Darf man Eltern sagen, dass ihre Kinder nerven? - Rainer Erlinger - E-Book

Darf man Eltern sagen, dass ihre Kinder nerven? E-Book

Rainer Erlinger

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Beschreibung

Seit 15 Jahren beschäftigt sich Rainer Erlinger in seiner Kolumne »Die Gewissensfrage« im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« allwöchentlich mit den kleinen und großen moralischen Fragen der Deutschen: Darf man Andersgläubigen Frohe Weihnachten wünschen? Darf man Bankräuber sympathisch finden? Darf man einen Gefallen weiterreichen? Rainer Erlinger klärt die Hintergründe, analysiert die Zusammenhänge und gibt klare, verständliche und konkrete Antworten und Orientierung. Hier nun legt er eine Auswahl der besten Fragen und Antworten vor – als moralischen Kompass für unseren Alltag.

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Rainer Erlinger

Darf man Eltern sagen, dass ihre Kinder nerven?

Und andere Gewissensfragen aus dem Alltag

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortDie lieben Kleinen»Mein bester Freund hat [...]»Unser sechsjähriger Sohn ist [...]»Für unser erstes Kind [...]»Kindermützen mit Katzen-, Hasen- [...]»Ich habe eine offene [...]»Meine vierjährige Tochter hat [...]»An der Bushaltestelle erzählte [...]»Auf Internetportalen wie Youtube [...]»Meine Freundin war mit [...]»Ich war vor kurzem [...]»Als unser Sohn zur [...]»Meine zehn Monate alte [...]»Es macht mir großen [...]Dicker als Wasser»Unsere Oma, die wir [...]»Obwohl meine Freundin und [...]»Meine alleinerziehende Tochter schläft [...]»Meinen Mann und mich [...]»Meine Großtante, bei der [...]»Meine Eltern missbilligen sehr, [...]»Jeden Tag schmiere ich [...]»Ich lasse mich von [...]»Ich habe seit Jahren [...]»Meine Familie besitzt ein [...]»Ich bin seit kurzem [...]Fitness und Fairness»Ein guter Freund von [...]»Es war der erste [...]»Ich spiele seit siebeneinhalb [...]»Ich bin Mitglied in [...]»Beim Joggen an der [...]»Im Urlaub habe ich [...]»Eine Freundin heiratet diesen [...]Von A nach B»Neulich am Morgen stieg [...]»Als sich in der [...]»Vor kurzem stand ich [...]»Wir haben zwei kleine [...]»Bei uns in der [...]»Abends findet mein Vater [...]»Vor kurzem stand ich [...]»Darf ich – jung, gesund – [...]»Neulich fuhren wir mit [...]»Auf dem Rückweg aus [...]Man gönnt sich ja sonst nichts»Auf die Frage des [...]»Vor kurzem waren mein [...]»Im Supermarkt wähle ich [...]»Ich versuche, ein moralisch [...]»Bei meinem Lieblingsitaliener bestelle [...]»Im Supermarkt bot mir [...]»Neulich waren wir in [...]»Ich finde Alkohol eklig [...]Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben …»Wir haben in der [...]»Ich bemühe mich um [...]»Unser Nachbarhaus ist ein [...]»Seit einiger Zeit stellt [...]»Unsere Reihenhaussiedlung würde gern [...]»Laufend klingeln bei uns [...]»Von meinem Fenster aus [...]Ich shoppe, also bin ich»Wenn ich im Internet [...]»Nach dem Weihnachts- und [...]»Jedes Mal, wenn ich [...]»In einer Münchner Bäckereikette [...]»Ich habe lange nach [...]»Ich ärgere mich, dass [...]»Auf den dringenden Aufruf [...]»Meine Freundin kauft aus [...]»Wenn ich im Supermarkt [...]Paragraphen & Co.»Vergangenen November habe ich [...]»Ich möchte mich mit [...]»Nach einer Fehlbuchung über [...]»Vor kurzem wurde ich [...]»Wir haben in Brüssel [...]»Ein Kollege, der starker [...]»Nach dem Auszug hat [...]»Das Bild ging um [...]»Wenn man auf den [...]Die vierbeinigen Freunde»Ich möchte meinem Opa [...]»Seit Jahren halten wir [...]»Um Spendengelder für unser [...]»Immer öfter sehe ich [...]»Ökologisch oder nachhaltig zu [...]»Ich bin 39 Jahre alt [...]»Ich bin Veganer und [...]»Ein befreundetes Ehepaar ernährt [...]Der Mensch lebt nicht vom Brot allein»Ich bekomme immer wieder [...]»Nach einer begeisternden Aufführung [...]»Ein Bekannter kauft sich [...]»Mir gefällt die Architektur [...]»Mein Freund fotografiert für [...]»Immer wieder lese ich [...]»Ich habe mich heute [...]»Vor einiger Zeit gab [...]»Ein guter Freund hat [...]Auf Herz und Nieren»Neulich in der U-Bahn [...]Ich habe die mit [...]»Ein Kollege ist schwer [...]»Eine Freundin ließ ihren [...]»Wir achten auf eine [...]»Einige Eltern in meinem [...]»Mein siebenjähriger Sohn und [...]»Ich bin Lehrer und [...]Von der Vielfalt des Lebens»Als ich nach einem [...]»Es ist üblich, Postkarten, [...]»Bei einem Firmenabend in [...]»Die NSA verhöhnt durch [...]»Unsere Mutter ist nach [...]»An ihrem Geburtstag wollten [...]»Ich habe einen Handyvertrag [...]»Ich stand neulich an [...]»Meine Frau und ich [...]»Meine kürzlich verstorbene Großmutter [...]»Freunde von mir sind [...]»Zu meinem Geburtstag bekam [...]»Ich bin mir bewusst, [...]Register

Vorwort

»Darf man Eltern sagen, dass ihre Kinder nerven?« Das Schöne an diesem Buchtitel ist, dass man schnell ins Gespräch kommt. Im Grunde mit jedem, dem man von ihm erzählt. Denn das Problem kennt fast jeder, sei es als Eltern, sei es als genervte Freunde. »Oh, das ist ein heikles Thema«, lautet die häufigste Antwort.

