Mensch, Kaiser! - Florian Kinast - E-Book

Mensch, Kaiser! E-Book

Florian Kinast

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Beschreibung

Jahrzehnte schwimmt Franz Beckenbauer auf einer Welle des Erfolgs: Als Spieler wird er Deutscher Meister, Europameister und Weltmeister. Als Trainer führt er die Nationalmannschaft 1990 zum WM-Titel. Als Chef des Bewerbungskomitees holt er die WM 2006 und damit das berühmte Sommermärchen nach Deutschland. Doch dann werden Korruptionsvorwürfe laut, es geht um Stimmenkäufe bei der Vergabe und dubios versickerte Millionenzahlungen. Es wird still um den Kaiser. Wer ist Franz Beckenbauer wirklich? Florian Kinast porträtiert die bedeutendste Persönlichkeit des deutschen Fußballs, erzählt von großen Erfolgen - aber auch von den Schattenseiten, die es im Leben der Lichtgestalt immer schon gab.

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumVorwortKapitel 1 – Als Eierkopf bei den Bowazus –mit dem Traum von Sechzig und Amerika:Kindheit und Jugend in ObergiesingKapitel 2 – Jungvater, Autowäscher und mit den Schwammerln im Irrenhaus: Die Anfangsjahre beim FC BayernKapitel 3 – Mit Tschik, Sepp, Gerd und einem Obsthändler als Manager: Das Länderspiel-Debütund der erste TitelKapitel 4 – General, Gentleman und im Bett mit Edgar Wallace: Die Weltmeisterschaft 1966 in EnglandKapitel 5 – Gute Freunde, eine Frau und Ärger mit dem Türsteher bei der Hochzeit: Der Franz als Sänger, Werbestar und EhemannKapitel 6 – Mit dem Porsche zur Kalbshaxn und die Provokationen des Brunnenbuberls: Erster Europapokal und erste MeisterschaftKapitel 7 – Die Angst vor Dynamo Bayern und Roter Stern München – und der filzige Klüngel mit der CSU: Der Kaiser und die PolitikKapitel 8 – Der Biedermann von der Tankstelle – und der Traum vom eigenen U-Bahn-Kiosk: Die Weltmeisterschaft 1970 in MexikoKapitel 9 – Als Gockel von Giesing zwischen Richard Wagner und Freddy Quinn: Das gesellschaftliche Parkett als dünnes EisKapitel 10 – Die Krankheit mit den Intellektuellen und Fluchtgedanken nach Holland: Der Aufbruch in die Goldenen SiebzigerKapitel 11 – Prämienstreit, Lagerkoller und Buhmann vor der Kaiserkrönung: Die Weltmeisterschaft 1974 in DeutschlandKapitel 12 – Der Hausmüll als Kunstobjekt und die guten Vitamine von Dr. Spritz: Absturz ins Mittelmaß und das böse Thema DopingKapitel 13 – Ärger mit dem Fiskus und den Frauen – und ein Helikopterflug über Manhattan: Der Abschied von München nach New YorkKapitel 14 – Pavarotti in der Met, Nomaden in der Bronx und ein Date mit Nurejew: Glückliche Jahre in der Neuen WeltKapitel 15 – The Kaiser und das stille Farewell – der Wechsel vom Hudson zu Hagenbeck: Karriere-Ausklang beim Hamburger SVKapitel 16 – Nichtschwimmer, Oberhirsch, Suppenkasper – und mit Furor ins Finale: Die Weltmeisterschaft 1986 in MexikoKapitel 17 – Als Rumpelstilzchen und Zen-Mönch mit den Topfenkickern zum Titel: Die Weltmeisterschaft 1990 in ItalienKapitel 18 – Haarausfall mit Hermann Hesse – das Heimweh des Franz von Monte Christo: Das kurze Gastspiel in MarseilleKapitel 19 – Bubu-Gaga mit Lothars Lolita – und ein Tor vom Weißbierglas: Die Rückkehr zu den lustigen Hollywood-BayernKapitel 20 – Maestro Trap und Malermeister Rubens – mit den Angsthasen zum UEFA-Pokal: Der Präsident auf der TrainerbankKapitel 21 – Ein Terrorist für den Zentralfriedhof und der eigenartige Mr. Dempsey: Der Kampf um ein neues Stadion und die WM 2006Kapitel 22 – Der schmollende Firlefranz als Winnetou vom Abstellgleis: Der zähe Abgang vom FC BayernKapitel 23 – Von 6,7 Millionen Euro, einer kaputten Kirchenorgel und Kniestrümpfen für Mrs. Warner: Erkenntnisse zum SommermärchenKapitel 24 – Durchs Leben gefranzelt – der Hallodri vom Ostfriedhof und das Ende von Giasing Power: ein ResümeeZitateLiteratur- und Quellenverzeichnis

ÜBER DAS BUCH

Jahrzehnte schwimmt Franz Beckenbauer auf einer Welle des Erfolgs: Als Spieler wird er Deutscher Meister, Europameister und Weltmeister. Als Trainer führt er die Nationalmannschaft 1990 zum WM-Titel. Als Chef des Bewerbungskomitees holt er die WM 2006 und damit das berühmte Sommermärchen nach Deutschland. Doch dann werden Korruptionsvorwürfe laut, es geht um Stimmenkäufe bei der Vergabe und dubios versickerte Millionenzahlungen. Es wird still um den Kaiser. Wer ist Franz Beckenbauer wirklich? Florian Kinast porträtiert die bedeutendste Persönlichkeit des deutschen Fußballs, erzählt von großen Erfolgen – aber auch von den Schattenseiten, die es im Leben der Lichtgestalt immer schon gab.

ÜBER DEN AUTOR

Florian Kinast, 1969 in München geboren, ist Autor und freier Sportjournalist. Als Korrespondent des SPIEGEL berichtet er über den FC Bayern München, zudem schreibt er Reportagen und Porträts für die Münchner ABENDZEITUNG, SPORTS ILLUSTRATED und viele andere Medien. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter eine Biografie über Biathletin Magdalena Neuner. 2022 erschien DIE KÖNIGE DER WELT über die Historie der Fußball-Weltmeisterschaften.

 

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

 

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining

bleiben vorbehalten.

 

Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen

Umschlaggestaltung: © b3K design, Andrea Schneider & diceindustries

Umschlagmotiv: © picture-alliance/Lacy Perenyi|Laci Perenyi

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4996-1

luebbe-life.de

lesejury.de

VORWORT

Eine Begegnung mit Franz Beckenbauer, September 2002 im Golfclub Egmating. Auf der 18-Loch-Anlage im Münchner Südosten stand wenige Tage vor dem Bundesliga-Lokalderby mal wieder ein ganz besonderes Golfturnier an. So war das damals oft. Kurz bevor sich die Fußballmannschaften des FC Bayern und des TSV 1860 im Olympiastadion duellierten, trafen sich die Roten und die Blauen zum Derby auf dem Golfplatz. Nicht die Spieler, dafür aber Funktionäre beider Klubs, Edelfans, Semipromis, Adabeis. Mehr so ein gesellschaftliches Gaudi-Event.

