Dann zeige ich es euch eben auf dem Platz - Alexandra Popp - E-Book

Dann zeige ich es euch eben auf dem Platz E-Book

Alexandra Popp

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Beschreibung

Fußballerin, Vorbild, Mensch: Die große Autobiografie von Ausnahmesportlerin Alexandra Popp Alexandra Popp: Eine einzigartige Karriere im Frauenfußball Im Rahmen der Fußball-Weltmeisterschaft 2024 in Australien und Neuseeland blickt Deutschland erneut auf sie:  Alexandra Popp, Stürmerin und Kapitänin der Nationalmannschaft. Als Fußballerin begeistert sie mit ihren Toren, ihrem Kampfgeist und ihrer mitreißenden Persönlichkeit nicht nur Fußballfans, sondern ein ganzes Land. Mit dem Vfl Wolfsburg gewann Popp alle wichtigen Trophäen im Clubfußball, mit der Nationalmannschaft wurde sie Olympiasiegerin und schoss Deutschland ins EM-Finale 2022. Eine Biografie mit Höhen und Tiefen Der Weg an die Spitze war nicht einfach – immer wieder musste sie mit Hindernissen umgehen, immer wieder musste sie bittere Verletzungen, persönliche Rückschläge aber auch strukturellen Missständen im Frauenfußball überwinden. Doch Alexandra Popp ist immer ihren ganz eigenen Weg gegangen – sie begeistert nicht nur auf dem Platz mit ihrer Präsenz, sondern auch abseits des Rasens. Niemals nimmt sie ein Blatt vor den Mund, weist auf Missstände im Frauenfußball hin und setzt sich gegen Diskriminierung ein. Ein Blick hinter die Kulissen des Profifußballs So zeigt die Ausnahme-Stürmerin, dass es ihn noch gibt, den Fußball, der nicht nur mit Geld, sondern mit Leidenschaft für das schöne Spiel zu tun hat. In ihrer ehrlichen, authentischen und schonungslosenAutobiografie gibt sie intime Einblicke in ihre Karriere, blickt hinter die Kulissen des Profifußballs und erzählt von ihrem Leben abseits des Rasens.

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Seitenzahl: 474

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Alexandra Popp

mit Mara Pfeiffer

Dann zeige ich es euch eben auf dem Platz

Wie ich meinen Traum lebe

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Ausnahme-Stürmerin Alexandra »Poppi« Popp ist die herausragende Fußballerin ihrer Generation. Von Beginn an ist sie ihren ganz eigenen Weg gegangen und musste dabei mit zahlreichen Rückschlägen umgehen. Ihre Karriere ist ebenso außergewöhnlich wie ihr Leben neben dem Fußball. Egal, ob sie sich gegen die Jungs auf dem Bolzplatz durchsetzen, ihre Tierpflegerinnenausbildung im Zoo mit dem professionellen Training vereinbaren oder sich nach Verletzungen wieder zurückkämpfen musste: Die Geschichte von Alex Popp ist eine über die Leidenschaft für den Fußball, die Liebe zum Spiel und das große Durchhaltevermögen, das es braucht, um an die Spitze zu kommen und dort zu bleiben.

Inhaltsübersicht

Dann zeige ich es euch eben auf dem Platz

Prolog

Allein unter Jungs

Furchtloses Klettermädchen

Anders als die anderen

Plötzlich Turnerin

Nur nicht unterkriegen lassen

In der Natur

Die Legende vom Wildschwein

Vierbeiniger Familienzuwachs

Der Seitenwechsel

In den Auswahlmannschaften

Der Beginn von etwas ganz Großem

Etwas geht zu Ende

Heimscheißerin auf Abwegen

Eine unvergessliche Auswärtsfahrt

Ans andere Ende der Welt

Und nun zum Sport

Die erste Europameisterschaft

Alles passiert gleichzeitig

Ein echtes Frauenteam

Zurück bei den Kiwis

Meine erste Weltmeisterschaft

Eine atemlose Zeit

Wir fahren nach Berlin

Eine neue Trainerin

Ein echter Quantensprung

Die unerwartete Krönung

WM in Deutschland, die Erste

I Am The Golden Girl

Zurück im Ligaalltag

Große Momente ohne Happy End

Ein Abschied auf Raten

Bildteil

Ein neues Kapitel beginnt

Wiedersehen mit der Jogginghose

Ein echter Tapetenwechsel

Ungeplanter Stotterstart

Schulzi, der Aufschneider

Eine Herausforderung für alle Beteiligten

Noch einmal die Schulbank drücken

Schulzi ist kein Frauenversteher

Wer bringt hier wen in den Stall?

Meisterin ohne Schale

Kampf gegen die Zeit

Die bitterste Pille

Mission Titelverteidigung

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Das alles entscheidende Tor

Bring mich zum Kunstrasen

Eine gemischte Vorrunde

Spiele unter Tage

Zu viel Zeit in Krankenhäusern

Ein Turnier wie kein anderes

Urlaub und Vorbereitung

Goldene Nächte im Maracanã

Der EM-Fluch schlägt zu

Fußball unterm Regenbogen

Eine folgenschwere Geste

Patchi-Baby und Horst, der Held

Kollektives Aufatmen

Paris, Paris, wir fahren nach Paris

Nicht mehr als ein Übergang

Den Pauseknopf gedrückt

Den EM-Fluch verschieben

Rückschlag und neue Hoffnung

Das ganz Helle und das ganz Dunkle

Und plötzlich der Abschied

Ein unerwartetes Jubiläum

Epilog und Danksagung Alexandra Popp

Danksagung Mara Pfeiffer

© Thomas Böcker/DFB

Prolog

Es reicht nicht.

Ich kann nicht spielen.

Im ersten Moment hatte ich beim Aufwärmen eine kleine Hoffnung. Aber jetzt zwickt der verdammte Oberschenkel überdeutlich.

Es wäre nicht fair gegenüber meinen Mitspielerinnen, so anzutreten. Einfach mal zu schauen, das ist keine Option. Dafür ist dieses Spiel zu wichtig. Unser Endspiel.

Diese Europameisterschaft ist mein Turnier.

Nachdem ich bisher vor jeder EM verletzt passen musste, hat es nun endlich geklappt.

Und wie!

Ich bin die Kapitänin der Nationalelf und gebe alles für mein Team. Dafür muss ich nicht mal über meine Grenzen gehen, weil ich keine Grenzen spüre. In den bisherigen Spielen habe ich aus allen Lagen getroffen. In mir ist etwas aufgegangen, was ich so noch nicht kannte. Alles ist erleuchtet. Und dieses Licht strahlt für unser Finale. Zumindest dachte ich das.

Doch in diesem Moment ist mir klar, dass ich mein Team in diesem Endspiel nicht aufs Feld führen kann. Mir bleibt heute nur die Bank.

Ich suche den Rasen nach unserer Trainerin Martina ab. Wie viele besondere Momente habe ich mit ihr während meiner Karriere schon erlebt? In kurzer Abfolge schießen mir Bilder von unvergesslichen Spielen durch den Kopf.

Als sich unsere Blicke über die anderen Spielerinnen hinweg treffen, weiß ich, dass die Trainerin meine Entscheidung auch ohne Worte versteht.

Wir laufen aufeinander zu und treffen uns in der Mitte des Platzes. Martina schaut mich an, ich nicke. Kurz drückt sie mich an sich.

»Jetzt spielen wir für dich.«

Allein unter Jungs

Am Anfang ist alles ein Spiel. Mein Spiel. Und ich? Bin die Puppe. Ich bin zwar das einzige Mädchen im Team, aber es gibt einen Alex, meinen besten Freund und Nachbarn. Also nennen die Jungs mich: Poppi. Und mein Trainer Horst Westermann macht daraus für sich: Puppe. Heute reagiere ich auf Poppi eher als auf Alex oder Alexandra. Aber es gibt nur einen einzigen Menschen, der Puppe zu mir sagen darf – und das ist Horst.

 

Eigentlich fängt alles sogar noch früher an.

Aus der allerersten Zeit weiß ich vieles nur durch Erzählungen. Fußball ist für unsere Familie Normalzustand. Mein Papa Andreas spielt beim TuS Wengern im Mittelfeld, als mein Bruder Dennis und ich klein sind. Der dortige Fußballplatz ist wie mein erstes Zuhause: Ich bin quasi am Mittelkreis geboren. Vom ersten Tag an verbringe ich hier viel Zeit. Bei Papas Spielen am Wochenende sind wir Dötze oft dabei. Wenn wir die Spiele mal nicht sehen können, kommen wir später mit Mama zum Fußballplatz. Unsere Eltern trinken ein Bier in der Vereinskneipe, Dennis flitzt draußen mit dem Ball herum, und ich krabble und tapse hinterher.