Was dann folgt, hängt nicht immer, aber doch in vielen Fällen davon ab, ob die- oder derjenige selbst Kinder hat oder nicht. Eltern tendieren eher zu Nein, diejenigen, die keine Kinder haben, eher zu Ja. Die Antwort hängt also zumindest auch von der eigenen Lage und damit von der eigenen Sichtweise ab.

Deshalb scheint mir diese Frage ideal, um über Alltagsmoral nachzudenken. Seit mittlerweile über 14 Jahren beantworte ich jede Woche für die Kolumne »Die Gewissensfrage« im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« Leserfragen zur Alltagsmoral. Und mein Hauptanliegen dabei ist, neue Blickwinkel aufzuzeigen. Zu zeigen, wie man die Sache auch sehen kann. Nicht in erster Linie im Sinne der Blickwinkel der anderen Beteiligten, sondern mehr im Sinne einer neuen Betrachtungsweise. Eines Weges zu einer Lösung, an den man bisher noch nicht gedacht hatte. Eine Betrachtungsweise, die dann im zweiten Schritt hilft, auch die Blickwinkel und die Position des Anderen zumindest zu verstehen.

Dabei hilft das Prinzip einer Kolumne. Sie erscheint jede Woche, und jede Woche greife ich darin ein einzelnes, singuläres Problem, eine Lebenssituation eines Lesers oder einer Leserin auf. Dabei versuche ich, zum einen eine Lösung, zum anderen einen neuen Gedanken auf dem Weg dorthin aufzuzeigen. Dieser neue Gedanke sollte die Lösung für das Problem ermöglichen, aber auch darüber hinausweisen: Es sollte ein Gedanke sein, den man allgemein für sein Leben verwenden kann. Warum hilft da das Prinzip der Kolumne? Weil die Kolumne, anders als sonst ein Artikel, nicht nur aus jeweils diesem einen Text besteht, sondern aus einer Reihe von Texten. Von denen zwar jeder jeweils ein einzelnes Problem behandelt und einen Weg dorthin zeigt, aber wenn man sie zusammen betrachtet, in ihrer wöchentlichen Abfolge, sollte sich – so hoffe ich – ein größeres Bild ergeben.

Natürlich könnte man manche der Fragen mit verschiedenen Mitteln, Gedanken und Denkern bearbeiten. Statt mit der goldenen Regel mit dem kategorischen Imperativ – und umgekehrt. Statt mit Kant mit Aristoteles oder mit John Rawls. Vielleicht auch mit Adorno, Augustinus, Arendt oder Asterix. Oder mit allen zusammen. Weil es aber eine Kolumne ist, kann man in der einen Woche das eine Problem mit dem einen und das andere Problem mit der anderen angehen. Und übers Jahr oder über die Jahre ergibt sich dann ein Bild aus den unterschiedlichen Gedanken. Das ist der Vorteil einer Kolumne, aber noch mehr der Vorteil eines Buches. Die Kolumne erstreckt sich über Wochen, Monate und Jahre, jede Woche kommt etwas Neues dazu. Eine neue Frage, aber auch ein neuer Gedanke, eine neue Möglichkeit, etwas zu sehen. Und gewissermaßen stehen sie, wenn sie Woche für Woche kommen, nebeneinander und ergänzen sich.

Und noch viel mehr ist das bei einem Buch wie diesem der Fall, in dem eine ganze Reihe der Texte zusammengefasst ist. Man kann sie in Häppchen lesen oder aber am Stück und so die unterschiedlichen Gedanken etwas näher zusammenrücken. Nebeneinander- oder gegenüberstellen. Manche Gedanken ergänzen sich, andere stehen als Alternativen nebeneinander, und manchmal mag es sogar scheinen, als würden sie sich widersprechen. Denn das ist etwas, das auch durch die Vielzahl der Kolumnen offenbar wird: Es gibt nicht immer eine Lösung im Sinne der Auflösung aller Probleme wie durch einen Zauberspruch. Manchmal bleiben Widersprüche, und manchmal gibt es keine Lösung, die alle Beteiligten befriedigt. In manchen Fällen stehen sich widerstreitende Werte gegenüber, und man kann nur versuchen, eine Lösung zu finden, die für alle nachvollziehbar ist, auch wenn sie nicht alle glücklich macht. Jedoch halte ich das schon für einen großen Fortschritt: zu erkennen, dass der oder die Andere auch recht haben kann, dass es nicht nur einen anderen Blickwinkel, sondern auch eine andere Betrachtungsweise gibt. Und dass diese andere Betrachtungsweise genauso berechtigt sein kann wie die eigene. Im Idealfall kommt man dann über die unterschiedlichen Betrachtungsweisen, Blickwinkel und Positionen zu einer besseren Lösung.