Als Sportredakteur der Abendzeitung galt es damals, irgendeine Geschichte für die Ausgabe des nächsten Tages mitzubringen. So heißt das, wenn man als Reporter zu einem Termin fährt, noch ohne konkrete Vorstellung, was einen erwartet und was dabei herumkommt. Einfach mal alles beobachten, sich umsehen und umhören. Notfalls als Kompromisslösung eine kleine Umfrage unter den Teilnehmern: »Und, wie geht’s aus im Stadion am Dienstagabend?« Oder, auch immer beliebt, eine Kolumne für die Society-Seite mit üppigem Namedropping. Am Büfett im Clubhaus gesichtet: die üblichen Verdächtigen. Vielleicht also gar vor Turnierstart schon eine griffige Story mit der Option auf eine rasche Rückkehr in die Redaktion?

Aufgrund der verspäteten Ankunft allerdings war das Feld bereits unterwegs auf dem Platz, und als das Gedankenkarussell zum möglichen Zeitvertreib bis zur Rückkehr der Teilnehmer allmählich Fahrt aufnahm, da kam auf dem Weg zur Herrentoilette ein Mann in ziemlich gekrümmter Haltung des Wegs. »Mein Kreuz«, entgegnete Franz Beckenbauer auf die Frage, warum er denn gerade nicht draußen auf dem Golfplatz seine Runden ziehe. Nach vier Bahnen sei es ihm in die Bandscheiben reingeschossen, erklärte er, deswegen der Abbruch. »Des hat keinen Sinn mehr.« Aha. Und was mache er jetzt? Ob er vielleicht Zeit und Lust habe auf ein Interview mit der Abendzeitung? »Ja freilich, gern«, erwiderte er, und so saß man im Biergarten des Clubhauses eineinhalb entspannte Stunden beisammen, ganz nebenbei wurde es mit zwei Weißbier eine recht günstige Bewirtung, billiger noch als ein Termin mit Klaus Augenthaler, da waren es mal zwei Weißbier und eine Schachtel Marlboro.

So ging das Gespräch mit Beckenbauer an jenem Tag also über die Bayern und die Löwen, über Derby-Anekdoten und alte Erinnerungen, über die Bundesliga und die Champions League, aber auch über die Eindrücke seiner Afghanistan-Reise wenige Monate zuvor und über die bevorstehende Bundestagswahl. Die thematische Bandbreite reichte von Giesing bis Kabul, von Tschik Čajkovski bis Edmund Stoiber. Das Exklusivgespräch wurde am nächsten Tag Aufmacher auf der ersten Sportseite. Am Ende tauschte man sich nach dem Abschalten des Aufnahmegeräts noch aus über die richtige Zubereitung von Schinkennudeln. Ob er das Interview noch mal gegenlesen und autorisieren wolle, so die Frage beim Abschied: »Naa naa«, meinte Beckenbauer lächelnd, »basst scho.«

Das passt schon. Ja, es passte lange sehr viel im Leben von Franz Beckenbauer, jener Persönlichkeit, die sich trotz ihrer Bekanntheit, ihres Ansehens und Ruhms immer so nahbar gab, so zugänglich war. Offen, geerdet und unkompliziert. »Servus, i bin der Franz.«

Ein Glückskind, dem alles zu gelingen schien, der mit seiner ihm ganz eigenen Lässigkeit viele Widrigkeiten in seinem Leben recht charmant wegfranzelte, der als Spieler und Trainer gewann, was es zu gewinnen gab, und der am Ende als Funktionär auch noch eine Weltmeisterschaft nach Deutschland holte. Doch gerade die dubiosen Vorgänge rund um die Vergabe der WM 2006 warfen dann auch ein neues Licht auf ihn, es wurde still um den Kaiser. Die Vorwürfe gegen ihn im Zusammenhang mit dem Sommermärchen, dazu gesundheitliche Probleme und natürlich auch der Tod seines Sohnes Stephan, all das führte dazu, dass sich Franz Beckenbauer in den vergangenen Jahren immer mehr zurückzog und nur noch selten in der Öffentlichkeit zeigte.

Viel zu kurz gegriffen wäre es dabei aber, sein Leben mit der simplen Titulierung von »Aufstieg und Fall« in zwei lineare Phasen zu teilen. In diesem Buch wird vielmehr herausgearbeitet, wie differenziert das Tun und Wirken Beckenbauers über all die Jahrzehnte zu reflektieren ist. Welche Höhen und Tiefen er bereits als Spieler durchlebte, wie er sich immer wieder in Widersprüchen verfing, wie zerrissen er oft wirkte im Spagat zwischen der natürlich oft sehr gut vergüteten Exposition als omnipräsente Lichtgestalt und der schlichten Sehnsucht nach einem ganz einfachen Leben – und wie oft er einfach auf der Suche war nach Anerkennung, Respekt und Wertschätzung.

»Ich würde gern wissen, wer ich bin«, sagte Franz Beckenbauer einmal. Vielleicht hilft ihm die Lektüre dieses Buchs ja ein wenig weiter, auf dem Weg zur Selbsterkenntnis.

KAPITEL 1

Als Eierkopf bei den Bowazus –mit dem Traum von Sechzig und Amerika:Kindheit und Jugend in Obergiesing

Sommer 1945, Nachkriegs-München. Eine Stadt in Trümmern, Ruinenlandschaft. Nach insgesamt 73 verheerenden Luftangriffen sind rund 21000 Gebäude komplett zerstört oder schwer beschädigt, darunter mehr als 100 Kirchen, knapp 300 Kulturbauten. Museen, Kinos, Theater, die Ludwig-Maximilians-Universität. 66 Schulen liegen in Schutt, 23 Krankenhäuser. Mehr als 6600 Menschen haben in den Bombennächten ihr Leben verloren, gut 300000 ihr Zuhause.

Mit dem Einmarsch der US-Amerikaner Ende April endet der Irrsinn, und schon bald kehrt ganz sachte ein Hauch von alter Normalität zurück. Im Juni haben bereits 50 Gaststätten wieder geöffnet, sind zwölf Trambahnlinien im Einsatz. Die Linie 15 etwa zur Großhesseloher Brücke oder auch die Linie 10 zum Isartalbahnhof. Die Neunzehner nach Steinhausen.

Anfang Juli folgt der erste Auftritt der Münchner Philharmoniker. Im restlos ausverkauften Prinzregententheater, mit Werken von Tschaikowsky, Mozart, Mendelssohn. In drei Kinos laufen wieder Filme, im Regina in der Dachauer Straße, im Preysing-Palast in der Pilgersheimer Straße, im Kapitol in Pasing. Kleines Alltagsglück zur Ablenkung, nach dem Trauma des Kriegs. Und auch die seit September 1939 angeordnete Verdunkelung auf den Straßen, an Wohnungen, Geschäften, Häusern, ist seit Mitte Mai aufgehoben. Selbst die Nächte werden wieder heller. München fängt langsam wieder an zu leuchten.

Vier Monate nach Kriegsende. Am 8. September kehrt das Volkstheater mit der Hammelkomödie von Hans Hiller auf die Bühne zurück. Am 9. September ordnet die amerikanische Militärregierung eine Gebäudezählung an. Am 10. September startet Radio München seine neue Sendereihe. Englisch macht Spaß, ein Sprachkurs, zweimal eine Viertelstunde am Tag. Am 11. September setzen bei Antonie Beckenbauer die Wehen ein.

