Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren? - Florian Haase - E-Book

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren? E-Book

Florian Haase

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Beschreibung

Trump - Putin - Erdogan - Brexit - Islamischer Staat - Schuldenkrise - Flüchtlingskrise: Herausforderungen für unseren Rechtsstaat gibt es genug. Aber was ist das eigentlich ein Rechtsstaat? Was kennzeichnet einen Rechtsstaat, was eine Demokratie? Was sind die rechtlichen Vorteile, was die Schwächen und Grenzen von Rechtsstaat und Demokratie? Gibt es ernsthafte Alternativen und was würde das bedeuten? In welchem Verhältnis steht der Bürger zum Staat oder auch zu anderen Bürgern? Was sind die Grundrechte? Was ist in unserer Verfassung geregelt? Was bedeutet die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für unser Land? Und nicht zuletzt natürlich: Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?? Diesen und anderen Grundfragen unserer Gesellschaft geht das Buch in neun Kapiteln auf anschauliche, manchmal humorvolle, manchmal nachdenkliche und manchmal drastische Weise nach. Es will in verständlicher Sprache und anhand von Beispielen, die "aus dem Leben" gegriffen sind, an unsere Staatsform heranführen und die Augen für die zentralen recht-lichen Fragestellungen des menschlichen Miteinanders öffnen. Ein Buch zum Nach- und Mitdenken für jedermann, aber vor allem für Schüler, Studierende und alle Interessierten, die "in guter Verfassung" sein wollen. "Liken" kann man den Rechtsstaat zwar nicht, aber er sollte nach der Lektüre dieses Buches wenigstens ein paar "Follower" mehr haben.

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Florian Haase

Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren?

Haase, Florian: Darf man in einem Rechtsstaat auch links fahren? Ein unterhaltsamer Kurztrip durch unsere Staatsform. Hamburg, acabus Verlag 2018

1. Auflage

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-544-8

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-543-1

Print: ISBN 978-3-86282-542-4

Lektorat: Antonia Stüß, Kristin Hinz, acabus Verlag

Satz: Kristin Hinz, Dagmar Tietgen, acabus Verlag

Cover: © Marta Czerwinski, acabus Verlag

Covermotiv: © designed by Freepik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Für meine Kinder C. und M. und „die beste Ehefrau von allen“*

(die weiterhin friedlich in einem Rechtsstaat leben mögen)

* Hommage an den israelischen Satiriker Ephraim Kishon.

Vorwort

Dieses Buch soll Interesse wecken an dem Staat, in dem wir leben, und seinen rechtlichen Grundlagen. Und es soll ein wenig Spaß machen – in Kombination also keine leichte Aufgabe für mich, den Autor. Das Recht gilt ja gemeinhin als ziemlich trockene Angelegenheit – zu Unrecht! Das Recht ist im Grunde sehr lebendig und lebensnah, weil es die Grundlage für das tägliche Miteinander aller Menschen bildet, die in einem Staat leben und arbeiten.

Wir leben in Deutschland, da verrate ich den Wenigsten eine Neuigkeit, in einer Demokratie und einem Rechtsstaat, was im Vergleich zu anderen Ländern allerdings schon einmal eine ziemlich komfortable Ausgangsposition für uns Bürger ist. Wer das anders sieht, sollte ruhig mal versuchen, sich auf dem Tian’anmen-Platz in Peking nackt auszuziehen und „Nieder mit der Regierung!“ zu rufen. Ich möchte zwar nicht ernsthaft zu derlei Unsinn auffordern, aber Sie, lieber Leser, können sicher sein, dass Sie ein solches Vorhaben im Vergleich dazu vor dem Kölner Dom oder der Elbphilharmonie (Hurra, endlich!) relativ unbehelligt zum Ende bringen können. Mit ernsthaften Konsequenzen wird man jedenfalls im Inland kaum zu rechnen haben – nur dass Psychotherapiesitzungen auf Dauer auch recht teuer werden können.