Bei der Durchsicht der Fragen der letzten Jahre konnte ich feststellen, dass sich etliche davon um Probleme mit oder von Kindern oder in der Familie drehen. In diesem Buch bilden sie einen Schwerpunkt. Auch hier gilt: Die vielen unterschiedlichen Probleme aus diesem Bereich und die Gedanken zu ihrer Lösung sollten zusammen betrachtet mehr ergeben als die Summe ihrer Teile.

Jedoch behandelt das Buch nicht ausschließlich Fragen aus diesem Bereich, denn auch Eltern, Kinder und Verwandte führen ein Leben, das nicht ausschließlich von ihrer familiären Situation bestimmt ist. Auch wenn das vielen Eltern manchmal so vorkommen mag. Eltern fahren mit ihren Kindern im Auto, deshalb können spezielle Fragen dazu auftreten, so auf Seite 105 um gute und schlechte Kindersitze. Eltern stehen aber genauso im Stau und suchen Schleichwege wie alle anderen, deshalb betrifft sie die Frage dazu auf Seite 119 genauso. Und diejenigen, die keine Kinder haben, sind umgekehrt von Problemen aus diesem Bereich oft genauso betroffen, siehe die Titelfrage »Darf man Eltern sagen, dass ihre Kinder nerven?«

Das Schöne an dieser Frage ist auch, dass man sie umdrehen kann: »Darf man Kindern sagen, dass ihre Eltern nerven?« Da fällt die Antwort leichter. Nein, selbstverständlich nicht. Sind Sie nun überrascht? Nun, ich habe natürlich eine Begründung für meine Meinung: Dass Eltern nerven gehört zu den Grundüberzeugungen von Kindern – mit gewissen Schwankungen je nach Alter. Und man sollte Kinder nicht mit Dingen langweilen, die sie ohnehin wissen. Gelangweilte Kinder werden leicht nervig, das wissen alle, Eltern und Nichteltern. Eltern meist sogar noch besser. Aber Vorsicht: Selbst wenn Eltern es aussprechen, dass ihre Kinder gerade nerven, kann es gefährlich sein, zuzustimmen.

Die lieben Kleinen

Über nervende Söhne, Vorleben von Fairness und Respekt, Weitergeben von nicht gebrauchten Namen, Bärenohren- und Erdbeermützen, Kinder ohne Väter, Anhören von Antworten, Erzählen vom Tod, lustige Videos im Internet, zerdrückte Quengelware, Schokoladenpapier am Waldboden, zögerliche Paten, Anlächeln von Fremden sowie Freude am Ärgern der Schwester, kurz:

 

Über Kinder

»Mein bester Freund hat einen 3 ½-jährigen Sohn. Meine Frau und ich haben keine Kinder und können daher mit Kindern nicht gut umgehen. Dürfen wir meinem Freund und seiner Frau sagen, dass uns deren Sohn auf die Nerven geht, wenn wir uns sehen? Oder ist das unter Freunden tabu, und wir müssen alles ertragen, was Kinder in diesem Alter eben so tun?« Eugen R., Ingolstadt

Ein Ding erfüllt mein Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: Die Klugheit der Natur – zumindest im übertragenen Sinne. Die Natur hat so vieles gut eingerichtet, zum Beispiel, dass Eltern automatisch ihre Kinder lieben. Das ist sinnvoll für die Kinder, weil Kinder anstrengend sein können, aber dennoch versorgt werden müssen, und auch für die Eltern, denn nur wenn die Kinder überleben, überleben auch die Gene der Eltern. Beim Menschen sind Kinder zudem lange Zeit vollkommen hilflos, ihre einzige Überlebenschance in dieser Zeit besteht darin, geliebt zu werden und Aufmerksamkeit zu erregen, so dass man sich ausreichend um sie kümmert.

Darin liegt das Problem: Kinder müssen versuchen, im Mittelpunkt zu stehen, und ihre Eltern machen das Spiel mit – dank der Elternliebe und auch aus eigenem genetischen Interesse. Dieses Interesse ist bei Fremden, und seien sie noch so gute Freunde, naturgemäß geringer. Es kommt zu einem Interessenskonflikt, der auch noch dadurch gesteigert wird, dass Eltern eine geringere Begeisterung für ihre Kinder oft nur schwer nachvollziehen können. Schließlich sind sie selbst entzückt. Überdies handelt es sich um 50%ige genetische Kopien ihrer selbst, ihr eigen Fleisch und Blut.

Auch wenn der Konflikt verständlich ist und fast schon vorprogrammiert, hat der Mensch einen Vorteil, den uns spätestens Kant klargemacht hat: Er ist ein vernunftbegabtes Wesen und kann sich entsprechend verhalten. Sie, indem Sie nicht sagen, dass Ihnen das Kind auf die Nerven geht, und damit Ihren Freund kränken; stattdessen besser, dass Sie einfach nicht so viel mit Kindern anfangen können. Und Ihr Freund, indem er Ihnen nicht die volle Dosis Kind zumutet, auch wenn er es selbst über alles liebt. Das jeweils zu verstehen ermöglicht die Vernunft; entsprechend zu handeln gebietet sie.

