Denk mal! 2018 - Rainer Erlinger - E-Book

Denk mal! 2018 E-Book

Rainer Erlinger

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Beschreibung

Was sind die Themen, die uns 2018 beschäftigen werden? »Denk mal! 2018« versammelt aktuelle Texte aus den Bereichen Kultur, Philosophie und Wissenschaft – geschrieben von einigen der klügsten Köpfe unserer Gegenwart, u.a. von Carolin Emcke, Remo H. Largo, Christine Ott, Charlotte Klonk, Ilija Trojanow, Harald Welzer und Andre Wilkens. Die Themen sind u.a. die aktuelle Lage Europas, der Ruf des deutschen Essens, Nutztierhaltung, die Geschichte der Bibelübersetzung, Freundschaft und Individualität sowie der Umgang mit Terrorbildern. Sie bieten uns ein breites Spektrum an Ideen, Impulsen und Anregungen zum Nachdenken. Dabei beschäftigen sie sich mit den wichtigsten Themen unserer Zeit und sind Wegbegleiter für das ganze Jahr.

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Seitenzahl: 274

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Denk mal! 2018

ANREGUNGEN VON CAROLIN EMCKE, HARALD WELZER, ANDRE WILKENS, REMO H. LARGO, ILIJA TROJANOWu.a.

FISCHER E-Books

Inhalt

»Willkommen«Höflichkeit zwischen den KulturenDie Stimmung ändert sichDie Macht der BilderStimme aus GriechenlandDas paradoxe Willkommen#merkelstreicheltHöflichkeit interkulturellDie Excel-TabelleDie abgelaufene ZeitDer Nutzen der Excel-TabelleDas GesichtErkenntnisse über die KulturenProxemikMonochrone und polychrone KulturenDer Blick von außenDer Herzog von GuermantesWas zählt?Die echte KollisionWhen you are in Rome …Der Schritt zurück»BildethikZum Umgang mit Terrorbildern«Bildwirklichkeit. Realitätsbezug und MusterBildwirkung. Empirie und HermeneutikAbbildungsnachweis»Vier Jahre Allympics«»Nutztierhaltung – ohne Zukunft?«90 Prozent kranke Milchkühe und SchweineProduktionskrankheiten gehören zum SystemDie schmerzfreie Zone – Tiere in unserer WarenweltAchselzucken statt Antworten»Unsere Individualität solidarisch leben«»Nachricht von einem Unbekannten«»Ein Fall für Freud«»Die versteckten Hemden: Ennis del Mar und Jack Twist«»La deutsche Vita: Ist das Essen in Deutschland wirklich so schlecht?«»Die hebräische Bibel«EinheitsfragenPatchwork beim Durchzug durch das Rote MeerDie Bibel im Film»Überwachung«Die Erde auf ErdenFreiheitWeltbildstörungWer rettet die Welt?»Homogen«AnhangRainer ErlingerCharlotte KlonkIlija TrojanowMatthias WolfschmidtRemo H. LargoGüner Yasemin BalciAndre WilkensAndreas KraßChristine OttKarl-Heinz GöttertHarald WelzerCarolin Emcke

RAINER ERLINGER

»Willkommen«

Höflichkeit zwischen den Kulturen

Im Herbst 2015 geschah in Deutschland etwas Überraschendes. Über Monate, ja Jahre waren die Nachrichten zum Thema Ausländer, Flüchtlinge, Asylsuchende, Zuwanderer von schrecklichen Bildern geprägt worden: Demonstrationen gegen Ausländer, Großdemonstrationen zur Verteidigung des Abendlandes vor Ausländern, Demonstrationen gegen Flüchtlingsheime, geplante und bestehende, Übergriffe auf Ausländer und, besonders schrecklich, brennende Häuser, in denen Menschen lebten oder leben sollten, Flüchtlingsheime. In den sozialen Medien machten sich Beiträge breit, die von offener Ablehnung gegenüber Ausländern, speziell Flüchtlingen, bis hin zu solchen reichten, die den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllten. Es schien, als würde sich diese Stimmung immer breiter machen.

 

Dazu trug sicherlich bei, dass der Flüchtlingsstrom aus einigen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrika immer mehr zunahm. Länder, in denen Diktatoren gestürzt worden waren oder in denen Bürgerkrieg herrschte. Hinzu kam noch eine große Zahl von Asylbewerbern aus Balkanstaaten. An den Rändern Europas hatte sich die Lage immer mehr verschärft, vor allem aus Syrien setzte sich nach etlichen Jahren Bürgerkrieg und Flucht innerhalb des Landes und in die Nachbarländer langsam, aber stetig zunehmend eine Welle von Flüchtlingen in Bewegung. Diese kamen auf verschiedenen Wegen auch in Deutschland an, wo die zunehmend überforderten Behörden versuchten, dem Ansturm Herr zu werden. Währenddessen wurde die Lage an den Südgrenzen Europas immer kritischer, die Versorgung der Flüchtlinge drohte zusammenzubrechen oder brach teilweise zusammen, viele ertranken beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Mehr und mehr kam es auch in Deutschland zu Engpässen bei Versorgung und Unterkunft, Flüchtlinge übernachteten im Freien vor den zuständigen Behörden. Gleichzeitig begannen immer mehr Bürger, Flüchtlingen, die hier angekommen waren, aus freien Stücken ehrenamtlich und durch Spenden zu helfen.

