft Giuseppe Meazza.
Jules Rimet, der im Finale neben Mussolini auf der Tribüne saß, erzählte später einmal über Mussolinis Kommentare während des Spiels, dass der Duce gar keine, aber so überhaupt keine Ahnung vom Fußball gehabt habe. Dem Machthaber war das egal, Italien hatte den Titel, und die Stimmung im Land, die wegen stagnierender Wirtschaft, drohender Lohnkürzungen und sinkender Lira etwas angespannt war, hellte sich wieder auf. Mussolini konnte sich feiern lassen.
Italien jubelte – und Deutschland auch. Die Münchner Neuesten Nachrichten etwa huldigten der Nerz-Truppe nach dem WM-Debüt: »Mit den Berufsspielermannschaften von Italien, der Tschechei und Österreich spielte sich die deutsche Elf in ruhmvoller Weise zu den letzten Vier durch und ist in der Vorschlussrunde mit fliegenden Fahnen untergegangen. Aber unsere wackeren Spieler haben sich heldenmütig geschlagen.« Martialischer die Formulierung im Völkischen Beobachter: »Ein Erfolg, der in erster Linie dem durch den Nationalsozialismus geschaffenen neuen deutschen Lebensgefühl der Bereitschaft und des Kampfes zuzuschreiben ist.«
Und weiter: »Jeder deutsche Spieler, der jetzt gegen einen Ausländer startet, weiß zweierlei: Wenn du kämpfst, kämpfst du für dein Land, für sein Ansehen und für seine Ehre.« Für Hitler und sein Regime dürfte Mussolinis Veranstaltung in jedem Fall ein perfektes Anschauungsbeispiel gewesen sein, eine Blaupause, wie man sportliche Großereignisse propagandistisch zu den eigenen Gunsten inszenieren konnte. Zwei Jahre später stiegen in Berlin die Sommerspiele von 1936.
Die Fußballwelt traf sich 1938 in Frankreich wieder. Als Deutschland nicht mehr gegen die Österreicher spielte. Sondern mit ihnen.
Als sich Europa weiter verdüstert hatte.
1 Wort gab Verteidiger Paul Janes (Fortuna Düsseldorf) zur Antwort, als er nach der Rückkehr in einem Interview auf die Frage »Wie war’s in Italien?« antwortete: »Warm.«
3 Tage vor Turnierbeginn fand erst das letzte Qualifikationsspiel statt. In einem Showdown in Rom bezwangen die USA Mexiko mit 4:2.
4 europäische Teams im Halbfinale, das gab es nach 1934 noch vier weitere Male: 1966, 1982, 2006 und 2018.
5 Oriundi standen in Italiens WM-Kader: Söhne italienischer Emigranten, die in Südamerika zur Welt kamen und aufwuchsen und nach der Rückkehr ins Land ihrer Eltern wieder eingebürgert wurden. Mit Luis Monti und Attilio Demaría holten zwei Spieler den Titel, die 1930 mit Argentinien noch Vizeweltmeister geworden waren. Der Oriundo Raimundo Orsi (1928 Olympia-Zweiter mit Argentinien) erzielte im Finale den wichtigen Ausgleich zum 1:1.
10 Lire kostete die billigste Eintrittskarte für ein Achtelfinalspiel. Das teuerste Ticket fürs Finale 100 Lire.
11 Tore kassierte die Auswahl Palästinas in den beiden Qualifikationsspielen gegen Ägypten (1:7, 1:4). Die Mannschaft des britischen Mandats bestand ausnahmslos aus jüdischen Einwanderern. Neben der britischen Hymne (damals God Save The King) erklang vor den Spielen auch die zionistische Hatikva, die heutige Nationalhymne Israels.
20 Kilometer vor Rom logierte die Mannschaft der Tschechoslowakei in einem Schloss im beschaulichen Weinort Frascati. Zur Stärkung schickte der Prager Eisenbahner-Sportverband am Tag vor dem Finale eine Ladung des Nationalgerichts Švestkové knedlíky: böhmische Zwetschgenknödel.
25 Sekunden waren erst gespielt, als Ernst Lehner zum 1:0 gegen Österreich traf. Bis heute das schnellste Tor einer deutschen Mannschaft bei einer WM.
75 Kilo wog La Coppa del Duce. Ein den italienischen Weltmeistern zusätzlich verliehener Pokal, gestiftet natürlich von Benito Mussolini.
700 000 Drachmen (nach heutigem Gegenwert rund 300 000 Euro) zahlte Italien an den griechischen Fußballverband. Der nicht automatisch für das Heimturnier teilnahmeberechtigte Gastgeber erkaufte sich nach dem 4:0 im Qualifikations-Hinspiel in Rom den Verzicht von Gegner Griechenland auf das Rückspiel in Athen.
Startaufstellung Italien (unten) gegen Tschechoslowakei (oben), WM-Finale 1934
Beim Einstand von Sepp Herberger drängen die Nazi-Funktionäre gegen den Willen des neuen Trainers auf eine großdeutsche Mannschaft mit dem angeschlossenen Österreich. Statt zum erhofften Titel zu stürmen, erlebt die Reichself ein Debakel. Italien tritt mit schwarzen Hemden an und verteidigt als erste Nation einen WM-Titel. Und Brasilien hat einen ersten Weltstar.
Der Offensivspieler Gustav Wetterström von IK Sleipner verlebte einen recht ruhigen 5. Juni 1938. Ebenso sein Sturmkollege Arne Nyberg von IFK Göteborg. Oder Verteidiger Erik Nilsson von Malmö FF. Die schwedische Nationalmannschaft hatte an diesem Tag bei der WM in Frankreich nämlich spielfrei. Weil Deutschland in Österreich einmarschiert war.
Genau drei Monate zuvor, am 5. März, wurden im Uhrensaal des französischen Außenministeriums die Paarungen für die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft ausgelost. Der Modus war dabei identisch mit dem von 1934 in Italien: 16 Teilnehmer, ab Achtelfinale K.-o.-System. Im Lostopf waren 13 Nationen aus Europa, nie zuvor und nie danach war ein Kontinent in der Relation zu den übrigen Erdteilen so dominant bei einer WM vertreten.
Die Ziehung der Zettel für die Achtelfinalpaarungen war also schnell vorbei, Brasilien sollte unter anderem auf Polen treffen, Frankreich auf Belgien, Italien auf Norwegen. Die Auslosung ergab auch die Begegnung zwischen Schweden und Österreich – doch nur eine Woche nach der Auslosung marschierten Hitlers Truppen in Österreich ein. Österreich war mit dem Anschluss einverleibt im großdeutschen Nazi-Reich und hatte auch keine eigene Nationalmannschaft mehr. Sondern spielte bei Deutschland mit. Und Schweden hatte ein Freilos fürs Viertelfinale.
Es war ja auf der ganzen Welt ein entsetzliches Jahr, dieses 1938. Ein annus horribilis. In Fernost eskalierte der Konflikt zwischen Japan und China, in Spanien tobte weiter der Bürgerkrieg, derweil ließ Stalin in der Sowjetunion mit seinen »Säuberungsaktionen« Kritiker und Regimegegner brutal ausschalten und ermorden. In Deutschland setzte das Hitler-Regime die systematische Verfolgung der Juden und Andersdenkenden fort, später im Jahr brannten im ganzen Land in der Pogromnacht Synagogen, Häuser und Geschäfte, jüdische Mitmenschen wurden gelyncht oder ins KZ deportiert.
In solch einem Jahr also spielte man ein drittes Mal einen Weltmeister aus. 15 Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Am Vorabend der Apokalypse.
Für die deutschen Reichskicker war der dritte Platz von 1934 gleich bei der ersten WM-Teilnahme ein beachtlicher Erfolg, doch sosehr das Abschneiden in den Tagen danach medial gefeiert wurde, so schnell verpuffte die Euphorie dann auch wieder. Die Propagandamaschinerie wusste mit dem Fußball als Sportart und Inszenierungsinstrument doch nicht so viel anzufangen. Das Ergebnis im Wettstreit Elf gegen Elf schien ihnen zu unberechenbar, um damit planbare Seriensiege als Triumph der Überlegenheit gegenüber anderen Nationen auszuschlachten. So gut war der deutsche Fußball im internationalen Vergleich eben doch nicht, zumal sich Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern einer Professionalisierung weiterhin verweigerte und auf dem Amateurstatus seiner Fußballer beharrte.
Aber dann kam ja 1936. Die Olympischen Sommerspiele in Berlin, bei denen das IOC Fußball, nach einer Pause 1932 in Los Angeles, wieder ins olympische Programm aufgenommen hatte. Weil Profis bei Olympia nicht zugelassen waren und etwa auch Italien mit keinem einzigen Weltmeister der 1934er-Mannschaft nach Berlin kam, rechneten sich die Funktionärsbonzen rund um Reichssportkommissar von Tschammer und DFB-Präsident Linnemann gute Chancen auf einen Triumph der Reichself aus. Die Goldmedaille sollte es sein, ein Finalsieg vor 85 000 begeisterten Zuschauern im Olympiastadion, die Siegerehrung mit Hitlergruß vor der Ehrentribüne, so hatten sie sich das vorgestellt.
So kam es aber nicht.
Nach einem lockeren Auftaktsieg gegen Luxemburg hatte Linnemann Reichstrainer Otto Nerz dazu verdonnert, im Viertelfinale gegen Norwegen mit einer besseren B-Elf anzutreten und die Stammkräfte zu schonen. Gegen den skandinavischen Außenseiter sollte das schon reichen. Nerz äußerte zwar noch seine Bedenken, erfolgreich widersetzen konnte er sich der Anweisung aber nicht.
Die Euphorie vor dem Norwegen-Spiel war enorm, und so kam es, dass sogar der Führer seine Pläne für diesen 7. August spontan änderte und nicht wie vorgesehen zur Entscheidung im Einer-Kajak über 10 000 Meter an die Regattastrecke Grünau fuhr, sondern sich zusammen mit Josef Goebbels auf die Haupttribüne des Poststadions im Stadtteil Moabit setzte. Zur Atmosphäre an jenem Tag notierte der Propagandaminister vor Ort in sein Tagebuch fast lustvoll: »Der Führer ist ganz erregt. Ich kann mich kaum halten. Ein richtiges Nervenbad. Das Publikum rast. Ein Kampf wie nie. Das Spiel als Massensuggestion.« Mit der Erregung von Hitler, Goebbels und der übrigen 55 000 Zuschauer war es dann aber schnell vorbei. Deutschland unterlag Norwegen sang- und klanglos mit 0:2, zürnend verließ Hitler zehn Minuten vor Spielende das Stadion und grämte sich später wohl noch umso mehr, weil er den Olympiasieg des Münchner Kanuten Ernst Krebs im Kajak versäumt hatte. Da hätte er mehr zu jubeln gehabt.
Dass Hitler danach, wie gern berichtet wird, nie mehr ein Fußballspiel besuchte, ist übrigens falsch. 1937 sah er in Berlin das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft zwischen Schalke 04 und dem 1. FC Nürnberg. Nur von Länderspielen hatte er seither genug.
Mit der peinlichen Olympia-Blamage gegen Norwegen war auch die Zeit von Otto Nerz als Reichstrainer vorbei. Die historischen Quellen sind sich dabei nicht einig, ob der Abschied von Nerz schon vorab festgestanden haben soll oder ob er als Bauernopfer herhalten musste, um die DFB-Führungsriege um Linnemann nach der Pleite im Poststadion aus der Schusslinie zu nehmen. Ganz weg war Nerz freilich nicht, ab nun durfte er in seiner neuen Beraterfunktion als Referent für die Nationalmannschaft arbeiten, zusammen in einer nicht wirklich harmonischen Doppelspitze mit seinem Nachfolger. Einem gewissen Sepp Herberger.
Herberger und Nerz verbanden rein biografisch viele Gemeinsamkeiten. Beide stammten aus dem Badischen, beide aus ärmlichen Verhältnissen, Nerz als Sohn eines Landwirts, Herberger als Kind eines Arbeiters einer Glasfabrik. Beide begannen ihre aktive Zeit als Fußballer bei Mannheimer Vereinen, Nerz beim VfR, Herberger beim SV Waldhof, wobei auch er später zum VfR wechselte und eine tragende Säule beim Gewinn der Süddeutschen Meisterschaft 1925 war. Der Otto und der fünf Jahre jüngere Sepp verstanden sich recht gut, und als Nerz schließlich bei Tennis Borussia in Berlin als Trainer arbeitete, lockte er Herberger, den dreifachen Nationalspieler und laut Kicker »besten Mittelstürmer Deutschlands«, als Verstärkung in die Hauptstadt. Nerz holte Herberger erst als Spieler. 1931
