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Rainer Erlinger

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Beschreibung

Wir alle wollen gute Menschen sein. Wir alle wissen eigentlich, was dafür zu tun wäre. Doch dann wird es konkret: Darf ich lügen, wenn es die Situation erfordert? Wie viel Rücksicht muss ich auf meine Nachbarn nehmen? Muss ich mein Geld ethisch anlegen? Rainer Erlinger, Moralinstanz und Autor der inzwischen als Klassiker geltenden Kolumne ›Die Gewissensfrage‹ im Magazin der »Süddeutschen Zeitung«, kennt wie kein anderer die konkreten moralischen Probleme, die uns alle bewegen. Nun hat er endlich seinen großen Entwurf einer Moral für unsere Zeit vorgelegt – alltagstauglich, beispielgesättigt, philosophisch begründet, leicht verständlich und unterhaltsam.

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Rainer Erlinger

Moral

Wie man richtig gut lebt

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Wir alle wollen gute Menschen sein. Wir alle wissen eigentlich, was dafür zu tun wäre. Doch dann wird es konkret: Darf ich lügen, wenn es die Situation erfordert? Wie viel Rücksicht muss ich auf meine Nachbarn nehmen? Muss ich mein Geld ethisch anlegen? Rainer Erlinger, Moralinstanz und Autor der inzwischen als Klassiker geltenden Kolumne »Die Gewissensfrage« in der Süddeutschen Zeitung, kennt wie kein anderer die konkreten moralischen Probleme, die uns alle bewegen. Nun hat er endlich seinen großen Entwurf einer Moral für unsere Zeit vorgelegt – alltagstauglich, beispielgesättigt, philosophisch begründet, leicht verständlich und unterhaltsam.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Rainer Erlinger, geboren 1965, ist promovierter Mediziner und Jurist. Nach seinen Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Arzt arbeitete er als Rechtsanwalt und Publizist vor allem auf den Gebieten des Medizinrechts und der Ethik. Einem großen Publikum ist er durch seine Kolumne »Die Gewissensfrage« im Magazin der Süddeutschen Zeitung bekannt geworden, in der er allwöchentlich die kleinen und großen Ethikprobleme seiner Leser erörtert.

Inhalt

Von interessanter Lektüre, Steuerhinterziehern und Lebensentwürfen

Moralischer Verfall?

Oder das Gegenteil?

Was wir an Moral brauchen für unser Leben im 21. Jahrhundert

Muss man etwas dagegen unternehmen?

Was genau kann man machen?

Teil I Grundsätzliches

1 Von Mutter Teresa, Mülltrennung und »Jetzt komm ich«

Die bessere Hälfte

Moralisch oder heilig?

Lob des Egoismus?

2 Von neuen Frisuren, Präsidenten und Praktikantinnen

Die alltägliche Frage

Wahr oder nicht wahr?

Aufrichtigkeit

Das Böse an der Lüge

Du sollst nicht lügen

Der philosophische Klassiker: Kants Kategorischer Imperativ

Der Klassiker in der Erziehung: Das zerstörte Vertrauen

Verlust der Sprache

»Bin ich zu dick?«

Manipulation

Die Grenzlinie

Nicht verletzen

Selbstschutz

Lügen mit höherem Segen

Abwägung

3 Von Minaretten, Bobbycars und Zahnpastatuben

Woran liegt es?

Widerstand?

Warum dann Toleranz?

Gewinn aus der Toleranz

Gleichgültigkeit oder Toleranz?

Definition der Toleranz

Formen der Toleranz

Folgen für die Praxis

Reicht es nicht, den Anderen nicht abzulehnen?

Große und kleine Toleranz

Grenzen der Toleranz

Toleranz gegenüber Intoleranten?

Keine Toleranz gegenüber Missachtung von Grundrechten

Abstufungen der Toleranz

Kritik der Toleranz

4 Von Pflichten, Nutzen, Tugenden und Nichtwissen

Moral und Ethik – was denn nun?

Grundunterscheidung

Gesetzesethik

Immanuel Kant

Utilitarismus

Tugendethik

Weitere Theorien

Care-Ethik

John Rawls

Schleier des Nichtwissens

Grundsätze der Gerechtigkeit

5 Von Radfahrern, Autofahrern und anderen Verbrechern

Besondere Gegenden

Bedeutung des Rechts

Musik wird störend oft empfunden

Das ethische Minimum

»Das ist mein gutes Recht«

Das Leben ohne Recht

Warum sich an Gesetze halten?

Und wenn es Unsinn ist?

Bedenken

Gesetzliches Unrecht

Recht und billig

Recht und gut

Teil II Moral im Alltagsleben

6 Von Krawatten, Hofleuten und Händeschütteln

Klugheit statt Moral

Gegensatz von Höflichkeit und Moral

Verbindungen zwischen Moral und Manieren

Wertschätzung des Anderen

Wer bestimmt, was Wertschätzung ausdrückt?

Über den Umgang mit Menschen

Höflichkeit, Benehmen, Benimm und Manieren. Das Gleiche?

Pünktlichkeit

Erziehung zur Moral

Schutz des Anderen

Erschwernis oder Erleichterung des Lebens?

Entscheidungsvermeidung

Konsequenz: Nur die Regeln, deren Sinn zu erkennen ist

7 Von Spaß, Intimität und Seitensprung

Spaß ohne Grenzen?

Moralische Probleme beim Sex

Versagen der Moralphilosophie bei Fragen des Sex?

Wer Sex einschränken will, braucht Gründe

Benutzung des Anderen

Doch engere Grenzen bei der Sexualmoral?

Moralisch oder nicht? »Perversitäten«

Und die sonstigen Problemfälle?

Partnerschaft

Treue

8 Von Einwegflaschen, Atomkraftwerken und Panzerminen

Moral beim Einkaufen

Boykott oder verantwortungsvoller Einkauf

Hilft das was?

Kausale Verursachung

Summeneffekt

Innere Aufrichtigkeit

Das Problem der LOHAS

Poltisches Handeln

Ist wirklich Öko, wo Öko draufsteht?

Informationspflicht – Denkpflicht

Sparsamkeit als Tugend

Ethische Geldanlage

Die Alternative

Und morgen im Supermarkt?

9 Von Schätzen, Hunger und Steuern

Das abgehängte Prekariat

Chancengleichheit

Grundaufgabe des Sozialen: Ausgleich der Lotterie des Lebens

Förderung von Kindern

Problem für den Einzelnen

Soziale Grundpflichten

Der Staat als neutrale Stelle

Umgang mit Armut

Der tägliche Kontakt: Bettler

Das tägliche weltweite Elend

Ehrenamt

Das unamtliche Engagement

Politisches Handeln

10 Von Almwiesen, Nobelpreisen und Treppenhäusern

Wirtschaftsnobelpreis

Allmende

Die Tragik der Allmende

Elinor Ostroms Leistung

Anwendungen

Praktische Bedeutung im Alltag

Nachbarschaft

Staat

Bildung

Sozialversicherung

Versicherungen

Schwarzfahren

Das Prinzip erkennen

11 Von Präsidentengattinnen, Mafia und Kindern

Zweitklassig?

Wert der Familie

Gefahr der Familie

Wir halten zusammen

Pflege von Angehörigen

Verirrungen des Prinzips Familie

Kinder als Ziel?

Förderung der Kinder

Ende der Familie?

Und die ohne Familie?

Weiterentwicklung des Familienbegriffs

Lob der Freundschaft

Ausblick

12 Von Biohähnchen, Vegetariern und Kühlschränken im Wald

Fleischesser oder Vegetarier?

Die tierethische Position

Biotomaten und Biohähnchen

Fleisch nurmehr für Reiche?

Der Mensch als fleischfressendes Tier

Nurmehr Biofleisch oder gar kein Fleisch?

Rückkehr zum Sonntagsbraten

Planetare Probleme

Nachhaltigkeit

Das Prinzip Verantwortung

Kühlschränke im Wald

Was nun konkret tun?

Teil III Grundpfeiler einer zeitgemäßen Moral

13 Von Menschen, Unmenschen und verschwundener Ehre

Ein Gedankenexperiment

Achtung

Die Selbstzweckformel

Das Doppelgebot der Liebe

Verhältnis zur Ehre

Gestaltung des Lebens

Praktische Anwendung

Höflichkeit

Lüge

Soziales

Toleranz

14 Von Masochisten, Knoblauch und Sportwagen

»Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.«

Kategorischer Imperativ

Universalisierung

Respekt für die Wünsche des Anderen

Wie nennen?

Beobachtung

Beziehungen

15 Von Bahnfahrern, Spaziergängern und Vorausschau

Wie sollte man sich hier verhalten?

Und vor allem: warum?

Idee der Rücksicht

Wie genau benennen?

Der begrenzte Raum

Übertragung auf andere Situationen

Organspende

Ausnutzung

Epilog: Von guten Gewehren, einem besseren Leben und Verstand

Wie man richtig gut lebt

Wo ist denn …?

Verstand

Anderer Meinung?