So merken wir gar nicht, wenn es dunkel wird. Irgendwann sammeln Mama und Papa uns ein, und wir gehen alle zusammen nach Hause.

Mein Bruder ist dreieinhalb Jahre älter als ich. Als er mit dem Fußball anfängt, ist er fünf oder sechs, ich bin entsprechend jünger.

Unsere Familie wohnt in Silschede im südlichen Ruhrgebiet, wo ich meine Kindheit und den Großteil meiner Jugend verbringe. Unser Verein ist der FC Schwarz-Weiß Silschede 1926. Ich bin fast jeden Tag dabei, wenn Dennis mit seiner Mannschaft kickt. In dieser Zeit lerne ich Horst kennen, der meinen großen Bruder schon trainiert, bevor er später mein Trainer wird.

Das Training der Kleinsten findet in der Halle statt. Wenn Dennis und sein Team dem Ball hinterherjagen, muss Mama mich zurückhalten, damit ich nicht aufs Feld renne. »Dich musste man manchmal schon anbinden«, erzählt sie heute, wenn wir darüber reden. Sobald ein Ball in der Nähe ist, möchte ich mitmischen. Ich fühle mich wie magisch davon angezogen. Wenn wir als Familie am Wochenende zum Sportplatz gehen, weil Papa und Dennis Spiele haben, bestehe ich darauf, Fußballschuhe anzuziehen und einen Ball mitzunehmen. Am liebsten würde ich nichts anderes machen, als zu kicken.

 

»Horsti!« Ich winke Horst begeistert. Dennis hat ein Spiel, und Mama und ich wollen ihn unterstützen. Das Team spielt auf kleine Tore, die an den Querseiten aufgebaut sind. Horst steht mit einer Gruppe Eltern in einem der regulären Tore und unterhält sich. Er reagiert nicht auf mein Rufen. Als wir uns dem Spielfeld nähern, lasse ich Mamas Hand los.

»Pass auf, dass du nicht hinfällst«, sagt Mama, weil ich schon wieder anfange zu rennen. Ich nicke eifrig und winke Horst noch mal.

»Ho-hooorst!«

Er sieht mich immer noch nicht, also renne ich einfach weiter, in seine Richtung. Da dreht er sich plötzlich zu mir um.

»Puppe, gehst du vom Feld runter!«, ruft er.

Ich bleibe irritiert stehen. Um mich rum rennen die Jungs aus Dennis’ Mannschaft und das gegnerische Team. Mein Herz klopft wie wild.

»Puppe!«, ruft Horst wieder. »Du kannst doch im Spiel nicht aufs Feld gehen. Runter da!« Von der anderen Seite höre ich meine Mama.

»Alexandra, runter vom Platz!«

Mir schießen die Tränen in die Augen, und ich muss heulen. Die Jungs sind stehen geblieben, alle Blicke sind auf mich gerichtet. Ich weine jetzt richtig doll und schaue verzweifelt zu Horst. Er gestikuliert mit den Händen. In seinem warmen Blick sehe ich, dass er nicht böse mit mir ist, und in dem Moment verstehe ich auch, was ich machen soll.

In Windeseile flitze ich vom Feld und umrunde es außerhalb der Markierung, um zu Horst zu kommen. Er drückt mich.

»Du kannst doch nicht mitten durchs Spiel rennen, Puppe«, flüstert er mir ins Ohr, während ich die Arme fest um ihn schlinge. Ich murmle eine Entschuldigung und schiebe meine Hand in seine. So laufen wir die Seitenlinie hoch und runter. Horst ruft den Jungs Anweisungen zu, ich stapfe neben ihm her, die Augen immer auf den Ball fixiert.

»Wann ist denn endlich Halbzeit?«, frage ich Horst.

»Noch zwanzig Minuten.«

Ich seufze. Ich kann die Uhr noch nicht lesen, aber zwanzig Minuten sind eine wirklich lange Zeit.

Dennis steht im Tor. Gerade hat er einen Ball richtig gut abgewehrt. Der Junge, der geschossen hat, schimpft laut, und ich muss kichern. Horst und ich sind wieder bei den Eltern am Kopfende des Platzes angekommen. Er will stehen bleiben, aber ich ziehe ihn an der Hand, um zu signalisieren, dass ich weitergehen will.

»Du musst dich immer bewegen, was, Puppe?« Horst grinst.

»Sind denn die zwanzig Minuten bald vorbei?«, frage ich.

»Drei musst du noch.«

Mein Herz macht einen Hüpfer. Drei Minuten sind überhaupt nicht lang!

Längst warte ich ungeduldig darauf, endlich auch im Verein spielen zu dürfen. Aber noch ist es nicht so weit, sagen die Erwachsenen. Deshalb bin ich froh für jede Minute auf dem Platz.

Endlich pfeift der Schiedsrichter zur Halbzeit. Die Jungs kommen vom Feld gelaufen, ich stürme zwischen ihnen hindurch in die andere Richtung. Im Mittelkreis liegt der Ball. Den schnappe ich und marschiere zu einem der großen Tore. Kurz davor lasse ich ihn in meinen Lauf fallen. Mit den Füßen bewege ich den Ball bis in den Sechzehner. Dann haue ich ihn aufs Tor.

Er knallt gegen die Latte und kommt zu mir zurück. Einen Moment bin ich überrascht, dann halte ich den Ball mit dem Fuß auf und nagle ihn im zweiten Anlauf ins Tor. Ich reiße die Hände jubelnd in die Luft und drehe mich um, weil ich wissen möchte, ob Horst mich gesehen hat. Aber er und die Jungs stecken die Köpfe zusammen, also hole ich die Kugel aus dem Tor, laufe bis zur Mittellinie und starte wieder in Richtung Kasten. Den Ball spiele ich mit beiden Füßen. Als die weiße Linie des Sechzehners in mein Blickfeld kommt, dresche ich ihn mit aller Wucht in Richtung Tor. Diesmal treffe ich direkt.

»Stand ja gar keiner drin«, sagt ein Junge, der plötzlich neben mir aufgetaucht ist, unbeeindruckt.

»Stell du dich doch rein!«, fordere ich ihn auf.

Er schaut sich um. Als er sieht, dass die Teams gerade zurückkommen, geht er stiften. Ich schnappe zufrieden den Fußball aus dem Tor, trage ihn zurück an den Mittelkreis und trotte an den Jungs vorbei zu Horst.

Furchtloses Klettermädchen

Mein Geburtstag ist im April. In dem Sommer, nachdem ich fünf werde, darf ich endlich im Verein spielen. Mama verbringt nun noch mehr Zeit am Sportplatz, weil sie nicht nur Dennis zum Training fährt, sondern auch mich. Ich bin total glücklich, endlich zu einem Team zu gehören.

Mir selbst fällt erst mal nicht auf, dass ich das einzige Mädchen bin. Oder zumindest ist es nichts, worüber ich mir Gedanken mache. Wenn ich mit Horst über diese erste Zeit spreche, erzählt er gern, dass ich immer Meine Jungs und ich gesagt habe, wenn es um das Team ging.

»Du warst von Anfang an gleichwertig«, sagt er. »Und sehr, sehr schnell eben einen Tick weiter.«

Wir trainieren mit unseren vier, fünf Jahren die meiste Zeit in der Turnhalle und haben hin und wieder Hallenturniere. Außerdem treten wir regelmäßig in der sogenannten Pampersliga Sechs gegen Sechs an, mit einem von uns im Tor, den anderen fünf im Feld. Das Hallentraining halten manche der Kinder noch nicht komplett durch. Irgendwann lässt bei ihnen einfach die Konzentration nach, und sie setzen sich mitten in der Halle auf den Boden, fangen an zu spielen oder an ihren Schnürsenkeln zu zoppeln. Manche legen sich für eine Weile hin, schauen an die Decke und machen gar nichts.

Wenn das passiert, klettere ich die Holzleitern an der Hallenwand hoch oder versuche, an einem der dicken Seile so weit wie möglich in Richtung Decke zu kommen. Stillstand, das ist überhaupt nichts für mich.

»Pass auf, dass du nicht abstürzt, Puppe«, höre ich Horsts mahnende Stimme, als ich in Windeseile die Leiter mit den großen Stufen hochsteige.

Ich drehe mich zu ihm um, strecke ein Bein in der Luft aus, halte mich mit der rechten Hand an einer dicken Holzstrebe fest und winke fröhlich mit der linken. Dann mache ich einen großen Schritt auf die nächste Stufe. Das Holz fühlt sich gut an, und ich habe keine Angst. Schließlich klettere ich im nahen Wald auch auf Bäume, und mir ist noch nie etwas passiert. Erst wenn die Jungs endlich weiterspielen, beende ich die Kletterei und komme wieder runter. Am liebsten überwinde ich das letzte Stück mit einem großen Sprung. Dann schnappe ich mir den Ball und flitze direkt wieder Richtung Tor.