Mit wem die 32-jährige Hausfrau von Obergiesing aus aufbricht, und wie sie die fünf Kilometer entfernte Entbindungsklinik in der Maxvorstadt erreicht, darüber wird sie selbst in späteren Jahren unterschiedliche Versionen erzählen. Mal ist sie mit ihrer Schwester Leni unterwegs, mal ganz allein. Mal geht sie zu Fuß und fährt mit der Tram, mal chauffiert sie ein amerikanischer Militärjeep in die Klinik. Bezeichnend, dass das Leben von Franz Beckenbauer schon vor der Geburt mit Widersprüchen beginnt.

Am späten Abend bringt Antonie Beckenbauer ihr zweites Kind zur Welt. Einen Franz. »Er hat sich so auf die Welt geschwindelt«, wird sie einmal sagen.

Viele Jahrzehnte später wird auch Walter Beckenbauer, der 1941 geborene ältere Bruder, in einem Gespräch mit der Abendzeitung von der ersten Begegnung mit dem kleinen Franzl erzählen. Entsetzt sei er gewesen, als er ihn das erste Mal gesehen habe, so habe es ihm seine Mutter immer wieder berichtet. Und: »Dass sie ihn aus dem Krankenhaus heimgeschleppt hat, die Treppe hoch in den vierten Stock, und ich, als ich in die Tragetasche reingeschaut hab, gesagt habe: so ein Eierkopf.« Während die Mitbewohner im Mietshaus Mama Antonie beglückwünscht hätten zu diesem ach so außerordentlich feschen Buben, so erzählt es Walter, habe er sich zurückgezogen. Aus Groll, aus Eifersucht, mit dem Gedanken: »Steigts mir doch alle auf den Hut.«

Aber natürlich wächst zwischen dem Walter und dem Eierkopf bald eine innige, herzliche Beziehung heran. In bescheidenen Verhältnissen leben sie zu acht in einer Vier-Zimmer-Wohnung im vierten Stock, die damals laut Adresse noch am Bonifatiusplatz 2 liegt, später nach der Umbenennung in der Verlängerung der Zugspitzstraße. Mit im Haushalt wohnen neben Papa Franz und Mama Antonie, dem Walter und dem Franz auch Oma Katharina Beckenbauer, die Mutter von Franz senior – und dazu auch noch die im Krieg aus ihrer Wohnung rausgebombte Tante Frieda, die mit ihren beiden Söhnen bei ihrem Bruder Franz Zuflucht fand.

Fließend Wasser gibt es nicht, die Toiletten sind draußen zwischen den einzelnen Etagen, zum Wäschewaschen geht Mama Antonie die zehn Fußminuten zu einer Waschstelle am Walchenseeplatz. Niemand jammert, man ist froh, überhaupt eine Bleibe zu haben. Wenn sie im strengen Winter hochgehen in die vierte Etage, steigen sie über Fremde, über Obdachlose, die im Treppenhaus wenigstens im Trockenen sitzen wollen und dort dann auch gleich nächtigen. Das Elend: Alltag.

Umso heiliger sind dem Walter und dem Franzl vor allem die Abende, wenn sie wenigstens einmal in der Woche in einem Bottich mit heißem Wasser warm baden können und sie sich danach zusammen im Wohnzimmer um das Holzradio scharen, aus dem heraus Fred Rauch seit 1947 das Wunschkonzert moderiert. Glückliche Momente im Hause Beckenbauer. Lehrstunden in Dankbarkeit und Demut.

Mit sechs kommt der Franz in die Volksschule an der St.-Martin-Straße, nach zwei Jahren wechselt er an die Silberhornschule beim Giesinger Berg. Als Schüler kommt er ganz gut durch, er ist wach und interessiert, gerade an Geografie. Die Eltern lassen ihn wie auch den Walter schon gewähren, wollen sich laut ihrem Credo ins Schulische erst einmischen, wenn es bei den Noten massiv bergab geht. Geht es aber nie. Der Franz tendiert zu vielen Zweiern, manchmal Einser, ab und zu Dreier. Vierer und schlechter: Raritäten. Mitteilsam im Unterricht ist er allerdings nicht, er beteiligt sich selten, meldet sich kaum zu Wort und hält es nicht für nötig, überall und immer seinen Senf dazugeben zu müssen. Das wird sich später ändern.

Nur unruhig ist der Bub immer, einmal meldet sich die Lehrerin, die Frau Henzler, bei Mama Beckenbauer, weil der Sohn mitten während des Unterrichts so oft aufstehe und durchs Klassenzimmer renne, einfach so, völlig unmotiviert. Ein Zappelfranz. Abhilfe schafft Mutter Antonie, die ihrem Kind androht, sollte er damit nicht aufhören, werde er sicher zur Strafe bald den ganz strengen Lehrer bekommen, einen verbitterten Kriegsheimkehrer und ekelhaften Altnazi, der an der ganzen Schule berüchtigt ist, weil er als Choleriker die Kinder gern sauber herwatscht, aber so was von. Ab da sitzt der Franz ganz brav und still – und bekommt den prügelnden Pädagogen dennoch als Lehrkraft.

Brav und schüchtern wirkt er überhaupt in seinen ersten Jahren, manchmal auch ängstlich. Wenn ihm die Eltern auftragen, die Kohlen oder die Kartoffeln aus dem Keller zu holen, weigert er sich. Allein mag er nicht gehen, aus Furcht vor der Düsternis da unten. Nur wenn der Walter mitgehe. Franz baut sich seine eigene Welt, gern klebt er Bilder ins Sammelalbum der Margarinemarke Sanella, es sind Motive aus fernen Ländern und Kontinenten. Afrika, Australien, Amerika. »Mich hat das interessiert, wie schaut es dort aus«, sagt er später in einem Interview. »Die Sehnsüchte waren von klein auf da, Fernweh sagt man heute.«

Anständig benimmt er sich auch als Ministrant in der Heilig-Kreuz-Kirche, ansonsten ist er viel in den Straßen Giesings unterwegs, einem Viertel, in dem sich die Kinder damals gut aufgehoben und geborgen fühlen – auch wegen der Präsenz der amerikanischen Soldaten, die 1945 ganz in der Nähe ihr Münchner Hauptquartier in der McGraw-Kaserne aufgeschlagen haben, in den Räumen der ehemaligen Reichszeugmeisterei, des einst landesweit größten Zentrallagers der Nazis für Uniformen, Fahrzeuge und Ausrüstung, für Aufmärsche und Parteitage.

Freudig erwartet werden in jenen Nachkriegsjahren gerade die Tage in der Adventszeit, wenn die GIs mit ihren dunkelgrünen Army Buses ausrücken und sie die an bestimmten Sammelpunkten wartenden Kinder aus dem Viertel einsammeln, um ihnen in einem großen Saal ihrer Kaserne Weihnachtspakete zu überreichen, gefüllt mit Kaugummi, Zimtstangen, Wachsmalstiften. Oder wenn sie aus den Fenstern der Kaserne die beliebten Butterfinger runterwerfen, die pappsüßen Schokoriegel mit Krokant und Erdnusscreme. Festtage für Giesings Jugend.

Zu den engsten Vertrauten vom Franz zählt in jener Zeit ein Schulfreund aus der Nachbarschaft, der Steiner Wolfi. Mit ihm kauft er sich für ein Fünferl manchmal eine Pit-Brause, und wenn sie mal ganz viel Taschengeld gespart haben, leisten sie sich auch einen Kinobesuch in den Wendelstein-Lichtspielen in der gleichnamigen Straße. Für stolze 65 Pfennig. Oft verstecken sie sich nach einer Vorstellung unter den Sitzen, um für den nächsten Film auch noch zu bleiben, beim Double Feature halbiert sich der Preis. Am liebsten aber spielen sie Fußball, gern auch in der Wohnung der Beckenbauers im Gang. Sehr zum Missfallen des Vaters.