Die Stimmung ändert sich

Irgendwann kippte die Stimmung, und plötzlich gerieten die Gegner der Flüchtlinge in der Öffentlichkeit, in den Medien, aber, wie es schien, auch tatsächlich in der Einstellung der Bevölkerung in die Minderheit. Am Anfang konnte man innerhalb einer Nachrichtensendung Berichte über freiwillige Helfer an Bahnhöfen und brennende geplante Unterkünfte sehen, dann aber irgendwann nur mehr die Helfer. In diesem Zeitraum reagierte auch die Politik, und Bundeskanzlerin Angela Merkel verkündete, dass Deutschland die Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen, weil sie vor Krieg in ihrer Heimat, speziell dem Bürgerkrieg in Syrien, fliehen wollen, aufnimmt. »Wir schaffen das« war die Devise, die sie ausgab. Innerhalb weniger Tage und Wochen kamen vor allem am Münchner Hauptbahnhof Hunderttausende von Flüchtlingen an, die dort versorgt und untergebracht wurden. Teilweise mehr als 10000 Menschen an einem Tag, jeden Tag eine Kleinstadt, wie die Verantwortlichen erklärten, als sie versuchten klarzumachen, was das logistisch bedeutet.

Möglich war das unter anderem auch wegen der vielen freiwilligen Helfer und der Spenden der Bevölkerung. Trotz der immensen Zahlen musste die Münchner Polizei irgendwann die Bürger bitten, keine Spenden mehr an den Bahnhof zu bringen, man könne das Aufkommen nicht mehr bewältigen. Die Medien in Deutschland, Europa und der Welt waren am Anfang etwas verwundert über den plötzlichen Umschwung in der deutschen Politik, aber auch über das reibungslose Funktionieren der Abläufe am Münchner Hauptbahnhof.

Die Macht der Bilder

Hinzu kam aber noch etwas anderes. Es waren weniger Berichte oder Bilder von der logistischen Großleistung, den Bussen, den medizinischen Untersuchungen, der Registrierung und der Unterbringung in den Notquartieren, die buchstäblich aus dem Boden gestampft wurden, die weltweit Eindruck machten. Es waren andere Bilder: Münchner Bürger standen mit handgeschriebenen Schildern an den Absperrungen, auf denen »Welcome« oder »Refugees welcome« stand. Freiwillige Helfer drückten Kindern auf dem Arm ihrer Eltern Plüschtiere in die Hand. Ein besonderes Bild machte die Runde durch die Medien weltweit: Ein bayerischer Polizist mit Funkgerät und Knopf im Ohr geht vor einem kleinen Jungen in die Knie, der die ihm viel zu große Polizeimütze aufhat und lacht.

Die Zeit wird zeigen müssen, inwiefern diese Stimmung anhält und auf welche Weise Deutschland das schaffen wird, wie Angela Merkel ankündigte. Gerade was die Stimmung angeht, gab es von Anfang an warnende Stimmen, die meinten, das würde nicht lange halten und womöglich umschlagen. Dass derartige Stimmungen, gerade Begeisterungen, nicht lange halten, sondern abebben und sich Menschen vielleicht etwas Neuem zuwenden, weiß man. Dass es nicht umschlägt und die ausländerfeindlichen Stimmen nicht wieder die Oberhand gewinnen, kann man nur hoffen. Wie es innenpolitisch in Bezug auf Europa und auch im Hinblick auf die Flüchtlingsströme insgesamt weitergehen wird, wird man abwarten müssen.

Das ist auch nicht das Thema hier. Man kann, wie es auch in Deutschland zu dieser Zeit zu hören war und ist und sicher noch intensiver zu hören sein wird, der Meinung sein, die Entscheidung Angela Merkels, zu verkünden, Deutschland werde die Flüchtlinge aufnehmen, sei falsch gewesen. Das ist eine politische Frage und vor allem eine Frage der Pflicht, in Notfällen zu helfen, und wie weit diese Pflicht einerseits gehen muss und andererseits gehen kann.[1] Das Besondere, um das es hier gehen soll, ist jedoch, wie die Flüchtlinge willkommen geheißen wurden.

Viele Kommentatoren schrieben, diese wenigen Tage hätten das Bild Deutschlands in der Welt auf Dauer verändert. Das könnte fast stimmen, aber was war es genau, das dieses Bild verändert hat? Ich glaube, es war neben der Tatsache, dass die Flüchtlinge aufgenommen wurden, vor allem die Art und Weise, wie die Flüchtlinge, die von allen Ländern wie eine Plage behandelt wurden, von den Bürgern begrüßt wurden. Und die Bilder, die das zeigten.

Stimme aus Griechenland

Zur allgemeinen Überraschung fand sich eine Stimme unter denen, die ein neues positives Bild Deutschlands feststellten, die vorher nicht gerade durch übertriebene Deutschfreundlichkeit aufgefallen war: die des zeitweiligen griechischen Finanzministers Giannis Varoufakis. Natürlich stellte er erneut klar, dass er in den fiskalischen Auseinandersetzungen um Griechenland recht gehabt hatte und Deutschland unrecht und dass Deutschland die Moral, die es beim Umgang mit den Flüchtlingen gezeigt, auch in der Finanzkrise mit Griechenland anwenden sollte. Und vor allem sollte Deutschland endlich seinen Vorschlägen folgen. Dieser Schluss ist nun nicht so überraschend, hier interessant ist jedoch seine genauere Begründung, wo er die Moral gesehen habe:

Ein Land jedoch ragte heraus und bewies moralische Führungskraft in dieser Angelegenheit: Deutschland. Der Anblick Tausender von Deutschen, die unglückliche Flüchtlinge willkommen hießen, welche von verschiedenen anderen europäischen Ländern abgewiesen worden waren, war etwas, was man würdigen und woraus man Hoffnung schöpfen konnte. Hoffnung, dass Europas Seele nicht gänzlich verschwunden sei.