Leseempfehlungen

4 Von Pflichten, Nutzen, Tugenden und Nichtwissen

8 Von Einwegflaschen, Atomkraftwerken und Panzerminen

12 Von Biohähnchen, Vegetariern und Kühlschränken im Wald

Von interessanter Lektüre, Steuerhinterziehern und Lebensentwürfen

Einleitung

Vor einiger Zeit[1] konnte man im Playboy etwas Interessantes lesen. Verzeihen Sie mir, ich konnte einfach der Versuchung nicht widerstehen, das Buch mit diesem vielleicht überraschenden Satz zu beginnen, auf den ich später zurückkommen will. Überraschend vielleicht deshalb, weil Erotik oder Sexualität lange Zeit per se als unmoralisch galten – was sich glücklicherweise geändert hat. Überraschend vielleicht auch, weil Erotikmagazine heute zwar nicht mehr wegen der Sexualität kritisch betrachtet werden, dafür aber im Hinblick auf die Geschlechterdiskussion, weil in ihnen ein bestimmtes Frauenbild transportiert wird. Und mit diesen Überlegungen wären wir schon mitten im Thema: Moral heute. Ja, dieses Buch soll sich mit Moral beschäftigen, aber ich will es mit einem Satz wie dem ersten hier beginnen. Denn Moral erschöpft sich eben nicht mit Kant und Aristoteles, mit Bibel und Gesetzen, mit Schuld und Sühne, mit Verantwortung und Pflichten. Moral ist nicht nur das, was sonntags von der Kanzel gepredigt wird oder wochentags im Leitartikel beschworen, worüber man sich in Talkshows und Kommentaren einig sein kann, dass es Politiker und Manager nicht haben. Moral ist etwas, das uns alle jeden Tag betrifft. Sei es, weil wir uns an sie halten oder weil wir es nicht tun, sei es, weil sich Andere daran orientieren oder es nicht tun. Moral ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Ohne Moral können wir nicht leben, und falls man es könnte, würde man es nicht wollen.

Das klingt nun nach einer kühnen Behauptung, aber um sie zu belegen, reicht eine einfache Überlegung anhand eines bekannten Grundsatzes: dass es schlecht ist, einen anderen zu töten. Das ist zwar einerseits eine rechtliche Bestimmung – wer einen anderen ohne Rechtfertigung wie etwa Notwehr tötet, kommt dafür ins Gefängnis. Andererseits aber ist sie sicherlich auch ein moralisches Gebot: Du sollst nicht töten. Was sollen diese Gemeinplätze hier? Nun, man sollte sich nur einmal ein Leben vorstellen, in dem es diesen Grundsatz nicht gibt. Es wäre vermutlich eines: kurz. Vor allem aber auch sehr mühsam. Man könnte niemandem mehr den Rücken zudrehen, sich nur noch in bewaffneten Gruppen aus dem Haus wagen – aber auch nur dann, wenn man den anderen in seiner Gruppe ausreichend vertraut oder sich sonst irgendwie abgesichert hat. Das rechtliche Tötungsverbot allein würde schließlich nur so weit schützen, wie der Arm des Gesetzes reicht.

Das ist doch abwegig, mag nun mancher sagen. Gut, dann machen wir es lebensnäher, wenn auch ein wenig banaler: Jeder, der Fahrrad fährt, kennt das Problem: Man will sich nur schnell etwas aus dem Laden holen, eine Zeitung, eine Packung Zigaretten. 20 Sekunden im Kiosk. Muss man sein Fahrrad absperren? Das hängt wohl davon ab, wo man sich gerade befindet. In einer Großstadt scheint es auf jeden Fall klug. Allein: Mühsam und ärgerlich ist es allemal. Oder ein anderes Beispiel: Man geht im Zug kurz auf die Toilette. Sein gesamtes Gepäck einschließlich Hut und Mantel mitzunehmen ist unmöglich. Im Endeffekt muss man darauf vertrauen, dass die anderen Reisenden im Großraumwagen oder Abteil durch irgendetwas daran gehindert werden, sich einfach zu nehmen, was ihnen gefällt. Und falls man an einen Sitznachbarn die Bitte richtet, doch kurz auf das Gepäck zu achten, kann man nur hoffen, dass er das nicht als Freilos für einen neuen Koffer und ein Notebook als Zugabe auffasst. In diesen beiden Fällen hängt die Frage, wie mühsam das Leben ist, sehr davon ab, ob sich die Mitmenschen an das moralische Gebot, nicht zu stehlen, halten. Wenn man in andere, umstrittenere Bereiche vorstößt, etwa zu Fragen, ob bestimmte Formen von Sexualität unmoralisch sind oder der Konsum von Drogen, kann man diskutieren. Aber Grundzüge der Moral in der Gesellschaft braucht jeder.

Doch warum nun ein Buch darüber, über Moral hier und heute? Haben wir derzeit zu wenig davon? Ein Blick in die Veröffentlichungen zu dem Thema legt den Verdacht nahe. Vom »Verlust der Werte«[2] ist die Rede, vom »Markt ohne Moral«, von der »Sehnsucht nach Werten«. Einer ruft nach »Werten in Zeiten des Umbruchs«, ein anderer verkündet durch »Schluss mit lustig« das »Ende der Spaßgesellschaft«. Eine Fürstin und ein Kardinal[3] beschwören neben dem Glauben die Tradition. Und als Lösung wird der Disziplin das Lob[4] gesungen.

Moralischer Verfall?

Leben wir denn wirklich in einer Zeit des moralischen Verfalls? Nicht nur der Buchmarkt lässt es vermuten, es vergeht auch kaum eine Woche, in der nicht ein neuer Skandal ans Tageslicht kommt, neue moralische Abgründe aufgedeckt werden: Steuerhinterziehung, Bestechung, exorbitante Manager-Boni, die Finanzkrise im Allgemeinen, um nur ein paar zu nennen. Tatsächlich drängt sich der Verdacht auf, als zähle die Moral gar nichts mehr, würde von niemandem mehr beachtet. Weder von »denen da oben« noch vom kleinen Mann, der auch nicht einsieht, sich hinten anzustellen, wenn alle anderen sich frei bedienen. Einer Emnid-Umfrage zufolge[1] sind 26 % der Bevölkerung schon einmal schwarzgefahren. Ein »Kavaliersdelikt« offenbar. Man kann es aber auch anders sehen: Das Strafgesetzbuch nennt das »Beförderungserschleichung«[2] und knüpft daran Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr. Mehr als ein Viertel der Deutschen räumt also ein, etwas getan zu haben, für das bis zu einem Jahr Gefängnis droht. Dieses Strafmaß stellt die Obergrenze dar, die selten und wenn, dann sicherlich nicht beim ersten Mal verhängt wird. Dennoch bleibt ein offensichtlicher Widerspruch zwischen der Unwertsfeststellung des Strafgesetzbuchs, die sich in diesem Strafrahmen ausdrückt, und dem Verhalten der Menschen. Man muss fragen, woher dieser Widerspruch kommt. Ist das Strafgesetzbuch antiquiert, wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen? Haben wir – damit meine ich uns in Form des Durchschnittsbürgers – tatsächlich jede Moral verloren? Oder ist Schwarzfahren in Wirklichkeit keine Frage der Moral, sondern des sogenannten 11. Gebots: Du sollst Dich nicht erwischen lassen.

Im Februar 2010 diskutierte Deutschland über eine CD. Vor allem über die moralischen Fragen, die mit ihr verknüpft sind. Es ging nicht um Gewaltrapper, rechtsextremistische Songtexte oder Raubkopien, sondern um die Daten von 1500 Deutschen, die Geld anonym in der Schweiz angelegt und so dem deutschen Finanzamt verheimlicht hatten. Die Daten waren illegal bei der Bank kopiert und den deutschen Steuerbehörden zum Kauf angeboten worden: für 2,5 Millionen Euro. Die Bundesregierung schlug zu, nicht zuletzt, weil sie sich mehrere hundert Millionen Euro Nachzahlungen erhoffte. Vor allem aber auch, weil die Opposition die Stimmung in der Bevölkerung aufgriff und den Ankauf forderte. Bedenken über Datenhehlerei oder ungesetzliche Maßnahmen wurden kurz erörtert, aber letztlich zurückgestellt. Wirklich überrascht über die Vielzahl der Fälle aber war niemand. Seit Jahren gibt es Schätzungen,[3] dass mehr als 400 Milliarden Euro von Deutschen schwarz im Ausland liegen. Schätzungen, wie viel Geld dem Fiskus insgesamt pro Jahr durch Steuerhinterziehung verloren geht, variieren zwischen 30 und 100 Milliarden Euro. Wie schon zwei Jahre zuvor bei den Daten aus Liechtenstein war die Empörung groß über die Steuerhinterzieher, die Vermögen schwarz in die Schweiz transferiert hatten und deshalb dem Staat Millionen an Steuern vorenthalten.

