Nachdenken über Moral - Rainer Erlinger - E-Book

Nachdenken über Moral E-Book

Rainer Erlinger

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Beschreibung

Wie bestimmt man das Verhältnis von Design und Ethik? Wie findet man die Schwächen der Goldene Regel? Wie wägt man Innovationen mit ethischen Forderungen ab? In einer Vortragsreihe, abgerundet durch ein persönliches Interview, verknüpft Rainer Erlinger, Autor der Kolumne »Die Gewissensfrage« im Magazin der »Süddeutschen Zeitung«, das Nachdenken über die großen ethischen Fragen und ihre philosophischen Grundlagen mit seinem konkreten Vorgehen. Er lässt sich beim Verfassen der Kolumnen über die Schulter blicken und gibt Auskunft, wie er im Einzelnen die Fragen seiner Leser angeht. So kann man der moralischen Abwägung gewissermaßen beim Arbeiten zusehen.

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Rainer Erlinger

Nachdenken über Moral

Gewissensfragen auf den Grund gegangen

Fischer e-books

Vorwort

»Nachdenken über Moral – Gewissensfragen auf den Grund gegangen« ist dieses Buch überschrieben. Dieser Titel soll programmatisch sein. Und das in mehrfacher Hinsicht.

Nachdenken über Moral – wo könnte man – speziell über ein so komplexes Thema wie Moral – besser nachdenken als an einer Universität? Deshalb fühlte ich mich nicht nur geehrt, sondern sagte auch erfreut zu, als ich von der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg die Einladung zu einer Gastprofessur erhielt, in deren Rahmen ich neben einem Seminar eine Vorlesungsreihe halten sollte. Im Wintersemester 2008/2009 bot ich daraufhin unter dem Motto »Nachdenken über Moral – Gewissensfragen auf den Grund gegangen« sieben öffentliche Veranstaltungen an: sechs monothematische Vorlesungen und ein abschließendes Podiumsgespräch mit Lesung. Dabei kam vor allem auch im Gespräch mit der Studierendenvertretung ein Gedanke zum Tragen: Das Thema Ethik ist für alle Studierenden an einer so weit gespannten Fakultät wie der philosophisch-sozialwissenschaftlichen der Universität Augsburg gleichermaßen von Interesse, nicht nur für die, die es in ihrem Lehrplan vorfinden. Das kommt auch dem Leser dieses Buches zugute, das auf diesen Vorlesungen beruht. Denn auch das Buch richtet sich nicht nur an die, die schon mit Ethik und Moral zu tun haben, sondern gerade auch an die, die bisher wenig damit befasst waren. Diese große Spannweite spiegelt sich einerseits in der Auswahl der Themen wider, die von Klassikern wie Lüge oder Toleranz über die bekannte Goldene Regel bis hin zu Design und Innovationen reichen. Andererseits aber auch in der Art der Darstellung. So kommt beim Thema Lüge dann die neue Frisur der Freundin ebenso vor wie Kants kategorischer Imperativ, die Evolution ebenso wie der Kirchenvater Augustinus oder das Bundesarbeitsgericht. Beim Thema Recht und Moral die rote Ampel bei Nacht ebenso wie Sokrates, Antigone und die Geschwister Scholl. Bei Ethik und Design die Computerfirma Apple ebenso wie das Bauhaus und der Werkbund, aktuelles Autodesign ebenso wie Plattenbauten oder Ikea und H&M. Bei der Goldenen Regel das Verhalten von archaischen Jägern und Sammlern ebenso wie zu viel Wechselgeld an der Supermarktkasse, das Prinzip der Universalisierung ebenso wie das Spiegeln oder der Schleier des Nichtwissens. Bei der Toleranz Nathan der Weise ebenso wie knapp sitzende Shorts und Polyesterhemden. Bei Innovationen ein einstürzendes Hallendach ebenso wie eine Packstation der Post und neue Medikamente. Immer knüpft das Nachdenken am Alltag an, versucht von dort aber weiter und in die Tiefe zu gehen.

 

Nachdenken über Moral – Man kann an einer Universität auf verschiedene Art und Weise nachdenken: in Vorlesungen, Kursen und Seminaren, in Gesprächen oder in der Bibliothek vor, über und mit Büchern. Dieses Buch versucht, das zu verbinden und nach außen zu tragen. Grundlage sind die Vorlesungen, deren Duktus auch überwiegend beibehalten wurde, um gewissermaßen ein Zuhören beim Lesen zu ermöglichen. Den Charakter des Vortrags behält das Buch auch insofern, als es Originalzitate mit Erläuterungen verbindet und abwechselt, das Ansprechen des Lesers mit dem Bezug auf Klassiker. Wie in einem Vortrag werden die Urheber von Zitaten genannt, im Buch sind sie, ebenso wie charakteristische Ideen und Gedankengänge, zusätzlich mit Quellen belegt. Daneben gibt es zu jedem Kapitel auch Leseempfehlungen, die weiterführen, denen die Gedanken auch teilweise entnommen sind. Ansonsten aber will das Buch kein wissenschaftlicher Text sein und erhebt eher den Anspruch auf Verständlichkeit, als formal wissenschaftlichen Ansprüchen genügen zu wollen. Dieses Buch soll vor allem den Prozess des Denkens verständlich machen, den Leser mitnehmen auf den Gedankengang.

 

Nachdenken über Moral – Die Vorlesungen waren so konzipiert, und auch dieses Buch, das auf den Vorlesungen aufbaut, soll dezidiert so verstanden werden: als Nachdenken, als Prozess, als Tasten, als Fragen, als Sich-Vorwagen. Natürlich braucht man dabei festen Untergrund und will die moralphilosophischen Anknüpfungspunkte nicht vergessen oder vernachlässigen. Dennoch: Die Vorlesungen sollten, wollten und konnten ebenso wenig eine Hauptvorlesung der Moralphilosophie sein wie dieses Buch ein Lehrbuch der Moralphilosophie. Beide erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sei es in Bezug auf Themen, sei es in Bezug auf die Aufarbeitung der behandelten Themen. Umgekehrt aber können sie durch diese Freiheit mehr, anderes bieten. So tauchen Themen auf, die man in einem Lehrbuch kaum oder nur sehr kurz finden wird, etwa das Verhältnis von Moral zu Innovationen oder Design. Worum es dabei geht, ist: anregen zum Mitdenken und Weiterdenken.