Jeder in Deutschland lebende Bürger wird, da bin ich sicher, im Laufe seines Lebens einmal an einen Punkt kommen, an dem ihm die Vorzüge von Demokratie und Rechtsstaat nützlich sein werden. Und es wird aber leider auch – nur hoffentlich deutlich weniger – Bürger geben, die die Grenzen von Demokratie und Rechtsstaat kennenlernen müssen.

Es kann also so oder so nicht schaden, sich mit der Staatsform, in der wir leben, in den Grundzügen vertraut zu machen – zumal man vorher nicht wissen kann, zu welcher der beiden vorgenannten Personengruppen man gehört. Die Auswahl der Themen ist natürlich subjektiv, aber ich bin zuversichtlich, dass für jeden Interessierten etwas dabei ist. Die bescheidene Zielsetzung des Autors wäre jedenfalls bereits erfüllt, wenn jeder Leser sich zu den ausgewählten Themen seine eigene Meinung bildete – dies ungeachtet der Tatsache, dass mir mein kleiner Ausflug in die Populärwissenschaft sehr viel Spaß bereitet hat und hoffentlich auch Ihnen, lieber Leser, beim Lesen durchaus hier und da ein Schmunzeln entlockt.

Den Erbsenzählern und Berufskritikern – vor allem aus dem Berufsstand der Juristen – sei zudem gesagt, dass es in diesem Buch allein um die laienverständliche Veranschaulichung von Grundzügen geht. Einige Aussagen sind daher sehr vereinfacht bzw. vereinfachend, zu Zwecken der Verdeutlichung zugespitzt und nicht immer bis zum letzten theoretischen Ausnahmefall juristisch zutreffend.

Ungeachtet dessen hoffe ich, dass unsere Staatsform nach der Lektüre dieses Büchleins ein paar „Follower“ mehr hat. „Liken“ kann man den Rechtsstaat zwar nicht, aber wenigstens im Geiste sollten wir dies hin und wieder tun.

Hamburg, im Winter 2017/2018

Florian Haase

Was ist Recht?

Große Frage – kleine Beispiele

Betrachten wir die folgenden willkürlich gewählten und fiktiven, jedoch durchaus lebensnahen Situationen:

(a) Markus behauptet, die Strecke von Hamburg nach Hannover sei 150 km lang. Claudia behauptet, die Strecke sei 100 km lang. Tatsächlich beträgt die Entfernung zwischen den beiden Städten ziemlich genau 150 km.

(b) Nachbar Meyer stellt die Stützpfeiler seines neuen Carports in einer Entfernung von 90 cm zu der Grundstücksgrenze des unmittelbaren Nachbarn Schulze auf. Die auf diesen Sachverhalt anwendbare Gemeindesatzung bestimmt in ihrem § 4: „Zwischen der Grundstücksgrenze und Bebauungen jeder Art (z. B. Zäune, Garagen, Carports) ist ein Mindestabstand von 80 cm einzuhalten. Schulze beschwert sich bei Meyer, dass dieser zu nah an seinem Grundstück gebaut habe.

(c) Ein Arbeitgeber zahlt seinen Arbeitnehmern in den Jahren 2000 bis 2016 jedes Jahr zu Weihnachten ein Weihnachtsgeld von 1000 Euro pro Person. Eine Verpflichtung hierzu aus einem Arbeitsvertrag oder einem Tarifvertrag besteht nicht. Im Jahr 2017 wird kein Weihnachtsgeld ausgezahlt. Der Arbeitnehmer Gierig besteht dennoch auf Zahlung.

(d) Ein Kindergeldgesetz bestimmt, dass ein Ehepaar pro Kind und Monat einen Anspruch gegen den Staat auf Zahlung von 100 Euro hat. Das Ehepaar Müller hat ein Kind, das Ehepaar Mertens zwei Kinder. Das Ehepaar Müller bekommt für Januar 100 Euro, das Ehepaar Mertens 200 Euro ausgezahlt. Das Ehepaar Müller beschwert sich und möchte ebenfalls 200 Euro ausgezahlt bekommen.