Auch Varoufakis verweist auf die Bilder derjenigen, welche die Flüchtlinge willkommen hießen. Das mag nun ein Seitenhieb auf die deutschen Politiker sein, von denen sich Varoufakis in den Verhandlungen besonders gedemütigt gefühlt hatte, aber er zollt zumindest an einer Stelle auch ausdrücklich Angela Merkel Respekt. Ich glaube jedoch, es liegt an der Kraft dieser Bilder und an dem, was sie aussagen: die Achtung dieser Flüchtlinge als Menschen. Die Tatsache, dass ihnen nicht nur geholfen wird, sondern dass man sie höflich behandelt.

Wie gesagt, es geht mir hier nicht um eine Bewertung der Flüchtlingspolitik oder gar darum, Deutschland auf die Schulter zu klopfen. Dazu müsste man das Ganze mit viel mehr zeitlichem Abstand betrachten können, feststellen, wie lange diese positive Stimmung anhält, und vor allem auch, ob es wirklich gelingt, die momentane Hilfe in eine langfristige zu überführen und den Flüchtlingen dauerhaft zu helfen. Und feststellen, ob die Aufnahme einer so großen Menge von Menschen aus einem anderen Kulturkreis in so kurzer Zeit gesellschaftlich gelingt.

Das paradoxe Willkommen

Mir geht es darum, zu zeigen, dass neben der moralisch gebotenen Hilfe, die technisch-logistisch und administrativ erfolgt, die Begrüßung einen entscheidenden Einfluss hat. Den Fremden zu begrüßen, auch wenn man nicht unbedingt begrüßt, dass er kommt, dürfte eine der schönsten Seiten der Höflichkeit sein. Im Falle der Flüchtlinge im Herbst 2015 in Deutschland war das »Refugees welcome« sicher ehrlich und herzlich gemeint. Aber auch wenn man der Meinung wäre, dass es schon zu viele sind, dass man keine weiteren aufnehmen sollte, würde die Höflichkeit fordern, sie zu begrüßen und – so paradox es klingt – willkommen zu heißen.[2] Meines Erachtens ist das gerade einer der großen Vorzüge der Höflichkeit, dass sie nicht von der persönlichen Zuneigung abhängt. Sie hängt auch nicht davon ab, wie großzügig man ist oder welche Rechte man dem Gegenüber einräumen will. Im Grunde ist dieses Willkommenheißen die moderne Variante der archaischen Gastfreundschaft. Der Gast ist sicher als Gast, er wird aufgenommen und beherbergt, aber er bleibt Gast, aber eben nur mit den Rechten als Gast, und es wird auch erwartet, dass er weiterzieht.

#merkelstreichelt

Darin liegt ein gewisser Widerspruch: jemanden aus Höflichkeit willkommen zu heißen, auch wenn er nicht willkommen ist. Dieser Widerspruch zeigt erneut geradezu exemplarisch die Zweischneidigkeit der Höflichkeit. Wenige Wochen vor dem Anschwellen des Flüchtlingsstroms hatte sich Kanzlerin Angela Merkel in einem im Fernsehen übertragenen Bürgerforum Fragen aus der Bevölkerung gestellt. Darunter war eine palästinensische Schülerin, die seit einigen Jahren mit ihrer Familie in Rostock lebte, sehr gut Deutsch spricht und der nach Ablehnung des Asylgesuchs zusammen mit ihrer Familie nun die Abschiebung drohte. Angela Merkel sprach sehr deutlich und machte – anders als es vielleicht andere Politiker getan hätten, um sich menschlich zu geben – keine Versprechungen, sondern verwies auf die Gesetzeslage und sagte: »Politik ist manchmal hart.« Als die Schülerin am Ende weinte, ging Angela Merkel zu ihr, streichelte sie etwas hölzern und unbeholfen und meinte, das habe sie doch prima gemacht.[3]

Natürlich ging im Internet sofort die übliche Welle los, in der sich viele lustig darüber machten, unter #merkelstreichelt. Ein Beitrag von deutlich besserer Qualität kam jedoch von dem Kölner Comiczeichner Ralf König. Er schrieb in seinem Facebook-Account, dass er, wenn man sich das ganze Video ungekürzt ansehe, Merkels Ausführungen nicht so überraschend finde. Bei dem unbeholfenen »Gestreichel« am Ende sei ihm allerdings ein Cartoon hochgekommen.[4] Dieser zeigt in Ralf Königs typischer Art, in der alle Menschen Knollnasen haben, eine Situation in einem Amtszimmer. Ein Ehepaar mit Baby auf dem Arm, alle drei mit schwarzer Hautfarbe, sie mit krausem Haar, sitzen vor dem Schreibtisch, die Frau weint, während ein Behördenmitarbeiter mit Krawatte den Mann an der Schulter streichelt und den Merkelschen Originalton spricht: »Och, komm … Du hast das doch prima gemacht … « Ein anderer Mitarbeiter sagt zu der überraschten Sachbearbeiterin am Computer: »Neue Richtlinie aus dem Kanzleramt: Jeder Flüchtling wird vor der Abschiebung kurz gestreichelt!«

