Höflichkeit - Rainer Erlinger - E-Book

Höflichkeit E-Book

Rainer Erlinger

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Beschreibung

Warum Höflichkeit im 21. Jahrhundert nichts mit Etikette zu tun hat. Von Rainer Erlinger, Autor der beliebten Kolumne »Die Gewissensfrage« im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« Ist das Türaufhalten gutes Benehmen alter Schule oder einfach nur albern? Platz machen bringt doch nichts. Und was heißt hier Zurückhaltung, wenn alle anderen an mir vorbeistreben? Rainer Erlinger geht in seinem neuen Buch die Höflichkeit von überraschenden Seiten aus an: Höflichkeit und Religion, Höflichkeit und Provokation, Höflichkeit zwischen den Geschlechtern, so umkreist er die alte Tugend, um mit Witz, Scharfsinn und zahlreichen Beispielen aus eigener Erfahrung, Literatur und Film eine Sichtung vorzunehmen: Was ist heute noch wertvoll an der scheinbar wertlosen Tugend? Eine kluge Auseinandersetzung mit dem, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, und ein so unterhaltsames wie anregendes Buch.

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Seitenzahl: 455

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Rainer Erlinger

Höflichkeit

Vom Wert einer wertlosen Tugend

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Inhalt

PrologEinleitungDas Aufhalten der Türe – Was genau ist Höflichkeit?Der GegensatzHöflichkeit oder EtiketteDie geschnittene KartoffelAllein mit der KartoffelRespekt vor dem KönigEine Frage der EhreGleichheit bei Hofe?Der Campingbus für alleDer Paradefall: Das Aufhalten der TüreDie einzelnen KategorienExkurs über den AnstandDas Kompliment – Höflichkeit und LügeDas SpielMit freundlichen GrüßenDie ehrliche HöflichkeitLeider kann ich nicht kommenDie ungarische BegrüßungDie Berliner VarianteDer SpielverderberDie neue FrisurDas Gesicht wahrenPositive und negative HöflichkeitVor- und NachteileDie Probleme mit der neuen FrisurWem nützt das Lügen aus Höflichkeit?Höflichkeit: Nicht ob, sondern wieAlle Jahre wiederDas Schenken oder das GeschenkDer Anzug – Höflichkeit und ModeDie sprechende KleidungDas Porno-OutfitNicht-ModeDer SchlabberlookWie weit geht es dann?Die Wechselseitigkeit der HöflichkeitNoch einmal: Etikette und HöflichkeitDer formelle AnzugDer Anzug wirktWem dient der Anzug?Der weiße KittelWem dient der weiße Kittel?Die RobeDer große ProzessDer Sinn der RobeKleidung auf dem diplomatischen ParkettPorno-OutfitSchlabberlookDas Duzen – Die negativen Seiten der HöflichkeitAmüsant oder gefährlich?Der zu höfliche ArztEinige oder alleCrew Ressource Management: CRMExkurs: Gewaltfreie KommunikationKomponenten der Gewaltfreien KommunikationPraktikabel und höflich?Echte HöflichkeitDas DuzenT-V-distinctionEin Lob des SiezensDie UnhöflichkeitsformDistanzierungDer Ausschluss aus der GemeinschaftHerr MendelDer unhöfliche AusschlussÜ30Der Sitzplatz in der U-BahnDie Probleme der HöflichkeitDer Handkuss – Höflichkeit zwischen den GeschlechternWer ficken will, muss freundlich seinWer zahlt?Worauf lässt man sich ein?TreatingÜbergriffeIch küsse Ihre Hand, MadameDer ratlose KavalierUnd bei gleichgeschlechtlichen Dates?Das Entlarven der RollenDie Gender-DiskussionOrkan WiebkeWarum ändern?Eine Frage der HöflichkeitKavalier der alten SchuleWohlwollender SexismusDer Wolf im SchafspelzDie kollektive WirkungDie Dame im RegenWissen, worauf man sich einlässtDer unhöfliche KavalierDie Geste – Kleinigkeiten für das ZusammenlebenDas WespennestLernen von den Champions10/5 way im KrankenhausDie Queen in IrlandEinen Kaffee bitteDie Wirkung des »bitte«Geste oder Zeichen?Exkurs über die VerbeugungDas unterschiedliche NickenDer AugengrußDas Aufhalten der TüreEinen schönen Tag nochDie andere RichtungDas amerikanische ModellDie EtiketteDennoch eine TeilrehabilitationDie kleinen GestenMahlzeit – Höflichkeit im BerufBusiness-EtiketteBesser für die KarriereNice guys finish lastTödliche UnhöflichkeitAuswirkungen auf die Arbeitsleistung …… und auf die KundenDie Zielrichtung von Business-Etikette und Höflichkeit am ArbeitsplatzDie JanusköpfigkeitDie wertlose TugendDie verwerfliche HöflichkeitBei aller gebotenen AchtungMit Verlaub, Herr PräsidentKann Höflichkeit heucheln?Höflich im Ton, hart in der SacheDie andere Seite: die AchtungBesser als nichtsDas Posting – Höflichkeit und InternetEin blaues Wunder»Thou Shalt Not Read the Comments«Ein Modell für das ZusammenlebenDer dünne Firnis der ZivilisationDer Ring des GygesFirnis oder KernDie Untersuchungen dazuDie digitale KränkungDie Realität für die InternetnutzerLautstärke online und offline»Spül dich im Klo hinunter!!!!!!!«»Zensur«15 Minuten RuhmFazitDer Händedruck – Höflichkeit und HygieneSchlimmeres als frische VaselineGesundheit!Man reibt sich die AugenTürklinken, Haltegriffe und GeldscheineDer SchüttelfrustDir zuliebe begebe ich mich in die GefahrExkurs: Der perfekte HändedruckDie TodesopferFäuste gegen KeimeFazit zum HändedruckHöflichkeit und Hygiene – anders betrachtetHygiene und Benehmen vom Mittelalter bis heuteDer Kniefall – Höflichkeit und ReligionReaktionenDer päpstliche FaustschlagCharlie Hebdo und HöflichkeitRespekt gegenüber der Religion?Respekt ist nicht gleich VerehrungDer KniefallDie andere RichtungHöflichkeit der Religion gegenüber ihren NichtanhängernDas MissionierenGod, No!Fahrlässige ewige TötungWas steht im Vordergrund?Willkommen – Höflichkeit zwischen den KulturenDie Stimmung ändert sichDie Macht der BilderStimme aus GriechenlandDas paradoxe Willkommen#merkelstreicheltHöflichkeit interkulturellDie Excel-TabelleDie abgelaufene ZeitDer Nutzen der Excel-TabelleDas GesichtErkenntnisse über die KulturenProxemikMonochrone und polychrone KulturenDer Blick von außenDer Herzog von GuermantesWas zählt?Die echte KollisionWhen you are in Rome …Der Schritt zurückDie Provokation – Begrenzung der HöflichkeitKeine VeränderungenRepressive HöflichkeitHöflichkeit in JapanDie Urväter: Knigge und CastiglioneMuff von 1000 JahrenDer Turnschuh-MinisterDer kurze Atem der ProvokationZwei Arten der ProvokationSehr geehrtx Profx.Notwendige Provokation?Mit freundlichen GrüßenWenn’s der Wahrheitsfindung dientDie ZopfschereDer Tanzschritt – Höflichkeit und TaktDie Fehler der EtiketteSprezzaturaDas Ethos der GrazieDie Queen und Gauck – der Tanz der StaatsoberhäupterDer TaktBewegung und ReaktionZur Dialektik des TaktsPardon, Monsieur!Höflichkeit als KommunikationDer UnterschiedNebeneinander von Takt und HöflichkeitDer richtige TaktTakt im ClubRegister

Prolog

Berlin, Deutscher Bundestag, 24.3.2011.

Offizielle TV-Aufzeichnung des Bundestages, sogenanntes Parlamentsfernsehen.[1]

Der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, antwortet auf eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Kamera erfasst den Redner zu Beginn seiner Rede nicht, wie sonst meist üblich, von vorne bildfüllend mit dem Rednerpult am unteren Bildrand, sondern mit einer Totalen von rechts auf das Rednerpult. Eine Einstellung, die einen größeren Ausschnitt des Plenarsaals zeigt, die Regierungsbank mit dem leeren Sitz der Bundeskanzlerin im Vordergrund. Nachdem Gysi zu sprechen begonnen hat, zieht die Kamera auf und man sieht, dass sich Angela Merkel während der Rede Gysis mit einem ihrer Kabinettsmitglieder am anderen Ende der Regierungsbank unterhält und dem Redner den Rücken zukehrt. Auf seine direkte Ansprache hin reagiert die Kanzlerin und dreht sich um.

Diese direkte Ansprache Gysis ist ungewöhnlich:

»Frau Bundeskanzlerin, ich muss Ihnen mal sagen, ich finde das ein bisschen unverfroren und arrogant. Sie halten hier eine Regierungserklärung«, die Kamera wechselt auf Gysi frontal am Rednerpult, »ich höre Ihnen die ganze Zeit zu, und die Erwiderung aus der Opposition, da stehen Sie auf, laufen rum und hören nicht zu.«

Nun wechselt die Regie des Bundestags-TV auf eine Kamera, die Frau Merkel halbnah zeigt, während Gysi fortfährt:

»Das ist nicht anständig, und das ist arrogant und falsch, wenn ich das mal deutlich sagen darf.«

In der halbnahen Einstellung auf Frau Merkel sieht man, wie sie während dieser Vorwürfe zunächst mit dem Kopf wiegend spöttisch lächelt, dieses Lächeln aber immer verkrampfter wird. Schließlich friert es ein, und Frau Merkel geht durch die Regierungsbank auf ihren Platz und den Redner zu, bis sie sich, wie zur Ablenkung, in einer Übersprungshandlung oder weil sie sich besonnen hat, der Forderung Gysis, auf den Platz zu kommen, doch nicht folgen zu wollen, der damaligen Familienministerin Kristina Schröder zuwendet und sie anspricht.

Die Vorhaltungen von Herrn Gysi sind Frau Merkel sichtlich unangenehm, scheinen sie anzugreifen – und zu treffen.

Eine interessante Beobachtung bei einer Politikerin, die weltweit als kühl, selbst- und machtbewusst gilt. Interessant im Hinblick auf Frau Merkel, interessant aber auch für das Thema hier. Denn der Vorwurf, den Gregor Gysi gegenüber Frau Merkel erhebt, ist schlicht der der Unhöflichkeit. Und dieser schlichte Vorwurf mangelnder Höflichkeit zeigt Wirkung auf eine Politikerin, die wiederholt als die mächtigste Frau der Welt bezeichnet wurde, die laufend mit wesentlich härteren Vorwürfen konfrontiert wird, die es gewohnt ist, immer wieder mit Hitler verglichen und entsprechend dargestellt zu werden. Die also über eine ziemlich dicke Haut gegenüber Vorwürfen verfügen muss.

 

Die Höflichkeit scheint eine größere Bedeutung zu haben, als man gemeinhin meinen möchte.

Einleitung

Höfliche Menschen haben mehr Sex und mehr Geld. Einer Studie der Universität von San Diego in Kalifornien zufolge haben Singles, die höflich sind, eine um 73 % höhere Chance, Sex zu haben, als ihre unhöflichen Altersgenossen. Eine Untersuchung der Harvard University ergab, dass höfliche Menschen um 32 % höhere Chancen haben, einen Job zu bekommen, um 36 % erfolgreicher bei Beförderungen sind und im Schnitt 22 % mehr verdienen als unhöfliche Menschen mit gleicher Ausbildung und auch sonst vergleichbaren Voraussetzungen.

Wenn es je noch eines Grundes dafür bedurft hätte, höflich zu sein, wären diese beiden Studien sicherlich für die meisten Menschen die letzte Bestätigung: Es lohnt sich, höflich zu sein, ja, es zahlt sich aus im wörtlichen Sinn. In der Tat, diese Studien wären die letzte Bestätigung. Wären, wenn es sie denn gäbe. Es gibt sie jedoch nicht, zumindest nicht so eindeutig. Aber man hat mir gesagt, dass sich Bücher besser verkaufen, wenn sie den Lesern sexuellen Erfolg und Reichtum versprechen. Deshalb war’s einen Versuch wert, ebenso wie den Versuch, Werbung für die Höflichkeit zu machen.

Verhilft nun Höflichkeit zu mehr Sex, Erfolg und Reichtum? Das würde ich natürlich gerne feststellen und hier vorbringen. Aber, wie gesagt: Die Datenlage ist widersprüchlich. Genaueres dazu kann man in den entsprechenden Kapiteln »Der Handkuss – Höflichkeit zwischen den Geschlechtern« und »Mahlzeit – Höflichkeit im Beruf« nachlesen.

Nur, wäre es denn wirklich Werbung für die Höflichkeit, wenn höfliche Menschen mehr Sex und mehr Geld haben? Natürlich, möchte man sagen, wer will denn nicht mehr Sex, Erfolg und Geld haben? (Und mehr Bücher verkaufen, die das ermöglichen?) Und wenn man das alles zudem nicht mit Hilfe von Ellenbogen und Egoismus erreicht, sondern durch etwas so gut Beleumundetes wie die Höflichkeit, umso besser!

Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Natürlich könnte diese Erkenntnis den einen oder die andere dazu bewegen, höflicher zu sein. Und die Höflichkeit würde damit weiter verbreitet, Unhöflichkeit zurückgedrängt. Allerdings würde man damit der Höflichkeit einen Bärendienst erweisen.

Warum? An dieser Stelle zeigt sich etwas Interessantes: Die Höflichkeit hat zwei Seiten. Einerseits ist es natürlich gut, wenn die Menschen höflicher zueinander sind. Höflichkeit macht das Leben angenehmer, sie ist so etwas wie der Schmierstoff des Zusammenlebens. In einer Welt ohne Höflichkeit wollte man nicht leben. Aber, und das scheint mir eine für das Verständnis von Höflichkeit wichtige Frage zu sein: Will man von jemandem höflich behandelt werden, der das nur tut, weil er Karriere machen und mehr verdienen will? Weil er oder sie in Wirklichkeit nur Sex haben will? Fühlt man sich dabei nicht vielmehr getäuscht? Sogar missbraucht? Das ist die andere, unschöne Seite der Höflichkeit.

Kaum jemand hat diese unschöne Seite der Höflichkeit treffender dargestellt als Paul Klee in seiner Radierung aus dem Jahre 1903: »Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begrüßen sich«.

Paul Klee, »Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begrüßen sich«

An den Bärten erkennbar handelt es sich um den österreichischen Kaiser Franz Joseph I. und den deutschen Kaiser Wilhelm II. Erkennbar aber eben nur an den Bärten, denn ansonsten sind sie nackt und weisen keine Zeichen ihrer Stellung und Macht auf. Da deshalb keiner von beiden wissen kann, ob nicht der andere vielleicht eine höhere Stellung innehat, überbieten sie sich in Unterwürfigkeit und Ehrerbietung. Paradoxerweise zeigt gerade die Tatsache, dass sie sich vorsichtshalber vor dem nackten Gegenüber übermäßig verbeugen, wie sehr das, wovor sie sich verbeugen, gerade nicht der Mensch ist, sondern seine Stellung, die sich an den Kleidern ablesen ließe.

Damit offenbart Klees Radierung noch eine weitere, schwierige, wenn nicht gar dunkle Seite der Höflichkeit: Sie kann leer sein. Im Grunde ist es das, was hinter dem Vorwurf der wertlosen Tugend steckt: Sie sei nur Form, kein Inhalt. Aber trifft das immer zu? Oder gibt es unterschiedliche Arten von Höflichkeit? Sind es nicht nur Konvention und Etikette, die leer sind? Die eben scheitern oder ihre Groteskheit offenbaren wie die grotesk verbogenen alten Körper der beiden Herrscher, wenn sie keine Äußerlichkeiten mehr haben, an denen sie sich orientieren können. Hat echte Höflichkeit nicht vielmehr doch einen Wert? Und können nicht Konvention und Etikette alleine auch einen Wert darstellen, weil sie als Form Halt geben?

Doch noch einmal zurück zum Titel Schmierstoff des Zusammenlebens, den sich die Höflichkeit übrigens mit der Lüge teilt. Bezeichnenderweise, will es scheinen. »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist«, heißt es in Goethes Faust. Im Alltag ist die Frage »Soll ich höflich sein oder ehrlich?« ausgesprochen und unausgesprochen ein Klassiker, der immer und immer wieder auftaucht. Höflichkeit und Lüge scheinen eine innige Beziehung eingegangen zu sein. Aber ist das so, sind höflich und ehrlich wirklich ein Gegensatz? Kommt man auf diesem Weg nicht zu einer aalglatten Höflichkeit, die sich nur darum bemüht, nirgends anzuecken? Und die man auch nicht haben will? Dazu mehr im Kapitel »Das Kompliment – Höflichkeit und Lüge«.

Wenn man über all dies genauer nachdenkt, merkt man, dass sich diese Gegensätze wie ein roter Faden durch die Beschäftigung mit der Höflichkeit ziehen, offenbar zur Höflichkeit gehören. Nur wenn man sich diesen Gegensätzen stellt, kann man dem Wesen der Höflichkeit näher kommen. Es geht darum, den Wert einer scheinbar wertlosen Tugend zu finden oder zu zeigen, dass sie in Wirklichkeit nicht wertlos ist.

 

Mit das größte Problem beim Schreiben dieses Buches waren die Beschränkung und die Auswahl. Es wäre kein Problem gewesen, 500 oder 1000 Seiten über Höflichkeit zu schreiben. Die Geschichte der Höflichkeit allein könnte ein mehrbändiges Werk füllen. Schon zum Verhältnis von Sprache und Höflichkeit gibt es eine Vielzahl von Büchern. Und wie umfangreich man über Unterschiede der Höflichkeit in unterschiedlichen Kulturen berichten könnte, wird schnell klar, wenn man die Anzahl der Kulturkreise mit allen Subkulturen auf der Welt bedenkt. Aber auch unser Alltag ist von Höflichkeit durchdrungen – oder ihrem Fehlen. Warum, erkennt man, wenn man sich ihre Natur bewusstmacht: Sie ist eine Tugend des Umgangs, sie regelt die Art und Weise, die Form, in der Menschen miteinander umgehen. Sie ist deshalb so präsent, häufig und vielfältig, wie Menschen aufeinandertreffen. Anders ausgedrückt, immer dann, wenn Menschen aufeinandertreffen, gehen sie auf irgendeine Art und Weise miteinander um, und sei es, dass sie sich aus dem Weg gehen. Auch das berührt die Höflichkeit. Sich zu grüßen ist eine Frage der Höflichkeit, es nicht zu tun, wenn man sich kennt, ebenso. Nur dann eben im Sinne der Unhöflichkeit.

Es gilt auch hier übertragen der bekannte Grundsatz von Paul Watzlawick: Man kann nicht nicht kommunizieren. Wie einschlägig dieser Satz für das Thema hier ist, zeigt Watzlawicks Begründung: »Man kann nicht nicht kommunizieren, denn jede Kommunikation (nicht nur mit Worten) ist Verhalten, und genauso wie man sich nicht nicht verhalten kann, kann man nicht nicht kommunizieren.«[2] Höflichkeit ist eine Form des Verhaltens im zwischenmenschlichen Umgang, und deshalb kann man nicht miteinander umgehen, ohne den Bereich der Höflichkeit in irgendeiner Weise zu tangieren. Sei es, dass man sich höflich verhält, sei es, dass man es eben nicht tut.

In diesem Sinne ist unser Leben durchdrungen von Fragen der Höflichkeit, und wenn man es so betrachtet, ist Höflichkeit vielleicht die relevanteste Tugend im täglichen Leben. Zumindest im Hinblick auf ihre Häufigkeit.

Wie also auswählen? Immer wenn man auswählt, wird jemand etwas vermissen. Und es wird immer jemand fragen: Warum hat der Autor dieses weggelassen und jenes aufgenommen? Und es wird sich nicht vermeiden lassen, dass sich die eine oder der andere denkt, die Auswahl war falsch. Damit muss man leben, wenn man auswählt.

Dennoch war mir wichtiger, ein überschaubares Buch zu schreiben als ein möglichst allumfassendes. Was bei einem so großen Thema wie der Höflichkeit vermutlich ohnehin scheitern würde. Vor allem aber würde es, wenn es gelänge, in diesem Umfang kaum mehr jemand lesen wollen. Ich bin der Überzeugung, dass Bücher, die sich beschränken, dem Leser dienen, möglichst umfassende Bücher dagegen vor allem dem Autor.

Bei der Auswahl habe ich mich auch davon leiten lassen, welchen Fragen zur Höflichkeit ich im Rahmen meiner Kolumne »Die Gewissensfrage« im Magazin der Süddeutschen Zeitung begegnet bin. Einige von ihnen werden in diesem Buch auftauchen. Seit nunmehr 14 Jahren beantworte ich in dieser Kolumne Leserfragen zur Alltagsmoral, wie man miteinander umgehen soll. In dieser Zeit habe ich viele tausend Zuschriften erhalten und festgestellt, dass viele von ihnen auch die Höflichkeit betreffen. Auf diese Weise kann sich meine Auswahl daran orientieren, welche Aspekte der Höflichkeit relevant sind. Und zwar speziell für das Zusammenleben, das Miteinander.

Über Höflichkeit ist schon sehr viel geschrieben worden. Noch mehr über ihre kleinen Schwestern Benehmen und Etikette. Benimmratgeber und Etiketteführer gibt es für jeden Bereich und jede Altersgruppe. Wer jedoch bei diesem Buch etwas in der Richtung erwartet hat, wird, fürchte ich, enttäuscht sein. Mein Anliegen ist vielmehr, einen anderen Blick auf die Höflichkeit zu werfen. Sie von Benimm und Etikette einerseits abzugrenzen, andererseits ihre Gemeinsamkeiten und Überschneidungen darzustellen. Um diesen anderen Blick zu ermöglichen, habe ich versucht, die Ränder der Höflichkeit abzugehen. Sie einmal zu umrunden und so von verschiedenen Seiten auf sie zu blicken. Ihre Schwächen zu sehen und ihre Stärken, ihre Höhen und Abgründe. Ich möchte sie auch und gerade von Seiten zeigen, an die man im ersten Moment nicht denkt. Zum Beispiel von ihrem Verhältnis zur Mode her im Kapitel »Der Anzug«, von dem zur Religion im Kapitel »Der Kniefall«. Oder gewissermaßen von ihrer Rückseite her im Kapitel »Die Provokation«. In der Gesamtschau soll dadurch ein plastisches Bild der Höflichkeit entstehen, das hilft, sie besser zu verstehen. Und vor allem, sie mit diesem Verständnis besser anzuwenden.

Doch beginnen will ich mit dem Versuch, die Höflichkeit ein- und abzugrenzen. Und ihr damit Kontur zu verleihen.

Das Aufhalten der Türe

Was genau ist Höflichkeit?

Seine Tage sind gezählt, zumindest soll keine Neuauflage mehr gedruckt werden, aber es gibt ihn noch, in 30 Bänden, und immer noch ist er der Ort, an dem man nachschlagen kann und fundierte Auskunft erhält: der Brockhaus. In seiner letzten Auflage, der 21., in Band 12, erschienen 2006, kann man lesen:

»Höflichkeit, Form des Umgangs mit den Mitmenschen, die von gegenseitiger Achtung, Rücksichtnahme und der Einhaltung bestimmter gesellschaftl. Konventionen (z.B. Begrüßungsformen als Ausdruck des Anstands und des guten Tons) geprägt ist. Urspr. das rechte Verhalten am fürstl. Hof.«

Diese Definition beinhaltet eine ganze Menge an Begriffen und auch Kriterien: Umgang, Achtung, Rücksichtnahme, Konventionen, Anstand, guter Ton. Damit wird sicherlich vieles abgedeckt, und die Begriffe sind hier auch von Interesse. Sie alle zusammenzunehmen und mehr oder weniger zur Höflichkeit zu vermengen, halte ich jedoch für falsch. Speziell das Vermengen. Im Gegenteil, meines Erachtens muss man versuchen, sie schärfer voneinander abzugrenzen. Nur so kann man das Wesen der Höflichkeit erfassen.

Der Gegensatz

Die beiden Begriffe Achtung und Rücksichtnahme unterscheiden sich zwar, gehen aber doch in dieselbe Richtung, die der Brockhaus auch benennt: auf den Mitmenschen zu. Achtung und Rücksichtnahme sind nicht denkbar ohne diesen Bezug, beide Begriffe benötigen eine Bezugsgröße, hier eben den Mitmenschen, das Gegenüber, den oder die Andere(n) oder wie man sie oder ihn auch immer nennen will. Den Begriff »gegenseitig« halte ich in der Definition übrigens für unglücklich. Höflichkeit kann im Einzelfall sehr wohl einseitig sein und damit auch die ihr zugrundeliegende Haltung.

Daneben nennt der Brockhaus aber auch die »Einhaltung bestimmter gesellschaftl[icher] Konventionen« und dazu ein Beispiel, nämlich die Begrüßungsformen, die er aber wiederum auf etwas bezieht, nämlich »als Ausdruck des Anstands und des guten Tons«. Und hier wird es interessant. An dieser Stelle zeichnet sich nämlich ein Gegensatz ab, den ich für ganz essentiell für das Verständnis von Höflichkeit halte.

Der Gegensatz, den ich meine, ist, um auf die Definition im Brockhaus zurückzugreifen, der zwischen Achtung und Rücksichtnahme auf der einen Seite und der Einhaltung bestimmter gesellschaftlicher Konventionen als Ausdruck des Anstands und des guten Tons auf der anderen Seite. Nach meinem Verständnis ist nur Ersteres, der Komplex um Achtung und Rücksichtnahme, Höflichkeit. Gesellschaftliche Konventionen und guten Ton hingegen würde ich unter dem Begriff Etikette zusammenfassen und davon strikt trennen. Den Begriff Anstand möchte ich komplett außen vor lassen. Warum, das will ich, weil ich dazu weiter ausholen muss, am Ende dieses Kapitels erklären. Siehe »Exkurs über den Anstand«.

Höflichkeit oder Etikette

Betrachtet man die Rücksicht genauer, ist sie nur dann für die Höflichkeit von Bedeutung, wenn sie selbst von der Achtung getragen wird und nicht von anderen Gesichtspunkten im Sinne einer Berücksichtigung. »Mit Rücksicht auf Vegetarier« auf der Speisekarte auch ein fleischloses Essen anzubieten kann höflich sein, wenn man damit deren Einstellung achten will, oder aber reines Kalkül, um den Umsatz zu erhöhen. Beruht die Rücksicht aber auf Achtung, ist sie nur ein Zwischenhalt auf dem Weg zur Achtung, auf den man in der Definition auch verzichten kann. Mir scheint deshalb folgende Definition der Höflichkeit sinnvoll:

Höflichkeit ist ein Verhalten, in dem sich die Achtung für den Anderen ausdrückt.

Bei all dem, was ich unter dem Begriff Etikette zusammenfasse, geht es hingegen um die Einhaltung gesellschaftlicher oder sonstiger Konventionen und Regeln, das Übliche, das, was »man« gemeinhin tut oder nicht tut.

Diese Trennung ist deshalb nicht nur sinnvoll, sondern absolut notwendig, weil die beiden Begriffe sich in einem Punkt grundlegend unterscheiden, ja diametral entgegenstehen: Die Höflichkeit dient dem Gegenüber, die Etikette dagegen demjenigen, der sich an sie hält, selbst.

Die Abgrenzung der Etikette von der Höflichkeit mag im Einzelfall schwerfallen, weil manches Verhalten, zum Beispiel der Gruß oder – dazu später mehr – das Aufhalten der Türe, von beiden geprägt sein können, dennoch ändert das nichts daran, dass es sich um zwei grundlegend unterschiedliche Begriffe handelt.

Die geschnittene Kartoffel

Um zu überprüfen, ob ich mit meiner Hypothese des Gegensatzes von Höflichkeit und Etikette richtigliege, habe ich deshalb nach Etikette-Regeln gesucht, die möglichst klar und eindeutig dem Bereich der Etikette zuzuordnen sind. Dabei landete ich bei Regeln, die heute vielleicht nicht mehr so wichtig sind, wie sie es einmal waren, die man aber doch in klassischen Benimmratgebern immer noch finden kann: bei Fragen der Tischsitten. Und weil Überlegungen zur unterschiedlichen Verwendung unterschiedlich großer Besteckteile schwierig darzustellen sind, schien mir am Ende eine vielleicht nicht zentrale und hochaktuelle, aber doch immer noch anerkannte Regel besonders geeignet für die Überprüfung hier: Kartoffeln und Knödel darf oder soll man nicht mit dem Messer zerschneiden, sondern soll sie mit der Gabel teilen.

Die einfache, aber hier entscheidende Frage lautet: Ist es denn unhöflich, die Kartoffeln mit dem Messer zu zerschneiden? Man kann sie wohl klar beantworten: Nein, das ist es nicht. Das ist vielmehr irgendetwas zwischen »Das tut man nicht«, schlechte Kinderstube, schlechten Manieren, kein Benimm und Verstoß gegen die Etikette. Wie man es auch immer nennen mag. Unhöflich ist es auf jeden Fall nicht, weil es nichts mit dem Umgang mit Menschen zu tun hat, sondern höchstens mit dem mit Kartoffeln. Und nachdem es der Kartoffel – spätestens in gekochtem Zustand – ziemlich egal sein dürfte, wie sie zerteilt wird, bleibt nur noch einer übrig, dem diese Vorschrift dienen kann: dem, der sich an sie hält.

In diesem Fall lohnt sich ein Blick zurück. Eustachius Graf Pilati von Thassul zu Daxberg schrieb 1900 zu diesem Punkt überaus amüsant in seinen sogenannten Etikette-Plaudereien, in denen er Leserfragen zur Etikette beantwortete:

»Anfrage: ›Wie ißt man Gemüse? Mit dem Messer soll man überhaupt nichts zum Munde führen! Aber es ist doch ein Unsinn, wenn Jemand sagt, es sei unanständig, Gemüse mit dem Messer überhaupt zu berühren?‹

 

[Antwort:] Zunächst halte ich es für äußerst schroff, zu sagen: ›Dies oder Jenes ist unanständig‹, nur weil es nicht gerade diejenige Art des Benehmens ist, welche für die vornehmste gilt. […] Man behauptet nun, das Gemüse nehme durch das bloße Berühren mit Stahl einen etwas unangenehmen Geschmack an, namentlich die Kartoffel. Wer also eine derartig zart besaitete Zunge hat, der wird das Messer (jedenfalls das Stahlmesser) von der Berührung mit der Kartoffel und anderem Gemüse fernhalten. Wer hingegen eine weniger hochvornehme Zunge besitzt, für den fällt der Hauptgrund fort, weshalb man das Gemüse, z.B. beim Hinaufschieben auf die Gabel, nicht mit dem Messer berühren soll; und ich kenne viele Menschen, welche sich an diese Etikettenregel nicht kehren, und die gleichwohl Anspruch, und zwar auch von ihrer Umgebung anerkannten Anspruch, darauf erheben, als Kenner der Formen zu gelten.«[3]

Graf Pilati arbeitet scharfsinnig zwei Aspekte heraus, warum man sich an Vorgaben der Etikette halten sollte. Zum einen, weil sich hinter ihnen ein Sinn verbirgt oder zumindest einmal verborgen hat – hier, dass das Gemüse und besonders die Kartoffel einen unangenehmen Geschmack vom Stahl des Messers annehmen kann. Zum anderen verweist er auf die Verknüpfung der Einhaltung der »Etikettenregel« und den »Anspruch, und zwar auch von ihrer Umgebung anerkannten Anspruch, darauf [zu] erheben, als Kenner der Formen zu gelten«. Mit anderen Worten: Man hält sich an die Etikette, weil man damit selbst einen besseren Eindruck macht. Diesen Punkt hat Graf Pilati in der nachfolgenden Frage zu einem verwandten Thema noch klarer dargelegt:

»Anfrage: ›Darf man Gemüse mit dem Löffel essen?‹

 

[Antwort:] Zuchthaus, Gefängnis oder überhaupt irgend eine Strafe steht nicht darauf, wenn man es thut; trotzdem wird man Gemüse nur mit der Gabel essen, wenn man in dem Urteil der Etikette-Menschen möglichst günstig dastehen will. Ein praktischer Grund hierfür ist, daß die Gabel handlicher ist als der Löffel, da ich mit der Gabel den Bissen auch durch Anstechen vom Teller heben kann. Allerdings, wenn ich die Soße, oder gut deutsch gesagt ›Tunke‹ auflöffeln will, dann muß ich mich eben des Löffels bedienen auf die Gefahr hin, von meiner Umgebung im Fache ›guter Ton‹ nicht die allerbeste Zensur zu erhalten.«[4]

Folgenden Halbsatz meinte ich: »trotzdem wird man Gemüse nur mit der Gabel essen, wenn man in dem Urteil der Etikette-Menschen möglichst günstig dastehen will«. Es geht beim Beachten der Etikette offenbar zumindest auch, wenn nicht gar vornehmlich darum, gut dazustehen. Das Auffällige dabei ist nun, dass beide Begründungen, die geschmackliche Beeinträchtigung und gut dastehen zu wollen, etwas gemeinsam haben: Sie dienen nicht dem Gegenüber, sondern ausschließlich dem Handelnden selbst.

Allein mit der Kartoffel

Man kann die Etikette-Regel, Kartoffeln nicht mit dem Messer zu schneiden, oder ebenso Gemüse und Obst, noch näher untersuchen, wenn man sich eine Frage stellt: Sollte man sich an diese Regel auch dann halten, wenn man alleine zu Hause isst? Die Antwort darauf lässt die, man kann gar nicht mehr sagen: Zwiespältigkeit, eher schon Vielspältigkeit der Etikette aufscheinen. Natürlich sollte man auch allein zu Hause auf Form achten. Sich nicht gehen lassen, wie man es auch nennt. »Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren«, lautet ein vielzitiertes Bonmot des Multitalents Karl Lagerfeld,[5] das diese Problematik in Bezug auf die Mode aufspießt. Und tatsächlich ist die Idee, dann, wenn man alleine ist und isst, alle Formen außer Acht zu lassen, unschön. Die geöffnete Dose Eierravioli, deren Blechdeckel noch seitlich nach oben steht und in der die Gabel vom letzten Bissen steckt, ist ein Bild, mit dem man im Film den Gescheiterten darstellt. Allerdings assoziiert man Etikette doch mit Gesellschaft, und es gibt auch das umgekehrte Bild: ein Einzelner, der sich alleine zu Hause ein Essen bereitet, sich in Schale wirft, den Tisch wie zu einem Galadinner eindeckt und dann formvollendet alleine das Menü verspeist. Auch das stellt in gewisser Weise den Gescheiterten dar, den, dem etwas fehlt, den Sonderling, der zu Hause eine komische Inszenierung gibt. Und das Tragisch-Komische an der Inszenierung ist, dass er Üblichkeiten, die allein zu Hause nicht üblich sind, ausführt oder aufführt.

Führt man sich noch einmal den Sinn vor Augen, mit dem die Etikette-Regeln begründet werden und wie es Graf Pilati so eloquent tut, kann es gar keinen Zweifel geben: Wenn die Regel dem Geschmack – dem der Speisen, nicht den persönlichen Vorlieben – dient, dann sollte man es natürlich auch alleine zu Hause so halten, dann hat das nichts damit zu tun, ob man alleine isst oder in Gesellschaft.

Um die Dinge zuzuspitzen, kann man auch hier wieder die entscheidende Frage stellen: Ist es denn unhöflich, die Kartoffeln alleine zu Hause mit dem Messer zu schneiden? Die Antwort darauf scheint klar: natürlich nicht. Das mag unklug sein oder unvernünftig, wenn man den guten Geschmack der Kartoffeln schätzt, aber nicht unhöflich. Wem gegenüber auch? Der Kartoffel kann es, wie schon ausgeführt, egal sein. Aber warum sollte es dann in Gesellschaft anders sein? Es ließe sich argumentieren, die Etikette-Regeln beinhalteten die Aussage: »Ihre Gesellschaft und damit Sie sind es mir wert, mich an die Etikette zu halten.« Das würde tatsächlich Höflichkeit beinhalten. Wenn aber der Sinn der Etikette-Regel im Wohlgeschmack der Speisen liegt, beginnt ein Zirkelschluss, der nur eine sinnvolle Erklärung zulässt: Die Etikette-Regeln dienen demjenigen, der sich an sie hält. Und auch die Tatsache, dass man sie vor allem in Gesellschaft wirklich genau beachtet – siehe das eigenartige Bild des einsamen Essers im Frack –, dient in erster Linie dem Verwender: Er zeigt mit ihrer Beachtung, dass er sie kennt und sich zu benehmen weiß. Das scheint mir am Ende der Überlegungen der eigentliche Kern der Etikette zu sein: Sie ist in höchstem Maße selbstbezogen, das Gegenüber wird lediglich als Spiegel, Projektionsfläche und Ziel der Selbstdarstellung benutzt. Das Einzige, was diesen Missbrauch des Gegenübers wieder abschwächt und erträglich macht, ist, dass es in der klassischen Situation, in der die Etikette gepflegt oder zelebriert wird, wechselseitig geschieht: Jeder agiert zugleich als Selbstdarsteller und Claqueur.

Respekt vor dem König

Dennoch scheint es Überschneidungen zwischen Etikette und Höflichkeit zu geben, gemäß der schon genannten impliziten Aussage, dass das Gegenüber es wert ist, sich an die Etikette zu halten. Das Verhalten gegenüber einem König zum Beispiel – dasselbe gilt natürlich auch für eine Königin – ist sicherlich stark von Etikette geprägt. Aber zugleich zeigt es auch den Respekt vor dem König und wäre somit zugleich höflich. Das hält aber einer genaueren Betrachtung nicht stand, vor allem nicht der Überlegung, wem oder was genau der Respekt gilt. Der Respekt vor dem König, der sich in der Etikette ausdrückt, gilt nicht der Person des Königs, sondern seinem Amt und seinem Status. Nun werden die meisten von uns relativ selten Königen oder Königinnen begegnen, aber das Prinzip, das dahintersteht, scheint mir ein allgemeines zu sein. Ich glaube, man kann fast die Regel aufstellen, dass der Respekt, den man jemandem durch Beachtung der Etikette zollt, nicht der jeweiligen Person gilt, sondern der Rolle, welche die jeweilige Person bekleidet oder repräsentiert.

Eine Frage der Ehre

In dem US-amerikanischen Film »A Few Good Men« des Regisseurs Rob Reiner aus dem Jahre 1992, der in Deutschland unter dem Titel »Eine Frage der Ehre« in die Kinos kam, geht es um den Tod des Soldaten William Santiago. Santiago ist auf dem inzwischen aus anderen Gründen berüchtigten amerikanischen Militärstützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba ums Leben gekommen, nachdem ihn zwei Kameraden, die jungen Marines Dawson und Downey, vorher körperlich angegriffen haben. Sie werden wegen Mordes vor ein Militärgericht gestellt. Ihr Verteidiger Lieutenant Junior Grade Daniel Kaffee, gespielt von Tom Cruise, hat mit militärischen Dingen wenig am Hut, dementsprechend gering ist auch der Respekt seiner beiden scharf gedrillten Mandanten vor ihm. Im Prozess gelingt es Kaffee, den von Jack Nicholson dargestellten hochdekorierten Stützpunktkommandanten Colonel Jessup in einem dramaturgisch beeindruckenden, vor allem aber von Nicholson grandios gespielten Showdown zum Eingeständnis zu bewegen, dass es sich dabei um einen sogenannten Code Red gehandelt hat, eine von ihm angeordnete, von den Kameraden ausgeführte illegale Bestrafungs- und Disziplinierungsaktion. Jessup wird aus dem Zeugenstand heraus verhaftet, die beiden Angeklagten werden vom Mord freigesprochen, aber unehrenhaft aus der Armee entlassen. Am Ende des Films erklärt Dawson seinem Kameraden Dawney, der nicht versteht, wie das Befolgen eines Befehls des Kommandanten unehrenhaft sein kann, dass es Aufgabe des Militärs ist, Schwächere zu schützen, sie das aber bei dem zu Tode gekommenen Kameraden Santiago nicht getan hätten. Als Dawson danach den Gerichtssaal verlassen will, spricht ihn sein Verteidiger Lieutenant Kaffee an und sagt, er müsse kein Abzeichen am Ärmel tragen, um Ehre zu haben. Daraufhin nimmt Dawson, der bis dahin dem unmilitärisch denkenden Kaffee den Respekt als Offizier eher verweigert hatte, Haltung an, ruft militärisch scharf: »Ten-hut! There’s an officer on deck!« – Achtung! Ein Offizier an Deck!« und salutiert vor Kaffee.

Der Film trieft an einigen Stellen vor der Huldigung des militärischen Ehrbegriffs und der amerikanischen Marines, überzeugt jedoch wegen seiner Dramaturgie und vor allem Jack Nicholsons grandioser Darstellung des markigen, aber glatten und eitlen Kommandanten Jessup. Und auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Ehrbegriff ein wenig schwierig erscheint, zeigt die Schlussszene doch genau das, worum es hier geht: Üblicherweise gelten die militärischen Ehrerbietungen gegenüber Offizieren und Höhergestellten deren Stellung und militärischen Leistungen. Speziell Letztere sieht der einfache Marine Dawson bei seinem Verteidiger, dem Offizier Kaffee, nicht und will ihm diesen Respekt nicht zollen. Erst nachdem ihm Kaffee im Prozess gezeigt hat, worum es beim Militär eigentlich geht, den Schutz der Schwächeren, und dabei Mut jenseits der Schlachtfelder bewiesen hat, erkennt Dawson, dass es um den Menschen, nicht um den Soldaten, dessen Rang oder militärische Leistungen gehen soll. Wahrscheinlich, weil er, durch und durch Soldat, keine anderen Ausdrucksmöglichkeiten hat, zeigt er den Respekt, indem er Kaffee besonders zackig als Offizier grüßt und ihm ausdrücklich die Ehrerbietung als Offizier erweist. Und deutet damit zugleich dieses militärisch zeremonielle Verhalten, das ihn, der er unehrenhaft entlassen wurde, nun eigentlich nichts mehr angeht, in eine zivile Ehrerbietung um, die vor diesem Hintergrund dann als die eigentlich richtige erscheint.

Das Ganze ist, wie gesagt, ein wenig zu pathetisch, militärverherrlichend und fast schon schmalztriefend, im Grunde geht es aber im gesamten Film und zugespitzt in der Schlussszene um den Unterschied zwischen dem Respekt vor der Rolle oder Stellung, in diesem Fall der militärischen, und der vor dem Menschen unabhängig von seiner Rolle. Und der dramaturgische Effekt des Showdowns basiert unter anderem auf der Enttarnung des militärischen Respekts als eines, der ausschließlich der Rolle, nicht aber dem Menschen gilt.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen von Respekt ist es, der die Etikette von der Höflichkeit trennt. Wie man Respekt gegenüber Rang, Stellung oder Rolle bekundet, regelt die Etikette, in der Höflichkeit aber kommt der Respekt gegenüber dem Menschen unabhängig von alldem zum Ausdruck. Deshalb stellt sich die Höflichkeit auch umso klarer dar, je weniger sie von anderen Aspekten mitbestimmt oder überlagert wird, je reiner sie nur dem Erkennen, Anerkennen des oder der Anderen als Mensch gilt.

Gleichheit bei Hofe?

Die Höflichkeit ist somit eine zutiefst demokratische, noch mehr egalitäre Haltung. Es geht um den Menschen, nicht um seine Rolle. An dieser Stelle stößt man jedoch auf ein Problem: Wie verträgt sich diese Erkenntnis mit den Wurzeln, der Herkunft des Wortes Höflichkeit? Das Wort Höflichkeit leitet sich, wie der Brockhaus auch anführt – und worauf fast jeder, mit dem man über das Thema spricht, sehr schnell verweist –, vom rechten Verhalten am Hof ab. Das wäre aber dann ziemlich das Gegenteil einer egalitären Haltung, bei der alle gleich gelten.

Inbegriff für Verhalten am Hofe ist das spanische Hofzeremoniell, das am österreichischen Kaiserhof in Wien Verwendung fand, ein besonders ausgefeiltes zeremonielles System der Etikette, das über die spanische Linie der Habsburger seinen Weg nach Wien gefunden hatte, wo es bis zum Ende der Habsburger-Monarchie 1918 Anwendung fand. Kurz zuvor erläuterte es der österreichisch-slowenische Minister Ivan Ritter von Žolger im Jahre 1917 in einer staatswissenschaftlichen Abhandlung: Das Hofzeremoniell, so Žolger, »dient der Verherrlichung und Ehrung der Würde und erhabenen Stellung der Majestät des Monarchen und zur Bekundung der schuldigen Ehrfurcht gegenüber dem allerhöchsten Erzhause«.[6]

Zwei Dinge scheinen mir bei dieser Beschreibung auffallend. Erstens zeigt sie das zutiefst unegalitäre Wesen des Hofzeremoniells, im Grunde ist es das genaue Gegenteil von egalitär, von der Idee, dass alle Menschen gleich sind. Und zweitens belegt diese Stelle meine These, dass das festgeschriebene Verhalten, die Etikette, nicht dem Menschen gilt, sondern nur seiner Stellung und Rolle. Ritter von Žolger nennt zwei Ziele des Hofzeremoniells: die Verherrlichung und Ehrung der Würde und erhabenen Stellung der Majestät des Monarchen und die Bekundung der schuldigen Ehrfurcht gegenüber dem allerhöchsten Erzhause, also dem Haus Habsburg. Beide Male ist keine Rede von der Person des jeweiligen Monarchen. Es geht nur um die Würde und Stellung der Majestät und die Ehrfurcht vor dem Herrscherhaus, also um den Status und die Rolle. All dies ist mit der Idee der Höflichkeit, wie wir sie heute kennen, nicht vereinbar.

Der Campingbus für alle

Was sagt nun also diese Herkunft des Wortes »Höflichkeit« vom rechten Verhalten am Hof, seine Etymologie, über die Höflichkeit selbst? Herzlich wenig. Warum das so ist, das kann man zum Beispiel an einem Campingbus sehen.

Wer einen Campingbus fährt, tut das oft gerade, um gewissermaßen in seinen eigenen vier Wänden und darin möglichst ungestört zu bleiben. Nur die Allerwenigsten werden in einem Campingbus reisen, damit darin jeder mitfahren oder gar übernachten darf. Darauf könnte man jedoch kommen, wenn man darauf abstellt, dass das Wort »Bus« schließlich nur die Abkürzung für »Omnibus« ist, dessen Name sich von dem lateinischen Wort »omnibus« ableitet, was »für alle« bedeutet.[7] Das unterscheidet den klassischen Bus vom Auto, das nur für den jeweiligen Fahrer gedacht ist, während der Bus eben »für alle« ist. Nur sagt das nichts über die Bestimmung des Campingbusses aus, der seine Form mit dem langen Bus, dem Omnibus, teilt und dorther seinen Namen ableitet, aber nicht dessen etymologische Bedeutung übernimmt. Sich bei der Auseinandersetzung mit der Höflichkeit auf das Verhalten am Hofe zu beziehen ist ungefähr so sinnvoll, wie an einem fremden Campingbus zu klopfen und mit Verweis auf die Herkunft des Wortes Bus einen Schlafplatz einzufordern. Entscheidend ist die Bedeutung, die das Wort heute hat und die man ihm heute gibt. Die Herkunft kann dabei höchstens erhellend wirken, nicht aber ausschlaggebend.

Natürlich ist es auch jenseits der Sprachforschung interessant, woher das Wort »Höflichkeit« kommt, aber eben nur interessant. Es kann helfen einzuordnen, speziell historische Quellen. Den Ansatz von Knigge und Castiglione etwa (S. 169f.), über die Beherrschung der höfischen Sitten den Zugang zu höheren Ständen, zum Hofe zu ermöglichen. Das Gleiche gilt für das Verhältnis der Höflichkeit zur Etikette. Für die Höflichkeit selbst, ihr Wesen und ihre Bedeutung für das Leben heute, sollte man sich jedoch am heutigen Sprachgebrauch orientieren und nicht allein an der Herkunft des Wortes, die irreleiten kann. Die Höflichkeit hat sich weiterentwickelt, vom Hof emanzipiert. Deshalb wird sie heute in einem »post-courtoisen«, nach-höfischen Sinn verstanden.[8]

Der Paradefall: Das Aufhalten der Türe

Eine Eingrenzung und Abgrenzung des Begriffs Höflichkeit scheint mir am besten möglich, wenn man einen Klassiker aus diesem Bereich genauer betrachtet. Es dürfte einer der Inbegriffe der Höflichkeit sein, vielleicht sogar der Paradefall schlechthin: Man hält jemandem die Türe auf.[9] Es gibt ihn in zwei Varianten, einmal, indem man dem oder der Anderen dabei den Vortritt lässt, und einmal, nachdem man selbst die Tür durchschritten hat, kurz zu warten, bis der oder die Nachfolgende ebenfalls hindurchtritt oder die Türe selbst in die Hand nimmt. Dass das höflich ist, scheint sich schon aus dem jeweiligen Gegenteil zu ergeben. Sich vorzudrängen oder jemandem die Tür ins Gesicht fallen zu lassen ist sicherlich unhöflich. Dennoch lohnt sich ein genauerer Blick; am besten, indem man sich verschiedene typische Konstellationen vorstellt. Wem kann – oder sollte – man alles die Türe aufhalten? Man hält die Türe einer fremden Dame auf, der eigenen Partnerin oder dem eigenen Partner, einem Freund oder lieben Arbeitskollegen, einem Höhergestellten, klassischerweise seinem Chef, jemandem Schwerbepackten, einem Menschen im Rollstuhl oder dem Praktikanten, also einem Untergebenen. Das sollen alles jeweils typische Bilder und Konstellationen sein. Natürlich können alle Genannten jeweils auch Frau sein oder Freunde, die Kategorien können sich also überlappen. Hier aber geht es um das, was die jeweilige Person als Kategorie repräsentiert, und damit im zweiten Schritt um das, was als Grund dafür, die Tür aufzuhalten, bei der jeweiligen Kategorie an erster Stelle steht.

Die einzelnen Kategorien

Beginnen wir bei einem Menschen im Rollstuhl. Ihm oder ihr die Türe aufzuhalten scheint geradezu selbstverständlich, es nicht zu tun, eine grobe Verfehlung. Weil es unhöflich wäre? Nein, das geht darüber hinaus. Es wäre unmoralisch. Aber warum? Weil es ein moralisches Gebot ist, die Benachteiligungen, die jemand wegen einer Beeinträchtigung hat, auszugleichen. Ein Mensch, der sich nur im Rollstuhl fortbewegen kann, tut sich bei vielen Gelegenheiten, etwa Stufen, schwerer, Treppen zu erklimmen ist ihm meist unmöglich. Das auszugleichen, durch Hilfe oder bauliche Maßnahmen, ist eine Frage der Gerechtigkeit, nicht der Höflichkeit. Gleiches gilt auch an einer Türe. Viele Türen sind für einen Rollstuhlfahrer ohne fremde Hilfe nur schwer oder gar nicht zu durchqueren. Diesen Nachteil, der durch eine Beeinträchtigung entsteht, auszugleichen ist ebenfalls eine Frage der Gerechtigkeit und nicht der Höflichkeit.

Ähnlich, aber nicht identisch scheint der Fall, wenn man einem Schwerbeladenen die Türe aufhält. Etwa jemandem, der einen sperrigen Gegenstand oder zwei Taschen trägt und sich somit schwertut, selbst die Türe zu öffnen. Ich zögere, hier noch von einer Frage der Gerechtigkeit zu sprechen. Man könnte argumentieren, dass es sich immer noch um eine moralische Frage handelt, weil der- oder diejenige Hilfe benötigt und notwendige Hilfe zu leisten ein moralisches Gebot ist. Aber ein echtes moralisches Gebot ist die Hilfeleistung in Notfällen, und von einem Notfall kann man nicht sprechen, wenn jemand mit zwei Tüten in der Hand vor einer Türe steht und es für ihn oder sie nur mühsam ist, ohne freie Hand die Türe aufzudrücken oder gar aufzuziehen und sich durchzuzwängen. Ich glaube, jemandem in so einem Fall die Türe aufzuhalten ist schlicht freundlich. Eine gute Tat, die nicht absolut geboten ist. Aber auch nichts mit Höflichkeit zu tun hat. Höflichkeit ist ein Verhalten, das den Respekt vor dem Anderen ausdrückt. Hier aber geht es mehr um das konkret Praktische, die Hilfestellung, als um den Ausdruck einer Haltung. Um von Höflichkeit sprechen zu können, müsste dieser Ausdruck des Respekts die treibende Kraft, das Hauptmotiv sein, nicht der Wunsch, einem anderen Menschen das Leben zu erleichtern.

Der Klassiker innerhalb des Klassikers Türe-Aufhalten ist es, das für eine Dame zu tun. Sozusagen der Inbegriff des Inbegriffs der Höflichkeit. Weil das galante Verhalten gegenüber einer Dame, das Kavaliertum, als Inbegriff der Höflichkeit gilt, habe ich ihm ein eigenes Kapitel gewidmet (siehe »Der Handkuss«). Hier an dieser Stelle nur so viel: Wenn man einer Frau die Türe aufhält, weil sie eine Frau ist, und das gegenüber einem Mann in der gleichen Situation nicht tun würde, dann gilt dieses Verhalten – es tut mir leid, wenn das hier nicht mehr nur schon fast, sondern tatsächlich banal klingt – nicht der Person der Dame, sondern der Tatsache, dass sie Dame ist. Also ähnlich wie beim Kaiser mit dem Hofzeremoniell gilt es der jeweiligen Rolle und nicht derjenigen, welche die Rolle innehat. Oder aber die Türe für eine Dame aufzuhalten folgt schlicht der alten Regel, dass Höflichkeit einer der Wege weniger ins Herz als vielmehr ins Bett einer Frau ist. Dazu aber wirklich mehr im Kapitel »Der Handkuss«. Für hier soll genügen: Respekt vor der jeweiligen Person drückt sich dabei nicht aus, denn der kann kaum allein vom Geschlecht bestimmt sein.

Und wie steht es damit, dem oder der eigenen geliebten Partner oder Partnerin die Türe aufzuhalten? Was ist dabei der Hauptbeweggrund? Die amerikanische Autorin Ayn Rand, die mit ihrer libertären Haltung, ihrem Eintreten für rationales Selbstinteresse und der Ablehnung von Altruismus Millionenauflagen erzielte und auch heute noch großen Einfluss auf das politische Leben der USA hat, wurde einmal in einem Interview damit konfrontiert, wie sich ihre politischen Ideen damit in Einklang bringen ließen, dass sie ihren Mann, den Schauspieler und Künstler Frank O’Connor, finanziell unterstützte, als er beschloss, Malerei zu studieren. Rand beharrte darauf, dass darin kein Widerspruch liege: »Nein, weil, sehen Sie, ich liebe ihn egoistisch. Es ist mein eigenes Interesse, ihm zu helfen, wenn er Hilfe braucht. Ich nenne das kein Opfer, weil ich ein egoistisches Vergnügen daran habe.«[10] Es ist die alte Idee des Egoismus zu zweit, dass alles, was man einem geliebten Menschen – aber auch einem wirklich guten Freund – zuwendet, man sich zugleich selbst zuwendet. Selbst wenn in dem Aufhalten der Türe für den oder die Partnerin ein Respekt vor dieser Person zum Ausdruck kommt, gilt dieser Respekt zugleich wieder dem eigenen Interesse an dieser Person.

Hält man nun seinem Chef oder generell einem Höhergestellten die Türe auf, kann das natürlich Respekt vor dem jeweiligen Menschen sein. Weil man etwa jedem die Türe aufhält, auch seinem Chef. Es kann aber auch anders sein. Vor etlichen Jahren saß ich im Flugzeug neben zwei Herren mittleren Alters, die sich schnell als ein Gespann aus Vorgesetztem und Mitarbeiter irgendeines Wirtschaftsunternehmens herausstellten. Ich saß am Gang, der Mitarbeiter in der Mitte, der Vorgesetzte auf der anderen Seite am Fenster. Sofort wandte sich der Mitarbeiter in Richtung seines Chefs und versuchte, diesem möglichst viel Platz zu lassen oder zu verschaffen – in einem Flugzeug kein leichtes Unterfangen, speziell der Fensterplatz ist tendenziell recht eng. Der Mitarbeiter tat es trotzdem, indem er sich möglichst weit mit dem Rücken zu mir drängte und sehr beflissen mit dem Chef sprach. Die Armlehne war das Einzige, was mich davor rettete, vollständig aus der Sitzreihe gedrängt zu werden, mit dem Oberkörper aber versuchte es der beflissene Mitarbeiter. Was ich damit sagen will: Seinem Chef Platz zu verschaffen – oder eben die Türe aufhalten – kann aus allgemeinem Respekt geschehen, wenn man aber dabei andere mehr oder weniger rücksichtslos beiseitedrängt – das war im Flugzeug der Fall (hoffentlich kickt derjenige nicht auch an der offen gehaltenen Türe noch schnell ein paar andere beiseite, damit der Chef freie Bahn hat) –, zeigt sich eines: Es ist eventuell reine Unterwürfigkeit oder pure Schleimerei.

Wie aber steht es dann im umgekehrten Fall? Jemand hält seinem Mitarbeiter, Untergebenen die Türe auf. Oder generell einem »Rangniederen«, gleich in welchem Zusammenhang, ob formal im Rahmen einer Hierarchie oder informell im Rahmen gesellschaftlicher Üblichkeiten. Lässt man den Fall beiseite, dass das gerade kurz vor einer Mitarbeiterbefragung zur Evaluation von Führungskräften geschieht oder es sich um eine Person handelt, an welcher der oder die Vorgesetzte ein persönlich wie auch immer geartetes Interesse hat, kann es fast nur der Respekt vor der jeweiligen Person sein, der dahintersteckt. Wenn man auf die Typizität des Falles abstellt, ist das der Fall, in dem es sich am ehesten um reine Höflichkeit handelt.

Wenn ein Schüler seinem Lehrer die Türe aufhält, kann das alles Mögliche sein, von Berechnung, Schleimerei, Vorschrift, Etikette, Gewohnheit bis hin zu echter Höflichkeit. Wenn aber ein Lehrer einem Schüler die Türe aufhält oder sogar den Vortritt lässt, kann das fast nur noch Höflichkeit sein.

Oder aber wie im Fall einer befreundeten Lehrerin, mit der ich darüber sprach. Sie meinte, sie halte in der Schule oder auch sonst jedem die Türe auf. Gleich, ob es eine Schülerin oder ein Schüler sei, eine Kollegin oder ein Kollege, ihr Direktor oder ein Besucher. Auch dann, wenn es man es für jeden ohne Ansehung seiner Position macht, für jeden Menschen gleichermaßen, kann eigentlich fast nur Höflichkeit die Grundlage sein.

Nur wenn Grund und Ziel eines Verhaltens nicht die Rahmenumstände, sondern die Person als solche und der Respekt vor ihr sind, handelt es sich um Höflichkeit.

Exkurs über den Anstand

Den Begriff Anstand habe ich bei der Betrachtung außen vor gelassen und möchte ihn hier nur in einem Exkurs behandeln. Warum, das will ich gerne erklären. Vor einiger Zeit zappte ich zu später Stunde, kurz bevor ich zu Bett gehen wollte, durch das Fernsehprogramm. Bei einer der unzähligen NS-Dokumentationen wollte ich schon weiter- oder ausschalten, als ich bemerkte, dass sie anders war als die üblichen. Ich blieb hängen. Der Film hatte gerade begonnen, und 90 Minuten später stand ich zutiefst erschüttert auf. Weniger wegen entsetzlicher Bilder, wie so oft bei diesem Thema, eher im Gegenteil, man sah viele traute Familienszenen. Sondern wegen der Monstrosität des Menschlichen, Unmenschlichen, Allzumenschlichen, die der Film aufdeckte. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Es handelte sich um den Film »Der Anständige« von Vanessa Lapa. Der Film beschäftigt sich mit dem SS-Führer Heinrich Himmler, der als »Architekt der Endlösung« gilt, somit Organisator und treibende Kraft der Ermordung von Millionen von Menschen war. Als amerikanische Soldaten 1945 das Haus seiner Familie in Gmund am Tegernsee besetzten, fanden sie dort private Tagebücher und Briefe und nahmen sie mit. Als ein Teil davon 2014 in Israel aufgefunden wurde, verwendete die Regisseurin Vanessa Lapa sie und weiteres Material aus Archiven und stellte diese privaten Aufzeichnungen und historische Aufnahmen Himmlers bestialischen Taten gegenüber. Das Zitat »Ich fahre nach Auschwitz. Küsse, Dein Heini« lässt vielleicht etwas davon erahnen. Oder der Tagebucheintrag seiner Tochter über eine Fahrt zusammen mit ihrer Mutter ins Konzentrationslager Dachau, zu der sie notiert: »Schön ist’s gewesen.«

Die Frage nach der Moral im Nationalsozialismus ist nicht neu, es gibt dazu eine Reihe von hochinteressanten Untersuchungen.[11] Aber die von Vanessa Lapa filmisch sehr gut in Szene gesetzten Kontraste zwischen der heilen Familienwelt und der Sprache Himmlers mit seinen Gräueltaten geben dem Ganzen eine zusätzliche und vor allem stärker fühlbare Intensität.

Man ist erschüttert, wie sehr Himmler mit sich und dem, was er tut, im Reinen ist, und vor allem, wie oft er sich auf den »Anstand« beruft, daher auch der Titel des Films »Der Anständige«. »Man muss im Leben immer anständig und tapfer sein und gütig«, schrieb er etwa 1941 seiner Tochter ins Poesiealbum. Das erinnert an die berüchtigten »Posener Reden« Himmlers, die er vor SS-Offizieren und NS-Funktionären hielt. Auch in diesen Reden beruft er sich perfiderweise auf den Anstand als moralische Grundlage für die Durchführung des planmäßigen Völkermordes:

»Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«

 

»Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und sonst zu niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. (…) Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen.«[12]

Bei diesen Zitaten kann einem übel werden, und schon nach deren Lektüre, spätestens aber nach Vanessa Lapas Film »Der Anständige« wusste ich, warum ich das Wort und den Begriff »anständig« und »Anstand« zu Recht nicht mag.

»Anstand« war mir schon zuvor nicht sympathisch gewesen, weil er zu sehr nach Benimmbüchern der 50er Jahre klang, wo er noch häufiger vorkam. Was vielleicht kein Zufall ist, führt man sich die damals noch unterbliebene Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner geistigen Grundlagen vor Augen. Zudem habe ich die Erfahrung gemacht, dass fast immer, wenn jemand das Wort »Anstand« in einer Diskussion oder in einem Leserbrief verwendet, es das einzige und finale Argument darstellt, im Sinne von »Das sagt einem doch der Anstand« oder »Sie haben offenbar keinen Anstand«. Man kann beinahe den Grundsatz aufstellen: Wann immer jemand den Begriff »Anstand« als Argument benutzt, hat er oder sie keine weiteren Argumente und deshalb im Endeffekt gar keine.[13]

Eines hat mir nämlich der Film »Der Anständige« klargemacht: Es war nicht so sehr die Idee, dass das Wort »anständig« durch diesen Missbrauch seitens Himmlers und der NS-Ideologie zu belastet ist, um es noch ohne Bedenken zu gebrauchen. Obwohl das auch eine Rolle spielt. Eckhard Henscheid etwa sprach in einem Interview davon, dass »anständig« von den Nazis zum Wortdreck gemacht worden sei, und verwies auf die Posener Rede von Himmler.[14] Vielmehr zeigt sich darin ein tieferliegendes Problem. Das Wort konnte von Himmler auch deshalb so missbraucht werden, weil es keinen echten Inhalt hat oder einen eigenartigen. »Anständig« beinhaltet, sich an etwas zu halten, zu etwas zu stehen. Und das kann vieles sein. In seiner besten Variante hält man sich an die Moral: Man verhält sich anständig, in einer anderen an die Etikette: Man benimmt sich anständig, und in einer weiteren hält man sich ran: Man macht etwas anständig. Damit verwandt ist die Variante, bei der etwas dem entspricht, wie es sein soll, es hält sich gewissermaßen an die Erwartungen oder Vorgaben. Ein anständiger Schweinebraten ist so, wie ein Schweinebraten sein soll. Einen anständigen Kater hat man nach einer schwer durchzechten Nacht – die nicht unbedingt anständig gewesen sein muss. Ich bitte um Verzeihung für den mäßigen Wortwitz, aber er lag hier so nahe, weil er die vollkommen unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes zeigt. Dieser Kater ist anständig, weil er der Vorstellung von einem Kater besonders gut entspricht. Er hält sich gewissermaßen an die Vorgaben für gute Hangover.

Wenn man von einem »anständigen Geschäftsmann« spricht, kann das, je nach Kontext und wie man es ausspricht, ganz unterschiedliche, ja gegenteilige Bedeutung haben. Spricht man gerade darüber, ob man ihm trauen kann, bedeutet es, er hält sich an moralische Regeln. In einem anderen Zusammenhang kann es heißen, dass er sich nicht in das Tischtuch schnäuzt, weil er die Etikette beherrscht. Aber es kann – ähnlich wie »ordentlicher Geschäftsmann« – auch die Aussage beinhalten, dass er viel Gewinn macht, womöglich gerade weil er wenig moralische Skrupel kennt.

»Anstand« und »anständig« eignen sich daher für Wortspiele, aber nicht dafür, sich anständig auszudrücken.

Das Kompliment

Höflichkeit und Lüge

Von dem österreichischen Schriftsteller Roda Roda gibt es eine wunderbare, sehr amüsante Gegenüberstellung:

WIE MAN BEGRÜSST WIRD,

wenn man nach zehnjähriger Abwesenheit wiederkehrt:

 

In Ungarn:

»Jaj, Allergnädigste sind um zehn Jahre jünger geworden.«

 

In Wien:

»Kiß die Hand – Gnädigste haben sich aber gar net verändert.«

 

In Berlin:

»Ja, Frau Oberrejistrator – zehn Jahre sind eben ’ne lange Zeit.«[15]

 

Das Schöne an dieser karikierenden Beschreibung sind weniger die tatsächlichen Unterschiede zwischen den drei Städten – den Wahrheitsgehalt kann ich nur teilweise beurteilen, es scheint mir aber nicht weit hergeholt –, sondern die drei unterschiedlichen Möglichkeiten, höflich zu sein. Denn man muss zugeben, selbst die Berliner Variante enthält Elemente der Höflichkeit. Auch dort sagt man nicht: »Sie sind aber ziemlich alt geworden!« Das steht zwar dahinter, es zu umschreiben müht sich aber sogar der Berliner. Vielleicht mit der für Berlin typischen Ruppigkeit. Dennoch: Formal höflich ist das, was man in Berlin nach Roda Roda zu der Dame sagt, auch.

Im Grunde sind es drei Abstufungen des Lügens. Und lustigerweise widerspricht ihre Abfolge dem bekannten Diktum Goethes, das fast schon sprichwörtlich für die Höflichkeit geworden ist: »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.«[16]