Im Training treffe ich so gut wie jedes Mal. Es ist fast schon egal, wie und aus welchem Winkel ich schieße, irgendwie landet der Ball am Ende immer im Kasten. Aber in den ersten Spielen will es mit einem Tor einfach nicht klappen. Doch dann kommt mein großer Moment. Mein Freund Alex, wir nennen ihn inzwischen Ali, spielt mir den Ball zu, und ich schieße ihn aus der Drehung ins Tor. Ich kann richtig dabei zuschauen, wie er in einem großen Bogen in den Kasten fliegt und das Netz ausbeult.

Begeistert reiße ich die Arme in die Luft und drehe ab in die Richtung, in der ich Horst vermute. Ich freue mich so sehr, dass ich gar nicht weiß, wohin mit mir. Das erste Tor!

Endlich habe ich mein erstes Tor gemacht! In einem Spiel! Das ist so toll. Schließlich kommt Horst in mein Blickfeld, er lacht. »Puppe«, sagt er. »Das war ein Eigentor. Unseres ist auf der anderen Seite.«

 

Am Wochenende fährt Dennis mit seiner Fußballmannschaft weg – und ich darf mit. Darüber komme ich aus dem Jubeln gar nicht heraus. Papa muss arbeiten, deswegen kann ich nicht zu Hause bleiben. Mama ist bei dem Trip als Begleitperson dabei. Alle Omas und Opas haben an den Tagen schon andere Pläne und können nicht nach mir schauen. Also fragt Mama beim Verein, ob sie mich mitnehmen darf, und ein paar Tage später ist es beschlossene Sache. Mein Bruder ist deutlich weniger begeistert als ich, aber das stört mich kein bisschen.

Am Morgen der Abreise bin ich früh wach. Nach dem Frühstück kann ich gar nicht glauben, dass ich erst noch in den Kindergarten muss! Wir fahren erst los, wenn die Jungs aus der Schule kommen, so ist es besprochen. Den ganzen Vormittag bin ich total ungeduldig. Als es endlich an der Zeit ist, zu gehen, hüpfe ich wie ein Flummi aus dem Gebäude.

Mama holt mich ab, wir sammeln Dennis vor der Schule ein und treffen die anderen Eltern und Kinder beim Vereinsheim. Dann geht es wirklich los!

Sobald wir unterwegs sind, fühle ich mich prima. Ich fahre gern Auto, weil es so viel zu gucken gibt. Es regnet jetzt heftig, aber wir gleiten ganz ruhig über die Straßen. Als wir an der Jugendherberge ankommen, klart es gerade auf. Wir wollen abends grillen, dafür schleppen die Erwachsenen alle möglichen Sachen aus dem Auto. Ich habe inzwischen ein großes Klettergerüst entdeckt. Es ist aus dicken, ineinander verschlungenen Holzstämmen – und ziemlich hoch.

Das Holz glänzt feucht vom Regen. Ich suche Stellen, an denen ich mich festhalten und hochziehen kann. Das funktioniert gut, obwohl die Stämme sehr dick sind.

Immer wenn ich eine neue Ebene erreicht habe, halte ich kurz an und wische mir die Hände an der Hose ab. Beides, Hände und Hose, sind mittlerweile ganz schön dreckig, meine Hose ist außerdem an mehreren Stellen feucht. Aber ich bin schon fast ganz oben. Die anderen Kinder spielen weit unter mir Fußball, die Erwachsenen bauen den Grill und Sitzgelegenheiten auf. Ich schaue nach oben. Von einem dünnen Holzstamm, der wie ein Arm in die Luft ragt, tropft Regenwasser auf mich runter, das sich dort gesammelt hat. Ich wische mir mit dem Ärmel meines Sweatshirts durchs Gesicht.

Die schnelle, etwas unkoordinierte Bewegung jagt mir einen Schreck in den Magen. Ich drücke mich mit dem Oberkörper an den Stamm, schaue noch mal nach unten zu den anderen und wieder hoch. Mich trennt nur noch ein kurzes Stück vom obersten Teil des Klettergerüsts, das wie eine Bergspitze über mir thront. Mit der Zunge zwischen den Lippen greife ich nach dem Stamm über mir und ziehe meinen Körper eine Etage höher. Vorsichtig richte ich mich auf und schaue mich zufrieden um. Von hier kann ich alles und alle genau sehen, und noch immer bin ich nicht ganz oben.

Ich hebe einen Fuß auf den nächsten Stamm und lasse mein Bein darüber gleiten, dann greife ich um und will mich näher an das Holz ziehen. Doch die Stelle, nach der ich fasse, ist besonders nass. Ich merke es zwar, habe meinen sicheren Stand aber schon aufgegeben. Als ich mit den Händen abrutsche, tritt mein Fuß ins Leere, und das obere Bein liegt zu locker auf dem Holz, um mir Halt zu geben. Ich stürze mit Kopf und Händen zuerst – und falle dabei so ungünstig in eine Lücke des Klettergerüsts, dass keins der zwischengezogenen Netze meinen Sturz aufhält. Stattdessen segle ich an allem vorbei, bis ich unten hart im Sand aufschlage. Meinen Arm begrabe ich im Aufkommen unter meinem Körper, und mir fährt ein gemeiner Schmerz von der Schulter bis in meine Finger. Einige der Erwachsenen haben meinen imposanten Sturz beobachtet und kommen zu mir gerannt. Wie ich da so im Sand liege, ist mir ziemlich zum Heulen zumute.

Ich bin sehr froh, dass meine Mama da ist. Sie drückt sich an den anderen vorbei zu mir durch, dreht mich vorsichtig auf den Rücken und redet auf mich ein. Irgendwie beruhigt mich ihre Stimme. Dann kommt auch Horst und hebt mich hoch. Er trägt mich zu der Sitzgruppe am Grill, Mama läuft neben uns her und hält die Hand, die ich nicht unter mir eingeklemmt habe. Einen Moment hoffe ich, der Schmerz könnte gleich nachlassen, sodass ich wie geplant das Wochenende mit Fußball und den Jungs verbringen kann.

Doch es stellt sich raus, dass ich mir den Arm gebrochen habe. Als ich noch jünger war, habe ich mir mal das Sprunggelenk gebrochen, weil ich im Bett von Mama und Papa zu übermütig getobt habe und dabei mit dem Fuß in der Besucherritze stecken geblieben bin. Und es ist noch gar nicht lange her, dass ich beim wilden Schaukeln so gegen das Gestänge geknallt bin, dass ich mir zum ersten Mal einen Arm gebrochen habe.

Nun hat es den auf der anderen Seite erwischt. Das Wochenende, auf das ich mich so sehr gefreut habe, geht für mich damit früh zu Ende. Das tut jetzt sogar Dennis leid, auch wenn der mich anfangs am liebsten nicht dabeigehabt hätte. Einen kleinen Trost gibt es immerhin: Ich bekomme einen richtigen Gips um dem Arm. Und als die Jungs am Sonntagabend zurück sind, lasse ich sie alle darauf unterschreiben.

Anders als die anderen

Es dauert eine Weile, bis ich wieder spielen kann, und das ist richtig schlimm für mich. Irgendwann darf ich endlich zurück ins Training und an den Turnieren teilnehmen. Ich liebe es, wenn wir an Wochenenden auswärts fahren. Obwohl nur sechs von uns gleichzeitig auf dem Platz stehen, sind wir oft mit mehr als einem Dutzend Kinder unterwegs. Alle wollen dabei sein.

Die Eltern bilden Fahrgemeinschaften. Meistens sind Mama oder Papa dabei, manchmal muss Papa arbeiten und Mama fährt mit Dennis, dann sammeln mich andere Eltern ein und nehmen mich mit zu den Spielen.

Ich bin morgens abfahrbereit, kaum dass ich mir das letzte Stück Nutella-Brötchen in den Mund gesteckt habe. Mama erinnert mich daran, dass ich noch Zähne putzen muss, aber eigentlich bin ich dafür viel zu zappelig.

Von meinem Platz auf der Rückbank des Autos beobachte ich, wie die Landschaft an uns vorbeifliegt. Anfangs kenne ich noch jeden Baum und jedes Haus, dann kommt mir alles nur noch vage bekannt vor, und schließlich weiß ich, wir müssen bald da sein, denn ich habe die Straßen noch nie gesehen, über die wir fahren. Immer geht es irgendwann runter von der Landstraße und durch einen der Orte, die alle ähnlich aussehen. Ich kann noch nicht lesen, aber die Straßenschilder, auf denen »Sportplatz« steht, erkenne ich selbst dann, wenn kein Ball darauf abgebildet ist. Als wir vor einer großen Turnhalle halten, bin ich die Erste, die aus dem Auto klettert. Ungeduldig warte ich neben dem Kofferraum darauf, meine Sporttasche in Empfang zu nehmen.