 

Gewissensfragen auf den Grund gegangen – lautet der Untertitel. Und auch das ist programmatisch, in doppelter Hinsicht. Im Text finden sich etliche Gewissensfragen aus dem Süddeutsche Zeitung Magazin. Regelmäßige Leser dieser Kolumne werden sich vielleicht an die eine oder andere davon erinnern. Manche dieser Fragen sind auch schon in den mittlerweile drei Kolumnenbänden abgedruckt, manche erscheinen hier zum ersten Mal in einem Buch. Hier aber, in diesem Buch – und das ist besonders –, sind sie eingebettet in die Gedanken, die sich durch die Kapitel ziehen. Und das ermöglicht den doppelten Grundgang. Einerseits zeigen die Gewissensfragen, wo denn genau die moralischen Probleme liegen, über die es sich lohnt nachzudenken, und helfen so, diesen Gedanken auf den Grund zu gehen. Andererseits zeigen umgekehrt die Gedanken, in die sie eingebettet sind, wie man zu einer Lösung in diesen konkreten Alltagssituationen gelangen kann, und helfen, den Gewissensfragen selbst auf den Grund zu gehen.

 

Danksagungen sind schwierig. Nicht weil ich mich nicht bedanken möchte, sondern im Gegenteil weil man dabei so leicht jemanden vergisst, dem oder der eigentlich besonderer Dank gebührt. Und in Anbetracht der Fehlerhaftigkeit jeglichen menschlichen Handelns wird das immer der Fall sein. Deshalb will ich auch hier ganz bewusst nur sehr punktuell danken, auf einen Dank aber kann und will ich nicht verzichten. Denn dieses Buch gäbe es nicht ohne die Vorlesungen an der Universität Augsburg im Rahmen der neu eingerichteten und erstmals besetzten Ernst-Troeltsch-Gastprofessur. Und in diesem Zusammenhang möchte ich mich bei allen bedanken, die diese Vorlesungen ermöglichten. Allen voran bei den Studierenden, aus deren Studienbeiträgen die Gastprofessur finanziert wurde. Daneben insbesondere bei den Mitgliedern im Fakultätsrat, der beschlossen hat, mir die Gastprofessur anzutragen, speziell bei den Studierendenvertretern, Frau Jessica Detemple und Herrn Benjamin Oertel, sowie bei Frau Prof. Dr. Eva Matthes, die mich dafür vorgeschlagen hat. Und last but not least beim damaligen und derzeit wieder amtierenden Dekan, Herrn Prof. Dr. Bernd Oberdorfer. Er hat nicht nur die Aufgabe übernommen, die Vorlesungen und das Seminar, das ich daneben angeboten habe, zu koordinieren. Er hat sich darüber hinaus auch bereit erklärt, die letzte Veranstaltung in Form eines Gesprächs mit Lesungen von Gewissensfragen zu moderieren und so auch zum letzten Kapitel dieses Buches entscheidend beigetragen. Und insbesondere war er mir über das Semester hinweg zu den Themen der Vorlesungen und darüber hinaus stets ein angenehmer wie wertvoller Gesprächspartner, dem ich viele anregende Gedanken zu verdanken habe. Womit wir vom Dank über das Gespräch wieder zurück beim Thema wären: Nachdenken über Moral.

 

Dank auch all denen, die nun nicht genannt werden, es aber verdienten.

Wer einmal lügt …

Über Lüge und Wahrheit[1]

Die große Frage

Wieso gerade die Lüge als erstes Thema? Vielleicht hilft ein Blick in einen der großen Texte, vielleicht sogar den größten in diesem Zusammenhang weiter, ein Blick in den Text »De mendacio – Über die Lüge« des Kirchenvaters Augustinus. Er beginnt mit dem Satz: »Magna quaestio est de mendacio …«.[2] Augustinus sah also in der Lüge eine Magna quaestio, eine große oder auch schwere Frage der Ethik. Natürlich bin ich nicht so vermessen zu sagen: Ich beginne gleich mit einer der ganz großen Fragen der Ethik und gedenke womöglich gar, sie hier zu lösen. Aber die Lüge ist sicher ein sehr interessantes Thema und auch aus anderen Gründen, die ich gleich nennen will, geeignet, den Zyklus »Nachdenken über Moral« zu eröffnen.

Lügen im Leben

Studien der Universität von Southern California zufolge wird der Mensch etwa 200 Mal am Tag belogen;[3] im Schnitt alle acht Minuten, heißt es,[4] in einer anderen Quelle alle fünf Minuten.[5] Eine andere Studie ergab, dass Menschen in einem zehnminütigen Gespräch im Schnitt 1,75 Mal lügten, nur 40 % der Untersuchten logen gar nicht, die anderen 60 % dafür durchschnittlich 2,92 Mal in nur zehn Minuten.[6] Zur Ehrenrettung der Menschen sei nicht verhehlt, dass es auch andere Zahlen gibt, die besagen, dass sie nur ein- bis zweimal am Tag lügen.[7] Derartige Unterschiede sollten aufhorchen lassen und lohnen einen Blick auf die jeweilige Methodik, mit der die Ergebnisse erzielt wurden. Die Zahl der 1,75 Lügen in nur zehn Minuten entstand aus bestimmten Versuchsanordnungen. Man setzte Menschen einander gegenüber und sagte ihnen, sie sollen sich unterhalten und dabei einen guten Eindruck beim Gegenüber machen. Diese Gespräche wurden per Video aufgenommen. Anschließend spielte man diese Videobänder den Versuchspersonen vor und bat sie, doch zu sagen, wann sie gelogen hätten.[8] Dabei kamen dann die hohen Zahlen heraus. Und 1,92 Lügen pro zehn Minuten Gespräch ist wahrlich häufig. Die Zahl von ein bis zwei Lügen am Tag ergab sich hingegen aus der Auswertung von Tagebuchaufzeichnungen der untersuchten Personen.[9] Welche Methode der Wahrheit näher kommt, sei an dieser Stelle dahingestellt.

Die Lüge eignet sich auch deshalb für die erste Vorlesung, weil sie in einer bestimmten Form seit einiger Zeit wieder besonders aktuell ist: in Form der politischen Lüge. Im Herbst 2008 blickte die Welt gespannt nach Amerika. Es war die heiße Phase des Präsidentschaftswahlkampfes zwischen Barack Obama und John McCain. Höhepunkt waren die drei großen TV-Duelle zwischen diesen beiden Kandidaten für die US-Präsidentschaft. Jeweils am nächsten Tag konnte man in den Medien den sogenannten Debatten-Faktencheck finden.[10] Verschiedene Institute untersuchten, welche Behauptungen, die innerhalb dieser eineinhalb Stunden von den beiden Kandidaten oder Duellanten vorgetragen wurden, gelogen waren. Die Institute prüften, ob die genannten Ausgabenhöhen, Prozentangaben usw. stimmen, und konnten feststellen, dass innerhalb dieser Diskussion auf beiden Seiten eine ganze Reihe der Daten von nicht ganz richtig über »hingebogen« bis schlicht falsch waren.

Und noch ein weiterer Grund spricht für die Lüge als Einstieg in das Thema »Nachdenken über Moral«. Man kommt, wenn man über Moral sprechen will, »in diesen Zeiten«, wie es immer so schön heißt, nicht um die große Finanzkrise herum, die 2008 begann und ihren Höhepunkt hatte, aber mit ihren Nachwirkungen – wie etwa den immensen Kreditaufnahmen der Staaten zu ihrer Bekämpfung und wiederum deren Folgen – seither die Welt in Atem hält. Allgemein wird sie ja immer mit der Frage der Gier verknüpft. Ich will darauf gar nicht vertieft eingehen, weil das schon sehr breitgetreten wurde und wird. Aber: Hat das Ganze nicht vielleicht auch etwas mit Lüge zu tun? In der Etymologie, der Lehre von der Wortherkunft, wird zum Teil vertreten, dass das Wort »Lüge« im Deutschen eine Verwandtschaft mit dem altslawischen »lovu« aufweist, das »Beute« darstellt. Und mit dem lateinischen »lucrum« für »Gewinn«.[11] Ist das ein Zufall? Man kann natürlich mit Sprache und Sprachähnlichkeiten immer sehr viel anstellen, aber ein Blick in die Mythologie offenbart Ähnliches: Der griechische Götterbote Hermes ist der Gott der Kaufleute und der Reisenden, aber auch der Diebe und der Lügner. Gott der Lügner und in diesem Zusammenhang damit auch Gott der Autoren und der Schriftsteller – eine Verknüpfung, die ich hier einmal unkommentiert stehen lassen möchte. Die römische Entsprechung des Hermes ist Mercurius, und dessen Name kommt vom lateinischen »merces« für »Waren«, verwandt mit dem »Mercator«, dem Kaufmann. Die Verbindung von Handeln und Kaufen, der Preisfindung usw. mit Lüge und Erfindung lässt sich offenbar in vielen Bereichen nachweisen.

Zur Lüge geboren?

Auch Biologen haben sich mit der Lüge beschäftigt. Der Anthropologe Volker Sommer etwa hat über die Verbindung von Biologie und Lüge ein sehr schönes Buch geschrieben, er nannte es »Lob der Lüge – Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch«.[12] Darin beschreibt er, wie auch in der Natur getäuscht wird – ob das wirklich eine Lüge darstellt, sei dahingestellt. Er vertritt aber auch zusammen mit anderen Evolutionsbiologen die These, dass die Lüge einen ganz entscheidenden Anstoß zur Entwicklung, zur Evolution des Menschen gegeben hat und eben auch zur Evolution des Großhirns. Sommer beginnt einen Zeitungsartikel zum Thema Lüge mit einer alten rabbinischen Weisheit: »Alles hat Gott ins Leben gerufen, mit Ausnahme der Lüge und der Falschheit. Diese haben die Menschen erfunden.«[13] Und er zitiert Schopenhauer: »Es gibt nur ein lügenhaftes Wesen auf der Welt. Es ist der Mensch. Jedes andere ist wahr und aufrichtig, indem es sich unverhohlen gibt als das, was es ist, und sich äußert, wie es sich fühlt.«[14]

Genau das bezweifelt Sommer jedoch. Wie viele Verhaltensbiologen meint er, nicht nur bei unseren nächsten Verwandten, den Primaten – also Affen –, lügenähnliches Verhalten oder zum Teil Lügen nachweisen zu können. Quer durch das Tierreich findet man zum Beispiel absichtlich falsche Warnrufe, welche die Konkurrenten zur Flucht bewegen, um alleine mit der Beute zu bleiben. Daneben kennt man in der Biologie Mimikry, vorgetäuschtes Verhalten oder Aussehen. Die harmlose Schwebfliege trägt dieselbe Warnfarbenkombination Schwarz-Gelb wie eine Wespe, sie gibt sich damit wie eine echte Wespe, so dass sie von Fressfeinden nicht angegriffen wird. Diese »denken«, falls man es so nennen kann: Wenn ich versuche, dieses gestreifte Tier zu fressen, geht’s mir schlecht.

Aber vielleicht haben auch umgekehrt aus evolutionsbiologischer Sicht die rabbinische Weisheit und Schopenhauer recht, vielleicht ist die Lüge tatsächlich mit dem Menschlichen besonders verbunden, denn die Gehirnentwicklung könnte sehr stark mit der Frage der Lüge verknüpft sein. Manche Evolutionsbiologen vertreten die These, dass diese – im Lichte der Evolution gesehen – explosionsartige Entwicklung des Gehirns mit der Fähigkeit zur Lüge zusammenhängt. Wenn man ein menschliches Gehirn betrachtet, kann man sehen, wie das Großhirn sich geradezu aufgebläht und über die gesamten tieferen Hirnstrukturen gestülpt hat. Dieses Phänomen wird nun von manchen unter anderem damit erklärt, das sei notwendig gewesen, weil das Lügen, die Täuschung, eine besonders hohe geistige Leistung erfordert.[15] Einmal die Erinnerungsfähigkeit: Um die Wahrheit zu sagen, muss ich mich an nichts erinnern. Ich kann sie auch morgen wieder sagen, und es wird wieder stimmen. Wenn ich heute lüge, muss ich, um glaubhaft zu bleiben, morgen noch wissen, was ich heute gesagt habe, und es mir merken. Das heißt, um zu lügen, brauche ich eine intellektuelle Fähigkeit, Erinnerungsfähigkeit. Spiegelbildlich ist es dann im evolutionären Kampf extrem wichtig, auch zu erkennen, ob mein Gegenüber lügt, das heißt, ich brauche Mechanismen zum Erkennen von Lügen. Ich muss sehen: Schwitzt er? Wird er rot? Zwinkert er mit den Augen? Ist er unsicher? usw. Auch die Verarbeitung dieser Informationen zur Erkenntnis, ob mein Gegenüber lügt, stellt eine hohe intellektuelle Leistung dar, und es könnte sein, dass unser Großhirn dem zwar nicht entsprungen ist, aber doch daher einen gewichtigen evolutionären Schub erhalten hat.