2005, kurz vor dem 60. Geburtstag vom Franz, wird sich Wolfgang Steiner bei einem persönlichen Treffen mit dem Autor daran erinnern, wie das war, wenn der alte Beckenbauer von der Arbeit heimgekommen sei, und er immer fast einen Tobsuchtsanfall bekommen habe, weil die Burschen schon wieder nix Besseres zu tun gehabt hätten, als wild schreiend und verschwitzt durch den Flur zu toben. »Saubuam«, habe Vater Franz senior dann gebrüllt, »aus euch werd so nia wos. Schauts mich an, i bin wenigstens Postobersekretär worn.« Der Postobersekretär, der dafür verantwortlich ist, dass man den Franz später oft den Postlersohn aus Obergiesing nennt.

Postobersekretär Franz Beckenbauer, geboren 1905, ein gelernter Maschinenschlosser, dann in seiner Anfangszeit bei der Post Briefsortierer. Später, nach dem Aufstieg auf der betriebsinternen Karriereleiter, verdient er nach dem Krieg immerhin ordentliche 600 D-Mark im Monat, gesundheitlich ist er aber recht angeschlagen, Magengeschwüre, die Bandscheiben. Weil ihm das Sitzen auf dem Amt über mehrere Stunden schwerfällt, bekommt er neue Aufgaben. Wenn Mitarbeiter der Post Geburtstag haben oder schwer krank sind, etwas zu bejubeln haben oder zu betrauern, Jubiläum feiern oder Abschied, dann rückt Beckenbauer mit einem Blumenstrauß aus und mit Worten des Glückwunschs oder des Trosts. Und weil er meist die richtigen Worte findet in der richtigen Tonalität, kennt man den alten Franz auch als die gute Seele der Giesinger Post.

Vater Beckenbauer ist sozial und auch sozialdemokratisch, ein echter Sozi durch und durch. Arbeiterviertel eben. Er ist 13, als er mit seinen Eltern bereits im Haus am Bonifatiusplatz lebt und am 26. Februar 1919 nebenan ein gigantischer Trauerzug mit 100000 Menschen am Ostfriedhof eintrifft – zur Beerdigung des ermordeten Revolutionsführers Kurt Eisner. Politisch deutlich links zu stehen, das hat Tradition in der Familie, auch Walter Beckenbauer geht später in den Sechzigerjahren mit wallender Mähne als glühender Revoluzzer auf die Straße, er demonstriert gegen den Vietnamkrieg und schreit für Ho Chi Minh.

Sein kleiner Bruder tut das nicht.

Während Vater Franz meist müde von der Arbeit heimkommt, zwar nie massiv bösartig, aber doch chronisch grantig vor sich hinbrummelt und dann wegen seines maladen Rückens die Zeitung im Stehen liest, kümmert sich vor allem Mutter Antonie – vor dem Krieg einst Verkäuferin im jüdischen Kaufhaus Uhlfelder im Rosental – um die Vermittlung elementarer Grundwerte. Respekt, Toleranz, Nächstenliebe.

»Für sie gab es kein Schwarz, Weiß, keine Religion, keine Unterschiede in der Herkunft«, so Walter Beckenbauer später im Rückblick, »sie sagte immer: Es zählt nur der Mensch. Wenn sich jeder so verhalten würde, hätten wir ein paar Probleme weniger.«

Probleme hat der junge Franz Anfang der Fünfziger Jahre vor allem bei der Integration in die Bowazus, einer Clique von älteren Straßenkickern aus dem Jahrgang seines Bruders. Alle aus der Bonifatius-, Watzmann- und Zugspitzstraße, daher der Name, meist spielen sie fünf gegen fünf. Den größeren Burschen ist der Franz ein zu kleiner Pimpf, oft schicken sie ihn hinter das mit Schultaschen oder Tüten abgesteckte Tor, da ist er gut aufgeräumt und kann wenigstens immer das Spielgerät zurückapportieren, wenn einer mal wieder den Ball in Richtung Herzogstandstraße gejagt hat.

Wenn einmal aber einer aus der Clique fehlt, lassen sie den Franz von Bowazus Gnaden dann halt doch mal mitspielen. Und tatsächlich stellt sich der kleine Bruder vom Walter gar nicht so deppert an, wie alle befürchteten. Da ist einer, der kann ganz gut kicken. Und so geht der Franz im Frühjahr 1954 dann mal rüber zu den Sechsern.

Die Sechser, so nennen sie den SC 1906, dessen roter Hartplatz sich direkt vor dem Wohnhaus der Beckenbauers ausbreitet, von den Fenstern im vierten Stock in direkter Sichtachse zur Aussegnungshalle des Ostfriedhofs. Auf dem Sechser-Platz trifft der achtjährige Beckenbauer auf Franz Neudecker. Neudecker ist auch erst 33, manche nennen ihn einen Versehrten, andere ganz einfach einen Krüppel. Seit sie ihm im Krieg nach einer Verwundung ein Bein abgenommen haben, humpelt er auf Krücken durch die Gegend, trainiert aber immer noch die Jugend der Sechser, für die er früher selbst noch aktiv war. Oft spielt er noch mit, mit seinen beiden Krücken und dem einen Hax wetzt er schneller über den Platz als viele der Buben. Neudecker, der Tripod von Giesing.

Für offizielle Pflichtspiele bei den Junioren – damals erst für Kinder ab zehn – ist der Franz zwar noch zu jung. Neudecker aber erkennt das Talent und setzt ihn in Freundschaftsspielen immer wieder als Linksaußen ein. Beckenbauer ist überglücklich, nur das richtige Schuhwerk fehlt noch. Also geht er mit alten Skistiefeln aus Leder in die Hinterhofwerkstatt vom Schuhmacher Schramm, einem liebenswürdigen Handwerker, der dem Buben den Wunsch erfüllt und ihm unten an die Sohle Stollen dranschraubt.

Wenige Wochen später gibt es ein weiteres prägendes Erlebnis, die Weltmeisterschaft in der Schweiz. Am Radio lauscht Familie Beckenbauer beim Finale gegen Ungarn in Bern-Wankdorf der Reportage von Herbert Zimmermann, in der der Regen unaufhörlich herniederprasselt und kurz vor Schluss aus dem Hintergrund Rahn schießen müsste, bevor er dann auch schießt und trifft. Deutschland ist Weltmeister, eine ganze Nation berauscht sich in grenzenloser Kollektiv-Euphorie, was im Ausland eher zu skeptischer Rezeption führt, angesichts des lärmend patriotischen Überschwangs, der wie etwa beim Intonieren der ersten Strophe der Hymne durch deutsche Fans noch im Stadion die Rückkehr zu rasselndem Nationalismus befürchten lässt.

Die Söhne Beckenbauer aber sind einfach begeistert, und als die siegreiche Mannschaft von Trainer Sepp Herberger zwei Tage nach dem Endspiel mit einem Sonderzug zu einer Triumphparade in München eintrifft, macht sich Mama Antonie mit Walter und Franz auf den Weg hinunter über die Isar hinein in die Innenstadt. In der Schillerstraße aber, gut hundert Meter vor dem Hauptbahnhof, ist Schluss, das Gedränge zu dicht, sie kommen nicht weiter. Als sie schon wieder resigniert umkehren wollen, packt ein kräftiges Mannsbild den kleinen Franz und hievt ihn auf das Dach einer der vielen flachen Behelfsbaracken jener Tage.