Andererseits hatten in einer Umfrage aus dem Jahr 2000[4]etwa 40 % aller Befragten gemeint, Steuerbetrug sei gar nicht schlimm oder weniger schlimm, und in einer Umfrage aus dem Jahr 2008[5] bekannten 9 %, dass sie schon einmal dem Finanzamt Einkünfte verschwiegen, und 19 %, dass sie schon einmal schwarzgearbeitet haben.

Ist das eine die Reaktion auf das andere? Oder sind beides nur Anzeichen und Auswirkungen desselben? Nämlich des Verfalls der Moral?

Doch muss man gar nicht mit Prozenten jonglieren. Manche Entwicklungen erschrecken, auch wenn es nur Einzelfälle sind, weil sie unbegreiflich scheinen. Am 12. September 2009 prügelten auf einem S-Bahnhof in München zwei Jugendliche einen Fünfzigjährigen zu Tode, weil er vier Schülern zu Hilfe kommen wollte. Ausgerechnet in München, in einem noblen Vorort!, wunderten sich viele und noch mehr, als sich in der darauffolgenden Zeit immer wieder ähnliche Vorfälle ereigneten. Grundlose exzessive Gewalt im öffentlichen Raum scheint immer häufiger zu werden. Daneben erschütterten Amokläufe an Schulen die Öffentlichkeit, 2002 in Freising und Erfurt, 2006 in Emsdetten, 2009 in Ansbach und Winnenden. Schüler dringen in eine Schule ein und schießen meist wahllos um sich, töten andere Schüler und Lehrer oder verletzen sie schwer. Das Erschreckende daran ist vor allem, dass die Täter keine Hemmungen zu haben scheinen, andere zu töten.

Diese Berichte lassen sich als Einzelfälle einordnen. Man kann über die Beweggründe der Täter sinnieren, fragen, ob es sich um pathologische Fälle handelt. Mehr zu denken gibt eine andere Meldung, auch wenn sie wieder »nur« mit Zahlen agiert. 2006 führte das Emnid-Insititut für das Magazin Playboy eine Umfrage zur Bedeutung der Zehn Gebote[6] durch. Damit wären wir endlich wieder beim Eingangssatz, denn das ist das Interessante, was man im Playboy lesen konnte. Diese Umfrage ergab, dass 11 % der Deutschen »Du sollst nicht töten« nicht mehr für zeitgemäß halten. Mehr als jeder Zehnte hierzulande meint, eines der Grundgebote, wenn nicht das essentielle Gebot schlechthin, passe nicht mehr in unsere Zeit. Ein unglaublicher Befund, eine unglaubliche Zahl. Es schleicht sich die Angst heran, das könnte sich widerspiegeln in den jüngst bekannt gewordenen brutalen Morden in der S-Bahn oder den Amokläufen an Schulen. Sind Columbine, Erfurt und Winnenden nur ein Vorgeschmack dessen, was uns droht?

Oder das Gegenteil?

Man könnte aber auch die Gegenfrage stellen: Warum sorgen denn die Berichte über die Steuerhinterziehungen, falsch abgerechnete Freimeilen, Urlaubsreisen bei Politikern und Ähnliches für Entrüstung und stellen ein großes Thema für die Medien dar? Die Antwort lautet: Weil sie als skandalös empfunden werden. So schlimm kann es aber dann doch um die Moral insgesamt nicht bestellt sein.

Und empfindet man nicht an manchen Stellen auch eine Umkehr? Ein Konzern wie Siemens gerät auf die moralische Anklagebank, weil er Schmiergelder bezahlt hat. Bis vor wenigen Jahren war das noch so akzeptiert,[1] dass man die Zahlungen offiziell von der Steuer absetzen konnte. Die Einstellung dazu hat sich offenbar vollkommen geändert. Fair Trade, CO2-Bilanz und ökologischer Einkauf sind vieldiskutierte Themen unserer Zeit. Während man vor einigen Jahren noch Menschen beim Bier prahlen hörte, wie gut sie das Finanzamt betrogen haben, scheint Steuerhinterzieher nach den Aufdeckungen in Liechtenstein plötzlich zum Schimpfwort geworden zu sein. Und der Finanzminister wird schon fast zum Helden bei seinem Kampf gegen die Steueroasen. Der Gemeinsinn erlebt eine Renaissance. Und dennoch empfinden 11 % das Tötungsverbot als nicht mehr zeitgemäß.

Woher kann das kommen? Muss man etwas dagegen unternehmen? Und wenn ja: Was?

Was wir an Moral brauchen für unser Leben im 21. Jahrhundert

Schon in den 1960er Jahren hat der große Soziologe Niklas Luhmann[1] festgehalten, dass unsere Welt immer komplexer wird, eine Veränderung, auf die der Mensch reagieren muss. Diese Komplexität hat weiter zugenommen. Anders als viele Jahrhunderte lang zuvor führt kaum mehr jemand das Leben fort, das seine Eltern geführt haben. Für viele unserer Lebensentwürfe gibt es keine Vorbilder mehr. Sie sind gänzlich neu, als Patchwork neu zusammengesetzt oder in großem Maße verändert weiterentwickelt. Wir übernehmen fast nichts mehr vom Leben unserer Eltern – außer der Moral. Kann das funktionieren? Ja, weil die moralischen Grundsätze zeitlos sind, sein müssen. Nein, weil auf diesen Grundsätzen eine Vielzahl von moralischen Regeln aufbaut. Die aber wurden teilweise für die jeweilige Zeit entwickelt, was über Jahrhunderte geringer Änderungen auch funktionierte, dann jedoch scheitern kann oder sogar muss, wenn sich die Lebensumstände grundlegend ändern.

Wir hinterfragen die Lebensentwürfe unserer Eltern und passen sie unseren Bedürfnissen an. Wir hinterfragen die wirtschaftlichen, ökologischen und wissenschaftlichen Zusammenhänge; auch deshalb, weil wir es müssen, weil Wirtschaft, Ökologie, Wissenschaft uns vor neue Probleme stellen. Und wir hinterfragen selbstverständlich auch die moralischen Regeln, die uns vorgegeben werden. Die Aufklärung, der Ausgang des Menschen[2] aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, hat unser Leben erreicht. Deshalb müssen die überlieferten Moralforderungen auf den Prüfstand gestellt und untersucht werden: welche in welcher Form heute noch berechtigt sind, welche weggefallen sind, welche dazugekommen und welche wichtiger geworden sind. Denn so wie manche Probleme neu sind, erfordern sie neue Reflexionen über ihre moralischen Aspekte.

Dabei soll die Moral nicht den Lebensumständen angepasst, womöglich aufgeweicht, sondern im Gegenteil konkretisiert werden. Auch wäre es vermessen zu meinen, man könnte eine neue Moral erfinden oder die bestehenden Ethiken aus 4000 Jahren Geschichte der Moralphilosophie mal eben verbessern. Es geht schlicht darum, die großen Gedanken aus diesen Jahrtausenden, die unser Leben nach wie vor prägen und auch weiter prägen sollen, klarer herauszustellen und für die heutigen Menschen verständlich zu formulieren. Es geht darum zu zeigen, wie gut und wie genau sie in unsere Zeit passen und dass sie nichts von ihrer Kraft verloren haben, wenn man sie richtig positioniert. Und dadurch zugleich eine Grundlage dafür zu entwickeln, wie man sich in komplexen, immer schneller sich entwickelnden und verändernden Zeiten trotzdem moralisch richtig verhalten kann.

Insgesamt scheinen sich die Ansichten zu wandeln. Die Kirchen verlieren an Einfluss,[3] die soziale Kontrolle durch die Gesellschaft funktioniert in Großstädten immer weniger, und auch auf dem Lande geht sie zurück. »Was sollen die Nachbarn denken!« stellt immer weniger Begründung für ein Verhalten dar. Vielleicht haben aber auch die Kirchen teilweise selbst schuld, wenn sie sich mit ihren Forderungen, etwa der katholischen Sexualmoral, ins Abseits begeben. Und wenn der Satz »Du sollst nicht töten« fast schon inflationär bei jeder Abtreibungsdebatte benutzt wird, ebenso wie bei der Diskussion um Stammzellen, verliert er seine Kraft. Überzogene Moralforderungen, die am Leben vorbeigehen, sind der schlimmste Bärendienst, den man der Moral erweisen kann.

Die Lebensumstände haben sich gewandelt, wandeln sich immer weiter und immer schneller. Erfahrungsschätze, niedergeschriebene und überlieferte Werte verlieren an Bedeutung, werden sinnlos, ja teils widersinnig und gefährlich. Die Sparsamkeit, jahrhundertelang eine Tugend, die half, Haus und Hof zu bewahren und fürs Alter vorzusorgen, kann in Zeiten des »Geiz ist geil« plötzlich zur Untugend werden. Statt Strukturen zu bewahren, können Sparsamkeit und Schnäppchenmentalität sie heute zerstören. Wenn Lebensmittel auf Druck des sparsamen und preissensiblen Verbrauchers immer billiger werden, schädigt dieser Preiskampf am Ende häufig Umwelt, Landschaft und soziales Gefüge. Massentierhaltung, minderwertige Lebensmittel sind Folgen einer industriellen Landwirtschaft, schlechte Arbeitsbedingungen und Dumpinglöhne Ergebnis eines knallharten Wettbewerbs im Handel. An der alten Tugend Sparsamkeit festzuhalten kann heute unmoralisch sein.