Schmierstoff des Zusammenlebens

Am interessantesten macht dieses Thema jedoch die Tatsache, dass die Lüge auch fester Bestandteil des täglichen Lebens und vor allem unser aller täglichen Lebens ist. Karl Kraus, der große Wiener Schriftsteller und Satiriker, schrieb: »Eine Notlüge ist immer verzeihlich. Wer aber ohne Zwang die Wahrheit sagt, verdient keine Nachsicht.«[16] Dies passt zu Untersuchungen von Soziologen und Sozialpsychologen, von denen viele die Auffassung vertreten, die Lüge sei der soziale Schmierstoff und ein soziales Zusammenleben in einer Gesellschaft wäre ohne die Lüge, ohne die Möglichkeit auch einmal etwas zu glätten oder Reibereien aufzufangen, gar nicht möglich.[17]

In der Rubrik »Gewissensfrage« im Magazin der Süddeutschen Zeitung können Leser Moralfragen des Alltags einsenden, und ich antworte jede Woche auf eine dieser Fragen. Das Schöne an dieser Rubrik ist, dass ich über die Zuschriften einen gewissen Blick darauf erhalte, was die Menschen beschäftigt. Und so habe ich z.B. ganz am Anfang der Reihe im Jahr 2002 folgende Frage erhalten:

»Manchmal verabrede ich mich mit einem Bekannten, z.B. zum Sonntagsspaziergang. Gelegentlich passiert es mir, dass ich dann am Sonntag die Augen aufmache und merke, eigentlich hab ich heute keine Lust. Nun die Gewissensfrage: Rufe ich an und erfinde irgendeine Ausrede, oder sage ich einfach ehrlich, wie es ist? Ich persönlich tendiere zur Wahrheit, weil ich es selbst nicht mag, wenn mir jemand etwas vorschwindelt. Nun habe ich gemerkt, dass nicht jeder die Wahrheit gut verträgt, oder ist es schon unmöglich, kurzfristig überhaupt abzusagen?«[18]

Was ist das für eine Situation? Es ist eine ganz alltägliche Situation, die vermutlich jeder kennt: Man will etwas absagen, man kommt zu spät, oder man hat etwas vergessen, und was tut man? Man erfindet irgendeine Ausrede. Etwas profaner ausgedrückt: Man lügt.

Vor allem deswegen will ich mit der Lüge beginnen. Denn ich wage zu behaupten, als einigermaßen moralisch gefestigter Mensch – und als solchen betrachte ich mich – kommt man mit keinem anderen moralischen Gebot oder Verbot so häufig in Konflikt wie mit dem Lügenverbot. Ich habe noch nie in einem Kaufhaus etwas mitgehen lassen, das weiß ich sicher. Ich glaube zu wissen, dass ich generell noch nichts gestohlen habe. Ich kann ausschließen, jemanden umgebracht zu haben, ich habe, glaube ich, auch noch nie jemand anderen bewusst am Körper verletzt, aber ich kann mich an etliche Situationen der »Notlüge« erinnern. Das scheint mir tatsächlich ein Punkt zu sein, an dem man schnell mit der Moral in Konflikt gerät. Deshalb glaube ich, dass es sich lohnt – und das Motto heißt ja »Nachdenken über Moral« –, über die Lüge als Erstes nachzudenken.

Drei Fragen

»Nachdenken«, d.h., es wird nicht unbedingt Antworten geben. Ich habe nicht vor, es wäre auch vermessen, diese »Magna quaestio« der Ethik im Sinne Augustins hier zu beantworten. Aber es lohnt sich nachzudenken, und ich würde gerne über drei Punkte nachdenken bei der Lüge:

Was ist denn überhaupt eine Lüge?

Das wird Sie jetzt vielleicht verwundern, weil man es als so selbstverständlich voraussetzt: Was ist schlecht an der Lüge?

Dazu korrespondierend: Kann es Situationen geben, in denen die Lüge gerechtfertigt ist, gut oder sogar geboten?

Was ist eine Lüge?

Um mit der Frage: Was ist eine Lüge? zu beginnen, eine weitere Leserfrage aus dem Magazin der Süddeutschen Zeitung. Hier fragte ein Herr aus Weilheim:

»In diesem Jahr kann ich mir keinen Urlaub leisten. Um Freunde, Verwandte und Bekannte zu beeindrucken, habe ich mir von einem Freund in New York Ansichtskarten schicken lassen. Diese möchte ich beschriften, zu jenem Freund zurücksenden und von ihm dann in Amerika einwerfen lassen, so dass es den Anschein hat, als hätte ich ihn in New York besucht. Was ich zunächst für eine gute Idee hielt, fällt mir plötzlich aber nicht ganz leicht. Wie beurteilen Sie mein Vorhaben?«[19]

Bei dieser Frage kann man über vieles nachdenken, z.B. ob es sinnvoller ist, Geld zu sparen oder es lieber noch schnell zu verprassen, bevor es weg ist. Aber uns soll hier die Frage interessieren: Ist es denn eine Lüge, diese Ansichtskarten loszuschicken?

Um diese Frage zu beantworten, kann man zunächst zurückblicken in die Antike. Tatsächlich gab es schon in der griechischen Philosophie Diskussionen über die Lüge, doch die befremden manchmal ein wenig, wenn man sie heute liest. Wenn etwa darüber diskutiert wird, ob derjenige schlechter ist, der absichtlich lügt, oder der, der unabsichtlich lügt, mit anderen Worten: sich irrt. Etwas, das wir – das werden wir gleich genauer sehen – kaum mehr als Lüge, sondern eben als Irrtum bezeichnen würden.[20] Woran liegt das? Die Griechen hatten nur ein Wort für die Lüge: pseudos. Pseudos bezeichnete die Unwahrheit, und das beinhaltete vieles, unter anderem das, was wir heute Lüge nennen. Es beinhaltete aber auch den Irrtum, ebenfalls eine Unwahrheit, aber eine, bei der man sich getäuscht hat, es nicht besser wusste. Und es beinhaltete das Fiktionale, das Werk der Dichter, die etwas erfinden.[21] Alles war pseudos. Erst im Lateinischen kam es dann zur Unterscheidung zwischen Mendacium, der Lüge, und Error, dem Irrtum.[22] Und noch einmal später, bei der Entwicklung des römischen Rechts, entdeckte man einen weiteren Punkt, nämlich die böse Absicht, den Dolus malus, der zur arglistigen Täuschung gehört.[23] Erst diese Entdeckung führte zur Erkenntnis, dass zu einer Lüge außer dem Abweichen von der Wahrheit noch etwas anderes gehört, nämlich die böse Absicht. Und das leitete dann hin zu der heute noch allgemein gültigen Definition der Lüge, die des Kirchenlehrers Augustinus in seinem Werk »De mendacio – Über die Lüge« und 25 Jahre später, am Ende seines Lebens, in einem zweiten Werk: »Contra mendacium – Gegen die Lüge«. Augustinus definierte:

»Die Lüge ist offensichtlich eine unwahre, mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage.«[24]

Oder anders formuliert:

»Die Lüge ist eine unrichtige Zeichenkundgabe mit der Absicht des Täuschens.«[25]

Wenden wir uns vor diesem Hintergrund wieder den Ansichtskarten zu. Dann lautet die Frage: Was macht dieser Ansichtskartenschreiber? Und: Was will er? Er schickt die Karten einmal nach Amerika und wieder zurück. Und er will damit beim Empfänger der Ansichtskarten den Eindruck erwecken, er sei in den USA gewesen. Das führt ziemlich klar zur Augustinischen Definition der Lüge und damit zur Feststellung: Es handelt sich um eine Lüge. Der Fragesteller hat etwas getan, er hat eine Aussage getroffen, er hat zwar kein Wort gesprochen, aber er hat Zeichen kundgegeben, indem er »Grüße aus New York« schrieb und lossandte. Ja, selbst wenn er es nicht wörtlich so geschrieben hätte, auch wenn er nur geschrieben hätte: »Es geht mir gut. Hoffe Dir auch, viele Grüße«, hätte er nach dieser Definition gelogen. Denn auch dann hätte er kommuniziert, Zeichen kundgegeben mit dem Willen zur Täuschung.

Was ist schlecht an der Lüge?

Nur wissen wir damit noch nicht, wie diese Lüge zu bewerten ist. Das leitet über zur zweiten Frage: Was ist schlecht an der Lüge? Für Augustinus war diese Frage klar zu beantworten: »Non est mentiendum – Es darf nicht gelogen werden.«[26] Jede Wahrheit ist ein Abbild der ewigen Wahrheit Gottes,[27] galt für Augustinus. Das Lügen stellt somit eine Entfernung von Gott dar, und der Teufel als Gegenspieler Gottes ist der Vater der Lügen. Augustinus formulierte das sehr hart:

»Es gibt keine Lüge, die nicht das Gegenteil der Wahrheit wäre. Denn wie Licht und Finsternis, Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Gerechtigkeit und Unrecht, Sünde und Rechttun, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, so sind Wahrheit und Lüge einander entgegengesetzt. Je mehr man deshalb jene liebt, umso mehr muss man diese hassen.«[28]

Deshalb gab es für Augustinus keine Entschuldigung, keine Möglichkeit, in irgendeiner Art und Weise zu lügen.

Notlügen …

Das führte natürlich zu gewissen Problemen. Denn schon in der Antike war bekannt – das findet sich bei vielen Philosophen –: Es gibt Situationen, bei denen man geradezu gezwungen zu sein scheint, zu lügen. Ein klassisches Zitat stammt von dem römischen Rhetoriker Quintilian aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Als Philosoph und Rhetoriker setzte Quintilian ganz selbstverständlich voraus:

»Zunächst müssen wir jedoch alle zugeben, was selbst die strengsten Stoiker gelten lassen, dass ein ehrenhafter Mann mal in die Lage kommen wird, eine Lüge auszusprechen, und zwar manchmal schon in harmloseren Fällen. Wenn wir etwa bei Kindern, die erkrankt sind, weil es ihnen gut tun soll, vielerlei erfinden und vielerlei versprechen, ohne es halten zu wollen. Erst recht aber wenn es gilt, einen Strolch davon abzubringen, einen Menschen zu erschlagen [davon werden wir noch öfter hören] oder einen Feind zum Heile des Vaterlands zu betrügen [eine politische Lüge], dass dann, was sonst sogar bei Sklaven Tadel, nun selbst bei einem Weisen Lob verdient.«[29]

Bei vielen antiken Philosophen lässt sich vielerorts Entsprechendes finden. Allen ist die Grundannahme gemein: Es gibt Situationen, in denen man ohne Lüge kaum auskommt. Nun kam im 4. Jahrhundert nach Christus Aurelius Augustinus und verkündete ein absolutes Lügenverbot ohne jede Ausnahme, und damit mussten ab diesem Zeitpunkt Theologie und Kirche zurechtkommen.

… und die Tricks dabei: Reservatio mentalis, locutio ambigua und restrictio mentalis

Wie konnten sie das? Indem sie – salopp formuliert – verschiedene Tricks erfanden. Der erste war die sogenannte reservatio mentalis, der innere Vorbehalt. Ihr liegt folgende Idee zugrunde: Man fügt seiner äußeren, hörbaren Rede einen geheimen, vor sich hingeflüsterten oder gar nicht ausgesprochenen zweiten Teil hinzu, der mit dem ersten zusammen betrachtet eine richtige wahre Aussage ergibt. Wenn man z.B. in einem Verhör gefragt wird: Weißt du dieses und jenes?, dann sage man »nescio – ich weiß nicht«, und um die Lüge zu vermeiden, so der Ratschlag, füge man im Geiste ein unüberhörbares »pro te – für dich« hinzu. Wird man gefragt: »Hast du dieses und jenes getan?«, kann man sagen: »Nein, das hab ich nicht getan« und fügt dann leise »heute« hinzu. So die Empfehlung. Wenn man von jemandem gebeten wird, man möge ihm doch Geld leihen, und hat zwar Geld, will es aber nicht verleihen, so sage man: »Ich habe kein Geld« und nuschle leicht zur Seite: »um es Dir zu leihen«. Auch das vermeidet gemäß der Idee der reservatio mentalis die Lüge, deren absolutes Verbot damit aufrechterhalten werden kann.[30]

Daneben entwickelte man noch weitere Möglichkeiten, zum Beispiel die sogenannte locutio ambigua, die zweideutige Rede. Die Idee dahinter war, dass man in einer Situation, in der es nicht möglich ist, zu schweigen, die Aussage so formuliert, dass man sie in verschiedene Richtungen auslegen kann. Wie funktioniert das? Ein Beispiel aus der Medizinethik: Einen schwerkranken Mann, dessen Sohn gestorben ist, würde diese Nachricht sofort ins Grab bringen. Wenn er den Arzt oder einen Freund nach dem Verbleib seines Sohnes fragt, kann der antworten: »Dein Sohn lebt!« und pathetisch noch hinzufügen: »Bei Gott!« Dann könnte man dies unter Umständen so deuten, dass »bei Gott« keine Verstärkung, sondern eine Ortsangabe darstellt und damit bedeutet: »Dein Sohn lebt bei Gott« und ist somit tot. Nachdem das eine mögliche Auslegung dieser Worte darstellt, handelt es sich nach der Theorie der locutio ambigua nicht um eine Lüge.[31]