Von dort sieht der achtjährige Bub in weiter Ferne Fritz Walter. Nicht ahnend, dass der nächste Kapitän, der eine deutsche Nationalmannschaft zum WM-Titel führen wird, dann er selbst sein wird. 20 Jahre und einen Tag später, fünf Kilometer entfernt im Münchner Norden.

Lange bleibt’s klää Fritzje, wie sie Walter in seiner pfälzischen Heimat Kaiserslautern rufen, Beckenbauers Vorbild. Im Frühjahr 1955 kommen die Weltmeister sogar nach München und bestreiten Testspiele gegen lokale Amateurmannschaften. Sie besiegen die TSG Pasing und den FC Hertha mit je 7:0, den SC Bajuwaren gar mit 15:0. Dann geht es in der Sportschule Grünwald gegen die Sechser. Die mit allen Stars besetzte Truppe von Sepp Herberger müht sich zu einem 2:1, noch in der 100-jährigen Vereinschronik des SC 1906 wird später von »einem heroischen Kampf« zu lesen sein.

Wenige Wochen danach sieht Franz Beckenbauer Fritz Walter wieder, im Fernsehapparat einer Giesinger Gaststätte: bei der Übertragung eines historischen Spiels, der bis heute diplomatisch und sportpolitisch wichtigsten Reise in der Geschichte einer deutschen Nationalmannschaft. Auf Einladung des sowjetischen Fußballverbands reist der Weltmeister nämlich im August 1955 nach Moskau – ein Gastspiel, das zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem Meilenstein in den Beziehungen der beiden Staaten zueinander wird.

Dass die Gastgeber die Begegnung mit 3:2 gewinnen, nebensächlich. Der herzliche Empfang der deutschen Mannschaft am Flughafen, der freundliche Beifall für die Gäste während des Spiels, das gemeinsame feierliche Bankett mit Spielern, Trainern, Funktionären und vor allem mit reichlich Wodka nach dem Spiel, über alle politischen Ideologien und Systemausrichtungen hinweg: Fast auf den Tag genau 13 Jahre nach dem Beginn der Schlacht um Stalingrad ist nichts mehr zu spüren von Hass und Aversion, vielmehr fast schon eine Art von Freundschaft und Verbrüderung. Das Präludium zu Adenauers bedeutsamem Staatsbesuch bei Chruschtschow keine drei Wochen später, als man sich auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen einigt – und auf die Freilassung der letzten 10000 deutschen Kriegsgefangenen.

Beckenbauer träumt schon damals davon, dass man auch ihn eines Tages als Nationalspieler im Fernsehen sieht. Deswegen möchte er den Verein wechseln, will er zu einem besseren Klub. Von den Sechsern zu den Sechzgern. Und nirgendwohin sonst. Denn der Franz ist ein Tiefblauer.

Immer wieder geht er an den Wochenenden die Tegernseer Landstraße hinauf ins Stadion an der Grünwalder Straße, das in jener Zeit zwar auch die Heimspielstätte des Lokalrivalen FC Bayern ist, trotzdem im Volksmund aber einfach nur »Sechzger Stadion« heißt. Der TSV 1860 hat die älteren Rechte, 1911 schon hatten sie hier ihren Sportplatz angelegt. Die Bayern sind für die Einheimischen im Viertel eher ein geduldeter Gast. Der Klub, 1900 im gutbürgerlich intellektuellen Dunst der Schwabinger Akademiker-Bohème gegründet und bis 1908 sogar nur zugänglich für Gymnasialabsolventen mit Abitur, gilt für viele noch als elitärer Schnöselklub. Giesing aber ist Sechzig, Giesing ist blau.

Von der Stehhalle aus, der unbestuhlten Gegengeraden, feuert Beckenbauer seine Helden an, vor allem das Offensiv-Duo Kurt Mondschein und Wiggerl Zausinger. Beide sind keine 1,70 Meter groß, man nennt sie daher auch den »Zwergerl-Sturm« oder auch die »Wunder-Stumpen«. Zausinger wird bis zu seinem Tod 2013 noch oft die Geschichte erzählen, wie er 1954 schon zum festen WM-Kader gehört habe, kurz vor dem Turnier in der Schweiz dann von Sepp Herberger aber gefeuert worden sei, weil er eines Abends ein Bier statt eines Wassers getrunken habe. Für ihn nominierte Herberger dann Helmut Rahn. Sonst hätte in Wankdorf vielleicht Zausinger aus dem Hintergrund geschossen.

Im April 1958, mit zwölf Jahren, steht der nach dem Urteil seiner Trainer sehr begabte, wenn auch noch etwas zu schmächtige Franz Beckenbauer zusammen mit einigen seiner Spezln also schon unmittelbar vor einem Wechsel zu den Löwen. Doch kurz zuvor kommt es zu einem historischen Vorfall, der sich nahtlos in die epochalen Ereignisse jener Zeit einreiht: In einem Jahr, in dem Charles de Gaulle Präsident in Frankreich wird und Johannes XXIII. Papst im Vatikan und in dem im Orbit die ersten sowjetischen Sputnik-Satelliten um die Erde schwirren – in diesem Jahr bekommt Franz Beckenbauer im Münchner Vorort Neubiberg nämlich eine Watschn. Eine Ohrfeige, die den Lauf der Münchner Fußballgeschichte für immer verändern wird. Mit einem Schlag.

Bei einem Jugendturnier stehen die Sechser im Endspiel gegen den TSV 1860. Leichtfüßig tänzelt Beckenbauer seinen Gegenspieler aus, umkurvt ihn unentwegt und nervt ihn damit kolossal. Gegen Ende des Spiels kommt es zu einem hitzigen Wortgefecht, dann langt der Sechzger zu. »Gib’s auf, du Depp, geh lieber Murmeln spielen«, so erinnert sich Beckenbauer später an die Worte, die zeitgleich zur flachen Hand des Widersachers auf ihn einprasseln.

Ein halbes Jahrhundert lang bleibt die Identität des Watschnmanns im Dunkeln, Beckenbauer selbst nennt irrtümlicherweise immer wieder den Namen »Bauernfeind«. Endlich aufgeklärt wird das Rätsel 2010, als sich der damalige Übeltäter im Bayerischen Fernsehen outet und sich zur Tat bekennt: der Gastwirt Gerhard König, inzwischen wohnhaft in Füssen im Allgäu. Das sorgt natürlich für schöne Wortspiele, als der König einst den Kaiser watschte und so weiter.

Beim gemeinsamen Friedensgipfel mit Beckenbauer im Olympiastadion erklärt König, er habe die mehr als 50 Jahre nur aus Angst geschwiegen. Aus Sorge, wütende Löwen-Fans könnten ihm sein Lokal, den »Adler« am Füssener Brotmarkt niederbrennen. Weil es ja letztlich ihm zu verdanken sei, dass der Franz nicht zu Sechzig wechselte. Im Kicker sagt König später: »Eigentlich muss er ja froh sein, dass ich ihm eine geschmiert hab.« Denn bei den Löwen hätte er es wohl nie so weit gebracht. Ansichtssache.