Muss man etwas dagegen unternehmen?

Muss man etwas dagegen unternehmen? Und wenn ja: wogegen? Dagegen, dass sich Menschen weigern, unhinterfragt etwas als verbindlich anzunehmen? Das bestimmt nicht, das ist sogar zu begrüßen. Oder dagegen, dass die Moral gefährdet ist? Das eher. Denn wie gesagt, ohne Moral könnten wir nicht leben, vor allem aber würden wir es nicht wollen. Wir haben zwar die Gesetze, die unser Leben in immer größerem Ausmaß reglementieren, aber dennoch kann das Recht immer nur den äußeren Rahmen bestimmen, nur das ausschließen, was eine Gesellschaft sich auf keinen Fall leisten kann. Und eine Gesellschaft, die alles, was für das Zusammenleben notwendig ist, rechtlich regeln und vor allem auch überwachen und durchsetzen will, läuft Gefahr, zum Big-Brother-Staat zu werden.

Andererseits zeigt sich an dieser Stelle auch eine Möglichkeit auf: Menschen weigern sich ganz zu Recht, Vorgaben, die nicht begründet sind, als verbindlich anzuerkennen. Nur, weil etwas schon immer so war, muss es nicht richtig sein. Was »man« macht und was nicht, mag in den 1950er Jahren noch als Begründung ausgereicht haben. Heute aber nicht mehr. Und was Kirche, Eltern oder die Nachbarn sagen, hat keine Gesetzeskraft mehr. Wer Menschen unserer Zeit sagen will, was richtig und was nicht richtig ist, muss es begründen können. Alles andere ist für einen aufgeklärten Menschen eine Zumutung.

Zudem wird es immer schwieriger, das eigene Handeln zu beurteilen. Die zunehmende Komplexität der Gesellschaft macht es nahezu unmöglich, alle Folgen und Konsequenzen abzusehen. Und auch die Möglichkeiten der moralischen Orientierung werden immer größer. Neben die klassischen Großkirchen treten immer mehr religiöse oder weltanschauliche »Moralanbieter«, die sich teilweise widersprechen. Umso wichtiger wird es, die Essenz, das eigentlich Entscheidende der Moral zu erkennen und dementsprechend Gewichtungen zu setzen.

Was genau kann man machen?

Damit kommt man zur Frage, was man machen kann. Man kann die moralischen Vorgaben auf den Prüfstand stellen und aussortieren, was sich falsch dahin verirrt hat, was gar keine Frage der Moral, sondern vielleicht nur der Tradition ist. Man kann neue moralische Vorgaben für neue Lebenssituationen suchen. Vor allem aber muss man sich überlegen, wie die allgemeinen Grundsätze der Moral in unserer Zeit so angewandt werden können, dass sie nicht nur weiterhin gelten, sondern möglicherweise sogar ihr Kern stärker zu Geltung kommen kann.

Seit nunmehr neun Jahren schreibe ich jede Woche die Kolumne »Gewissensfrage« im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Mittlerweile sind das an die 500 Kolumnen. Jede Woche senden Leser der Süddeutschen Zeitung Moralfragen des Alltags ein, zwischen 50 und 100 pro Monat. Dazu kommen Radiokolumnen bei verschiedenen Sendern, Fernsehbeiträge, Lesungen, Besuche in Schulen, Podiumsdiskussionen, Talkshows und eine Gastprofessur an der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Fakultät in Augsburg. Ich zähle das alles auf, weil ich aus diesem Erfahrungsschatz im Laufe dieses Buches schöpfen werde. Dieser jahrelangen Beschäftigung liegt nämlich eines zugrunde: die Konfrontation der Moral mit dem heutigen Alltag der Menschen.

Ich will nicht versuchen, eine neue Moral zu entwerfen oder eine Einführung in die Ethik zu schreiben. Oder mit wissenschaftlich universitärem Anspruch eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen ethischen Theorien zu leisten. Ich will auch nicht versuchen, für alle Fälle des Lebens Handlungsanweisungen zu geben. Das ginge gar nicht, und wenn ich dennoch damit beginnen würde, hätten Sie jetzt den ersten Band eines vielbändigen Mammutwerks in Händen. Vielmehr will ich versuchen, für die Bereiche, in denen man immer wieder vor Fragen steht, Zusammenhänge darzulegen, zu zeigen, welche moralischen Grundsätze dabei wichtig sind.

Um welche Bereiche geht es denn dabei? Es geht um Probleme in der Familie, in der Partnerschaft, mit den Nachbarn und im Beruf. Auf der Straße, im Zug und im Urlaub. Mit Älteren, Jüngeren, Kindern und Eltern. Mit Menschen, die man mag, die man nicht mag, mit Vertrauten und Fremden. Es geht um den Umgang mit eigenen Fehlern und den Fehlern anderer. Um Lüge, Toleranz, Hilfe und Rücksicht. Um Wirtschaften, um Sparen, um Großzügigkeit, um Armut. Um den Umgang mit Tieren und der Natur. Um das kleine und das große schlechte Gewissen. Um Verständnis, Respekt und Achtung, die man schuldet, die man aber auch einfordern kann. Um Denken an den Anderen genauso wie um Denken an sich selbst. Und genau damit will ich beginnen: mit dem Denken an sich selbst. Weil das nichts Schlechtes sein muss.

Teil IGrundsätzliches

1Von Mutter Teresa, Mülltrennung und »Jetzt komm ich«

Über Egoismus

Die Geschichte ist alt, aber sie ist nach wie vor gut. So gut, dass sie unzählige Male verfilmt wurde, am bekanntesten in der Fassung mit Charlton Heston.[1] Heston wurde dafür sogar für den Golden Globe nominiert, während der Film selbst einen Oskar für die besten Spezialeffekte erhielt. Die Rede ist von »Die Zehn Gebote«. Es ist aber auch eine geradezu unfassbare Geschichte: Moses steigt auf einen Berg,[2] um einen neuen Bund auszuhandeln zwischen Israel, dem Volk Gottes und Gott selbst, und er kommt wieder herunter mit zwei Steintafeln, auf denen die Zusammenfassung dessen steht, was das Volk in Zukunft einzuhalten hat, eben jene Zehn Gebote. Zu den unzähligen Darstellungen, Umsetzungen und Verfilmungen dieser Geschichte gesellte sich jüngst ein kurzer Clip:[3] Moses kommt vom Berg Sinai zurück mit zwei Tafeln in der Hand und begrüßt das Volk mit den Worten, dass er eine gute und eine schlechte Nachricht habe. Die gute sei, »Ich habe ihn auf zehn runter«. Die schlechte: »Ehebruch ist immer noch drinnen.«

Man kann Moral auf vielerlei Arten begründen, die wichtigsten davon will ich später in einem eigenen Kapitel vorstellen. Man kann es, wie hier bei den Zehn Geboten, unter Berufung auf Gott tun. Das kann funktionieren, wirft jedoch spätestens dort Probleme auf, wo Einzelne nicht an Gott oder auch nur nicht an diesen Gott glauben. Dazu mehr im Kapitel über die ethischen Theorien. Worum es hier gehen soll, ist die Frage, was daraus folgt, wenn man die Moral nicht auf einen oder mehrere Götter, sondern auf den Menschen bezieht. Wenn man sagt, dass moralisch richtig nur etwas sein kann, das Menschen zugutekommt, vielleicht sogar nur deshalb richtig ist, weil es Menschen – oder anderen Lebewesen wie Tieren – zugutekommt. Und nicht, weil es einem höheren Wesen gefällt oder einem bestimmten Prinzip gehorcht.