Ralf König hat mit diesem Cartoon das Problem sehr scharfsinnig analysiert. Abgesehen davon, dass er Angela Merkels Unbeholfenheit aufspießt, zeigt er den Widerspruch: Wie ist es zu bewerten, zu Menschen, deren existentieller Bitte, hier nach Aufnahme in einem politisch oder auch wirtschaftlich sicheren Land, man nicht nachkommt, höflich oder freundlich zu sein? Ist das richtig und sogar geboten oder heuchlerisch und insofern geradezu perfide? Sollte man sagen: Seien Sie nicht so scheißfreundlich, wenn Sie die Menschen rausschmeißen? Oder sollte man es so sehen, dass man sie auch in einer derartigen Situation menschlich, das heißt als Menschen behandelt? (Was ich für richtig halte.) Ich glaube, selten erkennt man die Zwiespältigkeit der Höflichkeit besser. Höflichkeit ist nun einmal Form. Auch wenn sie den Inhalt der Achtung vor dem Gegenüber transportiert, bleibt sie Form. Umgangstugend, nicht Inhalt.

Nebenbei bemerkt, werde ich das Gefühl nicht los, dass dieses Erlebnis und dieser innere Widerspruch mit zu Frau Merkels überraschender Entscheidung geführt hat, die Grenzen für die Flüchtlinge zu öffnen. Ob das so war, wird man vielleicht einmal in ihren Memoiren erfahren. Oder auch nie.

Höflichkeit interkulturell

Vielleicht verschlägt es einige der Flüchtlinge, die in diesen Tagen in Deutschland ankamen, weiter nach Japan, etwa weil sie dort Verwandte haben. Vielleicht besuchen einige von ihnen dort neben Sprachkursen auch einen Integrationskurs über Kultur und Etikette des Landes. In diesem Kurs könnten sie dann erfahren, dass man in Japan, wenn man vorgestellt wird, die Visitenkarte mit zwei Händen überreicht und auch mit zwei Händen entgegennimmt und keinesfalls gleich einstecken darf. Und dass es üblich ist, am Ende eines geschäftlichen Meetings der ältesten Person ein kleines Präsent zu überreichen. So zumindest kann man in entsprechenden Ratgebern für Etikette in Japan lesen.[5] Vielleicht würde die Lehrerin oder der Lehrer in dem Kurs dann, um die Schüler einzubinden, fragen, ob sie wüssten, wie das denn in anderen Ländern üblich sei. Und diejenigen, die im Herbst 2015 über Deutschland nach Japan gekommenen sind, würden dann vielleicht erzählen, dass man das in Deutschland ganz anders mache. Dort sei es üblich, Fremde mit hochgehaltenen Schildern mit »Welcome« zu begrüßen und den Jüngsten, den Kindern, gleich am Anfang ein Plüschtier in die Hand zu drücken.

Ich will mich damit keinesfalls über diese schönen Gesten der Begrüßung lustig machen, im Gegenteil. Ich will damit etwas anderes zeigen. Worum es mir geht, ist, dass dieser Ausdruck der Achtung eben gerade nicht in den üblichen Mustern der Höflichkeit geschehen muss. Ja, vielleicht waren diese Gesten gerade deshalb so stark, weil sie nicht diesen Mustern folgten. Eigentlich das Gegenteil von den Verhaltensweisen, die man in allen Ratgebern als üblich in dem Land lernt. Nicht nur deshalb habe ich zu diesem Wissen über Höflichkeitsrituale in verschiedenen Kulturen und Ländern ein zwiespältiges Verhältnis.

Die Excel-Tabelle

Ich halte die Ausformungen der Höflichkeit in den verschiedenen Kulturen für interessant, aber am Ende des Tages sehe ich sie in ihrer Gesamtheit wie eine große Excel-Tabelle. Ein großes Blatt in dem bekannten Tabellenkalkulationsprogramm mit unendlich vielen Spalten und Zeilen, in das man alles eintragen und verknüpfen kann. Eine Fülle von Daten, aus denen man sich einzelne herausziehen kann, wenn man sie braucht, und dann auch froh darüber ist, dass man sie findet. Aber insgesamt will man sie weder lesen noch sich vertieft mit ihnen beschäftigen oder die Daten einpflegen. Ähnlich wie ein Telefonbuch, das möchte auch niemand durchlesen oder schreiben, aber dennoch benutzen, wenn man eine Nummer braucht.

So ist es auch mit der fast unerschöpflichen Fülle von Landesspezifika der Höflichkeit. Wenn man Kontakt zu einem fremden Kulturkreis bekommt, vor allem wenn man das Land bereist oder dort Geschäfte machen möchte, ist es sehr sinnvoll, sich über die »dos and don’ts«, das, was man tun und was man unterlassen sollte, informieren zu können. Es ist auch nicht besonders schwer, an derartige Informationen zu gelangen. Einige Benimmratgeber haben Anhänge oder Kapitel »Benehmen weltweit«.[6] Die meisten Reiseführer verweisen auf Besonderheiten des jeweiligen Landes, sinnvollerweise oft mit einem Schwerpunkt darauf, was man nicht tun und wie viel Trinkgeld man geben sollte. Am einfachsten aber geht es, wie so oft bei Detailwissen, im Internet. Man setzt sich an den Computer und tippt in das Eingabefeld einer Suchmaschine den Namen des Landes und »Etikette« oder besser noch, schließlich geht es ja um internationale Höflichkeit, den Namen des Landes auf Englisch und »etiquette«. Und schon hat man eine Auswahl von Webseiten mit allen notwendigen Informationen.