Literatur:

Das eingangs abgewandelte Zitat lautet bei Kant im Original:

»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.«

Kritik der praktischen Vernunft, Zweiter Teil. Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft, Beschluß, Akademie-Ausgabe S. 288

 

Eine sehr gute und vor allem auch gut lesbare Einführung in die Soziobiologie mit den Mechanismen der Elternliebe ist: Eckart Voland, Die Natur des Menschen, Grundkurs Soziobiologie, Verlag C.H. Beck, München 2007, leider auch antiquarisch nur mehr schwer erhältlich.

 

Einen tieferen Einblick unter anderem auch in die Fortpflanzungsstrategien und Elterninvestment mit Blick auch auf die Bevorzugung eigener Nachkommen, die gemeinschaftliche Kinderaufzucht und Adoptionen aus soziobiologischer Sicht:

Eckart Voland, Soziobiologie: Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz, Springer Spektrum, Heidelberg, 4. Auflage 2013

 

Die amerikanische Comedian und Moderatorin Ellen Degeneres hat den Konflikt zwischen Eltern und Nichteltern in ihrem Buch ›Seriously … I’m Kidding‹ sehr treffend dargestellt:

 

»If you’re not attentive 100 percent of the time, you will quickly learn how difficult it is to get grape juice out of the antique rug in Auntie Ellen and Auntie Portia’s sunroom.«

 

»We love children. We love to be around children after they’ve been fed and bathed. But we ultimately decided that we don’t want children of our own. There is far too much glass in our house.«

Ellen Degeneres, Seriously … I’m Kidding, Grand Central Publishing, New York 2013

»Unser sechsjähriger Sohn ist sehr wild, aber wir versuchen ihm vorzuleben, dass Werte wie Respekt, Anstand oder Fairness wichtig sind. Gleichzeitig frage ich mich, ob das noch zu verantworten ist. Müssten Eltern angesichts eines zunehmenden Verteilungskampfes nicht eher Fähigkeiten wie Durchsetzungskraft oder flexiblen Umgang mit gesellschaftlichen Normen und der Wahrheit vermitteln? Mir ist klar, dass ein Gemeinwesen, so wie wir es kennen, bald zum Erliegen käme, sollte so eine Denkweise weitere Verbreitung finden. Trotzdem kann man nicht umhin festzustellen, dass diese Strategien etwa in Wirtschaft, Finanzen und Politik für den Einzelnen oft zu weit besseren Ergebnissen führen.« Anna G., Bonn

Sie sorgen sich – und das per se ist natürlich positiv – um die Zukunft Ihres Sohnes. Ob man dabei so stark auf das Wirtschaftliche fokussieren sollte, schon darüber ließe sich streiten. Für falsch halte ich allerdings den von Ihnen behaupteten Gegensatz zwischen Werten und Erfolg in Wirtschaft, Finanzen und Politik. Gut, die Politik mag ein Sonderfall sein, schon Platon etwa hat den Regierenden zugestanden, zum Nutzen des Staates zu lügen. Ansonsten aber scheint mir der Trend speziell in der Wirtschaft gerade umgekehrt in Richtung Werte zu gehen, die Wirtschaftsethik hat Hochkonjunktur.

Innerhalb dieses Bereichs gibt es zwei Ansätze, wie ethische Grundsätze in der Praxis umgesetzt werden: Compliance und Integrity. Beim Compliance-Ansatz werden möglichst detaillierte Regeln vorgegeben, und deren Einhaltung wird streng überwacht. Der Integrity-Ansatz zielt hingegen auf die gemeinsamen Werte des Unternehmens und der Mitarbeiter ab und darauf, dass die Mitarbeiter sich von sich aus zu diesen Werten bekennen und deshalb auch danach handeln. Im Prinzip liegt dem Compliance-Ansatz ein negatives Menschenbild zugrunde: Man nimmt an, dass jeder Mitarbeiter potentiell falsch handelt und nur durch Regeln, Überwachung und Strafen davon abgehalten wird. Beim Integrity-Ansatz hingegen vertraut man auf die Mitarbeiter und bemüht sich, deren richtiges Verhalten zu fördern. Auch wenn dieser Ansatz nicht ohne Compliance-Elemente auskommt, man denke nur an die Einhaltung von Gesetzen oder die Verhinderung von Straftaten, werden die Mitarbeiter damit als eigenverantwortliche Individuen behandelt, und zugleich kann das Unternehmen insgesamt besser auf Veränderungen reagieren als mit einem starren Regelgeflecht.

Damit kommen wir zu Ihrem Sohn, und ich will die Frage an Sie zurückgeben: Wollen Sie einen Sohn, der möglichst effizient passiv Regeln einhält, um seinen Vorteil zu haben und gerade nicht bestraft zu werden? Oder einen, der sich an seinen Grundüberzeugungen orientieren kann und damit aktiv selbst über sein Handeln entscheidet? Ich glaube, ganz unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Überlegungen lässt auch die Orientierung allein am Wohl Ihres Sohnes fast nur die zweite Variante zu.

Literatur:

Lynn Sharp Paine, Managing for Organizational Integrity, Harvard Business Review, 1994, 106–117

 

Ulrich Thielemann, Compliance und Integrity – Zwei Seiten ethisch integrierter Unternehmenssteuerung, Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu), 2005, 31–45 mit Koreferat von Thomas Bschorner: Integrität, Institution, Transformation, zfwu 2005, 46–50

 

Einen guten Überblick bietet: Bernd Noll, Wirtschafts- und Unternehmensethik in der Marktwirtschaft, Kohlhammer-Verlag 2002. Dort vor allem das Kapitel 9: Ethik-Management: Kodizes, Strategien und Instrumente, S. 115ff., und 9.2. Compliance- oder Integrity-Ansatz: eine strategische Grundsatzentscheidung, S. 119ff.