(e) Ein Kindergeldgesetz bestimmt, dass ein Ehepaar für das erste gemeinsame Kind pro Monat 100 Euro und für das zweite gemeinsame Kind pro Monat 50 Euro erhält (Übrigens: Gott sei Dank sind dies fiktive Beträge zur Veranschaulichung, in Wirklichkeit ist ein Kind dem Staat zumindest ein wenig mehr wert). Das Ehepaar Koch verlangt von der zuständigen Familienkasse pro Monat 200 Euro, weil es die Regelung für widersinnig hält.

(f) § 4 eines fiktiven Gesetzes zur Sicherung von Zucht und Ordnung in einem Staat lautet: „Jeglichen Aufforderungen der Polizei ist jederzeit Folge zu leisten. Eine Begründung der Polizei für die Aufforderung ist nicht erforderlich. Wer dem Befehl der Polizei nicht Folge leistet, wird unverzüglich erschossen.“

Das Recht zu erfassen, geschweige denn mit Worten zu beschreiben, ist gar nicht so einfach. Viele Wissenschaftler und Gelehrte, insbesondere aus der Philosophie und der Rechtswissenschaft, haben sich über die Jahrhunderte daran versucht. Nur so viel sei grundsätzlich für Liebhaber grauer Theorie vorweggeschickt: Die sogenannten essentialistischen Ansätze streben dabei danach, diese Fragestellung universell zu beantworten und beanspruchen damit für sich eine absolute Wahrheit. Demgegenüber versuchen die sogenannten nominalistischen Ansätze, eine handhabbare Definition des Rechts zu ersinnen, die den Rechtsbegriff für den jeweiligen Untersuchungsbereich zweckmäßig erfasst. Die Anhänger der Lehre des sogenannten Rechtspositivismus wiederum setzen das Recht allein mit den positiven, d. h. vom Gesetzgeber gesetzten oder als Gewohnheits- oder Richterrecht anerkannten Normen gleich. Sie verzichten naturgemäß auf eine inhaltliche Bezugnahme oder Parallelität zu den außergesetzlichen Rechtserkenntnisquellen (etwa göttliche Gebote, Naturgesetze, Vernunft, Idee der Gerechtigkeit, Menschenrechte, usw.).

Bei dem deutschen Philosophen Immanuel Kant beispielsweise klang das so: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist.“ Der indische Widerstandskämpfer Mahatma Gandhi hingegen formulierte: „Wenn du im Recht bist, kannst du dir leisten, die Ruhe zu bewahren; und wenn du im Unrecht bist, kannst du dir nicht leisten, sie zu verlieren“, und bei dem berühmtesten Philosophen der Niederlande, Baruch de Spinoza, hieß es: „Jeder hat so viel Recht, wie er Macht hat.“ Hoffentlich weiß Donald Trump nicht, wer Spinoza war. Da hilft, um all dies zu ertragen, nur noch Humor, der sogar, obwohl er am Lebensende depressiv war, vortrefflich bei dem deutschen Schriftsteller Kurt Tucholsky zu finden ist: „Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht hat.“ Es gibt freilich noch Dutzende weitere Sinnsprüche, ohne dass der Erkenntnisgewinn darüber, was Recht ist, zwingend größer würde.

Wer Recht hat, sagt die Wahrheit

Sinnvoller – und auch anschaulicher – als eine Definition des Rechts erscheint mir daher, seine Dimension anhand von Beispielen darzustellen. Die oben aufgeführten Situationen sollen das verdeutlichen. Bitte lesen Sie jetzt (noch einmal – oder wenn Sie vorhin gelangweilt darüber hinweggehuscht sind, erstmals) das Beispiel (a). Im Beispiel (a) wird schnell klar, was es bedeutet, wenn man urteilen würde: „Markus hat Recht.“ Dies hat nämlich in diesem Zusammenhang gar nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Die Entfernung zwischen Hamburg und Hannover bzw. eine Aussage hierüber ist etwas, das sich einer Bewertung nach den Kategorien „gerecht“ und „ungerecht“ entzieht.

Tatsächlich ist die Aussage über die Entfernung zwischen Hamburg und Hannover eine Aussage, die nur nach den Kategorien „wahr“ und „unwahr“ bzw. „richtig“ und „falsch“ zu beurteilen ist. Die Beurteilung „Markus hat Recht“ bedeutet daher insoweit nicht weniger, aber eben auch nicht mehr, als dass die von ihm getroffene Aussage wahr ist. Es ist eine Aussage ohne moralische oder anderweitige Wertung, die sich nur auf nachprüfbare Tatsachen bezieht. Anders wäre es hingegen, wenn man sagte: „Markus ist im Recht.“ Das „im Recht sein“ statt des „Recht haben“ impliziert, ob man will oder nicht, beim Zuhörer oder Leser immer auch eine Wertung, und sie passt nicht auf das Beispiel (a), weil es hier nur um nachprüfbare Tatsachen geht. Jede Art von nachprüfbarer, beweisbarer Tatsache kann Gegenstand einer solchen wahren Aussage sein, d. h. auch Gefühle, Beobachtungen oder Zustände.

Allerdings muss man auch sehen, dass wenn Markus Recht hat, Claudia zwangsläufig Unrecht hat. In Bezug auf denjenigen, der nicht die wahre, sondern eine falsche oder unrichtige Aussage trifft, impliziert das „Markus hat Recht“ zumindest unbewusst auch ein Gefühl des „im Recht sein“ konkret im Verhältnis zu Claudia, auch wenn dies ihr gegenüber vermutlich gar nicht so gemeint sein mag. Es ist auch nicht so, dass Claudia gelogen hätte oder dass Frauen generell die schlechteren Schätzer sind (sie sind in Wirklichkeit besser, schon weil sie nicht wie die Männer an permanenter Selbstüberschätzung leiden). Sie war wirklich der Meinung, die Strecke zwischen Hamburg und Hannover betrüge 100 km, nur war dies leider tatsächlich objektiv falsch, weil Claudia es schlicht nicht besser wusste.

Wir halten daher fest, dass derjenige, der in bestimmten Situationen Recht hat, lediglich die Wahrheit sagt. „Wahr“ ist hier aber nicht bezüglich des Gegenteils von „unwahr“ oder gar bewusster Unwahrheit gemeint, sondern nur im Sinne von „zutreffend“ oder „richtig“ entsprechend einer objektiven Richtigkeit. Mit Gerechtigkeit aber hat all dies jedenfalls nichts zu tun, und auch bei dem Thema „Recht“ oder „Recht haben“ werden die meisten von Ihnen nicht an Situationen des Beispiels (a) denken oder sie auch entfernt damit assoziieren.

NachbarRECHT

Anders verhält es sich da schon mit dem Beispiel (b). Hier sieht die fiktive Gemeindesatzung vor, dass zwischen der Grundstücksgrenze des Nachbarn und einer etwaigen Bebauung (wie z. B. einem Carport) ein Mindestabstand von 80 cm einzuhalten ist. Es ist, wenn Sie jetzt das Beispiel (b) durchdenken, unmittelbar einsichtig, dass der Nachbar Meyer sich ohne jeden Zweifel an die Vorgaben der Gemeindesatzung gehalten hat, denn er hat beim Aufstellen der Stützpfeiler für sein Carport zur Grundstücksgrenze des Nachbarn Schulze sogar einen Abstand von 90 cm (also „10 mehr als notwendig“) eingehalten.

Nun kann es ja durchaus sein, dass die „Beschwerde“ des Nachbarn Schulze jetzt trotzdem vor einem Gericht landet. Dies ist vielleicht sogar überwiegend wahrscheinlich. Auch wenn Sie kein Jurist sind, so werden Sie sicherlich schon gehört oder es sogar selbst erlebt haben, dass Nachbarschaftsstreitigkeiten die Gerichte seit jeher beschäftigen. Nicht immer geht es dabei sachlich zu. So mussten deutsche Gerichte sich schon damit befassen, ob Gartenzwerge mit obszönen Gesten (Stichwort „Mittelfinger“) eine Beleidigung des Grundstücksnachbarn darstellen können und ob der Beleidigte einen Anspruch auf Entfernung der Gartenzwerge hat (Amtsgericht Grünstadt vom 11.2.1994, Aktenzeichen 2a C 334/93).

Ferner musste entschieden werden, ob der Nachbar einen Anspruch darauf hat, dass der Beklagte sein Auto vorwärts oder rückwärts in seine eigene Garage einzuparken hat (Amtsgericht Nürnberg-Fürth vom 29.7.1998, Aktenzeichen 11 S 11191/97), ob ein Nachbar auf seiner eigenen Toilette zum Urinieren im Sitzen gezwungen werden kann (Amtsgericht Wuppertal vom 14.1.1997, Aktenzeichen 34 C 262/96) oder ob der Nachbar einen Anspruch darauf hat, dass eine das Sonnenlicht reflektierende Plane vom Swimming-Pool des Nachbarn zu entfernen ist (Oberlandesgericht Brandenburg vom 16.9.2003, Aktenzeichen 6 U 144/02). Diese Liste ließe sich mit ganz realen Beispielen nahezu beliebig fortsetzen und würde problemlos allein ein ganzes Buch füllen.

Wenn wir stattdessen – wie langweilig – zurück zum Beispiel (b) kommen, würde ein Richter, der auf die Beschwerde des Nachbarn Schulze hin den Fall zu entscheiden hätte, sicherlich urteilen: Der Nachbar Meyer „hat Recht“. Er könnte alternativ auch sagen, Nachbar Meyer sei „im Recht“. Beides ist hier jedoch nicht im Sinne von Wahrheit oder Richtigkeit zu verstehen, sondern auf „Recht haben“ bezogen, auf einen bestimmten Ordnungsrahmen oder ein bestimmtes Wertesystem. Dieser Ordnungsrahmen ist im Beispiel (b) die Gemeindesatzung, die die Abstandsflächen verbindlich für alle in ihrem Anwendungsbereich wohnenden Bürger vorgibt. Das „Recht haben“ in diesem Sinne ist daher nie „Gott gegeben“ und ergibt sich nicht objektiv aus der Natur einer Sache, sondern erklärt sich immer nur vor dem Hintergrund von Rechtsbestimmungen, die der Mensch erschaffen hat.

In den meisten Lebensbereichen sind diese Bestimmungen oder dieser Ordnungsrahmen dem sogenannten geschriebenen Recht zugehörig, mit anderen Worten, es existieren verbindliche geschriebene Regelungen für einen Interessenkonflikt oder einen zu regelnden Bereich. In einem ordnungsliebenden Beamtenstaat wie Deutschland gibt es diese Regelungen natürlich in Hülle und Fülle. Unkenrufe besagen, dass mehr als 70 % aller Gesetze und Vorschriften weltweit aus Deutschland kommen.

Ob das stimmt, wird man kaum jemals verifizieren bzw. falsifizieren können, aber für gänzlich unplausibel kann man es auch nicht unbedingt halten. Diese Regelungen werden beispielsweise Gesetze, Verordnungen, Richtlinien oder Satzungen genannt, und sie haben oft auch eine unterschiedliche Wertigkeit bzw. Rangfolge. Ihnen allen ist aber gemeinsam, dass sie für einen bestimmten Regelungsbereich oder einen bestimmten Interessenkonflikt von verschiedenen Menschen oder einer Gruppe von Menschen für alle von ihnen betroffenen Personen „Recht“ schaffen, indem sie schriftlich und verbindlich niedergelegt werden und so eine universelle Gültigkeit erlangen.

Sie, lieber Leser, werden auch sofort erkannt haben, dass es im Beispiel (b) nicht um „wahr“ oder „unwahr“ geht, sondern um „falsch“ oder „richtig“, und zwar bezogen auf den vorgegebenen Ordnungsrahmen „Gemeindesatzung.“ Letzteres ist wichtig in Bezug auf die Abgrenzung zum Beispiel (a): Im Beispiel (a) ist die Aussage von Markus objektiv richtig, weil man die Entfernung zwischen Hamburg und Hannover nachmessen kann. Im Beispiel (b) ist das Vorgehen des Nachbarn Meyer ebenfalls richtig, aber eben nur vor dem Hintergrund der vorgegebenen Gemeindesatzung. Der Nachbar Meyer verhält sich insoweit nämlich völlig korrekt. Natürlich könnte er auch lügen. Er könnte den Stützpfeiler des Carports auch bis auf 70 cm an die Grundstücksgrenze des Nachbarn Schulze heransetzen und einfach behaupten, der Abstand betrüge 80 cm. Dies allerdings würde einer objektiven Überprüfung, zum Beispiel durch einen von einem Gericht bestellten Gutachter, nicht standhalten, so dass der Meyer in einem entsprechenden Prozess vor Gericht verlieren würde.

Wir werden später aber noch sehen, dass ein „Recht haben“ nicht zwangsläufig auch zu einem „Recht bekommen“ führt. Das „Recht haben“ resultiert aus einer objektiven Tatsache in Bezug auf einen Ordnungsrahmen oder ein Wertesystem (meist das geschriebene Recht), das „Recht bekommen“ resultiert aber erst aus einer durch den Anspruchsteller beweisbaren Tatsache und einer entsprechenden Durchsetzung seiner Rechte im Prozess. Ideal ist es, wenn beides zusammenfällt, aber im echten Leben ist dies bei weitem nicht immer der Fall.

Recht ≠ Gerechtigkeit

Bitte beachten Sie, dass auch das Beispiel (b) nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Die Abstandsgrenze zwischen Meyer und Schulze ist weder gerecht, noch ungerecht. Sie könnte auch 50 cm oder 100 cm betragen, ohne dass sich etwas daran ändern würde. Das Nachbarschaftsrecht verlangt, wie die meisten anderen Lebensbereiche, nach objektiv messbaren Maßstäben und Kategorien. Diese werden dann durch eine Rechtsnorm festgelegt, die – wie in diesem Beispiel – auch einen neutralen Charakter haben kann. Es wäre hingegen sicher ungerecht, wenn nur Meyer, nicht aber Schulze die Abstandsgrenzen einhalten müsste, aber das ist nicht der Fall. Mit wenigen Ausnahmen richtet sich geschriebenes Recht nämlich stets an all seine Adressaten gleichermaßen. Weitere Beispiele: Die allgemeine Geschwindigkeitshöchstgrenze von 50 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften etwa gilt ohne Ausnahme für alle Menschen, die einen PKW fahren. Das Gebot, dass man nicht stehlen darf (was als Diebstahl nach § 242 Strafgesetzbuch strafbar wäre), sollte allen (!) Menschen klar sein und von ihnen beachtet werden, usw.

Im Beispiel (b) sind die Adressaten der Gemeindesatzung offenkundig alle Menschen, die Grundstücke nebeneinander besitzen und die daher Nachbarn sind. Wenn dies einmal nicht der Fall sein sollte, dann ist näher zu prüfen, ob auch wirklich gleiche Sachverhalte bzw. gleiche Adressaten vorliegen. Es mögen beispielsweise die einzuhaltenden Abstandsflächen in einer Großstadt andere sein als auf dem Land, aber dann ist die Lage der Grundstücke auch nicht vergleichbar. Es ist dann aufgrund der Raumverdichtung und der größeren Anzahl an Einwohnern pro Quadratkilometer vielmehr sachlich gerechtfertigt, dass in der Großstadt regelmäßig weniger Abstand zum Nachbarn einzuhalten ist.