Doch es ging noch weiter, bis hin zur restrictio mentalis, der einschränkenden Deutung. Diese betrifft den Fall, dass zwar der Wortlaut, den Buchstaben gemäß, eigentlich nicht stimmt, aber der Sinn richtig getroffen wird. Wurde man z.B. zu Pestzeiten gefragt, ob man aus einer pestverseuchten Stadt komme, dürfte man, wenn man sicher weiß, nicht infiziert zu sein, die Frage verneinen, auch wenn man aus dieser Stadt kommt. Denn, so empfahl Kardinal Toletus im 16. Jahrhundert, was der Fragende wissen wolle, sei ja lediglich, ob man die Seuche mitbringt. Das aber habe man ihm korrekt beantwortet und somit nicht gelogen.[32]

Differenzierungen der Lüge

Sie sehen, man hat schwierige und auch ein wenig bedenkliche Methoden entwickelt, mit diesem absoluten Lügenverbot umzugehen. Später begann dann im Gefolge von Augustinus, der jegliche Form der Lüge im wahrsten Sinn des Wortes »verteufelte«, der Kirchenlehrer Thomas von Aquin eine Differenzierung einzuführen. Er unterschied zwischen Nutzlügen, die wir heute im weitesten Sinne Notlügen nennen würden, also Lügen, die helfen sollen, Scherzlügen, also wenn man z.B. jemanden in den April schickt, und den eigentlichen Schadenslügen. Thomas von Aquin meinte noch, alle drei seien – er konnte von Augustinus nicht so stark abweichen – Sünden. Nur seien eben die Nutz- und Scherzlügen lässliche kleine Sünden, die nicht so schwer wiegen. Diese Einschätzung hat Martin Luther zunächst übernommen, aber in seinem Spätwerk dann die Nutz- und die Scherzlüge ganz aus der Sünde herausgenommen. Nur die Schadenslüge, die mit dolus malus, mit dem bösartigen Wunsch zu schaden, erfolgt, sei Sünde.[33]

Dies stellt natürlich eine deutliche Erleichterung dar, was unter anderem auch erklärt, warum die katholische Theologie sich seit Augustinus, also seit 1500 Jahren, abarbeitet an der Lüge, während die evangelische Theologie relativ wenig an Material liefert, weil dort dieses Problem so nicht existiert.[34]

Was ist das Gegenteil von einer Lüge?

An dieser Stelle wäre es vielleicht auch einmal ganz interessant, einen kurzen Exkurs zu unternehmen: Was ist denn dann das Gegenteil der Lüge? Derartige Überlegungen, nach dem Gegenteil zu fragen, helfen oft, etwas besser zu verstehen.[35] In der griechischen Antike war die Antwort relativ klar: Das Gegenteil der Lüge ist die Wahrheit. Das folgte aus dem Begriff Pseudos für jede Form der Unwahrheit einschließlich der Lüge. Mit der Einführung der oben genannten sprachlichen Unterscheidungen wurde die Antwort schwieriger. Und wieder einmal war es Immanuel Kant, der große deutsche Philosoph, dem wir im Laufe dieses Buches immer wieder begegnen werden, der für Klarheit sorgte. Er formulierte als Erster unmissverständlich: Nein, das Gegenteil der Lüge ist nicht die Wahrheit. In seinem Werk »Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie« schrieb er am Ende seiner Ausführungen:

»Es kann sein, dass nicht alles wahr ist, was ein Mensch dafür hält. Denn er kann irren. Aber in allem, was er sagt, muss er wahrhaft sein. Er soll nicht täuschen. Es mag nun sein, dass sein Bekenntnis nur innerlich oder vor Gott oder auch äußerlich sei. Die Übertretung dieser Pflicht der Wahrhaftigkeit heißt Lüge.«[36]

Diesen Punkt sollte man sich bewusst machen: Die Lüge ist nicht das Gegenteil der Wahrheit, sondern der Wahrhaftigkeit. Ich kann meinem Gegenüber nur schulden, ihm das zu sagen, was ich für richtig halte. Denn ich kann nur selten sicher ausschließen, dass ich mich irre. Zu wissen, ob ich mich irre, liegt zum Teil auch außerhalb meiner Möglichkeiten. Ich kann also gar nicht verpflichtet sein, immer die Wahrheit im absoluten Sinne zu sagen – falls es sie gibt und man sie überhaupt je erkennen kann. Aber ich kann die Pflicht haben zur Wahrhaftigkeit, der Übereinstimmung meines Inneren mit dem, was ich sage.

Das doppelte Herz, die gespaltene Zunge und die Sprachmaschine

Diese Erkenntnis hilft bei der Beantwortung der zweiten Frage, die wir uns zur Lüge gestellt haben: Warum ist das Lügen schlecht? Man kann es umformulieren in: Warum ist die Pflicht zur Übereinstimmung des Inneren mit dem, was man sagt, so nötig? Augustinus hatte zum einen die Entfernung von Gott angeführt, zum anderen dieses Auseinanderfallen des Inneren mit dem Äußeren. Er sprach von zwei Herzen. Wer lügt, hat zwei Herzen: einmal das eigentliche Herz, welches so empfindet, wie ich glaube, dass es richtig ist, und dann das andere, das dem entspricht, was ich aussage, und das sich von dem eigentlichen Herzen entfernt.[37]

Dieses Bild vom doppelten oder gespaltenen Herzen findet sich auch später noch einmal: bei Immanuel Kant. Ebenso wie Augustinus war Kant extremer Gegner der Lüge. In seiner Metaphysik der Sitten, einem seiner drei Hauptwerke zur Moralphilosophie, findet sich in der ethischen Elementarlehre ein eigenes Kapitel »Von der Lüge«, das folgendermaßen beginnt:

»Die größte Verletzung der Pflicht der Mensch gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person) ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit [Kant unterscheidet hier, wie wir gesehen haben, genau]: die Lüge (aliud lingua promptum, aliud pectore inclusum gerere).«[38]

Im lateinischen Zitat bei Kant taucht erneut dieses Bild auf: Eines in der Rede nach außen, das andere verschlossen in der Brust zu führen. In der Brust, das verweist auf die doppelten Herzen von Augustinus. Weiter schreibt Kant hier:

»Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem anderen (wenn es auch eine bloß idealische Person wäre) [übertragen könnte man formulieren: es also irgendjemandem] sagt, hat einen noch geringeren Wert, als wenn er bloß Sache wäre; (…) aber die Mitteilung seiner Gedanken an jemanden durch Worte, die doch das Gegenteil von dem (absichtlich) enthalten, was der Sprechende dabei denkt, [jetzt kommt die Kant’sche Idee des Zwecks, dass jeder Mensch gleich Zweck sein muss und nicht nur Mittel] ist ein der natürlichen Zweckmäßigkeit des Vermögens der Mitteilung seiner Gedanken, geradezu entgegengesetzter Zweck, mithin Verzichttuung auf seine Persönlichkeit und eine bloß täuschende Erscheinung vom Menschen, nicht der Mensch selbst.«[39]

»Der Mensch als moralisches Wesen (homo noumenon) kann sich selbst als physisches Wesen (homo phaenomenon) nicht als bloßes Mittel (Sprachmaschine) brauchen, das an den inneren Zweck (der Gedankenmitteilung) nicht gebunden wäre, sondern ist an die Bedingung der Übereinstimmung mit der Erklärung (declaratio) des Ersteren gebunden und gegen sich selbst zur Wahrhaftigkeit verpflichtet.«[40]

Kehrt man das um, bedeutet das, dass ein Mensch, der etwas anderes spricht, als er denkt, als moralisches Wesen sich selbst in Form seines physischen Wesens zu einer Sprachmaschine degradiert. Wenn nicht mehr das Innere, das, was man meint, verknüpft ist mit dem, was man sagt, würde der Mensch, der diese Verknüpfung löst, also lügt, sich selbst zum Mittel machen: zur reinen Sprachmaschine. Und indem er sich zum Mittel macht, beraubt er damit sich selbst der menschlichen Würde.

Verlust der Sprache

Das ist natürlich starker Tobak, aber ich glaube – falls ich das so anmaßend sagen darf –: Kant trifft den Punkt.[41] Was Kant hier anspricht, dieses Problem der Sprache, so theoretisch es auf den ersten Blick erscheinen mag, entspricht auch dem, was wir in unserem Alltag – und auf den möchte ich ja heute unter anderem meinen Fokus richten – erleben und empfinden. Dies zeigt eine weitere Gewissenfrage, die mich vor einiger Zeit erreichte:

»Eine Freundin, die nicht gerade mit Selbstbewusstsein ausgerüstet ist, hat sich nach intensiven Überlegungen und Recherchen in diversen Frauenmagazinen dazu durchgerungen, sich ihre langen Haare abschneiden zu lassen. Mit zweifelhaftem Ergebnis. Nun stellt sich mir die Frage, ob ich, wenn sie mich fragt, ehrlich ihr gegenüber zugeben soll, dass mir die neue Frisur nicht gefällt, oder ob ich mich als guter Freund zu Loyalität und Ermutigung verpflichtet sehe und das Ergebnis somit schönreden soll.«[42]

Dieser Klassiker einer Moralfrage beschäftigt sich mit der neuen Frisur, aber man kann bei dieser Frage die »neue Frisur« durch alles Mögliche ersetzen: »neues Kleid«, »neues Buch« usw. Dann erkennt man, wie typisch diese Frage ist und wie häufig sie im Alltag auftaucht. Entsprechend häufig erreichen mich auch Anfragen zu dieser Grundkonstellation. Und ich glaube, ein Nachdenken über diese Frage führt zu dem, was Kant auch schon anschnitt, wenn es auch nicht im Zentrum seiner Überlegungen stand: Die Lüge torpediert unsere Sprache. Im Beispiel, das ich Ihnen präsentiert habe, fragt die Freundin, die sich die Haare hat schneiden lassen: »Wie gefallen dir meine Haare?« Der Befragte antwortet: »Oh, sehr gut!« Vielleicht ist es gut gemeint, weil er will, dass sie sich wohlfühlt. Es kann aber auch sein, dass er es nur möglichst einfach haben will. Vermutlich sagt er es aber ohne jegliche Schädigungsabsicht, besten Willens. Die Frisur gefällt ihm überhaupt nicht, dennoch sagt er: »Sehr gut«. Was bedeutet das? Eigentlich ist an dieser Stelle überhaupt keine Verständigung mehr möglich. Es wird die Frage unnütz, und es wird die Antwort unnütz. Das Gespräch enthält nichts mehr außer bewegter Luft. Luft, die von einer Sprachmaschine bewegt wird. Denn wenn man weiß, dass der andere jederzeit lügen kann, muss man sich natürlich die Frage stellen: Warum soll ich überhaupt noch fragen? Und umgekehrt entsprechend. Der Gefragte kann antworten, was er will. Wenn man jederzeit damit rechnen muss, dass er lügt, kann man nie wissen, ob es seiner Meinung entspricht, der Fragesteller kann nichts mit der Antwort anfangen, und sie bleibt notwendig ohne irgendeine Konsequenz. Der Gefragte wird sich entsprechend fragen: Warum soll ich überhaupt noch antworten? Durch die Freigabe der Lüge wird das Gespräch unmöglich, es wird zum Schein-Gespräch.[43]

Und es führt noch zu einem zweiten Punkt: Die unsichere Freundin hat überhaupt keine Chance mehr zu erfahren, ob ihre Frisur gut ist oder nicht. Womöglich wird sie ihr Leben lang mit einem hässlichen Mopp auf dem Kopf herumlaufen, weil sie, egal wen sie fragt, immer die Antwort erhält: »Ja ja, sehr gut.« Man beraubt sie der Möglichkeit, etwas über sich zu erfahren und damit auch etwas zu verbessern. Wenn ich heute nach der Vorlesung frage: Wie hat es Ihnen gefallen? Und ich frage in der Absicht, das, was nicht gut war, zu verbessern. Und alle sagen: Großartig! Dann fühle ich mich natürlich geschmeichelt. Aber was wird sein? Die Studierenden, Studentinnen und Studenten, werden niemals eine bessere Vorlesung bekommen. Und die Leser kein besseres Buch. Weil ich ja keine Rückkopplung bekomme. Ich erfahre streng genommen nichts. Und das nächste Mal werde ich dann auch gar nicht mehr fragen. Doch, vielleicht werde ich noch einmal fragen, aus Eitelkeit, weil ich das gerne höre: wunderbar. Aber es hat überhaupt keinen Sinn mehr. Es ist nur noch hohl.