 

Zur Wahrheitsliebe in der Politik siehe Platon, Politeia, Buch III389b:

»Also denen, die in der Stadt regieren, wenn überhaupt irgend jemandem, kann es zukommen, Unwahrheit zu reden, der Feinde und der Bürger wegen, zum Nutzen der Stadt; alle anderen aber dürfen sich hiermit gar nicht befassen.«

Aus: Platon, Sämtliche Werke, Band 2, rowohlts enzyklopädie, Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg 1994, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, S. 282

»Für unser erstes Kind hatten wir uns vor der Geburt einen männlichen und einen weiblichen Namen überlegt. Nun erwarten wir ein zweites Kind und überlegen, ob es moralisch in Ordnung ist, ihm den Namen zu geben, der schon für unser erstes Kind vorgesehen war, wenn es ein Junge geworden wäre. Oder trägt unsere Tochter nicht eigentlich schon beide Namen?« Julia P., Hamburg

Wie stark sind Personen mit ihren Namen verknüpft? In seinem Buch Totem und Tabu berichtet Sigmund Freud, dass vielfach der Name als Bestandteil der Person seines Trägers angesehen wird – nicht nur bei archaischen Völkern und Kindern. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens kennt eine Vielzahl von Verbindungen zwischen Namen und Schicksal des Trägers, zum Beispiel habe mancherorts »der Arme seinem Kinde den N[ame]n eines Reichen« gegeben. Ein Überrest dieser Gedanken dürfte sich im weitverbreiteten Benennen von Kindern nach Eltern, Großeltern, Paten oder Heiligen wiederfinden. All dies vermag ein Unbehagen beim Namensrecycling erklären.

Doch auch wenn man nicht abergläubisch ist, sehe ich einen bedenkenswerten Punkt: die Austauschbarkeit. Nicht der Namen, sondern der Kinder. Im Grunde dient ein Name der Bezeichnung oder Charakterisierung des Individuums, ist also sekundär. Wenn jedoch der Name vorher da ist, scheint das Kind plötzlich umgekehrt die Aufgabe zu haben, einen Namen mit Leben aufzufüllen. Und dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn ein Kind einen Namen erhält, der schon für ein vorheriges Kind vorgesehen war und damals nur nicht verwendet werden konnte. Der Nachgeborene muss plötzlich neben der Kleidung auch noch den abgelegten Namen auftragen.

Eine Lösung findet man im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Dort kann man lesen, dass heute bei der Namenswahl nicht die Herkunft des Namens oder die Berufung auf Familientradition oder Namenspatrone »ausschlaggebend zu sein pflegt, sondern vielmehr der Wunsch nach Wohlklang und die mehr oder minder bewusste Anpassung an den Zeitgeschmack«. Überlegungen dieser Art aber sind nicht individuell auf das einzelne Kind bezogen, und man kann sie, statt sie beim zweiten Kind neu anzustellen, auch übernehmen.

Literatur:

Wolfgang Aly, Name, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (10 Bände). Hrsg. v.Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1987. Band 6 Spalte 950–961. Unveränderter photomechanischer Nachdruck der Originalausgabe (Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, herausgegeben vom Verband deutscher Vereine zur deutschen Volkskunde, Abteilung I, Aberglaube) erschienen 1927 bis 1942 bei Walter de Gruyter & Co, vormals G.J. Göschen’sche Verlagshandlung – J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung – Georg Reimer – Karl J. Trüber – Veit & Comp., Berlin und Leipzig

 

Helmut Gipper, Name, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, Verlag Schwabe & Co., Basel 1984, Spalte. 364–389

 

Sigmund Freud, Totem und Tabu, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1991, dort insbesondere: II. Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, Kapitel 3 c) Das Tabu der Toten, S. 105ff., III. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken, Kapitel 2, S. 132 und IV. Die infantile Wiederkehr des Totemismus, Kapitel 2, a) Die Herkunft des Totemismus, α) Die nominalistischen Theorien, S. 162ff.

 

»Das Befremdende dieses Namenstabu ermäßigt sich, wenn wir daran gemahnt werden, dass für die Wilden der Name ein wesentliches Stück und ein wichtiger Besitz der Persönlichkeit ist, dass sie dem Worte volle Dingbedeutung zuschreiben. Dasselbe tun, wie ich an anderen Orten ausgeführt habe, unsere Kinder, die sich darum niemals mit der Annahme einer bedeutungslosen Wortähnlichkeit begnügen, sondern konsequent schließen, wenn zwei Dinge mit gleichklingenden Namen genannt werden, so müsste damit eine tiefgehende Übereinstimmung zwischen beiden bezeichnet sein. Auch der zivilisierte Erwachsene mag an manchen Besonderheiten seines Benehmens noch erraten, dass er von dem Voll- und Wichtignehmen der Eigennamen nicht ganz so weit entfernt ist, wie er glaubt und dass sein Name in einer ganz besonderen Art mit seiner Person verwachsen ist. Es stimmt dann hiezu, wenn die psychoanalytische Praxis vielfachen Anlass findet, auf die Bedeutung der Namen in der unbewussten Denktätigkeit hinzuweisen.« Sigmund Freud, a.a.O., S. 106f.