Die andere Mannschaft ist auch schon da. Eine kleine Gruppe der Kinder steht eng beieinander, sie flüstern. Schließlich löst sich einer aus dem Kreis und stellt sich uns in den Weg.

»Spielt bei euch etwa ein Mädchen?«, fragt er spöttisch.

Erschrocken halte ich die Luft an. Meine Freunde nicken, sie wirken erstaunt, auch ein bisschen betreten. Ich spüre meinen Herzschlag im ganzen Körper.

»Voll peinlich«, sagt der fremde Junge, und seine Kumpels lachen. Ich verstehe, dass sie mich auslachen, aber ich weiß nicht, wieso. Da höre ich Horsts vertraute Stimme. Wir haben gar nicht bemerkt, dass er inzwischen hinter uns steht.

»Wir sehen uns auf dem Platz«, sagt er zu dem Jungen, dabei drückt er mit der Hand meine Schulter. Als ich mich umdrehe, zwinkert er mir zu.

 

Manchmal sagen die Eltern vor den Spielen zu uns, dass es nicht wichtig ist, wer gewinnt. Aber ich möchte immer gewinnen. Und ich will immer Tore schießen. Heute ganz besonders. Ich klaue dem Jungen, der mich ausgelacht hat, den Ball vom Fuß und renne damit aufs Tor zu. Er kommt mir nicht hinterher, und das ist ein gutes Gefühl. Den Ball haue ich allerdings mit Karacho gegen die Querlatte, und gerade da ruft Horst meinen Namen und winkt mich an den Rand, um mich auszuwechseln. Ich schnaube fassungslos durch die Nase.

»Ich will weiterspielen.«

»Du darfst gleich wieder, jetzt ist erst mal jemand anderes dran«, antwortet Horst und nickt einem der Jungs zu, dass er aufs Feld gehen soll. Ich versuche, auf der großen Uhr an der Rückwand der Halle zu entschlüsseln, wie viel Zeit vergeht. Unser Trainer läuft an der Seitenlinie auf und ab, so wie früher, wenn ich bei den Spielen meines Bruders Dennis war. Nur will ich jetzt nicht an seine Hand, sondern zurück aufs Feld. Ich laufe neben ihm, immer einen Schritt hintendran.

»Wann darf ich denn wieder rein?«, frage ich ungeduldig.

»Gleich, Puppe.«

»Ho-hooorst.«

»Du musst dich noch ein bisschen gedulden. Alle wollen mal.«

»Aber ich bin die Beste.« Der Satz ist mir so rausgerutscht. Ich habe trotzdem den Verdacht, dass es stimmt, was ich sage. Neugierig schaue ich zu Horst.

»Verrate es den anderen nicht«, sagt er und zwinkert. Dann holt er Ali vom Feld und schickt mich zurück. Ich habe das Gefühl, zu fliegen.

Ohne abzustoppen, remple ich gegen den Jungen, der mich vor dem Spiel angezählt hat, und klaue ihm den Ball vom Fuß. Er wirkt verdutzt. Ich renne aufs Tor zu und ziehe ab, aber der Ball donnert wieder mit einem lauten Klatschen gegen den Querbalken.

»Probier’s einfach mal mit dem anderen Fuß«, ruft Horst.

Ich erobere den Ball noch mal, und obwohl alle sagen, dass ich eine linke Klebe habe, schieße ich diesmal mit rechts. Der Ball schlägt im Tor ein. Am Ende gewinnen wir das Spiel – und es ist überhaupt nicht egal.

Als ich aus der Umkleide komme, steht die gegnerische Mannschaft wie ein Rudel begossener Pudel im Hof vor der Turnhalle. Ich visiere sie an und mache einen Schritt in ihre Richtung, um ihnen ordentlich die Meinung zu sagen, als plötzlich Horst neben mir steht.

»Lass doch gut sein, Puppe«, sagt er sanft, und dann sagt er: »Denen hast du es auf dem Platz gezeigt.« Dabei drückt er mir wieder leicht die Schulter.

Ich schaue noch einmal zu der Gruppe rüber, wie sie da so bedröppelt stehen. Dann drehe ich mich um, gehe mit erhobenem Kopf zu meinen Jungs, und wir bejubeln unseren Sieg. Auf der Heimfahrt huscht die Landschaft vor dem Fenster mit zunehmender Dunkelheit vorbei. Aber in mir brennt ein helles Licht.

Plötzlich Turnerin

Zu Hause und im Verein spiele ich fast nur mit Jungs, im Kindergarten habe ich aber auch eine beste Freundin. Jenny geht zum Turnen, mit Fußball hat sie nichts am Hut. Ich kann mir nicht viel darunter vorstellen, was die Kinder im Turnen so machen, aber Jenny sagt, es ist das Tollste überhaupt. Und das muss doch was heißen! Also beschließe ich eines Tages, auch turnen zu gehen.

Ich erzähle Mama davon, als Oma zu Besuch ist, die Mama von meinem Papa. Oma ist hellauf begeistert, sie mag nicht, dass ich Fußball spiele.

»Noch besser fände ich Ballett!«, sagt sie, und Mama rollt mit den Augen.

»Beim Fußball schlägst du dir nur die Knie auf!«, sagt Oma noch. »Wie sieht denn das aus, wenn du ein Kleidchen trägst?«

Ich zucke mit den Achseln. »Aber ich trage doch sowieso keine Kleider, Oma.«

Oma schaut, als wäre das Teil des Problems.

Mama sieht mich aufmerksam an. »Willst du wirklich zum Turnen gehen?«, fragt sie. Ich nicke.

»Aber dann hast du keine Zeit mehr für Fußball«, gibt sie zu bedenken.

»Macht nichts!«, sage ich leichthin. Und damit ist es beschlossen.

Am nächsten Tag gehe ich ganz normal ins Training. Ich bin sogar besonders gut und schieße ein paar richtig schöne Tore. Aber ich fühle mich ein bisschen komisch. Als Horst mit einem lauten Pfiff die Einheit beendet, stapfe ich zu ihm an die Seitenlinie.

»Was gibt’s, Puppe?«

»Du, Horsti, ich höre auf mit Fußball. Heute war das letzte Mal.«

Horst nickt bedächtig. »Macht es dir keinen Spaß mehr?«

»Doch, schon.«

»Aber?«

»Ich gehe jetzt turnen.«

»Alles klar, Puppe. Dann mach das.« Horst zwinkert mir zu und macht sich auf in Richtung der Trainerkabine. Ich bin enttäuscht, ohne dass ich genau sagen kann, warum eigentlich. Aber ich bewege mich keinen Zentimeter, sondern schaue Horst angestrengt hinterher. Plötzlich bleibt er stehen und dreht sich noch mal zu mir um.

»Puppe?«

»Hm?«

»Du kannst aber jederzeit wiederkommen.«

Ich nicke und winke, dann renne ich aus der Halle.

 

Jenny freut sich riesig, dass wir jetzt zusammen turnen gehen. Ich bin vor dem ersten Mal ein bisschen aufgeregt. Das Training findet in einer Halle statt, wie beim Fußball. Allerdings sind hier lauter Mädchen.

Mir fällt es nicht besonders schwer, die Sachen nachzumachen, die uns die Trainerin zeigt. Die anderen Kinder sind alle nett, und ich freue mich, mehr Zeit mit Jenny zu verbringen. Aber wenn Dennis beim Abendbrot vom Fußballtraining erzählt, wird mir manchmal das Herz ganz komisch schwer. Ich vermisse meine Jungs.

»Wie gefällt dir denn das Turnen?«, fragt Papa mich.

»Ganz gut.« Obwohl ich es nicht sage, hört er mein Aber.

»So?«

»Ja. Bloß komisch, dass ich nicht mehr mit zu den Turnieren fahre am Wochenende, weißt du. Und irgendwie macht man das Turnen mehr so alleine.«

»Du bist eben eine Teamplayerin«, sagt Papa und streichelt mir die Backe. Darüber muss ich dann ein bisschen nachdenken. Auf jeden Fall weiß ich, dass mir meine Mannschaft fehlt. Mit den Jungs habe ich schon viel erlebt, und wir kommen im Sommer zusammen in die Schule. Jenny kenne ich auch gut und habe sie sehr gern, aber mit den Mädchen ist es trotzdem etwas anderes.