Die parasitäre Natur

An dieser Stelle kann man noch einen Schritt weitergehen: Die Lüge kann nicht ohne das Wahrheitsgebot existieren. Aber umgekehrt: Die Wahrheit ohne die Lüge sehr wohl.[44] Das will ich kurz ausführen. Rufen Sie sich die augustinische Definition der Lüge noch einmal in Erinnerung: Eine Lüge ist eine unwahre, mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage. Notwendiges Element der Lüge ist der Wille zur Täuschung. Bei der Frage nach der Frisur will man, dass die Fragestellerin sich besser fühlt, man will ja die Scherereien vermeiden, die entstehen könnten. Man will vielleicht beliebt sein bei ihr usw. Das erreicht man, indem man die Fragestellerin darüber täuscht, dass die Frisur ihr nicht steht. Nur dann ist sie beruhigt. Dieses Täuschen kann aber nur gelingen, wenn sie davon ausgeht, dass das, was sie gesagt bekommt, stimmen müsste. Wäre es vollkommen freigestellt zu lügen, könnte sie aus der Aussage überhaupt keinen Anhalt mehr dafür entnehmen, ob das stimmt oder nicht. Dann kann durch die Lüge keine Täuschung mehr gelingen. Dann ist es, als wenn ich »bla bla bla« sage. Und mit »bla bla bla« kann ich niemanden täuschen. Ich kann mit einer Aussage nur jemanden täuschen, wenn er im Grunde davon ausgeht, dass das, was ich sage, stimmt. Der Getäuschte muss ein gewisses Vertrauen in die Richtigkeit der Aussage haben. Und deswegen kann die Lüge nicht existieren ohne das Wahrhaftigkeitsgebot, ohne das Gebot, das zu sagen, was man für wahr hält, also wahrhaftig zu sein. Umkehrt kann aber die Wahrheit zu sagen, wahrhaftig zu sein, ohne die Lüge funktionieren. Es gibt das Gebot, wahrhaftig zu sein. Dieses Gebot benötigt nichts weiter. Das ist natürlich auch einer der Gründe, warum Kant die Lüge so vehement ablehnt. Man landet an dieser Stelle nämlich bei Kants kategorischem Imperativ: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. In einer anderen Formulierung, der sogenannten Naturgesetzformel, heißt es sogar, dass die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte. Wendet man darauf die Überlegungen zur Lüge und Wahrhaftigkeit an, merkt man schnell: Es ist nicht möglich. Das Vorhaben, ich werde nicht die Wahrheit sagen oder ich antworte auf eine Frage einmal gelogen, einmal nicht, kann als allgemeines Gesetz nicht funktionieren, weil ein Gespräch nicht mehr möglich wäre. Und deswegen findet man bei Kant die absolute Verurteilung der Lüge und die absolute Pflicht zur Wahrheit.[45]

Manipulation

Bei Kant findet sich auch ein weiteres Argument, warum die Lüge schlecht ist, und dieses Argument ist für mich persönlich das Entscheidende und der eigentliche Grund, warum ich wirklich aus innerer Überzeugung das Prinzip der Lüge ablehne. Wieder geht es um die Täuschung. Weil es sich bei der Lüge um eine Aussage mit dem Willen, den anderen zu täuschen, handelt, be-inhaltet jede Lüge notwendigerweise eine Manipulation des Gegenübers. Man sagt etwas Falsches, um zu täuschen, mit dem Ziel, beim anderen etwas zu erreichen. Man will, dass der andere sich z.B. wohlfühlt, dass der andere oder man selbst keinen Ärger hat. Vielleicht will man auch nur gut dastehen. Man will selbst irgendwie angenehm wirken, man möchte nicht, dass jemand schlecht über einen denkt. Aber indem ich lüge, damit der andere nicht schlecht über mich denkt, manipuliere ich ja dessen Denken. Ich krieche gewissermaßen in ihn hinein, implantiere etwas Falsches in sein Denken, in sein Gehirn und erreiche, dass er anders über mich denkt, als es eigentlich richtig wäre und als er es tun würde, wenn er die Wahrheit kennen würde. Und hier kommt man zu einem sehr bedenklichen Punkt. Denn dadurch, dass ich den anderen manipuliere, gebrauche ich ihn als Mittel. Indem ich etwas Bestimmtes zu ihm sage, nämlich die falsche Information, die falsche Aussage im Sinne Augustinus’, benutze ich diesen Menschen – ohne dass er es bemerkt – dazu, dass er das tut, was ich möchte. Ich betrachte ihn damit nicht als eigenständige Person, sondern als Mittel für etwas, das ich erreichen möchte. Und einen anderen Menschen als Mittel zu benutzen ist ein Angriff auf dessen Würde. Im Endeffekt ist jede Lüge, die ich in der Absicht einer Täuschung bei jemandem loswerde, ein Angriff auf dessen Würde und auf dessen Freiheit. Ich nehme ihm die Freiheit, etwas so zu beurteilen, wie er es bei richtiger Kenntnis der Lage tun würde, weil ich ihm ja eine falsche Grundlage seiner Beurteilung unterschiebe. Selbst wenn ich nur lüge, um Konflikte zu vermeiden, oder falsche Komplimente mache, nehme ich dem Belogenen die Freiheit zu entscheiden, ob er sein Gegenüber in Wirklichkeit mag oder nicht.

Kann es Situationen geben, in denen die Lüge gerechtfertigt ist, gut oder sogar geboten?

Nach all den Gründen für eine Ablehnung der Lüge kommt man damit zur dritten Frage: Kann sie denn nicht manchmal gerechtfertigt, gut oder sogar geboten sein?

Der bekannteste Streit zu diesem Thema betraf etwas, das ich schon bei dem Zitat von Quintilian angekündigt hatte: Darf oder muss man lügen, wenn ein Mörder fragt, ob sein Opfer, das er umbringen will, sich im Haus versteckt hat, und man weiß, dass es sich darin versteckt hält? Um diese Frage, die, wie wir bei Quintilian gesehen haben, schon in der Antike bekannt war und auch bei Augustinus vorkommt,[46] hat sich in der Neuzeit ein schwerer Streit entflammt. Der berühmteste Streit wahrscheinlich der Philosophiegeschichte. Zwischen Immanuel Kant und dem französischen Philosophen Benjamin Constant.[47] Denn Costant sagte: Natürlich darf man an dieser Stelle lügen. Es kann kein Recht auf eine Wahrheit geben, die einem anderen Menschen schaden kann.[48] Kant widersprach dem heftig in der bekannten Schrift »Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen«; im Endeffekt mit den Argumenten, die ich schon bei der Ablehnung der Lüge vorgetragen habe. Kant betonte: Egal was ist, egal was passiert, es kann kein Recht geben zu lügen, auch wenn noch so viele Menschen daran zugrunde gehen.