 

»Zu den wesentlichen Bestandteilen einer Persönlichkeit gehört nach der Anschauung der Primitiven ihr Name; wenn man also den Namen einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben.« Sigmund Freud, a.a.O., S. 132

 

»Namen sind für die Primitiven – wie für die heutigen Wilden und selbst für unsere Kinder – nicht etwa etwas Gleichgültiges und Konventionelles, wie sie uns erscheinen, sondern etwas Bedeutungsvolles und Wesentliches. Der Name eines Menschen ist ein Hauptbestandteil seiner Person, vielleicht ein Stück seiner Seele.« Sigmund Freud, a.a.O., S. 164

»Kindermützen mit Katzen-, Hasen- oder Bärenohren fand ich schon immer albern. Jetzt aber bekam meine einjährige Nichte eine Mütze übergestülpt, die ihren Kopf wie eine Erdbeere aussehen lässt. Ist es gerechtfertigt, dass Eltern ihre Kinder ohne deren ausdrückliches Einverständnis als Gegenstand oder Tier verkleiden, weil sie es niedlich finden?« Laura M., Bielefeld

Alles, was mit Kindern geschieht, hat den Vorteil, einem klaren Prüfungsmaßstab zu unterliegen: dem Kindeswohl. Es sollte über allen anderen Erwägungen stehen, wenn auch nicht vollkommen allein. So sehr es manche überraschen mag, auch Eltern haben Rechte, ebenso Nachbarn und alle anderen Mitmenschen. Dennoch steht, weil und soweit Kinder schutzbedürftig sind, das Kindeswohl weit oben, und dessen Verbindung zu Erdbeermützen liegt nicht direkt auf der Hand.

Manchmal habe ich den Verdacht, dass es sich bei lustigen Kinderoutfits schlicht um Rache handelt, nach dem Motto: Du entscheidest zwar, wann ich schlafen kann oder nicht, aber ich entscheide, was du anziehst. Und weil ich so wenig Schlaf bekomme, musst du eben als Erdbeere herumlaufen. Dieser Verdacht gründet darauf, dass selbst die liebevollsten Eltern manchmal an die Grenzen ihrer Liebesfähigkeit und -willigkeit kommen. Vor diesem Hintergrund kann man den lustigen Bekleidungen bei Kindern tatsächlich etwas Positives im Sinne des Kindeswohls abgewinnen: Die Eltern finden das niedlich, und das steigert, wie das Kindchenschema mit den großen Augen zeigt, die Zuneigung, was wiederum dem Kind zugutekommt und verhindert, dass es beim nächsten Schreianfall zum eigenen Schaden die Grenzen elterlicher Geduld überschreit und -schreitet.

Abgesehen davon scheint es mir jedoch schwer begründbar, ein Kind zum Amüsement der Erwachsenen lustig zu verkleiden. Zu nichts anderem aber kann es dienen, einem Kind eine derartige Mütze aufzusetzen. Vielleicht hilft eine kleine Faustregel: Man sollte einem Kind nur Sachen anziehen, die man im Prinzip auch tragen würde. Und gewagte Outfits sogar dann vermeiden, wenn man sie selbst mag. Es ist moralisch zulässig, sich selbst zum Affen zu machen, aber nicht einen anderen, der sich nicht wehren kann.

Literatur:

Christoph Schickhardt, Kinderethik. Der moralische Status und die Rechte der Kinder, mentis Verlag, Münster 2012

Dort besonders Kapitel 6, Kindeswohl: Glück und personale Autonomie, S. 160–190

 

Christoph Schickhardt, Zum Begriff des Kindeswohls: Ein liberaler Ansatz, in: Miguel Hoeltje, Thomas Spitzley und Wolfgang Spohn (Hrsg.), Was dürfen wir glauben? Was sollen wir tun? Sektionsbeiträge des achten internationalen Kongresses der Gesellschaft für Analytische Philosophie e.V., Online-Veröffentlichung der Universität Duisburg-Essen, 2013, S. 501–506

Abrufbar hier: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-33085/GAP8_Proceedings.pdf

 

Micha Brumlik, Advokatorische Ethik – Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe, 2. Auflage, Philo-Verlag, Berlin 2004

»Ich habe eine offene Beziehung und möchte ein Kind. Ist die Idee vertretbar, ein Kind in die Welt zu setzen, ohne sicher zu sein, ob es einen Vater haben wird und eventuell darunter leiden könnte?« Stephanie L., München

Zunächst muss ich Ihnen widersprechen: Auch ein Kind aus einer offenen Beziehung wird einen Vater haben. Schlimmstenfalls nur wenig Kontakt zu ihm. Ansonsten kann es sein, dass Ihre offene Beziehung Bestand hat und das Kind in einer familiären Struktur mit Ihnen und seinem Vater aufwächst. Oder aber, weil die Beziehung nicht hält, bei Ihnen und vielleicht auch dem Vater als alleinerziehende Elternteile oder mit anderen künftigen Partnern in einer Patchworkfamilie. Genauso, wie es in etwa zwanzig Prozent aller Familien in Deutschland der Fall ist.