Die abgelaufene Zeit

Insofern wundert man sich ein wenig über eine Nachricht, die im Januar 2015 durch die Medien[7] lief: Die britische Transportministerin Lady Kramer hatte bei einem Besuch in Taiwan dem Bürgermeister von Taipeh Ko Wen-je als Gastgeschenk eine Armbanduhr mitgebracht. Offenbar war sie ahnungslos, dass das Verschenken von Uhren in der chinesischen Kultur ein Tabu darstellt, weil »eine Uhr geben« und »an der Beisetzung einer alten Person teilnehmen« ähnlich klingen. Der Bürgermeister reagierte entsprechend pikiert und erklärte einem Reporter, er könne die Uhr nicht brauchen und werde sie vermutlich an einen Schrotthändler verkaufen. Die britische Ministerin entschuldigte sich später in einem Statement: »Es tut mir leid. Wir lernen jeden Tag etwas Neues. Ich hatte keine Ahnung, dass ein Geschenk wie dieses irgendwie anders als positiv gesehen werden könnte. In UK ist eine Uhr wertvoll – weil nichts wichtiger ist als Zeit.« Zudem sei die Uhr ein sehr besonderes Stück vom House of Lords. Umgekehrt entschuldigte sich die taiwanesische Regierung bei der Ministerin für das Verhalten des für seine lockeren Sprüche bekannten Bürgermeisters und betonte, dass das Uhrengeschenk keinen interkulturellen Ausrutscher dargestellt habe, die Ministerin deshalb nicht verlegen sein müsse.[8]

Ein wenig wundert man sich bei der Lektüre, ob denn die Protokollabteilung der britischen Regierung geschlafen hat. Man muss nur »gift«, »etiquette« und »china« in eine Suchmaschine eingeben, schon stößt man sehr schnell auf den Hinweis, man solle in China keine Uhren verschenken. Einschließlich der Begründung durch den ähnlichen Wortklang. Und die Protokollabteilung einer Regierung sollte vielleicht noch über andere Quellen verfügen. Vermutlich hätte ein einfacher Anruf in der britischen Botschaft vor Ort ausgereicht. Dennoch hat die Ministerin in ihrem Statement den Nagel auf den Kopf getroffen: Wir lernen jeden Tag etwas Neues. Mit anderen Worten: Man kann nicht alles wissen. Was für die Fülle von Höflichkeitskonventionen in anderen Ländern ganz besonders gilt. Das Wissen darüber ist eine große Excel-Tabelle. Die man nicht auswendig lernen will, kann und muss. Man sollte aber nichtsdestotrotz dort nachsehen. Denn das zu tun, sich diese Mühe zu machen, ist die eigentliche Höflichkeit.

Der Nutzen der Excel-Tabelle

Warum nun das Bild der Excel-Tabelle statt dem des Telefonbuchs, aus dem man auch Detailinformationen bekommt? Nicht weil es moderner klingt, sondern aus einem bestimmten Grund: Die Excel-Tabelle ist zwar unübersichtlicher als das einfach nach dem Alphabet geordnete Telefonbuch, aber in ihr kann man mit den Daten arbeiten, sie zusammenführen, vergleichen und versuchen, Strukturen zu erkennen. Und dann wird es tatsächlich interessant. Besonders in drei Richtungen. Als Erstes: übergeordnete Prinzipien der Höflichkeit zu erkennen. Als Zweites: jenseits der Höflichkeit weitere Grundzüge der unterschiedlichen Kulturen aufzudecken. Und als Drittes: aus dem Kontrast heraus einen anderen Blickwinkel auf die eigenen Konventionen zu werfen und diese so besser zu begreifen – aber auch in Frage stellen zu können.

Das Gesicht

Eines der übergeordneten Prinzipien, das man speziell in asiatischen Kulturen erkennen kann, ist die große Bedeutung des Gesichts, face. Das Phänomen, das auch der Höflichkeitstheorie der gesichtsbedrohenden Akte zugrunde liegt. »The concept of face is, of course, Chinese in origin, and the term is a literal translation of the Chinese lien and mien-tzu (…).« – Das Konzept des Gesichts ist natürlich chinesischen Ursprungs und der Begriff eine wörtliche Übersetzung des chinesischen lien und mien-tzu.[9] So der chinesische Psychologe David Yau-Fai Ho in einem bekannten Aufsatz über das Konzept des face. Tatsächlich spielt das kulturelle Konzept des face eine große Rolle im chinesischen Leben, und stark vereinfacht könnte man sagen, der schlimmste Fauxpas, den man in der chinesischen Kultur, aber auch anderen asiatischen Kulturen begehen kann, ist, etwas zu tun, was beim Gegenüber zu einem Gesichtsverlust führt. Westliche Besucher sind oft sehr irritiert davon, welche Bedeutung das Gesicht oder der Gesichtsverlust in asiatischen Ländern haben. Das zu verstehen hilft jedoch viel mehr, als zu wissen, dass die Zahl vier Unglück bringen, dass man die Essstäbchen nicht in der Reisschüssel stecken lassen oder keine Uhren schenken soll. Die große Bedeutung, die das Konzept des face in asiatischen Ländern und in der dortigen Höflichkeitskultur hat, kann aber auch helfen, Höflichkeit in anderen Höflichkeitskulturen, speziell auch der unseren, besser zu verstehen oder anzuwenden.