Meiner Ansicht nach folgt daraus, dass der Mensch nicht nur derjenige ist, an den sich die Forderungen der Moral richten. Er ist nicht nur der, dem gesagt wird: Du sollst oder du sollst nicht, der eingeschränkt wird von den Forderungen der Moral. In der Ethik nennt man diese Position Subjekt der Moral, weil es um denjenigen geht, der handeln soll oder eben nicht. Bei einer Moral, die sich auf den Menschen bezieht, ist der Mensch aber zugleich Objekt der Moral, also – neben Verpflichtungen gegenüber anderen Lebewesen – derjenige, dem das Gebot oder Verbot zugutekommen soll. Und er ist als Drittes auch Maßstab der Moral. Er ist derjenige, an dem sich die Moral messen lassen muss. Was ich damit meine, hat der amerikanische Moralphilosoph William K. Frankena folgendermaßen formuliert:

»Und sie [die Gesellschaft] darf auch nicht vergessen, dass die Moral die Funktion hat, das gute Leben der einzelnen zu fördern und es nicht mehr als nötig zu stören. Die Moral ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Moral.«[4]

Auch wenn er den Umweltaspekt vermissen lässt, halte ich gerade den letzten Satz für einen der wirklich zentralen Sätze jeder Beschäftigung mit Moral. Müsste ich eine Werbekampagne für die Moral starten, würde ich ihn vermutlich großflächig plakatieren lassen. Man kann ihn nicht oft genug wiederholen:

»Die Moral ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Moral.«

Was bedeutet das? Wenn man so will eine Art Verteilung der Beweislast: Man muss sich nicht für das, was man tut, rechtfertigen, sondern die Moral muss begründen, warum man sich in einer bestimmten Art und Weise verhalten soll. Warum man das eine unterlassen soll und das andere tun. Und das wiederum führt dazu, dass man sich auch nicht für etwas rechtfertigen muss, das eigentlich das Natürlichste auf der Welt ist: an sich zu denken. Seine eigenen Interessen zu verfolgen ist zunächst moralisch neutral. Probleme entstehen erst, wenn weitere, negative Aspekte hinzutreten, weil man deswegen Pflichten gegenüber Anderen vernachlässigt oder Andere unangemessen beeinträchtigt, wenn man etwa zugunsten der eigenen Interessen jemanden schädigt oder jemandem etwas vorenthält.

Die bessere Hälfte

Es gibt eine andere Geschichte, bei weitem nicht so spektakulär wie die von Moses am Berg Sinai und vermutlich noch kein einziges Mal verfilmt. Und ob sie wahr ist, weiß man auch nicht. Es ist die Geschichte von einem alten Ehepaar, das seit Jahrzehnten ein festes Ritual beim Frühstück hat: Er nimmt ein Brötchen, schneidet es auf und gibt seiner Frau das schöne knusprige Oberteil, während er selbst sich mit dem weniger schönen Boden begnügt. Nach über 30 Jahren kommt durch Zufall heraus, dass seine Frau viel lieber den Boden hätte, aber über die vielen Jahre nichts gesagt hat, weil sie dachte, auch er würde den Boden lieber mögen und wollte deshalb diesen Teil ihm lassen. Er aber liebt die knusprigen Oberteile, hatte dasselbe von seiner Frau vermutet und ihr zuliebe viele Tausende von Morgen lang darauf verzichtet.

Auch aus dieser Geschichte kann man nun mehrere Schlüsse ziehen. Man kann lachen über die beiden. Man kann weinen oder verzweifelt sein, weil die Erkenntnis erst nach einem halben Leben des unnötigen Verzichts auf beiden Seiten kam; würde es nicht am Ende doch nur um Brötchenhälften gehen. Man kann politisch korrekt sagen: Na, immerhin haben sie Brötchen, es gibt genug, denen egal wäre, welche Hälfte sie bekommen, wenn sie nur irgendetwas zu essen hätten. Man kann über das Problem nachdenken, dass man von den eigenen Wünschen nicht einfach auf die anderer schließen darf. Damit erkennen, dass die goldene Regel »Behandle Andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst« mit Vorsicht zu genießen ist. Und sich dem alten Zyniker George Bernard Shaw anschließen, der meinte: »Behandle Andere nicht, wie du möchtest, dass sie dich behandeln. Ihr Geschmack könnte nicht derselbe sein.«[5] Man kann aber auch eine allgemeine Regel des Zusammenlebens ableiten: Miteinander reden!

Oder, und darauf will ich hier hinaus, man kann sich überlegen, warum eigentlich beide der Meinung waren, ihre eigenen Wünsche seien weniger wert als die des Anderen. Und ob das Problem nicht in Wirklichkeit dort seinen Ausgang genommen hat. Aus romantischer Sicht ist es sicherlich schön, dass jeder der beiden sich selbst zugunsten des geliebten Partners zurückgenommen hat. Womöglich ist das ein Zeichen wahrer Liebe und vielleicht sogar das Geheimrezept für eine lange glückliche Beziehung. Ob es wirklich das vollkommene Glück darstellt, sich selbst so weit zurückzunehmen, müsste man noch einmal überprüfen. Auf jeden Fall aber wäre es problematisch, ein derartiges Verhalten als Ideal anzusehen oder zu fordern. So positiv es in die eine Richtung erscheint, die Wünsche des Anderen zu erfüllen, hat es auch eine unschöne Kehrseite. Es würde ja bedeuten, die eigenen Bedürfnisse völlig hintanzustellen. Doch es stehen sich zwei Menschen gegenüber, die als Menschen gleichwertig sind und deren Anliegen somit auch dasselbe Gewicht haben. Es kann nicht Ziel der Moral sein, von einem Menschen zu fordern, sich selbst immer in die zweite Reihe zu stellen. Um bei diesem Bild zu bleiben: Die Moral kann das Vordrängeln auf Kosten Anderer kritisieren und dazu auffordern, sich wie jeder Andere in die Schlange zu stellen, aber nicht dazu, auf Dauer alle anderen vorzulassen.

Moralisch oder heilig?

Vermutlich schwebt vielen unbewusst als Idealbild des moralischen Menschen Mutter Teresa vor. Ein Mensch, der sich selbst vollkommen verleugnet und sich für andere aufopfert. Einfach ausgedrückt eine Heilige, auch wenn sie es nach katholischem Kirchenrecht (noch) nicht ist.[6] Ihre Verdienste sollen unbenommen bleiben, aber im täglichen Umgang fällt ihr Name vermutlich am häufigsten im Zusammenhang mit einer Distanzierung: »Ich bin doch nicht Mutter Teresa!«[7] Sosehr viele ihr Wirken bewundern, scheint es doch eher von einer anderen Welt und auf jeden Fall nicht wirklich Vorbild für den Einzelnen. Warum? Ihr Anliegen, den Armen zu helfen und sich um Sterbende, Waisen und Kranke zu kümmern, stellt doch zweifelsfrei eine moralische Aufgabe dar. Sogar eine der elementarsten. Doch es geht um das Ausmaß. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem Ideal und dem, was man verlangen kann. Immanuel Kant hatte 1788 in seiner »Kritik der praktischen Vernunft« dazu geschrieben:

»Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist.« [8]

Und wer von uns ist schon heilig?, möchte man an dieser Stelle fragen. Für mich persönlich kann ich es definitiv ausschließen. Tatsächlich lässt sich etwa das Leben, das Mutter Teresa führte, aus Gründen der Moral kaum von allen Menschen fordern; das, was sie leistete, ging über das Geforderte hinaus. In der Moralphilosophie nennt man so etwas »supererogatorische« Handlungen;[9] damit meint man Taten, die gut sind, aber sozusagen zu gut und deshalb über die Pflicht hinausgehen.

Nun könnte man über diese Einteilung als eine Fußnote oder Randbemerkung der Ethik – wo man sie wirklich überwiegend antrifft – lächelnd hinweggehen, hätte sie nicht ganz praktische Auswirkungen: Diese kaum erreichbaren Grade an moralischer Perfektion eignen sich wunderbar als unendlicher Quell für ein schlechtes Gewissen – schließlich tut man nie genug. Ein halbwegs robustes Gewissen wird sich dagegen jedoch zur Wehr setzen, indem es entweder die Angelegenheit verdrängt oder den großen Ablageordner aufmacht und alle entsprechenden Forderungen pauschal unter »unerfüllbar« abheftet.

Wie gut dieser Mechanismus funktioniert, kann man beispielsweise bei etwas so Banalem wie der Mülltrennung sehen. Manche bringen es dabei zu einer erstaunlichen Meisterschaft. In den Küchen engagierter Mülltrenner nehmen die verschiedenen Müllbehältnisse[10] oft mehr Platz ein als die Lebensmittelvorräte, manchmal scheinen sie die Bewohner aus dem Raum verdrängen zu wollen. Verständlich, dass viele ihre Küche für sich beanspruchen und sich dem widersetzen. Sie bleiben konsequent bei einem Mülleimer für alles, das dann in der Restmülltonne landet.

Obwohl sie das Problem der Ressourcenverschwendung und die ungelöste Frage »Wohin mit dem Müll?« grundsätzlich anerkennen, führt die Maximalforderung, alles ausnahmslos fein säuberlich zu trennen, zu einer Überforderung und am Ende zu einer Verweigerung. Außerdem hat jeder schon mal einen Bericht gehört, gesehen oder gelesen, nach dem alles am Ende wahlweise wieder in einem großen Sammelbehälter landet, doch verbrannt oder für viel Geld nach China oder in die Dritte Welt verschifft wird. Auf der Strecke bleibt die Tatsache, dass es für manche Stoffe einen gut funktionierenden Sekundärrohstoffmarkt[11] gibt und je nach konjunktureller Lage für Altmetall, Altglas und Altpapier hohe Preise erzielt werden. Diese zu sammeln und getrennt zu entsorgen ist mit geringem Aufwand möglich. Der Wunsch, sich darauf zu beschränken und neben all den Müllbehältern in der eigenen Küche auch noch Platz zu finden, ist strenggenommen gegenüber der Umwelt egoistisch, ebenso wie der, in seiner Freizeit auch noch etwas anderes zu tun, als verschiedene Müllsammelstellen abzufahren. Nur ist er deshalb auch verwerflich? Ich meine: nein.