Tatsächlich ist es der Zwischenfall von Neubiberg, der Franz dazu bewegt, sich nicht solch einem »Grattler-Verein« – O-Ton Beckenbauer – anzuschließen. Sondern im Sommer 1958 dann doch dem FC Bayern. Als zweiter Beckenbauer in der Klubgeschichte.

Zuvor spielte nämlich schon sein Onkel für die Rothosen. Alfons Beckenbauer, Jahrgang 1908, der jüngere Bruder von Postobersekretär Franz. Lange Jahre Stammspieler beim FC Sportfreunde, mit denen er 1929 den DFB verlässt und sich in der Arbeitersportbewegung dem sozialdemokratischen Arbeiter-Turn- und Sportbund anschließt. 1931 nimmt der Fonsi mit der Münchner Stadtauswahl an der Arbeiterolympiade in Wien (Motto: »Die Proletarier der ganzen Welt vereinigen sich im Sport«) teil, in fünf Einsätzen für die deutsche ATSB-Auswahl schießt er acht Tore. Im Oktober 1932 wechselt er zum FC Bayern, kommt bis 1934 aber nur auf wenig Einsatzzeit, Alfons Beckenbauer bleibt fußballhistorisch eine Randnotiz. Anders als sein Neffe.

KAPITEL 2

Jungvater, Autowäscher undmit den Schwammerln im Irrenhaus:Die Anfangsjahre beim FC Bayern

Zum Mentor und Förderer des nun 13-jährigen Beckenbauer wird Rudi Weiß, der Jugendtrainer des FC Bayern. Geboren 1930 hofft er selbst auf eine große Karriere, mit 19 aber schon zerplatzen die Träume, als er sich eine schwere Knieverletzung zuzieht – und zwar bei einem der sogenannten »Kalorienspiele«, bei denen die Bayern über die oberbayerischen Dorfplätze tingeln und als Gage Kartoffeln, Eier, Fleisch und Milch nach Hause bringen.

In der C-Jugend spielt Beckenbauer Mittelstürmer, er schießt in der ersten Spielzeit 101 Tore, 17 davon allein bei einem 25:0. Damit verdient er dann auch sein erstes Geld, denn der Opa zahlt ihm, wie vor Saisonbeginn versprochen, für jedes Tor ein »Fuchzgerl«. Macht mehr als 50 Mark, dann stellt der Großvater die Zahlungen ein, mit der plausiblen Argumentation: »Wennst so weitermachst, kann ich mir mein Bier ja nimmer leisten.« Papa Franz kann dem Gekicke hingegen kaum etwas abgewinnen, weder im heimischen Flur noch auf dem Fußballplatz. Als er sich durchringt, doch einmal ein Spiel seines Sohnes zu sehen, resümiert er angesichts der schon damals aufgeregten Zwischenrufe übermotivierter Schnappatmungseltern: »Da geht’s ja zua wia im Irrenhaus.«

So wird Rudi Weiß immer mehr zur väterlichen Figur. Der Jura-Student hat ein gutes Auge für große Talente und kümmert sich sogar in der Freizeit um die Burschen. So entdeckt Weiß auch Torwart Sepp Maier, den er 1959 vom TSV Haar zum FC Bayern holt. Nach dem Tod von Rudi Weiß 2011 wird Maier davon erzählen, wie der Trainer sie zum Leberkäs-Essen in den Hofbräukeller in Haidhausen eingeladen habe, ins Kino oder mit ihnen zum Baden gefahren sei. Zu elft in seinem Auto, einem alten Borgward.

Doch Weiß kann auch ungemütlich werden, gerade, wenn junge Spieler zur Disziplinlosigkeit neigen, zum Aufmüpfigen. So wie der junge Franz. »Ein Manko hatte er«, wird Weiß einmal selbst im Rückblick sagen. »Er war jähzornig. Bei Fehlern seiner Mitspieler oder der Schiedsrichter reagierte er mit abwertenden Handbewegungen.« In der A-Jugend entwickelt der Franz erste Starallüren und zeigt sich als Überflieger frustriert über das spielerische Mittelmaß seiner Mannschaft, über die seiner Ansicht nach »kleineren, schwerfälligeren und am Ball ziemlich stümperhaften Jungen« und schimpft daher beim Trainer: »Was wollma denn mit soiche Schwammerl.« Damit kommt er bei Rudi Weiß genau an den Richtigen, der ihn aus disziplinarischen Gründen vier Wochen aus dem Kader verbannt und ihn stattdessen immer wieder das Auto waschen lässt. Den Borgward.

Mit Autos hat Beckenbauer auch sonst viel zu tun. Nach seinem Schulabschluss 1959 beginnt er eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann bei der Allianz in der Ludwigstraße. 90 D-Mark Gehalt im ersten Lehrjahr, 120 im zweiten. Eine prägende Zeit wird die Ausbildung weniger wegen seiner raschen Beförderung zum Sachbearbeiter in der Kfz-Abteilung, zuständig für die Versicherungspolicen mit den Endziffern sechs und sieben. Viel mehr wegen der Kollegin, mit der er sich anfreundet, der Ingrid aus der Schellingstraße. Sie gehen viel spazieren, ins Kino, kommen sich näher. Und schon bald ist die Ingrid schwanger. Am 20. Oktober 1963 kommt Sohn Thomas auf die Welt, das erste von Beckenbauers fünf Kindern. Der Franz ist da selbst noch ein halbes Kind, seit einem Monat gerade mal 18. Lange wird die Beziehung nicht halten.

Im Verein und in der Nachbarschaft sorgt sie für großes Aufsehen, die Nachricht vom »Bankert«, wie man unliebsame uneheliche Kinder in Giesing und dem restlichen Südbayern halt so nennt. Die Eltern aber stärken ihren Sohn, so wie auch Rudi Weiß, der einen geläuterten Franz zurück in die A-Jugend beruft – und damit allmählich auch beim DFB Begehrlichkeiten weckt.

Denn in den Führungskreisen des Deutschen Fußballbunds hat sich die Kunde von diesem Ausnahmetalent aus München schon längst herumgesprochen. Und so erhält Beckenbauer Anfang 1964 ein Einladungsschreiben, mit der Nominierung für das Junioren-Länderspiel im badischen Lörrach gegen die Schweiz am 8. März. Es wird trotz der großen Nervosität mit mächtig Magenschmerzen am Vorabend ein glänzendes Debüt. Unter Beobachtung von Sepp Herberger, der mit seinem Assistenten Helmut Schön Ausschau nach hoffnungsvollen Talenten für die Weltmeisterschaft 1966 hält, erzielt Beckenbauer vor 5000 Zuschauern beim 2:1-Sieg als Außenläufer beide Tore.

Euphorisch und erleichtert nimmt er nach Abpfiff im Lörracher Stadion Glückwünsche entgegen und schreibt Autogramme. Dass er aber auch noch Interviews gibt für Zeitungen und sogar fürs Fernsehen, versetzt einen DFB-Betreuer in Rage: Den dritten Mann hinter Herberger und Schön, den zeit seines Lebens knorrigen Dettmar Cramer, der in diesem Triumvirat das wohl größte Verständnis von Taktik und Strategie hat, der mehr als die beiden Mitstreiter Situationen analysieren und in ihre Bestandteile zerlegen kann – und dem der zu abrupte Verlust von Bodenhaftung, der Hang zur Selbstüberschätzung bei jungen Spielern ein Gräuel sind. Weshalb Cramer Beckenbauer nach dem Spiel zum Rapport bittet: »Sind Sie so naiv, oder meinen Sie, Sie können alles machen, was Sie wollen?«, schimpft er. »Was stellen Sie sich eigentlich vor, wer Sie sind? Puskás, di Stefano oder Pelé?« Nein, in dieser Kategorie spielt der 18-Jährige nicht. Noch nicht.