Denn auch wenn das Konzept des face in der westlichen Kultur nicht dieselbe Bedeutung hat wie in der östlichen und südlichen, ist es hierzulande nicht bedeutungslos. Das führt nun vielleicht ein wenig weg von der Höflichkeit, scheint mir aber ein logischer Schritt zu sein. Denn das Konzept des face ist logischerweise in einer Kultur, die es nicht so ausgeprägt achtet, dann von Bedeutung, wenn das Gesicht besonders bedroht ist. Und das ist in Konfliktsituationen der Fall: wenn es Gewinner und Verlierer geben kann, Überlegene und Unterlegene. Auch hierzulande ist es in vielen Situationen ein sehr sinnvolles Mittel zur Vermeidung und Lösung von Konflikten, einen Weg zu suchen, der allen Beteiligten ihr Gesicht zu wahren hilft. Das gilt sowohl für die Art, wie man miteinander spricht, als auch für das Ergebnis. So kann es sinnvoll sein, in Nachbarschaftsstreiten selbst dann, wenn man vollkommen im Recht ist, einem Vergleich zuzustimmen. Nicht zu unterliegen hilft dem Nachbarn, das Gesicht zu wahren, und schließlich muss man weiterhin neben und mit diesem Nachbarn leben. In vielen Situationen ist es ein guter Weg, dem Gegenüber zunächst zu signalisieren, dass man seine Position respektiert und sie ihm nicht streitig machen will. Danach kann man meist wesentlich leichter über Inhalte sprechen und verhandeln, weil das Gegenüber dann nachgeben kann, ohne sein Gesicht zu verlieren. Er kann sich dann großzügig zeigen statt bedrängt fühlen. Das, was man dabei von der Höflichkeit und dem Konzept des face lernen kann, ist, dass das, was zum Gesichtsverlust führt, in erster Linie oft die Form ist und erst in zweiter Linie der Inhalt. Man kann also über eine Änderung der Form den Konflikt beeinflussen, ihn vermeiden oder lösen.

Erkenntnisse über die Kulturen

Es lassen sich jedoch aus dem Vergleich der Konventionen auch allgemeine Erkenntnisse über Kulturen gewinnen, Erkenntnisse, die der Verständigung zwischen den Kulturen ebenso dienen wie dem Verständnis der eigenen Kultur. Der Pionier auf diesem Gebiet ist der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg analysierte er vor allem für die amerikanische Armee, deren Soldaten auf verschiedenen Kontinenten stationiert waren, die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen und begründete so das Gebiet der interkulturellen Kommunikation. Speziell aus dem Kulturvergleich heraus entwickelte Hall verschiedene Konzepte für, wie er es nannte, kulturelle Dimensionen. Zwei davon sind besonders für die Höflichkeit von Bedeutung: die Proxemik, die sich mit dem Raum befasst, und die Chronemik, die Zeitauffassungen behandelt.

Proxemik

Proxemik, eher bekannt in seiner englischen Form proxemics, beschreibt in den Worten Halls die »Handhabung des Raumes seitens der Menschen als eine besondere Ausprägung von Kultur«.[10] Hall unterschied, auch aus körperlichen Funktionen wie Gesichtsfeld und Reichweite heraus, vier Distanzen, die wie Blasen den Menschen umgeben:[11] die intime Distanz (bis 45 cm), die persönliche Distanz (45 bis 120 cm), die soziale Distanz (120 bis 360 cm) und die öffentliche Distanz (mehr als 360 cm).

Daneben interessierte ihn aber vor allem, wie Menschen in unterschiedlichen Kulturen mit diesen Distanzen umgingen. So stellte er fest, dass in der Kultur des Mittleren Ostens ein Stoßen und Schieben in der Öffentlichkeit charakteristisch sei und Amerikaner die Bewohner dort als dränglerisch empfinden. Eigenartigerweise erfuhr er aber, dass umgekehrt auch die Araber Amerikaner und Nordeuropäer für dränglerisch hielten, was Hall zunächst nicht verstand: »Wie konnten Amerikaner, die beiseitestehen und jede Berührung vermeiden, als dränglerisch angesehen werden?«[12] Diese Frage konnte ihm jedoch auch vor Ort niemand beantworten, bis er durch Beobachtungen, eben den Vergleich der unterschiedlichen Handhabungen, eines Tages die Lösung fand. Hall beschreibt, wie er in Washington in einem Hotel auf einen Freund wartete und sich deshalb auf einen ruhigen Platz etwas abseits setzte. Irgendwann kam ein ihm fremder Mann und stellte sich in der fast leeren Hotelhalle so nah neben ihn, dass er ihn beinahe berührte und Hall ihn atmen hörte. Hall sagte nichts, ließ aber durch seine Körpersprache erkennen, dass er das als unangebracht empfand, ihm so nahe zu rücken. Das schien jedoch im Gegenteil eher dazu zu führen, dass der Zudringliche noch näher rückte. Irgendwann kam eine Gruppe von Besuchern, die der Fremde begrüßte und denen er sich anschloss, er hatte offensichtlich auf sie gewartet. In dem Moment erkannte Hall an der Sprache, dass es sich um einen Araber handelte, was er zuvor nicht bemerkt hatte. Hall beschrieb den Vorfall später einem arabischen Kollegen und bemerkte, dass in ihrem Gespräch darüber zwei unterschiedliche Muster auftauchten: Hall empfand das Verhalten des fremden Mannes, der ihm so nah kam, als zudringlich; sein arabischer Kollege verwies darauf, dass es sich bei der Hotelhalle doch um einen öffentlichen Raum handle und deshalb niemand mehr Rechte an einem bestimmten Ort habe, nur weil er früher dort war. Hall hatte den Platz gewählt, weil er von dort die beiden Eingänge und den Lift sehen konnte. Genau deshalb wollte auch der Fremde dorthin, und aus seiner Sicht war jemand, der sich dort bereits aufhielt, kein Grund, sich nicht dort aufzuhalten. Im Gegenteil, der spürbare Ärger Halls habe ihn noch darin ermuntert, näher zu rücken, weil er dachte, Hall werde den Platz gleich freimachen.