Zugegeben, der Sprung von Mutter Teresa zum Altglascontainer ist ein weiter, aber das Grundprinzip bleibt: Jeder hat das Recht, seine Belange zu vertreten und sich nicht völlig aufzuopfern. Die Aufforderung, alles zu geben, geht zu weit – und ist noch dazu in Anbetracht der menschlichen Natur kontraproduktiv.

Lob des Egoismus?

Das soll nicht bedeuten, dass der Egoismus immer der Ausgangspunkt aller moralischen Überlegungen wäre.[12] Dass man sich aus Sicht eines »rationalen Egoismus«[13] auf die Moral nur einigt, weil sie im Interesse jedes Einzelnen sei. Man kann zwar die Moral so begründen, das muss man aber nicht, wie man im Kapitel über die ethischen Theorien sehen wird. Hier geht es auch nicht um eine Begründung der Moral, sondern schlicht darum, dem Einzelnen sozusagen den Rücken zu stärken, bevor er der Moral gegenübertritt. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum die Moral so unbeliebt ist: weil man automatisch ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn man das Wort nur hört. Das aber sollte und muss nicht sein.

Allerdings stellen diese Überlegungen keinen Freifahrtschein dar, nach dem Motto: Wenn die Moral mir ohnehin erlaubt, meine Wünsche zu erfüllen, dann kann ich es auch ruhigen Gewissens tun. In den meisten Fällen ist der unmittelbare Wunsch nach dem eigenen Wohlbefinden als Erstes vorhanden, und man tut gut daran, ihn zugunsten Anderer zu begrenzen. Es geht mehr darum, den Blickwinkel zu verändern. Moral ist eben nichts, was wir von außen – von welcher Institution auch immer – übergestülpt bekommen. Es ist etwas, das zwar die Freiheit beschränkt und vielleicht das Leben an der einen oder anderen Stelle unangenehmer oder mühsamer macht. Aber insgesamt macht sie das Leben zugleich besser. Und jeder hat auch das Recht, ohne Gewissensskrupel seine Belange zu vertreten und seine Wünsche mit vorzutragen. Die Moral mag tatsächlich sein Leben einschränken, aber sie ist nur eine Begrenzung dessen, was zu weit geht, und nicht ein völlig anderer, neuer Lebensentwurf, der nichts mit ihm selbst zu tun hat. Anders ausgedrückt: Jeder darf mit Fug und Recht »egoistisch« sein, also an sich denken. Problematisch wird es erst dann, wenn dieses An-sich-Denken überhandnimmt, wenn es außer dem eigenen Wohl keinen anderen Maßstab mehr gibt.

Auf den Punkt bringt es eine Redeweise, die dem US-amerikanischen Juristen Oliver Wendell Holmes Jr. zugeschrieben wird, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Richter am Supreme Court wirkte:

»The right to swing my fist ends where the other man’s nose begins. –

Das Recht, meine Faust zu schwingen, endet dort, wo die Nase des Nächsten anfängt.« [14]

Ich halte diesen Satz für so gut, weil er ungemein plastisch zwei Dinge zum Ausdruck bringt: Zum einen muss ich auf den Anderen Rücksicht nehmen, darf ihn nicht verletzen. Zum anderen aber habe ich bis zu diesem Punkt das Recht, das zu tun, was ich will. Und diese beiden Aussagen stehen gleichberechtigt nebeneinander. Ich muss mich nicht schämen oder rechtfertigen für das, was ich tun will. Man kann versuchen, es plakativ so auszudrücken: Die Moral will nicht sagen, du bist ein schlechter Mensch, wenn du an dich denkst, sondern du bist ein schlechter Mensch, wenn du nur an dich denkst.

Die Frage ist jedoch, wie weit darf ich meine eigenen Wünsche verfolgen und wo schränke ich den Anderen zu sehr ein. Oder, um das Bild von Oliver Wendell Holmes Jr. aufzugreifen, wo beginnt die Nase des Nächsten, hält er sie zu Recht dort hin, und darf ich ihn vielleicht auffordern, sie woandershin zu stecken. Dafür kann es allerdings keine simple Antwort geben. Im Endeffekt ist die gesamte Moralphilosophie der Versuch einer Antwort auf diese Frage.

Jedoch, auch oder gerade weil es keine einfache Antwort und keinen Katalog zum Nachschlagen gibt, ist es umso wichtiger, das Prinzip zu erkennen, das hinter diesen Abgrenzungen liegt, es in der jeweiligen Situation anzuwenden und dann zu entscheiden. Damit wollen wir uns im Laufe dieses Buches beschäftigen. Zunächst aber müssen wir der Frage nachgehen, ob es nicht falsch ist, dem Egoismus den Rücken zu stärken, weil wir ohnehin in einer Zeit leben, in der jeder nur an sich denkt. Den Eindruck könnte man ja manchmal haben. Zum Beispiel dann, wenn man merkt, dass manche Menschen hemmungslos lügen. Darum soll es im nächsten Kapitel gehen.

2Von neuen Frisuren, Präsidenten und Praktikantinnen

Über die Lüge

»I want you to listen to me.[1] I’m going to say this again. I did not have sexual relations with that woman, Miss Lewinsky.« – »Ich möchte, dass Sie mir zuhören. Ich werde es noch einmal sagen. Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau, Fräulein Lewinsky.« Mit diesen betont einzeln gesprochenen Worten reagierte am 26. Januar 1998 der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton in einer Pressekonferenz im Weißen Haus auf die langsam durchsickernden Gerüchte, er habe eine Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky gehabt. Und während unter anderem seine Frau Hillary neben ihm stand, produzierte er so nicht nur das vermutlich bekannteste Zitat seiner Amtszeit, sondern auch eine der bekanntesten öffentlichen Lügen des 20. Jahrhunderts. Denn knapp sieben Monate später musste er vor einer Grand Jury und danach vor der Nation[2] zugeben, dass er sehr wohl eine »improper physical relationship«, eine unangemessene körperliche Beziehung, mit Monica Lewinsky gehabt hatte. Was nicht weiter verwundert: Angesichts der von Lewinsky konservierten Spermaflecken[3] auf einem ihrer Kleider wäre es zu diesem Zeitpunkt auch nurmehr schwer zu leugnen gewesen.

Diese Geschichte ist nur eine von vielen, die das Verhältnis von Politikern zur Wahrheit illustrieren und strapazieren – allerdings in ganz unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Absicht: Colin Powells berühmte Irakrede[4] vor dem Weltsicherheitsrat vom 5. Februar 2003, mit der er für den Irakkrieg warb und Beweise für Massenvernichtungswaffen präsentierte, die sich im Nachhinein als falsch herausstellten. Walter Ulbrichts berühmtes »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«, Helmut Kohls »blühende Landschaften«, Uwe Barschels »Ehrenwort«, Franz Münteferings Hinweis, dass es unfair sei, eine Partei an ihren Wahlkampfversprechen zu messen, und das unfreiwillige Eingeständnis der Wahlkampflüge durch den ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány.[5]

Dennoch war Bill Clintons Lüge etwas Besonderes: Nicht nur, dass sie zum erst zweiten Amtsenthebungsverfahren gegen einen Präsidenten in der amerikanischen Geschichte führte (das letztendlich vom Senat abgelehnt wurde). Besonders war vor allem auch Clintons Verteidigung gegen den Vorwurf der Lüge. Da er seine Aussagen teilweise unter Eid gemacht hatte, blieb ihm als Strategie nicht viel mehr, als nachzuweisen, dass die Lüge keine Lüge war. Schließlich lautete einer der Vorwürfe im Amtsenthebungsverfahren auf »Perjury«, also Meineid, und dieser Vorwurf hängt direkt an der Frage, ob es sich um eine Lüge gehandelt hat oder nicht. Am Ende zog sich Clinton auf die Position zurück, dass Oralsex – den er nachweislich mehrmals mit Monica Lewinsky gehabt hatte – keine »sexual relations« im Wortsinne[6] und der ihm vom Gericht vorgelegten Definition sei. Kein ganz leichtes Unterfangen, das einige Akrobatik erforderte. Legendär wurde in diesem Zusammenhang dann auch sein Satz: »It depends on what the meaning of the word ›is‹ is.«[7]

Sex, der kein Sex war, »ist«, das nicht »ist« bedeutet, das klingt nach allem Möglichen, nur nicht nach Wahrheit. Eigentlich musste Clinton nichts anderes tun als das, womit wir alle im täglichen Leben konfrontiert sind: mit unangenehmen Wahrheiten umgehen. Nachdem er aber einmal damit angefangen hatte, kam er gerade wegen seines sehr kreativen Umgangs mit der Wahrheit in immer größere Bedrängnis und musste sich verteidigen. Wie er das machte, war interessant, und überraschenderweise befand sich Clinton mit seiner Strategie in bester Gesellschaft. Er griff – ob absichtlich oder nicht – tief in die Trickkiste der Lügenhistorie. Und die hat es in sich.