Den Kern der Antwort sehe ich im Problem der Nichtexistenz. Oder, wie es der Philosoph Derek Parfit nennt, dem Interesse möglicher Menschen. Was bedeutet das? Ihr Kind existiert noch nicht, auch nicht im Mutterleib. Es könnte vielleicht einmal existieren, ob, das überlegen Sie gerade. Derzeit ist es also ein möglicher Mensch. Und die Frage, die sich stellt, ist: Kann es im Interesse dieses möglichen Menschen sein, nie zu existieren? Denn man muss sich Folgendes bewusst machen: Die zwei Möglichkeiten, die sich Ihrem Kind bieten, sind nicht, mit oder ohne Vater aufzuwachsen. Wenn Sie keinen festen Partner haben, ist die einzige Alternative, die Ihr mögliches Kind zu dieser Situation hat, die, gar nicht geboren zu werden. Und auch wenn man darüber diskutieren kann, ob es Konstellationen gibt, in denen es besser wäre, nicht geboren zu werden, eines steht fest: Nur bei der Mutter oder in einer Patchworkfamilie aufzuwachsen gehört ganz sicher nicht zu diesen Konstellationen.

Für Sie sehe ich eher folgende Fragen: Will Ihr Partner auch ein Kind? Wie ernsthaft und authentisch ist Ihr Kinderwunsch? Trägt er auch die mögliche Belastung, ein Kind allein großzuziehen? Und vor allem: Glauben Sie, Ihrem Kind eine gute Mutter sein zu können? Dass Sie Überlegungen wie hier anstellen, spricht sehr dafür.

Literatur:

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Stief- und Patchworkfamilien in Deutschland, Monitor Familienforschung. Beiträge aus Forschung, Statistik und Familienpolitik, Ausgabe 32, Stand: November 2013

 

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Alleinerziehende in Deutschland – Lebenssituationen und Lebenswirklichkeiten von Müttern und Kindern, Monitor Familienforschung. Beiträge aus Forschung, Statistik und Familienpolitik, Ausgabe 28, Stand: Juli 2012

 

Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1984, S. 351–379

 

Derek Parfit, Rights, Interests, and Possible People, in: S. Gorovitz et al. (Hrsg.), Moral Problems in Medicine, Engelwood Cliffs/NJ1976, S. 369–375

 

Auf Deutsch ist der Text unter dem Titel »Rechte, Interessen und mögliche Menschen« abgedruckt in dem auch sonst sehr empfehlenswerten Sammelband: Anton Leist (Hrsg.) Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 384–394

Leider ist das Buch nur mehr antiquarisch erhältlich.

 

Parfit spricht vom »Problem der Nichtidentität«, weil er Fälle behandelt, in denen es darum geht, ob statt eines bestimmten Kindes mit schweren Erkrankungen später ein anderes Kind ohne diese Erkrankungen zur Welt kommt, das dann eben nicht identisch mit dem früheren Kind ist. Deshalb wird das frühere Kind nicht existieren, und man muss sich überlegen, wie es mit dessen Interessen – zusammen mit den Interessen aller anderen Beteiligten – aussieht.

 

Da es in der vorliegenden Frage nicht um eine Verschiebung der Schwangerschaft geht (in der Hoffnung, dass es später eine feste Beziehung gibt), sondern um die grundsätzliche Überlegung, ob man einem Kind die Situation in einer offenen Beziehung zumuten kann, halte ich hier die Bezeichnung »Problem der Nichtexistenz« für treffender.

 

Roberts, M.A., »The Nonidentity Problem«, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2015 Edition), Edward N. Zalta (ed.), forthcoming,

Online abrufbar unter: http://plato.stanford.edu/entries/nonidentity-problem/

»Meine vierjährige Tochter hat mir heute eine Frage gestellt. Als ich etwas länger antwortete, sagte sie, das interessiere sie nicht. Ich gab zurück, dann hätte sie nicht fragen sollen, worauf sie meinte, sie könne nicht wissen, ob es sie interessiert, da sie die Antwort ja nicht gewusst habe. Wie ist das allgemein? Muss sich ein Fragender nicht dennoch die Antwort anhören?« Anna S., Starnberg

Bei Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf kann man den schönen Satz lesen: »Na ja, eine höfliche Frage verlangt eine höfliche Antwort.« Diese kluge Erkenntnis möchte ich fortsetzen und sagen: »Na ja, eine höfliche Antwort verlangt ein höfliches Zuhören.« Im Grund scheint sich das aus der Wechselseitigkeit von Frage und Antwort zu ergeben. Und wenn der Antwortende schon so höflich war, auf eine Frage zu antworten, sollte der Fragende dann auch so höflich sein zuzuhören.

Der tiefere Grund dürfte wieder einmal bei Immanuel Kant liegen, genauer, bei seinem Verbot, einen anderen Menschen »bloß als Mittel« zu gebrauchen. Wenn man von jemandem etwas wissen will, benutzt man ihn als Mittel zur Erlangung dieser Information. Aber derjenige bleibt eigenständig sowohl in der Entscheidung, ob er oder sie antwortet, als auch darin, was und wie umfangreich. Unterbricht man ihn jedoch, weil man das, was er antwortet, doch nicht wissen will, zeigt man, dass man nur an einer bestimmten Information interessiert ist, nicht aber an dem, was der andere zu diesem Thema sagen will. Man reduziert ihn tatsächlich auf ein Auskunftsmittel. Das ist es auch, was den unterbrochenen Antwortenden verletzt.

Andererseits kennt man das Problem, dass jemand eine harmlose Frage zum Anlass nimmt, endlose Monologe zu führen. Im Englischen gibt es dafür den schönen Ausdruck TMI. Er steht für »too much information« – zu viel Information. Was wie hier zu viele, aber auch zu genaue, im Sinne von zu intime oder abstoßende Details bedeuten kann. Nur, wo findet man die Grenze, ab der man nicht mehr zuhören muss? Auch die scheint mir Kant zu zeigen: Dann, wenn die Antwort nicht mehr für den Fragenden erfolgt, sondern umgekehrt der Antwortende den Fragesteller als bloßes Mittel für seine Selbstdarstellung gebraucht. Dann gilt: TMI.

Literatur:

Immanuel Kants kategorischer Imperativ in der sogenannten Selbstzweckformel oder Zweck-Mittel-Formel lautet: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«

 

Auf derselben Seite erläutert Kant noch einmal: »Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden.«

 

Zu finden in: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Band IV, S. 429

 

Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf geht an Bord, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg, 1970, Zweites Kapitel, Pippi geht einkaufen, S. 23f.

»An der Bushaltestelle erzählte eine ältere Dame meinem Sohn, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist und nur noch kurz zu leben hat. Das wühlte ihn so auf, dass er Schlüssel und Geldbeutel liegen ließ. Darf ich auf die Unbekannte sauer sein, dass sie einem 14-Jährigen ihr Herz ausschüttet und ihn aus dem Gleichgewicht bringt, oder sollte ich sie bemitleiden?« Corinna H., Ingolstadt

Meines Erachtens hat die alte Dame falsch gehandelt. Auch wenn sie jemanden brauchte, um ihr Herz auszuschütten, sie hätte keinen fremden Jugendlichen dafür wählen dürfen, der nichts damit zu tun hat und den das belastet und überfordert. Ich glaube aber auch, dass man das der Dame schlecht vorwerfen kann, weil sie vielleicht zu schwer an ihrer eigenen Last getragen hat und ebenfalls überfordert war.

Für Sie bedeutet das, dass Sie auf der ersten Ebene ganz zu Recht sauer sein dürfen. Auf einer zweiten, reflektiven Ebene sollte es Ihnen jedoch gelingen, diesen Ärger zu dämpfen, wenn Sie über das Schicksal der Frau nachdenken. Eventuell hilft es, wenn man die beiden Probleme einander gegenüberstellt: Auf der einen Seite das Ihres Sohnes und indirekt Ihrer Familie durch die unvermittelte Konfrontation mit dem Schicksal und dem Tod. Auf der anderen Seite das der alten Dame, die nicht nur mit der Information, sondern mit dem Schicksal selbst umgehen muss. Im Vergleich verschwindet Ihr Problem nahezu.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man im Umgang mit Menschen und vor allem bei der Beurteilung von deren Verhalten weiter kommt und besser fährt, wenn man versucht, sich vorzustellen, mit welchen Problemen sie kämpfen, was sie mit sich herumtragen. Hier muss man es sich nicht einmal vorstellen, man weiß es. Das macht deren Verhalten nicht richtig, vielleicht entschuldigt es das auch nicht, aber es hilft, Verständnis aufzubringen. Was einem wiederum selbst die Situation erleichtert.

Sie können nun die Gelegenheit nutzen, um mit Ihren Kindern über das nicht immer freundliche Schicksal und den Tod zu sprechen, die zum Leben dazugehören. Irgendwann werden auch Ihre Kinder direkt mit beidem konfrontiert werden, und womöglich hilft es ihnen dann, sich schon einmal damit beschäftigt zu haben.

Leseempfehlungen:

Philippe Ariès, Geschichte des Todes, dtv München, 11. Auflage 2005

 

Constantin von Barloewen (Hrsg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000

 

Joachim Wittkowski (Hrsg.): Sterben, Tod und Trauer, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2003

 

Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, zuerst erschienen in: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, Bd. 4 (6), 1917, S. 288–301

 

John S. Stephenson, Death, Grief and Mourning, Free Press, New York 2007

 

Neil Small, Jeanne Katz, Jennifer Lorna Hockey (Hrsg.), Grief, Mourning and Death Ritual, Open University Press, Buckingham/Philadelphia 2001

 

Héctor Wittwer, Daniel Schäfer, Andreas Frewer (Hrsg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2010

 

Klaus Feldmann, Tod und Gesellschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2. Auflage 2010

 

Héctor Wittwer, Philosophie des Todes, Reclam Verlag, Stuttgart 2009

 

Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier (Hrsg.), Der Tod im Leben, Piper Verlag, München 2004

 

Elisabeth Kübler-Ross, Reif werden zum Tode, Knaur Verlag, München 2004

»Auf Internetportalen wie Youtube sind Videos von kleinen Kindern und Säuglingen, die lustige Geräusche machen, große Renner. Sie erreichen zum Teil bis zu 200 Millionen Klicks. Die Videos werden meist von den Eltern der Kinder ins Netz gestellt, und Säuglinge können schwerlich gefragt werden, ob sie einverstanden sind. Haben die Eltern das Recht dazu, weil sie Erziehungsberechtigte sind? Was, wenn die Kinder sich später schämen für ihre Internetprominenz?« Clarissa V., Lübeck

Eltern müssen und dürfen in vielen Situationen stellvertretend für ihre Kinder entscheiden; manchmal auch gegen deren erklärten Willen, man denke nur an Arztbesuche, gesunde Ernährung oder Gefahren, die Kindern verlockend erscheinen. Dennoch darf man dabei eines nicht vergessen, was der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik treffend umschreibt, wenn er in diesem Zusammenhang von »advokatorischer Ethik« spricht: Die Eltern treffen diese Entscheidungen nicht in eigenem Interesse, sondern treuhänderisch wie ein Anwalt für ihre Kinder.