Halls Erkenntnis war: Wenn einem Amerikaner an einem öffentlichen Platz jemand zu nahe komme, empfinde er das als zudringlich und versuche, seinen Platz zu verteidigen. Er fühle um sich eine Zone der Privatheit, in die Fremde im Normalfall nicht eindringen dürfen. Für einen Araber hingegen gehöre der öffentliche Raum jedem, daran ändere sich auch nichts, wenn an dieser Stelle schon jemand sitze oder stehe. Man habe daher das Recht, sich auch an diese Stelle zu bewegen, wenn man dorthin möchte, und denjenigen zu verdrängen. Das sei auch nicht dränglerisch, weil der Raum demjenigen ja nicht gehöre. Dränglerisch sei vielmehr, dann auf seinem Platz zu bestehen und sich nicht wegzubewegen, wie es eben Amerikaner machten.[13]

Auch zwischen dem Raumverständnis in den USA und Deutschland fand Hall Unterschiede. So würde in den USA niemand in die Privatsphäre etwa eines Hauses oder eines Zimmers eindringen, der noch außerhalb des Raumes steht, buchstäblich auf der Schwelle, oder den Kopf durch die Türe stecke. In Deutschland sei die Abgrenzung wesentlich stärker, man verletze die Privatsphäre schon, wenn man in einen Raum hineinblicke oder in Hörweite stehe. Deshalb gebe es in Deutschland auch wesentlich stabilere Türen, die auch schalldämpfend sein sollen. Und das erkläre auch die unterschiedliche Tradition, dass in amerikanischen Büros die Türen stets offen stünden, in Deutschland hingegen meist geschlossen würden.[14]

Monochrone und polychrone Kulturen

Daneben unterscheiden sich Kulturen aber auch in ihrem Verständnis von Zeit: die Chronemik, chronemics. Hall unterschied zwei grundsätzlich unterschiedliche Zeitkulturen, die er monochron und polychron nannte.[15] In monochronen (einzeitigen) Gesellschaften wie Nordeuropa, den USA und ganz extrem Japan wird Zeit als etwas stetig Fließendes, Einzuteilendes angesehen; alles läuft meist nach Plan streng geregelt hintereinander entlang einer einzigen Zeitleiste ab, man muss eine Sache abschließen, bevor man eine andere beginnt. In polychronen (vielzeitigen) Gesellschaften, etwa im Nahen Osten, den Mittelmeerländern und Südamerika, ziehen es die Menschen dagegen vor, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun; Termine haben eine geringere Bedeutung. Weil monochrone Kulturen Zeit wie eine Sache behandeln – man kann sie »verwenden«, »sparen« und »vergeuden« –, erscheine es dort, so Hall, geradezu als unmoralisch, zwei Dinge zur gleichen Zeit zu erledigen. Hall meinte auch, das monochrone System habe zwar manche Vorteile, vor allem innerhalb größerer Strukturen, was sich speziell in der Wirtschaft auswirke, der Kulturenvergleich helfe jedoch zu erkennen, dass es sich dabei um etwas Künstliches, Erlerntes handle, das die menschliche Natur verleugne.

Ich halte Erkenntnisse wie diese für viel interessanter und auch gewinnbringender, als zum Beispiel zu lesen, dass man in Argentinien oder Brasilien zu privaten Verabredungen erst 30 Minuten nach der vereinbarten Zeit erscheinen soll, in Japan jedoch stets pünktlich zu sein habe.[16] Was im Grunde genau dasselbe sagt wie Halls Theorie, nur an der Oberfläche bleibt und das System nicht durchdrungen hat. Hall bemerkt übrigens auch, dass beide Systeme unverträglich seien, sie ließen sich so wenig mischen wie Öl und Wasser. Das wiederum scheint mir von praktischer Bedeutung zu sein: Wie geht man mit Kollisionen von Höflichkeitskulturen um? Dazu später.

Der Blick von außen

Bei Hall zeichnet sich schon der dritte interessante Aspekt der Beschäftigung mit kulturellen Unterschieden der Höflichkeit ab: Aus dem Kontrast heraus kann man einen anderen Blick auf die eigenen Konventionen werfen und diese damit besser verstehen oder auch in Frage stellen.

Nicht umsonst basiert eines der erfolgreichsten, aber auch interessantesten Bücher zum Thema Höflichkeit und Benehmen der letzten Jahre in Deutschland unter anderem auf diesem Prinzip: Manieren von Asfa-Wossen Asserate. Asserate, Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassi, wuchs als Wandler zwischen den Kulturen des äthiopischen Kaiserhofs in Addis Abeba und Deutschland auf und verstand es, das Zeremoniell und die Üblichkeiten einer Adelsfamilie den deutschen Gepflogenheiten gegenüberzustellen, aber auch viele Beispiele aus anderen Kulturen sowie aus Literatur und Geschichte einzubinden.