Das liegt daran, dass der Kirchenvater Augustinus um das Jahr 400 herum in seinen Schriften »Über die Lüge« und »Gegen die Lüge« ein absolutes Lügenverbot formulierte. Das war eher überraschend. Während in der Antike der Umgang mit der Wahrheit noch relativ offen gewesen war und sich auch die christliche Theologie bis dahin nicht so eindeutig geäußert hatte, ließ Augustinus keinen Zweifel: »Non est mentiendum«[8] – es darf nicht gelogen werden. Als Ergebnis davon musste sich die Moraltheologie der folgenden Jahrhunderte mit der Frage herumschlagen, wie man es anstellen kann, zwar nicht die Wahrheit zu sagen, aber dennoch nicht zu lügen. Der Phantasie waren kaum Grenzen gesetzt. Augustinus selbst empfahl, einfach nichts zu sagen. Denn selbst das bewusste Verschweigen[9] einer Wahrheit sei, so meinte er, schließlich keine Lüge. Augustinus führte aber auch die absichtliche Doppeldeutigkeit als Ausweg ein, die später die komischsten Blüten hervorbrachte: Frage etwa, so einer der Beispielsfälle – und mein Liebling in diesem Zusammenhang –, ein schwerkranker Mann, dessen Sohn gestorben ist und den diese Nachricht sofort ins Grab bringen würde, den Arzt nach dem Verbleib seines Sohnes, könne der Arzt antworten: »Dein Sohn lebt.«[10] und wie zur Bekräftigung hinzufügen: »Bei Gott!« Denn die Aussage kann man auch als »Dein Sohn lebt bei Gott« verstehen und durchschauen, dass es sich um keine Bekräftigung handelt, sondern um eine Ortsangabe. Damit hätte der Arzt aber nicht gelogen, auch wenn sein Patient nun das Gegenteil glaubt. Daneben gab es den »geistigen Vorbehalt«, die reservatio mentalis.[11] Dieser Konstruktion zufolge kann man einen Teil einer Aussage, statt sie auszusprechen, nur im Geiste hinzufügen, solange alles zusammen wahr ist. Auf die Frage, ob man eine bestimmte Sache weiß, könne man die Aussage »nescio – ich weiß nicht« machen, obwohl man es weiß, wenn man in Gedanken »pro te – für dich« hinzufügt, denn beides zusammen sei wahr. Ebenso dürfe man jemandem, der einen um Geld bittet, sagen: »Ich habe kein Geld«, wenn man in Gedanken hinzufüge, »um es dir zu leihen.«

Verglichen damit war Bill Clinton geradezu harmlos, denn im amerikanischen Sprachgebrauch lässt sich »Sex« tatsächlich so verstehen, dass er den Begriff Oralverkehr nicht umfasst. So würden Umfragen unter Collegestudenten zufolge[12] ca. 60 % nicht sagen, dass sie »Sex hatten« mit jemanden, mit dem sie nur oral verkehrt haben, und eine Ausgabe des weitverbreiteten Webster’s Dictionary definiert »sexual relation« als »coitus«, womit Oralsex ausgeschlossen wäre.

Strenggenommen dienen alle die spitzfindigen Versuche der Moraltheologie, mit dem absoluten Lügenverbot zurechtzukommen, eher der Unterhaltung, als dass sie als wirkliche Lösung oder zum Vorbild taugen. Sie wirken zwischen komisch und verzweifelt. Man kann ihnen aber eines entnehmen: Offensichtlich gibt es Situationen, in denen sich eine Lüge kaum umgehen lässt, und man muss dann eben mit ihr umgehen. Bill Clinton andererseits ist ein Paradebeispiel dafür, wie man sich um Kopf und Kragen oder buchstäblich um Amt und Würden lügen kann. Clinton hätte sich und anderen viel erspart, wenn er von Anfang an offen die Wahrheit gesagt hätte. Aber spätestens beim todkranken Mann,[13] den die Nachricht vom Tod seines Sohnes ins Grab bringen würde, kommt man doch mehr als ins Zweifeln, ob ein absolutes Verbot der Lüge die endgültige Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit der Wahrheit darstellt.

Die alltägliche Frage

Darf man, soll man, ja muss man manchmal lügen? Und wenn ja, wann?, lautet das Problem, mit dem sich nicht nur Moraltheologie und -philosophie auseinandersetzen müssen, sondern jeder von uns im täglichen Leben. Und vielleicht wird es einfacher, wenn man dort eine Lösung sucht: im täglichen Leben. Nicht bei Präsidenten und Amtsenthebungsverfahren, Kriegsbegründungen oder Wahlkämpfen. Denn die Grundproblematik ist überall dieselbe, auch bei dem Klassiker schlechthin. Niemand möge behaupten, er habe noch nie vor dem Problem gestanden, sei noch nie konfrontiert worden mit der Frage: »Wie steht mir meine neue Frisur?«[14] Man kann viel über Lüge und Wahrheit schreiben, Theorien wälzen, begründen, verwerfen. Schulbeispiele und Zwangslagen erörtern, bekannte Lügen der Geschichte zitieren, sich über sie amüsieren oder empören. Am Ende steckt doch alles in der Antwort auf diese eine kleine, alltägliche Frage. Eine Frage, die es in vielen Variationen gibt. Es kann um ein neues Kleid der Kollegin gehen, das neue Buch des befreundeten Autors, die endlich gefundene Traumwohnung, das Aussehen des Nachwuchses, die Sangeskünste des Neffen und das Geschenk der Großmutter. Oder eben die neue Frisur, der Klassiker.

Wahr oder nicht wahr?

Das Erste, was einem auf diese Frage einfällt, ist: Über Geschmack kann man streiten. Tatsächlich ist das, was dem einen gefällt, dem Anderen ein Graus. Es gibt gar keine Wahrheit in diesem Bereich. Aber es gibt eine eigene Meinung. Und um die geht es – nicht nur hier. Immanuel Kant, ein weiterer bekannter Verfechter des absoluten Lügenverbots nach Augustinus, hat, wie so vieles, auch das auf den Punkt gebracht:

»Es kann sein, dass nicht alles wahr ist, was ein Mensch dafür hält (denn er kann irren); aber in allem, was er sagt, muss er wahrhaft sein (er soll nicht täuschen): … Die Übertretung dieser Pflicht zur Wahrhaftigkeit heißt die Lüge.«[15]

Eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, wäre unsinnig, weil man in vielen Fällen die Wahrheit gar nicht kennt. Es kann nur eine Pflicht geben, das zu sagen, was man für wahr hält. Es geht um die Übereinstimmung von Denken und Reden, die als Wahrhaftigkeit bezeichnet wird. Wer der Meinung ist, dass, weil Kapstadt auf der Südhalbkugel liegt, dort nachts die Sonne scheint, lügt nicht, wenn er es behauptet, er irrt sich schlicht. Wie intelligent es ist, sich zu Dingen zu äußern, die man nicht weiß, steht auf einem anderen Blatt.

Dass das keineswegs eine rein akademische Frage darstellt, zeigt ein sehr bekanntes Beispiel: Helmut Kohls »blühende Landschaften«[16]. 1990 versprach der damalige Kanzler mehrfach, die neuen Bundesländer schon bald in solche zu verwandeln. Ob das gelogen war oder nicht,[17] hängt nun nicht davon ab, ob es dann tatsächlich gelang oder nicht, sondern ob er damals der Meinung war, es werde gelingen. Wenn Kohl als optimistischer Mensch, der von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder nach dem Krieg geprägt war, glaubte, in den neuen Ländern werde das – mit der Unterstützung der westlichen Bundesländer und Europas – nun sicherlich schnell funktionieren, war es keine Lüge. Aus heutiger Sicht war es allenfalls ein Irrtum. Hat er es aber wider besseres Wissen behauptet, um Zustimmung zu seiner Politik zu erhalten und die nächsten Wahlen zu gewinnen, war es ein Lüge.

Auch die berühmten drei Worte »Ich liebe dich« können beim gleichen Ausmaß der Gefühle tiefste Beteuerungen der eigenen Überzeugung sein – oder gelogen, je nachdem, ob der- oder diejenige in dem Moment an die vorhandenen Gefühle glaubt oder an ihnen zweifelt.

Aufrichtigkeit

Dann sage ich zur Sicherheit einfach nichts!, mag sich nun mancher denken. Das führt jedoch zu einem weiteren Problem, das nicht nur bei Liebesschwüren auftritt. Schon Augustinus hatte ja geraten, zur Vermeidung der Lüge einfach nichts zu sagen. Dem Partner zu beteuern, »Ich liebe dich«, stellt eine Lüge dar, wenn dem nicht so ist. Aber ist es wirklich in Ordnung, einfach nichts zu sagen, wenn man sich innerlich schon längst verabschiedet hat? Hier will ich meine Zweifel anmelden. Natürlich macht es einen Unterschied, ob man jemandem buchstäblich ins Gesicht lügt oder nichts sagt. Aber ich behaupte, dass es eine Vielzahl von Situationen gibt, in denen auch das Schweigen falsch ist. Dann nämlich, wenn der Andere ein Recht hätte, den verschwiegenen Umstand zu erfahren. Für diese Situationen halte ich das Wort »Aufrichtigkeit«[18] für das beste. Nichts zu sagen, obwohl das Gegenüber erwarten dürfte, informiert zu werden, ist nicht gelogen, aber unaufrichtig. Aufrichtigkeit beinhaltet die Wahrhaftigkeit – wer lügt, ist auch unaufrichtig –, geht aber darüber hinaus.