Beckenbauer schweigt, erschrocken über den Anpfiff seines Lehrmeisters, dann gehen sie wieder zusammen ins Bett. So wie immer in jener Zeit auf den Junioren-Lehrgängen des DFB. Cramer und Beckenbauer im Doppelbett, das ist eine pädagogische Maßnahme für den von Rudi Weiß in einem Brief an Cramer als »labiler Charakter« bezeichneten Jungvater. Cramer selbst sagt dazu später einmal, es sei für beide entspannter gewesen, als man von außen meinen könnte. »Es war damals ganz unverkrampft. Am ersten Abend vor dem Einschlafen hat Franz mir gleich einen schlechten Witz erzählt.« Die Zote als Eisbrecher.

Mag er ihn im direkten Gespräch auch kritisieren und maßregeln, bei öffentlichen Auftritten stellt sich Cramer schützend vor Beckenbauer. Vor einem UEFA-Jugendturnier in Holland Ende März 1964 mit Spielen gegen Schweden und gegen den Gastgeber erklärt Cramer, Beckenbauer habe »bei entsprechender Führung eine große Zukunft vor sich«. Er werde wie seine Mitspieler »durch großartige Disziplin angenehm« auffallen. Und auch die Süddeutsche Zeitung schreibt nach dem 2:1 gegen Schweden begeistert über den »jungen Münchner Beckenbauer«, den Schützen des ersten Treffers prophetisch: »Ein Außenläufer mit viel Zukunft.«

Gut zwei Monate später ist dann wieder von ihm zu lesen. Bei seinem Einstand in der Ersten Mannschaft der Bayern. Anfang Juni 1964 urteilt die SZ, dass der 18-jährige Beckenbauer »schon wie ein Alter gespielt« habe, nicht nur wegen seines Tores, beim 4:0 beim FC St. Pauli. In der Aufstiegsrunde zu jener 1. Bundesliga, in der die Bayern bis dahin noch gar nicht mitspielen dürfen.

Ein Blick zurück: Im Juli 1962 hatte der DFB nach langem Ringen endlich die Einführung einer obersten Spielklasse als landesweiten Fußball-Liga beschlossen. Bis dahin waren nach dem Krieg die Mannschaften in regionale Oberligen eingeteilt, deren bestplatzierte Vereine sich für die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft qualifizieren. Nun also die Proklamation der neuen Bundesliga mit 16 Mannschaften für die Saison 1963/64. Die Frage ist nur: Welche 16 Vereine dürfen überhaupt mitspielen? Schließlich bewerben sich bis Meldeschluss am 31. Dezember 1962 doch immerhin 46 der 74 Oberligisten für die Aufnahme als Gründungsmitglieder. Zur Ermittlung der Teilnehmer will sich der DFB eine Zwölfjahres-Gesamtwertung zum Maßstab nehmen, zurückreichend bis 1951. Doch die genauen Regularien bleiben intransparent und werden nicht kommuniziert. Als ein Mitglied des Ausschusses lapidar erklärt: »Wir haben für die Auswahl der Vereine verschiedene Tabellen in Reserve. Eine davon passt schon«, wittern viele Klubs reine Willkür. Klar ist aber auch: Alle Meister der einzelnen Oberligen in der letzten Saison 1962/63 qualifizieren sich automatisch für die neue Bundesliga. In der Staffel Süd triumphiert der TSV 1860 – und ist daher mit dabei.

Nach Bekanntgabe des Starterfelds regt sich Widerstand, alle 13 Klagen aber werden abgewiesen, darunter auch die des FC Bayern. Die Begründung: Es sei »nicht ratsam, zwei Vereine aus derselben Stadt aufzunehmen«. Und außerdem fehle dem FC Bayern »die sportliche Vergangenheit«. Eine sehr bemerkenswerte Argumentation.

Tatsächlich hatten die Bayern 1932 als bis dahin einziger Münchner Klub eine Deutsche Meisterschaft gewonnen. Damals noch unter seinem jüdischen Präsidenten Kurt Landauer, der 1933 vor den Nazis ins Exil floh, bevor er von 1947 bis 1951 ein Comeback als Vereinschef feierte. Und der Klub war 1957 auch DFB-Pokalsieger geworden, dazu dreimal in den letzten vier Oberliga-Jahren auf dem dritten Platz gelandet. Eine gute Lobby beim DFB haben die Bayern jedenfalls nicht, mögliche Nachwirkungen auch der finanziellen Turbulenzen aus der Saison 1957/58, als die Bayern nach einer Buchprüfung wegen zu hoher Zahlungen an die Spieler zu 10000 Mark Strafe und einem Punktabzug von acht Zählern verurteilt wurden.

Überhaupt ist es an sich doch eine graue Zeit bei den Roten. Freudige Ausnahmen sind rar, wie etwa der USA-Trip 1960, als die Mannschaft bei der bis dahin größten Auslandsreise der Geschichte bei einem internationalen Turnier in New York antritt, mit Teams wie dem englischen Meister FC Burnley, dem FC Kilmarnock aus Schottland oder OGC Nizza.

Der Alltag zu Hause gestaltet sich für die Bayern eher trist, und bei all dem Ärger über die verweigerte Aufnahme zum Start der Bundesliga ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen, dass der anfängliche Ausschluss aus der Eliteklasse letztlich ein Segen für den Klub sein wird, da sich nun eine junge Mannschaft in der Zweitklassigkeit so langsam finden und entwickeln kann.

Eine Mannschaft, die im Sommer 1964 trotz des Erfolgs beim Beckenbauer-Debüt im Stadion am Millerntor den Sprung in die Bundesliga zunächst noch verpasst. Am Ende der Aufstiegsrunde liegt man einen Punkt hinter Borussia Neunkirchen, vom blauen Lokalrivalen erntet man Spott und Hohn. Hans Schiefele, der langjährige Sportreporter bei der Süddeutschen Zeitung, wird später daran zurückdenken, wie er auf dem Flug zu einem Bundesliga-Auswärtsspiel des TSV 1860 neben Max Merkel saß und ihm der Löwen-Trainer in seinem Wiener Schmäh mit Blick aus dem Fenster zuraunte: »Hanse, da schau runter. Siehst du den Bus? Da fahren die Bayern nach Emmendingen.«

Emmendingen, das hämische Synonym für die Provinzialität, durch die sich die Bayern in der Spielzeit 1964/65 in der zweitklassigen Regionalliga schlagen müssen, mit Vereinen wie Pforzheim, Schweinfurt, Hof, während sich die Löwen selbst mit den damals besten Klubs des Landes messen dürfen, Dortmund, Bremen, Köln. Die Bayern nimmt man noch nicht so richtig ernst. Das wird sich ändern.

Mit einem Durchschnittsalter von gerade einmal 22 Jahren im gesamten Kader fegen die Bayern durch die Regionalliga. Jung, wild und rotzfrech. Es setzt reihenweise Kantersiege, 11:2 gegen Freiburg, 10:0 gegen Darmstadt, 9:1 gegen Ulm, 9:2 im Derby gegen Wacker, den Sendlinger Klub von der linken Isarseite. Und ein 10:0 gegen – richtig – Emmendingen. Für Furore sorgen die ganz jungen Burschen wie der 18-jährige Beckenbauer, dessen Vater damals noch den ersten Spielervertrag für ein Monatsgehalt von 160 Mark unterschreiben muss, volljährig ist man erst mit 21. Spieler wie Sepp Maier, der bereits mit 20 die klare Nummer 1 im Tor ist. Wie Gerd Müller, ein 18-jähriger Stürmer, den Präsident Wilhelm Neudecker und Geschäftsführer Walter Fembeck im Sommer 1964 für eine Ablösesumme von 4400 Mark vom TSV Nördlingen verpflichten – einen kleinen, gedrungenen Wusler, der in einer A-Jugend-Saison von den 204 Toren der Mannschaft allein 180 erzielt, der auch vom 1. FC Nürnberg und dem TSV 1860 umworben wird, der sich dann aber doch für die Bayern entscheidet.

Der Franz, der Sepp, der Gerd. In den Annalen des FC Bayern eine auf immer und ewig heilige Dreifaltigkeit, eine legendäre Achse, die den Klub in den kommenden zwölf Jahren zur weltbesten Mannschaft formt und führt.

Die Saison in der Regionalliga Süd beschließen die Bayern natürlich als Meister, mit 55:17 Punkten und sagenhaften 146:32 Toren. Und diesmal sind sie auch in der folgenden Aufstiegsrunde nicht zu bremsen, mit einem 8:0 am letzten Spieltag Ende Juni bei Tennis Borussia Berlin verlässt der Klub endgültig die Zweitklassigkeit, die Partie steht dabei kurz vor Schluss schon vor dem Abbruch, als mitgereiste Anhänger aus München in glückseliger Begeisterung den Platz stürmen.

Als die Bayern am Abend des Triumphs gegen 20:30 Uhr mit einer vierstrahligen Boeing wieder in München landen, erwarten sie am Flughafen 6000 begeisterte Fans, Hunderte davon stehen auf dem Rollfeld. Bevor es zur großen Feier in den Salvatorkeller auf dem Nockherberg geht, intonieren die Anhänger in Abwandlung eines altbekannten Weihnachtslieds: »O Ohlhauser, o Ohlhauser, wie schön sind deine Tore.«

Rainer Ohlhauser ist damals einer der wesentlichen Garanten für den Aufstieg. Seit 1961 ist er bei den Bayern, mit seinen 23 Jahren schon ein erfahrener Routinier und mit 200 Mark Monatsgehalt einer der Besserverdiener. Als gelernter Stahlbauschlosser hilft er beim Wiederaufbau des im Krieg zerstörten und 1963 wieder eröffneten Nationaltheaters mit, zu den Spielen im Grünwalder Stadion fährt er von seiner Wohnung in Schwabing immer mit der Trambahn, in der Hand die Sporttasche mit den Fußballschuhen. Mit 49 Toren ist er in jener Saison der Top-Torschütze im Team, und die bessere Hälfte eines gefürchteten Sturm-Duos zusammen mit Gerd Müller (39 Treffer).

2015 wird sich Ohlhauser in einem langen persönlichen Telefonat mit dem Autor zurückerinnern an die jahrelange Häme der Sechzger-Fans unter den Kollegen in seiner Stahlbaufirma namens Franz. Mit den Bayern, unkten sie, das werde ja nie was. »Dass wir die zwei Jahre nach 1963 erst noch in der Regionalliga spielten«, resümiert auch Ohlhauser zum 50. Jahrestags des Aufstiegs, »war letztlich ein Glücksfall. Hätten wir von Anfang an Bundesliga gespielt, wer weiß, wie das gelaufen wäre.«

Die Euphorie über die Qualifikation für die Bundesliga ist groß, zu sehen ist das auch an einem regnerischen Samstag Mitte Juli, als sich in aller Herrgottsfrüh um sieben Uhr rund 480 Bayern-Fans in der Kogelkopfstraße von Bad Wiessee einfinden. Vor dem Haus von Bayern-Präsident Wilhelm Neudecker.

Wilhelm Neudecker, geboren 1913 in Straubing, ein gelernter Maurer, der nach dem Krieg in München zu einem schillernden Bauunternehmer und Immobilienmogul aufsteigt, mit engen Kontakten in die Politik. 1955 wird er von seinem Friseur als Mitglied beim FC Bayern angeworben, 1962 übernimmt er das Präsidentenamt. Als niederbayerischer Sturschädel führt er den Klub autoritär und patriarchalisch, Kritik ist unerwünscht, Widerspruch inakzeptabel. Franz Beckenbauer sagt zu seiner aktiven Zeit einmal den schönen Satz: »Wir sind ein demokratischer Verein, aber gemacht wird, was der Präsident bestimmt.« Und auch Neudecker selbst offenbart sein Verständnis von Meinungsvielfalt und Pluralismus mit dem Satz: »Ich lasse in meinem Vorstand immer ganz demokratisch abstimmen. Danach schaue ich mir den Beschluss an, und wenn er mir gefällt, ist es gut. Gefällt er mir nicht, dann mache ich’s eben anders.« Neudecker ist ein knallharter Geschäftsmann, der jeden Pfennig dreimal umdreht, auf Mitgliederversammlungen sagt er: »Wenn’s ums Geld geht, bin ich Schotte.«

Im Sommer 1964 sagt Neudecker aber noch etwas anderes: »Wenn wir im nächsten Jahr in die Bundesliga aufsteigen, dann marschiere ich um den Tegernsee.« Nun, an diesem nasskalten Sommer-Samstag, löst er das Versprechen ein, im Beisein von Hunderten Fans und sogar einer Abordnung von Jugendspielern des TSV 1860, die mit einem Transparent anreisen: »Wir freuen uns mit dem FC Bayern.« Selbstredend, dass sich die Blauen trotzdem ganz am hinteren Ende des Prozessionszugs einreihen müssen. In der Unterschrift zu einem Bild, das den Pilgermarsch neben einer Weide mit heimischem Fleckvieh zeigt, schreibt die Süddeutsche Zeitung in ihrer Montagsausgabe: »Eine neugierige Kuh wundert sich über die große Kolonne der Samstagmorgen-Spaziergänger.«

Die 22 Kilometer lange Wallfahrt dauert fünf Stunden und endet bei einer Brotzeit im Hotel »Zur Post«. Als zum Abschied Blasmusik und Gstanzln erklingen, gelobt Neudecker: »Und wenn wir nächstes Jahr Meister werden, dann geh ich um den Bodensee.« Neudecker hat viel vor, er hat große Visionen, so wie später auch ein anderer, ebenfalls in Bad Wiessee residierender Bayern-Präsident. Und auch Neudecker teilt wie nach ihm einmal Uli Hoeneß die Welt in Schwarz und Weiß, in Bayern-Freunde und Bayern-Feinde; eine differenzierte Betrachtungsweise in nuancierten Zwischentönen, dazu sind beide nicht imstande. Gerade von den Medien fühlt sich Neudecker verfolgt, einmal klagt er über die aus seiner Sicht einseitig negative Berichterstattung: »Alles, was dem FC Bayern schaden kann, wird gedruckt.« Ein Satz, der getrost auch von Uli Hoeneß stammen könnte.

KAPITEL 3

Mit Tschik, Sepp, Gerd und einemObsthändler als Manager: Das Länderspiel-Debütund der erste Titel

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