So stellt Asserate fest, dass in Afrika »als der deutscheste aller deutschen Gegenstände die Kuckucksuhr« galt. Ein Gegenstand, den man bei ihm zu Hause zur Freude der Kinder selbstverständlich besessen habe. Um dann überzuleiten zum deutschen Faible für Pünktlichkeit, nachdem er die Idee der Zeit von den alten Ägyptern über den äthiopischen Kaiserhof und seine Jugend dort, den Hof Ludwigs des XIV. bis zur industriellen Revolution beleuchtet hat.

Der Herzog von Guermantes

In diesem Zusammenhang berichtet Asserate von einer Geschichte[17] aus Marcel Prousts Recherche, der Suche nach der verlorenen Zeit. Dort sei der Erzähler zu spät zu einem Essen beim Herzog von Guermantes erschienen. Dieser aber habe sich als perfekter Gastgeber gezeigt: Statt ihn direkt zu Tisch zu geleiten, wo schon alle warteten, habe der Gastgeber darauf bestanden, dem Nachzügler in einem anderen Stockwerk noch einige Aquarelle zu zeigen, ganz so, als habe man alle Zeit der Welt. Damit sollte, so Asserate, die Befürchtung des Gastes zerstreut werden, er habe die Gesellschaft aufgehalten. Mir gefällt diese Stelle aus mehreren Gründen besonders gut. Zum einen wegen der Eleganz dieser Aktion, die nichts ausspricht und dennoch alles sagt. Zum anderen, weil es sicherlich keine Etikette-Regel gibt, die ein derartiges Verhalten vorsieht, was diesen Akt der Höflichkeit des Gastgebers gegenüber dem Gast noch viel wertvoller macht. Diese Geschichte zeigt, dass wahre Eleganz und Höflichkeit eben nicht in der Einhaltung der Etikette liegen, sondern jenseits von ihr oder im virtuosen Umgang, dem Spiel mit ihr. Dieses Spiel ist in diesem Fall so virtuos, dass es sogar meine Bedenken zerstreuen kann, wie man denn diese Aktion im Verhältnis zu den anderen Gästen sehen soll, die nicht nur warten mussten, sondern dabei dann auch noch von ihrem Gastgeber zugunsten eines anderen, offenbar bevorzugten Gastes allein gelassen wurden.

Was zählt?

Dieser Bericht enthält aber noch einen weiteren Gedanken, den man auf das Problem der kollidierenden Höflichkeitskulturen übertragen kann. Eines der typischen Beispiele für unterschiedliche Kulturen, der sich in jedem entsprechenden Etiketteführer finden lässt, ist, dass es in Japan ebenso wie in arabisch-muslimischen Ländern absolut üblich ist, als Gast beim Betreten der Wohnung seine Schuhe auszuziehen. Es stellt deshalb einen groben Fauxpas dar, wenn man als Besucher dort seine Schuhe anbehält.

Wer also eines dieser Länder bereist, tut gut daran, die Schuhe auszuziehen. Und höflich ist das sicher auch dann, wenn man hierzulande bei einer japanischen oder orientalischen Familie zu Besuch ist. Dabei besteht ein Gutteil der Höflichkeit schon darin, sich im Vorfeld entsprechend zu informieren, denn das zeigt die Achtung vor dem Gegenüber und dessen Kultur. Allerdings ist Höflichkeit ja keine Einbahnstraße, und gerade als Gastgeber ist es besonders höflich, sich auf den Gast einzustellen.

Hier kann man nun den Kern der Geschichte des Herzogs von Guermantes heranziehen, den Gast, auch wenn der sich einer Unhöflichkeit schuldig gemacht hat, dies im Sinne der Gastfreundschaft nicht merken zu lassen. Wendet man diesen Gedanken auf den Besuch bei einem Gastgeber an, zu dessen Kultur es gehört, die Schuhe auszuziehen, müsste sich eigentlich ein Streit mit umgekehrten Vorzeichen ergeben: Der Gast sollte – höflicherweise – darauf bestehen, die Schuhe auszuziehen, der Gastgeber ihn jedoch – ebenfalls höflicherweise – dazu drängen, sie anzubehalten. Und beide müssten betonen, wie sehr sie die jeweils andere Tradition schätzen. Nur eine Lösung des Widerspruchs findet man nicht.

Die echte Kollision

Bei den Schuhen erscheint das Ganze noch irgendwie harmlos, eher amüsant. Bei anderen Themen, speziell dem Verhältnis der Geschlechter, vor allem im Hinblick auf die Gleichberechtigung und die Freiheit, wird es schwieriger. Eine Frage, die mich vor einigen Jahren im Rahmen meiner Kolumne erreichte, kann das verdeutlichen:

»Wir waren mit einigen Leuten, darunter einem türkischen Freund, an einem Badesee zum Schwimmen. Um mir die Verrenkungen mit Handtuch als Sichtschutz zu ersparen, habe ich mich etwas abseits der Gruppe ungeniert umgezogen (Hose aus – Badeanzug an – T-Shirt aus – Träger hochziehen). Ich fand nichts dabei, zumal dort viele Frauen ›oben ohne‹ am See liegen. Aber am Abend sagte mir eine Frau aus der Gruppe, sie hätte sich in Anwesenheit des tür