Nachdem ich ein paar Wochen beim Turnen bin, hat unsere Gruppe einen Auftritt. Alle sind sehr aufgeregt, und wir proben vorher extra doll. Die Eltern und Familien sitzen im Saal vor der Bühne. Mir kommt das alles mächtig komisch vor. Ich kann es nicht richtig erklären. Aber wenn ich Fußball spiele, bin ich mir ganz sicher, dass ich alles kann. Es gibt nichts, was sich seltsam anfühlt im Bauch oder worüber ich lange nachdenken muss. Ich bin einfach so, wie ich bin – und das reicht.

Wenn ich Tore schieße, ist es das beste Gefühl auf der ganzen Welt. Neulich habe ich sogar mit einem Fallrückzieher eines verhindert, das war vielleicht das zweitbeste Gefühl auf der Welt.

Mit den anderen Mädchen vorzuturnen, ist gar nicht schlimm. Aber es ist eben auch nicht besonders toll. Ich fühle mich dabei ganz anders als auf dem Feld. Als würde ich versuchen, einen Schuh anzuziehen, in den ich zwar meinen Fuß reinkriege, aber mit dem ich mich beim Laufen nicht wohlfühle. Er zwickt nicht, vielleicht könnte ich mich daran gewöhnen. Aber eigentlich möchte ich es überhaupt nicht.

 

Nach dem Auftritt ist irgendwie alles klar. Das Einzige, was mir etwas schwerfällt, ist, Jenny zu sagen, dass ich nicht mehr zum Turnen kommen werde. Als ich meinen Eltern erkläre, dass ich wieder Fußball spielen möchte, grinsen die beiden sich so an, als hätten sie das immer gewusst. Sie sagen, dass wir mich erst mal anmelden müssen und schauen, wann es einen Platz für mich gibt, und ich kriege einen ziemlichen Schreck. Darüber habe ich gar nicht nachgedacht!

Aber dann lachen sie lauthals und sagen, dass sie mich nicht vom Training abgemeldet haben. Ich kann einfach am nächsten Tag wieder hingehen, und mein Bauch kribbelt, als ich daran denke. Mama streicht mir über den Kopf, als wir aus dem Auto steigen, und Papa drückt meine Schulter, so, wie Horst das immer macht. Abends schlafe ich mit einem ganz warmen Gefühl und sehr viel Vorfreude ein. Mir wird jetzt erst richtig klar, wie sehr ich Fußball vermisst habe.

Am nächsten Tag kann ich es kaum abwarten, zum Training zu gehen. Als wir endlich vor der Turnhalle ankommen, reiße ich die Autotür auf und stürme in die Halle. Da steht Horst an der Seitenlinie, gerade so wie bei meinem letzten Training. Er schaut auf, als ich die Tür mit einem Knall gegen die Wand haue.

»Puppe. Kommst du uns besuchen?«

Mit schnellen Schritten renne ich auf ihn zu. An der Seitenlinie werfe ich mich gegen seinen Körper und umschlinge ihn mit den Armen. Es fühlt sich an, als wäre ich von einem großen Ausflug nach Hause gekommen.

Ich atme tief den Geruch der Halle ein. Horst streicht mir in kleinen Kreisen mit der Hand über den Rücken.

»Wie ist es beim Turnen?« Er schaut zu mir runter, ich schaue zu ihm rauf, sein Lächeln ist ganz breit und strahlend, und ich schüttle dolle den Kopf.

»Ich spiele jetzt wieder Fußball, Horsti!«, erkläre ich fest.

»Soso.« Horst lächelt immer noch, und ich nicke jetzt heftig.

»Beim Turnen ist ja gar nichts los.«

 

Wieder mit meinen Jungs zu kicken, macht mich glücklich. Inzwischen bin ich dafür zuständig, Ecken zu schießen. Das klappt echt gut: Ich bringe den Ball in hohem Bogen direkt vors Tor. Leider ist keiner meiner Mitspieler besonders kopfballstark, sodass am Ende nicht viel dabei rauskommt, ganz egal, wie toll meine Ecken sind.

»So geht das nicht«, sagt Horst eines Nachmittags beim Training. »Jemand anders muss die Ecken schießen.«

»Aber Poppi ist die Beste«, sagt Ali verständnislos.

»Sie ist aber auch kopfballstark«, sagt Horst. »Wir brauchen sie, um die Tore zu machen. Einer von euch muss die Ecken ausführen.«

Erst möchte niemand so richtig, dann melden sich doch drei Jungs, und Horst deutet ihnen an, sie sollen sich an der Eckfahne aufstellen. Mich schickt er vors Tor.

»Wir machen Trockenübungen«, erklärt er, und zu den Jungs: »Ihr schlagt die Ecken, und Puppe bringt die Bälle im Tor unter.«

Wir vier nicken zustimmend.

Der erste meiner Mitspieler schlägt eine Ecke, aber sie gerät viel zu kurz. Beim zweiten Versuch klappt es besser, aber richtig ideal komme ich immer noch nicht an den Ball. So geht das immer weiter.

Ich bewege mich im Strafraum hin und her und versuche auszurechnen, wohin der Ball kommen wird, um mich frühzeitig in die passende Richtung zu bewegen. Aber das ist gar nicht mal so einfach, denn je nachdem, wie die Jungs schießen, landet der Ball überall, nur nicht dort, wo er eigentlich hinsollte.

Wir üben ein, zwei Stunden, und es ist richtig anstrengend. Dann wählt Horst denjenigen der drei aus, von dem er findet, er macht das mit den Ecken am vielversprechendsten.

»Mach ruhig mal eine Pause, Puppe«, schlägt er mir vor, und ich nehme das gerne an, weil ich gleichzeitig Durst habe und ganz dringend pieseln muss.

Als ich von der Toilette zurückkomme, hat die Zweite Mannschaft gerade mit ihrem Training angefangen. Sie üben Strafstöße. Ich schaue rüber zu meinem Team. Horst lässt die Jungs unverändert Ecken schießen.

Statt zu ihnen zurückzugehen, schlendere ich langsam zu den Erwachsenen und schaue bei ihrem Elfertraining zu. Die Großen sind gar nicht mal so gut, stelle ich fest. Sie gucken den Torwart nicht aus, und auch den Anlauf finde ich bei den meisten ziemlich steif.

»Soll ich euch mal zeigen, wie das geht?« Die Frage rutscht mir einfach so raus. Mehr als ein Dutzend Köpfe schnellen zu mir rum, einige der Männer lachen.

»Mach mal«, sagt einer, der besonders breit grinst, und gibt dem Ball einen Schubs in meine Richtung. Ich nehme ihn mit dem Fuß mit und bringe ihn zum Elfmeterpunkt. Der Torwart muss sich ein Lachen verkneifen, aber das interessiert mich nicht. Der Typ, der mir den Ball zugekickt hat, gibt uns ein Signal. Ich nehme einen kurzen Anlauf und haue den Ball in die rechte Ecke. Der Keeper ist nach links gesprungen. Tor.

»Nicht schlecht«, sagt einer der Männer und pfeift durch die Zähne.

»Könnte aber auch Zufall gewesen sein«, gibt ein anderer grinsend zu bedenken.

»Ich mach das auch noch mal«, erkläre ich selbstbewusst.

Der Torwart schießt den Ball zu mir zurück. Auf Kommando trete ich direkt noch mal an. Wieder schieße ich nach rechts. Wieder ist er in die linke Ecke gesprungen. Tor. Den nächsten schieße ich nach links. Der Torwart fliegt in die rechte Ecke und flucht leise vor sich hin.

Irgendwann werde ich sogar so übermütig, dass ich einen halbhoch schieße. Drin.

»Von unserer Puppe könnt ihr noch was lernen.« Überrascht drehe ich mich zu Horst um. Den habe ich gar nicht kommen hören. Er lächelt mich an.

»Kommst du wieder zum Training?«

Ich versenke noch einen Elfer, dann winke ich den Spielern zum Abschied und hüpfe neben Horst zurück zu meinem Team.

Nur nicht unterkriegen lassen

Im Sommer komme ich in die Schule, und wir ziehen wieder um. Ich darf mir die Farbe für mein Zimmer selbst aussuchen und nehme Blau. Papa streicht, und ich fühle mich wie in einem Aquarium. Außerdem baut er mir ein Hochbett, und das liebe ich über alles.

Die Wohnung ist ein bisschen größer als die, in der wir vorher im Haus von Dennis’ Patentante unterm Dach gewohnt haben. Sie liegt im ersten Stock, und unter uns wohnen unsere Vermieter. Das Tollste ist der Garten hinterm Haus, den wir uns alle teilen. Und natürlich, dass mein bester Freund Ali bloß zwei Häuser weiter wohnt. Ali spielt immer noch mit mir im Verein, und jetzt gehen wir auch zusammen in die Schule.

Dennis und ich kicken fast jeden Tag in unserem Garten. Papa hat auf der einen Seite ein echtes Tor aus Holz gebaut, auf der anderen müssen die Wäscheständer herhalten, wenn wir gegeneinander über die ganze Wiese spielen. Meistens steht Dennis aber im Kasten, schließlich ist er Torwart. Und ich bin Stürmerin! Ich feuere einen Ball nach dem nächsten ab, mal landen sie in seinen Armen, mal fliegen sie an ihm vorbei.

Wenn er den Ball hält, zieht Dennis mich auf, wie schlecht ich bin. Wenn ich treffe, juble ich, als ob ich eine Meisterschaft gewonnen hätte. Und wenn es mir gelingt, meinen Bruder zu tunneln, falle ich vor Lachen ins Gras und kriege mich minutenlang nicht wieder ein. Ich könnte das den ganzen Tag machen.

Aber Dennis hat manchmal keine Lust zu kicken, weil er sich mit einem Freund treffen möchte, Hausaufgaben machen muss oder einfach seine Ruhe vor mir haben will. Also gehe ich alleine in den Garten und schieße den Fußball ins leere Tor oder gegen die Hauswand. Bis mir das langweilig wird, dann stehe ich wieder bei ihm auf der Matte.

Wenn Dennis sich weiterhin weigert, mit mir zu spielen, schreie ich lauthals los. Dann kommt unsere Mama, und ohne überhaupt zu fragen, was passiert ist, schimpft sie mit meinem Bruder, dass er gefälligst lieb zu mir sein soll. Einfach nur, weil er der Ältere von uns beiden ist – schon praktisch. Ich sehe, dass Dennis sich furchtbar aufregt, und ziehe ihm hinter Mamas Rücken eine lange Nase. Einmal schubst mein Bruder mich im Streit, aber nur ein bisschen. Ich bin da schon genervt, weil er nicht macht, was ich will, und lasse mich mit vollem Karacho gegen einen Schrank fallen. Dann brülle ich, was das Zeug hält. Mama kriegt einen ordentlichen Schreck.

Ich kann auf Kommando heulen, und genau das mache ich auch, um zu unterstreichen, wie schlimm mein Bruder mich behandelt. Der kriegt richtig Ärger.

Als wir am nächsten Tag in unserer Wohnung Verstecken spielen, rächt sich Dennis. Nachdem er mich in der ersten Runde schnell gefunden hat, muss ich im Flur warten, während er sich versteckt.

»Eins, zwei, drei, ich kooomme!«, rufe ich und öffne mit Schwung die Tür zu seinem Zimmer. Dennis hat das Licht ausgemacht, und es ist stockduster, nur aus dem Flur kommt ein bisschen Helligkeit rein. Ich ahne, wohin mein Bruder sich verkrochen haben könnte, und laufe mit schnellen Schritten in den Raum, als mir plötzlich ein gemeiner Schmerz aus dem Fuß ins Bein fährt. Ich springe auf den anderen Fuß, und da trifft mich derselbe Schmerz auch auf dieser Seite. Laut schreiend renne ich aus dem Zimmer zurück in den Flur, lasse mich auf den Po fallen und halte die Beine in die Luft. Aus dem Dunkeln höre ich Dennis lachen.

Ich betrachte meine Füße, aber da ist nichts zu sehen. Erst, als mein Bruder das Licht wieder anmacht, kapiere ich, was passiert ist: Er hat lauter kleine Reißzwecken auf den Boden gelegt, in die ich reingetreten bin.

Mit wütendem Gebrüll schmeiße ich mich auf ihn und haue ihm in die Seite, während Dennis immer noch lacht und lacht und lacht. Das macht mich erst so richtig böse, und ich will den Rest des Tages nichts mehr mit ihm zu tun haben. Aber wir vertragen uns zum Glück schnell wieder. So wie immer.

 

Mit der Zeit werden wir bei uns in der Nachbarschaft zu einer Straßengang. Wir verabreden uns schon in der Schule oder bilden hinterher eine Telefonkette, um auszumachen, wann wir uns zum Kicken treffen. Immer bei Ali im Garten, denn da haben wir den meisten Platz und sogar zwei Tore, die sein Papa und unser Papa gemeinsam gebaut haben. Oft gehe ich direkt nach der Schule mit zu ihm. Seine Mama scherzt dann, dass ich schon zur Familie gehöre. Meine Eltern sind um die Zeit noch arbeiten. Sie haben eine eigene Metzgerei, was ich ziemlich cool finde.

Ali und ich essen zusammen mit seiner Mama und dem jüngeren Bruder zu Mittag, später machen wir in seinem Zimmer unsere Hausaufgaben. Danach geht’s endlich raus zum Fußball. Oft warten die anderen schon auf uns. Es sind fast nur Jungs, die sich da jeden Tag nach der Schule treffen, aber ein Freund von Dennis hat ab und zu seine kleine Schwester dabei: Kim. Sie ist jünger als alle anderen, auch jünger als ich, deshalb muss sie immer den Ball holen. Aber ich verstehe mich gut mit ihr.

Wenn unsere Spiele mit dem Verein sonntags sind, treffen wir uns auch samstags bei Ali. Dann hören wir beim Kicken die Bundesliga-Konferenz in einem kleinen, schwarzen Radio, das wir neben der Wiese aufstellen.

Den Stimmen der Reporter ist die Aufregung über verschossene Elfmeter, böse Fouls und schöne Tore richtig anzuhören. Manchmal fiebern wir so doll mit, dass wir unser eigenes Spiel für eine Weile unterbrechen müssen. Dann liegen wir vor dem Radio im Gras und lauschen den Erzählungen der Spiele, die für uns schöner sind als jede Musiksendung.

Inzwischen ist mir schon bewusst, dass außer mir bloß Jungs im Verein spielen. Vielleicht, seit ich es im Turnen anders erlebt habe. Das Ding ist, mir macht das überhaupt nichts aus. Aber andere scheinen es dauernd zu einem Thema machen zu wollen. Vor allem irgendwelche Eltern. Horst macht sich ab und zu zwinkernd darüber lustig, dass mehr Mamas und Papas im Training sind als Kinder. Alle wollen schauen, wie wir uns so anstellen.

»Ich würde die ja rauswerfen«, verrät er uns. »Aber wir brauchen sie noch als Fahrer zu den Turnieren.«

Die Eltern meiner Teamkameraden haben sich daran gewöhnt, dass ich mit den Jungs übers Feld flitze. Aber die der Gegner hauen immer mal wieder blöde Bemerkungen raus.

Wenn Horst sieht, dass ich einen doofen Spruch aufschnappe, legt er immer den Finger auf den Mund und deutet aufs Spielfeld. Ich weiß genau, was das heißt: »Zeig es ihnen auf dem Platz, Puppe.« Und das mache ich. Wenn wir jetzt auf Turniere oder zu Spielen fahren, bin ich die Kapitänin. Das Wort ist erst mal sehr lustig für mich, weil ich dabei an ein Schiff denken muss.

Aber Horst erklärt es mir. »Du bist die Spielführerin«, sagt er. »Du gibst die Richtung vor.« Und ich mag das Gefühl, eine besondere Verantwortung zu tragen.

Unter besonderer Beobachtung zu stehen, mag ich dagegen nicht, und was ich noch weniger mag, ist, darüber zu sprechen. Wenn mich die Eltern der Gegner während der Partie aufziehen oder flüsternd kommentieren, wie ich spiele, will ich das weder hören noch hinterher mit meinen Eltern darüber reden. Ich möchte einfach nur kicken und verstehe nicht, wieso das für mich komplizierter ist als für meine Freunde. Vor manchen Spielen sagt Horst mir, auf wen ich besonders achten soll im gegnerischen Team. Weil es sich schon ein bisschen herumgesprochen hat, dass ich sehr schnell und gut bin, werde ich teilweise mit richtig üblen Fouls aus dem Verkehr gezogen.

Es ist ein echt komisches Gefühl, wenn dir jemand die Beine wegschlägt oder dich einfach umrennt, ohne eine Chance, an den Ball zu kommen. Wenn ich mit dem Körper auf den Boden knalle, brauche ich manchmal einen Moment, um mich zu sortieren. Ist noch alles dran? Kann ich mich gleich wieder bewegen? Mit meinem Blick suche ich die mir bekannten Menschen ab, die um das Feld herumstehen. Mama regt sich furchtbar auf und schimpft, meine Mannschaftskollegen auf der Bank halten die Luft an, einige der Eltern lachen, andere schauen neugierig auf das Mädchen, das sich da am Boden krümmt.

Alles dringt ein bisschen wie durch Nebel zu mir durch. Mein Knie tut weh, der Rücken auch, und mir ist zum Heulen zumute. Dann höre ich Horsts Stimme.

»Puppe, steh auf!«

Diese drei Worte ziehen mich wie durch einen Tunnel zurück. Ich weiß, dass es nur einen Grund gibt, liegen zu bleiben: wenn ich mich wirklich nicht bewegen kann, ohne fürchterliche Schmerzen zu haben. Müdigkeit und Frust sind egal. Solange mich meine Füße noch tragen, muss ich mich berappeln, wenn Horst ruft.

Ich sehe, dass Ali vor mir steht und seine Hand nach mir ausstreckt. Er hilft mir auf die Beine, und ich höre, dass einige Leute klatschen, als ich mich aus meiner gekrümmten Haltung auf dem Boden aufrichte.

»Wenn du mal liegen geblieben bist, dann wusste ich, dass irgendwas echt nicht okay ist«, hat Horst später zu mir gesagt. Und ich habe mich an all die Male erinnert, als die Jungs mich über den Haufen gerannt haben, nur um mir zu zeigen, dass sie besser sind als ich. Und wie ich immer wieder aufgestanden bin – und ihnen damit das Gegenteil bewiesen habe.

Meine Mama machen solche Gegneraktionen fuchsteufelswild. Wenn ich höre, wie sie nach einem Zusammenprall, den ich auf dem Feld habe, die anderen Eltern anpampt, bin ich besonders schnell wieder auf den Beinen. Einerseits gibt es mir ein gutes Gefühl, zu wissen, dass sie mich immer verteidigt. Andererseits ist es mir auch ein bisschen unangenehm, dass dadurch so viel Aufmerksamkeit auf mich gelenkt wird. Also mache ich einfach weiter, als wäre nichts passiert, damit sie sich schnell wieder beruhigt. Aber einmal ist alles ganz anders.

Wir spielen an diesem Tag gegen den FC Blau-Weiß Voerde, mit dem uns eine leidenschaftliche Rivalität verbindet. Das Spiel ist auswärts auf dem Sportplatz in Ennepetal, und Mama gehört zu den Eltern, die den Fahrdienst übernommen haben. Einer meiner Gegenspieler hat es heute von der ersten Sekunde an auf mich abgesehen und haut mich um, sooft sich ihm dafür die Gelegenheit bietet. Als wir in der Halbzeit auf den wackligen Holzbänken in der Kabine sitzen, betrachte ich meine aufgescheuerten Knie und lasse mir anschließend ein bisschen Wasser über den linken Unterarm laufen, auf den ich nach einem Foul ziemlich heftig gefallen bin. Der tut echt weh.

In der zweiten Hälfte geht es genauso weiter. Der Junge schubst und tritt und spielt richtig unfair. Als er mir weit weg vom Ball mit Karacho in die Seite springt, hat Mama am Spielfeldrand genug.

»Hey, ich komm dir gleich rüber, Junge!«, schreit sie über den Platz.

Ich will meinen Kopf wie eine Schildkröte zwischen meinen Schultern verschwinden lassen. Da sehe ich, dass der Schiedsrichter, der zum Blau-Weiß Voerde gehört, zu meiner Mutter stapft. Erstaunt reiße ich die Augen auf. Der Typ baut sich tatsächlich vor Mama auf und staucht sie so richtig zusammen. Da werde ich wütend.

Egal, wie unangenehm es mir manchmal ist, wenn sie mich bei einem Spiel lautstark verteidigt, dass der Kerl sie anpampt, ist unmöglich. Dazu hat er einfach kein Recht. Ich sehe, dass meine Mutter einen hochroten Kopf bekommen hat, aber sie reißt sich zusammen und sagt kein Wort.

Der Schiedsrichter stapft mit einem dämlichen Grinsen auf den Platz zurück und pfeift das Spiel wieder an. Immerhin bekommen wir für das Foul einen Freistoß, und ich zeige an, dass ich ausführen werde. Mein Mitspieler ist auf der ballfernen Seite losgelaufen und deutet an, dass ich zu ihm spielen soll. Der Schiedsrichter steht zwischen uns, vielleicht fünf Meter von mir weg, das Gesicht in meine Richtung. Er pfeift.

Ich ziele, ohne lange nachzudenken, und schieße ihm den Ball mit Wucht zwischen die Beine. Er schreit laut, die Zuschauerinnen und Zuschauer machen erschrockene Geräusche, ein paar Jungs lachen. Ich verkneife mir ein Grinsen und sage mit Unschuldsmiene: »Huch. Der ist mir abgerutscht.« Und denke mir, so spricht der nicht mehr mit meiner Mutter!

Mein Papa ist ein ganz anderer Zuschauer als Mama. Er beobachtet die Spiele meistens, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Es ist gar nicht so einfach, zu erkennen, was er darüber denkt, wie ich gespielt habe.

Oft bleibe ich anschließend den ganzen Nachmittag in seiner Nähe. Wir machen dann lauter Sachen zusammen, die mit Fußball gar nichts zu tun haben. Irgendwann schaut er mich unvermittelt an und sagt: »Das nächste Mal trittst du dem einfach auf den Fuß.«

So hat Papa selbst früher gespielt, schon auch mal eklig, wenn es sein musste. Das hat er Dennis und mir schon oft erzählt. Ich halte für einen Moment inne, denke über seine Worte nach und sage: »Okay.«

Und das war’s auch schon. Mehr brauchen wir nicht. Papa nickt, und wir machen weiter mit dem, was uns gerade beschäftigt hat.

 

Im Sommer fahren wir nach St. Peter Ording. Das haben wir schon in den letzten Jahren so gemacht, weil Dennis dort in der Fußballschule war. Papa hat uns hochgebracht und ist dann wieder gefahren, weil sich nur einer von unseren Eltern freinehmen konnte und er derjenige war, der immer in der Metzgerei meiner Eltern geblieben ist. Mama und ich sind eine Woche lang geradelt, am Strand spazieren gegangen und haben Minigolf gespielt. Mich hat es ganz zappelig gemacht, dass ich nicht auch Fußball spielen durfte, aber dieses Jahr darf ich endlich. Und ausnahmsweise bleibt Papa sogar die ganze Woche.

In der Fußballschule sind viele bekannte Fußballer Trainer, zum Beispiel Aki Schmidt. Das finde ich ziemlich cool, ich bin nämlich BVB-Fan. Was ich nicht so cool finde, ist, dass ich nicht mit den anderen in der Schule übernachten darf. Weil ich ein Mädchen bin! Deshalb bringt Papa mich morgens immer hin und holt mich abends wieder ab.

Wir wohnen während dieser Ferienwoche in einem niedlichen kleinen Häuschen mit Terrasse und Garten. Abends sitzen Mama, Papa und ich zusammen draußen und essen, ich erzähle vom Training, und Papa macht Scherze, dass mir die ganzen Dortmunder doch gar nichts beibringen können. Er ist nämlich Schalker, muss man wissen, und Mama findet Bayern München toll. Dennis mag den BVB, so wie ich.

Es ist schön, so viel Zeit mit meinen Eltern zu verbringen. Dass ich nicht mit den anderen in der Schule schlafen darf, finde ich trotzdem doof. Was macht es denn für einen Unterschied, dass ich ein Mädchen bin?

In der Natur

Ich bin ein echtes Draußen-Kind. Wenn ich nicht gerade auf dem Platz stehe oder anderweitig den Ball am Fuß kleben habe, bin ich im Wald unterwegs, meistens mit Dennis und Ali. Der Wald beginnt theoretisch schon bei Ali im Garten, denn dort stehen vielleicht zehn Bäume, in denen wir unsere ersten Versuche starten, Verschläge und Hütten zu bauen. Dabei hilft uns Alis Papa. Aber bald kennen wir jeden Winkel des Gartens auswendig, wir machen Ausflüge in den echten Wald, in den ein Pfad führt, der direkt hinter unserem Haus beginnt.

Der Waldboden unter meinen Füßen ist feucht und weich, und meine bunten Gummistiefel quietschen bei jedem Schritt. Die Luft hier ist ganz anders als an der Straße, und trotz der Geräusche, die die Tiere machen, herrscht eine Art Stille. Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, kann ich bis in die Wipfel der Bäume schauen. Dahinter beginnt direkt der Himmel.

Wir schleppen Äste, Moos und Blätter auf eine kleine Lichtung. Die großen Äste rammen wir in die Erde und lehnen sie oben aneinander. So entsteht nach und nach ein Zelt. Die kleineren Zweige klemmen wir dazwischen ein.

»Wir brauchen mehr Moos«, sagt Dennis, als ich ihm eine Handvoll Blätter gebe. Er steckt sie an den Ästen fest, um unser Zelt abzudichten. Ali kniet neben dem kleinen Bach, der den Wald durchläuft.

»Ali, hilf mal«, ruft Dennis.

Der schüttelt den Kopf. »Ich baue einen Staudamm.«

Ich lege das Moos, das ich in beiden Armen vor der Brust gehalten und zu Dennis getragen habe, neben meinem Bruder ab und hüpfe mit quietschenden Schuhen zu Ali. Er stapelt Steine im flachen Wasser, um den Bach aufzuhalten.

»He, und was ist mit unserem Zelt?«, mault Dennis.

»Heute regnet es eh nicht mehr. Das muss nicht dicht sein«, sagt Ali.

Dennis schaut zwischen uns und dem Zelt hin und her, dann lässt er die Blätter zu Boden segeln, klopft sich die Hände an der Hose ab und kommt rübergelaufen.

»Wenn wir das Wasser hier stauen, kommen vielleicht Rehe zum Trinken«, sage ich hoffnungsvoll. Ich liebe es, Tiere zu beobachten, dass kenne ich davon, mit unserem Papa, seiner Schwester und unserem Opa auf die Jagd zu gehen.

Das Wasser gluckert nun nur noch ganz dünn an unserem Damm vorbei. Ich hole etwas von dem Moos, das neben unserem Zelt liegt, und wir stopfen es in die Löcher zwischen den Steinen. Das Gluckern hört auf, und ich klatsche zufrieden in die Hände. In unseren Rucksäcken haben wir Limo und Kekse, damit setzen wir uns eng aneinander in das kleine Zelt und beobachten die Wasserstelle mit unserem kleinen Staudamm. Ein Reh lässt sich leider nicht blicken, aber ab und zu landet ein Vogel auf den Steinen und trinkt da, wo das Wasser nun stillsteht. Irgendwann wird uns die Rumsitzerei langweilig.

»Sollen wir den Staudamm aufbrechen?«, fragt Dennis unvermittelt.

Ali und ich nicken eifrig, und zu dritt krabbeln wir aus dem Zelt. Wir halten die Hände von beiden Seiten gegen den kleinen Damm und zählen bis drei, dann lassen wir sie alle auf einmal einstürzen. Das Wasser, das eben noch stillstand, schießt mit einem Mal mächtig an unseren Armen vorbei. Ich bin fasziniert davon, dass wir es aufhalten und wieder freilassen können.

»Lass noch mal einen Damm bauen«, bettle ich, aber Dennis schüttelt den Kopf. Er schaut in den Himmel. »Was meint ihr, wie spät es ist?«

Ali und ich zucken mit den Schultern. Auf jeden Fall ist es schon ziemlich dunkel. Wir sollten zum Abendessen zu Hause sein, das haben wir Mama und Papa versprochen. Morgen ist ein ganz normaler Schultag, und wir müssen früh raus. Wir schauen uns an und flitzen wie auf ein stilles Kommando zu dritt los. Die kleinen Äste knacken unter unseren Füßen, manchmal verfängt sich ein besonders dünner in meinem Haar. Auf dem Pfad zum Haus komme ich einmal ins Stolpern, fange mich aber wieder, ohne hinzufallen.

Wir verabschieden uns nicht groß voneinander, sondern winken uns nur zu, dann stürmt Ali nach links weg in Richtung seines Gartens, Dennis und ich eilen über die Wiese, vorbei an den Wäscheständern und ums Haus herum, klopfen auf dem Metallgitter vor der Tür die Schuhe ab und rennen durchs Treppenhaus in den ersten Stock. Atemlos drücken wir die Klingel. Mama öffnet in Sekunden die Tür. Sie sieht sauer aus.

»Ihr solltet schon vor einer Stunde hier sein«, schimpft sie. Wir murmeln die üblichen Entschuldigungen und rennen zum Händewaschen ins Bad, bevor wir uns an den Tisch setzen, wo Papa sich schon das dritte Brot schmiert.

Die Legende vom Wildschwein

In den Schulferien fahren Dennis und ich mit Oma und Opa ins Sauerland. Opa ist Jäger und hat dort eine Pacht. Mama und Papa können sich nicht so lange freinehmen, aber das macht uns Kindern nichts aus, wir sind gerne bei unseren Großeltern. Selbst, wenn wir nur mal einen Samstag mitkommen, ist das wie ein kleiner Urlaub, in den Ferien sowieso. An den Wochenenden kommen Mama und Papa manchmal vorbei, außerdem Papas Schwester Claudia, das ist meine Patentante.

Sie hat zwei Töchter, mit denen ich ab und zu reite, denn Pferde finde ich ziemlich cool. Ich war sogar schon mal Voltigieren, und mit der Tochter unserer Vermieter mache ich manchmal ihre Pferde sauber, die in einem kleinen Verschlag hinter unserem Haus untergebracht sind.

Papa ist Metzger, genauer gesagt Metzgermeister, Mama ist gelernte Friseurin, sie arbeitet inzwischen aber auch in der Metzgerei. Beide Berufe sind ziemlich praktisch für uns alle, weil Mama uns die Haare schneidet und Papa Tiere zerlegen und daraus leckere Braten machen kann. Wurst natürlich auch, aber die esse ich nicht so gern. Ich durfte schon zuschauen, wie er Tiere ausnimmt, und sogar mit der Hand in ein totes reinfassen und es halten, damit Papa besser den Schnitt ansetzen kann. Ich mag Tiere total, aber es ekelt mich nicht, beim Ausnehmen zu helfen. Für mich ist das ganz normal.

Mama hat Dennis und mir eine kleine Sporttasche mit Klamotten gepackt, und am ersten Ferientag verabschieden wir uns von ihr, Papa, dem Fußball und der Wohnung und klettern zu Oma und Opa ins Auto. Die Fahrt dauert eine bis anderthalb Stunden, je nach Verkehr, und Dennis und ich erzählen unterwegs von unseren Turnieren, dem Staudamm und was zu Hause gerade sonst so los ist.

Wir kommen nachmittags im Sauerland an. Vor der Hütte ist ein kleiner Platz, auf dem ein runder Tisch mit Holzbänken steht, die Opa und Papa gebaut haben. Ich knalle meine Tasche in eine Ecke der Hütte, schnappe mein Taschenmesser und stromere damit draußen herum. Ich liebe es, die Werkzeuge aufzuklappen, mit der kleinen Schere besonders geformte Grashalme abzuschneiden oder mit dem Messer an einem Stück Holz zu schnitzen. Das Taschenmesser ist mein ganzer Stolz.

Oma bereitet das Abendessen vor. »Damit ihr gestärkt seid für die Nacht«, sagt sie lächelnd. Dennis und ich klatschen uns begeistert ab. Wir sind total aufgeregt, denn später geht es mit Opa auf den Hochsitz. Gerade ist er dort für eine Kirrung unterwegs. So nennt man das, wenn Futter ausgelegt wird, um die Tiere für die Jagd anzulocken.

»Meinst du, wir sehen ein Wildschwein?«, frage ich Dennis atemlos.

Statt zu antworten, lacht mein Bruder mich aus, und ich lasse ihn beleidigt stehen. Ich habe noch nie ein Wildschwein gesehen, und es nervt mich sehr. Aber vielleicht haben wir heute Nacht Glück!

In der Hütte nehme ich mir das Fernglas und putze es vorsichtig mit einem Brillenputztuch. Als Opa zurück ist, essen wir zu Abend, und gegen neun Uhr machen wir uns endlich auf. Oma bleibt in der Hütte und winkt zum Abschied.

Der Weg zum Hochsitz ist nicht weit, ich kenne ihn in- und auswendig. Am liebsten würde ich vorwegrennen, aber ich will keine Tiere verschrecken mit meinem Getrampel und laufe ruhig neben Opa her, obwohl ich ganz zappelig bin. Im Herbst ist es schon dunkel, wenn wir uns aufmachen, jetzt laufen wir zu dritt in andächtiger Stille durch die Dämmerung.

»Ob wir wohl heute ein Wildschwein sehen«, sage ich beiläufig zu Opa, Dennis schubst mich in die Seite.

»Du nervst.«

Ich strecke ihm die Zunge raus, Opa hebt beschwichtigend die Hände.

»Abwarten«, sagt er und lächelt mir zu. Ich nicke andächtig.

Im Hochsitz lässt Opa uns abwechselnd durchs Fernglas schauen. Ich atme ganz vorsichtig.

»Atmen ist schon erlaubt, das können die Rehe nicht hören«, neckt mich Opa.