Weil es ein weiter Begriff ist, wird auch die Abgrenzung schwieriger. Denn nicht jedes Schweigen kann zum Vorwurf gemacht werden. Im Gegenteil: Bei vielen Menschen wäre es sogar das Beste, wenn sie generell mehr schwiegen und weniger redeten. Aber in einigen Situationen scheint es klar: Seinem Partner etwa wichtige Dinge seines Lebens nicht zu offenbaren kommt einem Verheimlichen nahe. Oder wie sollte man es bewerten und nennen, wenn eine Frau nie erfährt, dass ein Mann ein Kind aus einer anderen Beziehung hat? Wenn ein Mann sich in einer glücklichen Zweisamkeit wähnt, während seine Frau in Wirklichkeit schon Wohnungen für den Auszug besichtigt? Wenn einer der beiden über längere Zeit eine Affäre mit einem oder einer Anderen hat?

Die Abgrenzung ist ebenso schwierig wie die Begründung, aber meiner Meinung nach kann man sich vorstellen, dass es gewisse Fragen gibt, die etwa in einer Beziehung jeden Tag unausgesprochen gestellt werden und unausgesprochen beantwortet. Nicht tatsächlich, nicht bewusst und auch nicht unbewusst, sondern als Abmachung der Beziehung. Was diese Abmachung umfasst, etwa die Frage, ob man sich noch liebt oder ob man etwas mit Anderen hat, kann unterschiedlich sein. Dazu mehr im Kapitel über Liebe und Beziehungen.

Aber das Prinzip der Aufrichtigkeit gilt nicht nur in Liebesdingen. Es gilt in unterschiedlichem Ausmaß auch unter Freunden, in Geschäftsbeziehungen und manchmal auch unter fast Fremden. Ein paar Beispiele: Wenn eine Reinigungskraft zu Hause einen versehentlich beschädigten Gegenstand still entsorgt, ist man zu Recht irritiert. Nicht, weil etwas beschädigt wurde, das kann immer passieren, und das Risiko ist mit dem Hantieren im Haushalt – in Maßen – untrennbar verbunden. Irritiert ist man, weil man das Verschweigen zwar menschlich verstehen kann, aber dennoch als unaufrichtig empfindet. Im Endeffekt gehört hierher auch die berühmte Wechselgeldfrage: Muss man etwas sagen, wenn man an einer Kasse – offensichtlich aus Versehen – zu viel Wechselgeld zurückbekommt? Auch hier gilt für mich: Wer statt eines 5-Euro-Scheins versehentlich einen 20-Euro-Schein erhält, das bemerkt und ihn erfreut schweigend einsteckt, hat weder gelogen noch betrogen, aber unaufrichtig gehandelt. Denn die Kassiererin hat hier ein berechtigtes Interesse daran, auf Ihren Irrtum aufmerksam gemacht zu werden, und das Schweigen ist vorwerfbar.

Das Böse an der Lüge

Doch zurück zur Lüge. Im Prinzip kann man der Lüge gegenüber drei Grundhaltungen einnehmen: Man kann erstens das Lügen als solches und damit jede Lüge für unmoralisch und deshalb falsch halten und nur in Notfällen Ausnahmen zulassen. Man kann zweitens rein auf die Folgen schauen, das Lügen selbst neutral sehen und es nur danach beurteilen, ob es positive oder negative Auswirkungen hat. Und schließlich kann man sich drittens überlegen, was denn eigentlich überhaupt schlecht am Lügen sein soll und danach eine Abgrenzung vornehmen. Das scheint mir der sinnvollste Zugang zu sein.

Du sollst nicht lügen

Diese Überlegung könnte man ganz klassisch beginnen und sich einfach auf die Zehn Gebote beziehen: Du sollst nicht lügen. Reicht das nicht? Und wenn nicht, warum nicht? Vielleicht deshalb, weil es diesen Satz nicht gibt. Nun, natürlich gibt es ihn in der deutschen Sprache, aber es gibt ihn nicht als das, als das ihn viele zu kennen glauben: als biblisches achtes Gebot.[19] Dort, in der Bibel an den beiden Stellen, an denen die Zehn Gebote formuliert sind,[20] lautet das achte Gebot anders. In der Übersetzung der Lutherbibel von 1984[21] heißt es: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.« Und in der sogenannten Einheitsübersetzung: »Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.«

Weit und breit kein »Du sollst nicht lügen«.[22] Machen diese beiden Formulierungen einen Unterschied? Ja natürlich, würde man schon aus dem Wortlaut heraus sagen. Das eine betrifft eine Situation vor Gericht, das andere das tägliche Leben. »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten« soll vor falschen Verurteilungen schützen und »Du sollst nicht lügen« davor, ja, wovor nun? Belogen zu werden. Aber diese Antwort bringt einen nicht weiter, damit begibt man sich in einen Zirkelschluss. Wenn man der Lüge näher kommen will, wenn man wissen will, warum man nicht lügen soll oder vielleicht manchmal schon, muss man eine Erklärung finden, was genau schlecht an der Lüge ist.

Der philosophische Klassiker: Kants Kategorischer Imperativ

Ähnlich grundlegend und bekannt wie die Zehn Gebote in der Moraltheologie ist in der Moralphilosophie Immanuel Kants Kategorischer Imperativ.[23] In seiner Grundformulierung lautet er: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Versucht man nun, diesen Satz auf die Lüge anzuwenden, bemerkt man schnell: Die Lüge widerspricht ihm. Denn man kann nicht wollen, dass die Maxime: »Ich darf lügen« allgemeines Gesetz wird. Warum? Die Überlegung, warum man das nicht wollen kann, führt zum ersten Grund, warum man das Lügen ablehnen muss. Wäre es allgemein erlaubt zu lügen, könnte man nicht mehr lügen. Das klingt zunächst widersprüchlich, ist es aber nicht, sondern im Gegenteil eine logische Konsequenz. Denn die Lüge braucht die Wahrheitspflicht, um zu funktionieren. Wer lügt, will, dass sein Gegenüber das, was er sagt, glaubt. Sonst wäre es ein Scherz, Ironie, Dichtung, ein Märchen oder Ähnliches. Glauben wird das Gegenüber aber die Aussage des Lügners nur, wenn es die allgemeine Annahme gibt, dass Aussagen aufrichtig gemeint sind. Und für diese Annahme braucht man ein Verbot der Lüge.

Der Klassiker in der Erziehung: Das zerstörte Vertrauen

»Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht«, lernen Kinder sehr früh als negative Folge der Lüge. Verbunden oft mit der Fabel vom Hirtenjungen und dem Wolf. Ihr zufolge weckte ein Hirtenjunge aus Spaß zwei Mal die Bürger mit dem Ruf »Ein Wolf« aus dem Schlaf, worauf sie ihm beim dritten Mal, als aber tatsächlich ein Wolf kam, nicht mehr glaubten und nicht zu Hilfe kamen, woraufhin der Wolf die Schafe fraß. Man zögert ein wenig, diese Kindergeschichte zu erzählen, und überlegt, ob es tatsächlich eine heutige Entsprechung gibt. Sicherlich gibt es Menschen, die man schon das eine oder andere Mal dabei erwischt hat, wenn sie kreativ mit der Wahrheit umgehen, und denen man dann nicht mehr glaubt. Das geschieht aber zu ihrem eigenen Schaden und wäre außer für den Lügner selbst kaum von Nachteil. Das Misstrauen kann aber auch nicht nur den Lügner selbst treffen, wie ein Beispiel zeigt. Viele Menschen geben gerne Anderen, die in Not sind. Seit aber in den Innenstädten professionelle Bettlerbanden mit gespielten Körperbehinderungen unterwegs sind, trauen immer mehr Menschen keinem Bettler mehr und geben prinzipiell nichts. Leidtragende des von den Lügnern (die hier zum Zwecke des Betrugs lügen) zerstörten Vertrauens sind aber nicht nur die Lügner selbst, sondern alle, auch die, die wirklich nichts haben und Hilfe bräuchten. Ob es daneben wirklich sinnvoll ist, Bettlern etwas zu geben, wird eine Frage im Kapitel über soziale Pflichten sein.

Verlust der Sprache

Strenggenommen führt das Lügen sogar zu einem Verlust der Sprache. Das mag übertrieben klingen, vor allem, wenn man liest, wie drastisch Immanuel Kant dazu geschrieben hat: