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Mode macht Spaß. Mode verleiht Macht. Mode ist das Lieblingskind des Kapitalismus. Mode ist ebenso großartig und spannend, wie das System dahinter schmutzig und zerstörerisch ist. Die junge britische Journalistin Tansy Hoskins leuchtet das Geschäft mit der Mode in seinen dunklen Ecken aus. Von Haute Couture bis H&M, von Karl Marx bis Karl Lagerfeld erzählt sie über die Entstehung des Phänomens Massenmode, über Körper und Kapitalismus, Werbung und Widerstand.Erfrischend und nie belehrend kritisiert Tansy Hoskins, was Mode mit uns Konsumenten macht: Junge Leute, die über Nacht vor den Nike-Shops Schlange stehen, um das neueste Paar Turnschuhe zu ergattern. Frauen, die hungern für »size zero«. Ist Mode rassistisch oder warum ist sie eigentlich immer noch ein »weißes« Geschäft Und was tun gegen das schwarze Loch des Wollens, das nie verschwindet,egal wie viel man shoppen gehtSchritt für Schritt entwirrt dieses Buch die Fäden, aus denen das Business gestrickt ist, und es zeigt Wege in eine andere Richtung auf, für faire Produktion, Umweltschutz oder die Emanzipation von gefährlichen Schönheitsidealen. Tansy Hoskins will die Mode revolutionieren, gerade weil sie Mode liebt!
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DAS ANTIKAPITALISTISCHE
BUCH DER MODE
TANSY E . HOSKINS
AUS DEM ENGLISCHEN VON MAGDALENA KOTZUREK
Rotpunktverlag
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Stitched up.The Anti-Capitalist Book of Fashion bei Pluto Press, London,www.plutobooks.com.
© Tansy E. Hoskins, 2014
© Rotpunktverlag Zürich, 2016 (für die deutschsprachige Ausgabe)www.rotpunktverlag.ch
Umschlag: Sylvie Dardel, nach einem Entwurf von Jade Pilgrom
Illustrationen: Jade Pilgrom, www.jadepilgrom.com
1. Auflage 2016
ISBN 978-3-85869-720-2
Für meine Eltern, Kay und Gareth,in tiefer Liebe und Zuneigung.
Ein Grund sind wohl die mageren Vorteile, die Unterdrückung manchmal mit sich bringt und mit denen wir gelegentlich uns abzufinden bereit sind. Am effizientesten ist der Unterdrücker, der seine Untergebenen dazu überredet, seine Macht zu lieben, zu begehren und sich mit ihr zu identifizieren. Jede Praxis politischer Emanzipation umfasst daher die komplizierteste Form der Befreiung. Die Kehrseite der Geschichte ist ebenso wichtig. Wenn es einer solchen Herrschaft über einen längeren Zeitraum nicht gelingt, ihren Opfern ausreichende Befriedigung zu verschaffen, dann werden diese gewiss zu guter Letzt rebellieren. Wenn es vernünftig ist, sich angesichts gefährlich und undurchsichtig erscheinender politischer Alternativen mit einer zweifelhaften Mischung aus Misere und belanglosem Vergnügen zufrieden zu geben, dann ist es ebenso vernünftig, zu rebellieren, wenn die Misere eindeutig die Befriedigung überwiegt und es wahrscheinlich ist, dass man mit einer solchen Aktion mehr gewinnt als verliert.1
Terry Eagleton, Ideologie: Eine Einführung
Wegschauen ist ein ebenso politischer Akt wie Hinschauen.2
Arundhati Roy
Zwischen einem Ritter und jedem anderen Mann gibt es keinen Unterschied – nur seine Kleidung.
Robin Hood
Im Bobae Tower in Bangkok befindet sich der größte Kleidungsgroßhandel Thailands. Ich war Anfang des Jahres 2013 dort und verlief mich mit dem Freund, der mich begleitete, in dem unterirdischen Labyrinth aus Gängen, in dem sich die günstigen Kleider bis zur Decke stapeln. Nach einer Weile erst stellten wir fest, dass wir im Kreis gegangen waren. Aus Lautsprechern kamen Anweisungen wie »leo sai, leo sai« (nach links, nach links) und dann »leo qua« (nach rechts), wir bahnten uns erneut einen Weg durch die engen Tunnel und landeten schließlich bei Beam Design.
Beam Design ist seit einem Jahrzehnt im Geschäft und wird geführt von Herrn und Frau Nin. An ihrem Stand türmen sich ganze Bündel hübscher Hosen, fertig zur Abholung: elegante Anzughosen und Pluderhosen in schwarz, marine, taupe und grau. Als ich Frau Nin nach ihren Geschäften fragte, antwortete sie mit der mir inzwischen vertrauten Geschichte, dass die Bestellungen seit 2008 um etwa 40 Prozent zurückgegangen seien. So wie Beam Design erging es unzähligen anderen Firmen, als sich mit der globalen Wirtschaftskrise das Wachstum der internationalen Modebranche verlangsamte. Und durch die sinkende Nachfrage ist auch der Wettbewerb – kuu kang gan, das Wort fiel während unseres Gesprächs immer und immer wieder – unter den Lieferanten schärfer geworden.
In dem unterirdischen Labyrinth arbeiten über 1000 Händler. Einkäufer schlendern von Stand zu Stand, bis sie den niedrigsten Preis bekommen, der möglich ist. Wenn ihnen der Preis eines Händlers zu hoch erscheint, gehen sie einfach zum nächsten. Der fortwährende Druck, der vonseiten der Einkäufer auf die Händler in Bobae ausgeübt wird, ist typisch – und zwar für das gesamte Modegeschäft. Der Zwang, billig zu produzieren, ist der Grund, warum Textilunternehmen, und zwar sowohl große als auch kleine, sich auf die Suche nach billigeren Arbeitsmärkten und Produktionsmethoden machen, Löhne kürzen und Umweltstandards umgehen.
Die Hosen von Beam Design beispielsweise werden nicht länger in Bangkok genäht. Es ist billiger, den Stoff in der Hauptstadt zuschneiden zu lassen und ihn dann hin- und zurück nach Isan zu fahren, einer armen Region im Nordosten des Landes. Die Hosen werden dort von Frauen genäht, die von Zuhause aus arbeiten. Sie sind diejenigen, die den 40-prozentigen Rückgang der Bestellungen am stärksten zu spüren bekamen.
Beim Erzählen zupfte Frau Nin lose Fäden von den Aufschlägen und Knopflöchern der fertigen Hosen. Noch weiter mit den Preisen nach unten zu gehen, könnten sie sich nicht leisten, sagte sie.
Die Definition, was Mode überhaupt ist, ist unscharf.1 Der Begriff »Mode« kann sehr weit gefasst werden, und man könnte auch diesem Buch den Vorwurf machen, dass es zu dieser Unschärfe beiträgt, denn die Firmen, die in diesem Buch thematisiert werden, reichen von Chanel über Walmart und Louboutin bis hin zu H&M und Tesco. Ich habe nicht zwei Bücher – eines über Designermode und eines über die Modeketten – geschrieben, sondern eines, in dem beide Aspekte gemeinsam vorkommen. Das habe ich aus mehreren Gründen getan. Erstens, weil die Grenzen zwischen Designermode und Fast-Fashion derzeit immer stärker verschwimmen. Im Frühling 2014 stellte die britische Modekette River Island auf der Londoner Fashion Week aus, genauso wie Topshop und Whistles. J. Crew war auf der New Yorker Fashion Week vertreten und H&M mit einer Modeschau im Pariser Musée Rodin.
Versace, Marni, Stella McCartney, Lanvin und Maison Martin Margiela: Sie alle haben Kollektionen für H&M entworfen. Isaac Mizrahi, Missoni und Prabal Gurung waren als Designer für den US-amerikanischen Discountriesen Target tätig und Jean Paul Gaultier, Karl Lagerfeld und Marc Jacobs als Kreativdirektoren von Coca Cola. Berühmte Modehäuser nehmen mehr Geld durch Parfüms und Badeöle ein als durch den Verkauf von Kleidern, die 50 000 Dollar kosten.2 Massenproduzierte Sonnenbrillen, »It-Bags«, Boxershorts, Kosmetika, T-Shirts und Jeans, auf deren Label das Wort »Couture« aufgedruckt ist, machen den Großteil der Einnahmen der »Designer«-Branche aus.
Wieso sollte man also nur über die Umweltverschmutzung sprechen, die Fast-Fashion-Unternehmen in Ländern wie China verursachen, wenn man gleich in der Fabrik nebenan It-Bags produziert?3 Wieso nur die problematischen Vorstellungen zu Körper und Hautfarbe auf den Laufstegen in Paris und Mailand zum Thema machen, wenn Topshop und H&M die gleiche Ästhetik verwenden? Wieso so tun, als gäbe es übermäßigen Konsum nur bei den billigsten Marken?
Mode ist immer ein soziales Produkt. Alle Materialien und alles Können, aus denen großartige Arbeiten entstehen, sind zuvor gesellschaftlich produziert worden. So wie der beste Pianist einen Flügel braucht, den zuvor jemand gebaut hat, brauchen auch die talentiertesten Designer Stifte, Papier und Materialien, die jemand produziert hat, ein paar Fertigkeiten, die sie von Lehrern gelernt haben, eine Tradition, um ihr zu folgen oder gegen sie zu rebellieren, und nicht zuletzt die immense Unterstützung von Sponsoren, Designteams, Verwaltungsangestellten und Haushaltspersonal.4 Allein die vielen Gerichtsprozesse, die wegen Urheberrechtsverletzungen gegen Marken wie Zara geführt werden, zeigen, wie stark sich Fast-Fashion von den namhaften Designern inspirieren lässt. Trotzdem hängt auch die Haute Couture auch von den Ketten ab, weil über diese ihre Ideen auf die Straße gelangen und bekannt werden (und auch sie begeht Ideenklau, und zwar am laufenden Band)5. Den sozialen Charakter von Mode zu ignorieren, heißt, sie zu verklären. Dieses Buch analysiert die Modeindustrie und ihre Ideologien in ihren Einzelteilen, anstatt weiter an ihrem sorgfältig gepflegten Mantel der Exklusivität zu nähen. So bekommt die Haute Couture keinen besonderen Sockel, und die Definition von Mode, mit der ich arbeite, ist einfach und praktikabel: sich verändernde Kleidungsstile und Erscheinungsbilder, denen Gruppen von Menschen folgen.6 Mir ist bewusst, dass schon allein so eine Definition Kontroversen auslösen kann. Denn Mode, so wird gemeinhin angenommen, ist ein rein europäisches Konzept, im 15. Jahrhundert im französischen Burgund entstanden und untrennbar verbunden mit dem Kapitalismus.7 Diese historische Einordnung stelle ich nicht infrage und finde es dennoch problematisch, wie auf diese Weise Mode historisch zu einem Privileg wohlhabender und weißer Menschen wird. Es ist eine weit verbreitete Einstellung, dass all diejenigen, die nicht dazu gehören, keine »richtige« Mode machen. Was aus Paris, Mailand, London oder New York kommt, ist demnach richtige Mode, aber alles andere sind nur Kleider oder noch einfacher: Bekleidung. Der überwiegende Teil der Weltbevölkerung verbleibt aus dieser Perspektive heraus »ohne Mode«, was leicht die Assoziation »ohne Geschichte« hervorruft.8 Julius Nyerere, der erste Präsident der Republik Tansania, sagte einmal: »Von den Verbrechen des Kolonialismus war kein einziges so schlimm wie der Versuch, uns weiszumachen, wir hätten keine eigene Kultur, oder dass alles, was wir hatten, wertlos sei«. Eine solche rassistische Haltung erniedrigt die sogenannte Dritte Welt und legitimiert die Ausbeutung der dort lebenden Menschen. »Das letzte Bedürfnis des Imperialismus sind keine Rohstoffe, auch nicht die Ausbeutung von Arbeitern oder die Kontrolle über Märkte. Es ist ein Teil der Menschheit, der einfach nichts zählt«, so schrieb der marxistische Kunstkritiker John Berger in den 1970er-Jahren.9
Mode als etwas Westliches zu definieren, ist bestürzend weltfremd, wenn man sich einmal anschaut, wo Mode heutzutage designt und produziert wird. In so unterschiedlichen Ländern wie China, Kolumbien, Indien und Nigeria gibt es eine florierende Textilbranche, während Sparmaßnahmen und der Neoliberalismus die europäischen Löhne so weit gedrückt haben, dass Konzerne beginnen, um die Aufmerksamkeit der chinesischen Konsumenten zu kämpfen, die in Kürze über mehr Kaufkraft verfügen dürften als ihre europäischen Gegenüber.
Aus all diesen Gründen habe ich mich für eine bewusst offene und inklusive, realitätsnahe und nicht abgehobene Definition entschieden, die die Modeindustrie nicht schöner macht, als sie ist. Denn die Realität ist weit davon entfernt, schön zu sein.
2008 war ich auf Recherchereise in Dharavi, einem berüchtigten Slum der indischen Großstadt Mumbai. Dharavi ist mit über einer Million Einwohnern eine Stadt für sich. Stellenweise stehen die Häuser so eng beieinander, dass ihre Dächer die dazwischenliegenden Gassen komplett überdecken, und die Straßen sind gesäumt von vielen kleinen Werkstätten. Viele Betriebe sind gleichzeitig Arbeitsort und Wohnstätte für ganze Familien, und die Räume platzen aus allen Nähten. Dort nähen auch Kinder, und es ist so dunkel, dass sie sich dabei die Augen verderben. Einmal wollten wir uns mit ein paar Kindern unterhalten, die an einer Webmaschine arbeiteten, und mussten dafür auf eine wackelige Leiter steigen. In einer anderen Werkstatt saßen Kinder auf einem harten Holzboden und bestickten elegante Schals mit Perlen. »Die kleinsten Finger für die kleinsten Perlen«, sagte unser Guide und schüttelte traurig den Kopf.10
Als wir um eine Ecke bogen, traf mich der Geruch der in der Hitze zum Trocknen aufgehängten Ziegenhäute scharf in der Kehle und ich musste würgen, sehr zur Belustigung der Gerber. Von den Häuten tropfte es auf den staubigen Boden, im Hof wurden Taschen genäht und Lederbänder zu Gürteln und Schmuck geflochten. »Produzieren Sie auch für internationale Kunden?«, fragte ich einen der Werkstattbesitzer. Er lachte, sagte »natürlich«, und zeigte auf mich, »zum Beispiel für Sie«.
Er deutete auf den Gürtel, den ich mir am Abend zuvor gekauft hatte. Geflochtenes Leder, mit blauer und goldener Farbe besprüht, und zwar von Menschen, die, wie ich nun wusste, ohne Schutzkleidung oder Mundschutz arbeiten. Ihr Arbeitsplatz und ihre Lungen sind voll von den Farbdämpfen, sie haben kein Geld, um ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen – und all das nur, damit Läden mit Accessoires versorgt werden, die ein oder zwei Mal getragen werden, bevor man sie gegen etwas Neues austauscht. Die Fabriken in den Slums des viktorianischen England aus den Anfängen der Industrialisierung, wo sogar siebenjährige Kinder arbeiteten, sie verschwanden nicht ein für alle Mal als grausame Anekdoten in den Geschichtsbüchern: Sie existieren immer noch.
Dieses Buch wird die Modeindustrie nicht verklären, weil ich die Position vertrete, dass Modekreationen, die zwar Zeichen der Zeit oder Produkte des gesellschaftlichen Bewusstseins sein können, an erster Stelle eines sind: Industrieprodukte. Ein Damenkleid ist nicht nur ein Symbol, es ist auch eine von einem Unternehmen produzierte Ware, die einen Gewinn erwirtschaften soll, meist auf Kosten der Umwelt. Ein Designer ist eine Arbeitskraft, und er stellt sein Können in den Dienst eines Unternehmens, das damit Profit erzielt. So ist es, ganz egal wie extravagant seine Arbeit im Einzelnen sein mag.11 Die Pariser Fashion Week ist in diesem Sinne wenig mehr als ziemlich teures Marketing.12
Die Modeindustrie als das zu analysieren, was sie ist – eine industrielle Branche – soll dafür sorgen, dass sich auch die Diskussion in diesem Buch in materiellen Gefilden bewegt. Denn am Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung ist rein gar nichts Abgehobenes.
Als ich anfing, an diesem Buch zu arbeiten, fragte mich jemand, woher ich mir eigentlich das Recht nähme, über eine Branche zu schreiben, in der ich selbst nie gearbeitet habe (mal abgesehen von den unvermeidlichen Aushilfsjobs in einigen Kleidergeschäften). Meine Antwort war: ich musste es einfach tun. Denn ich hatte noch kein Buch gefunden, das diesen allgegenwärtigen Teil meines Lebens in ausreichender Weise beschrieben hätte. Es gab bislang kein Buch über Mode, das alles thematisiert hätte, von dem ich mir wünsche, wir könnten es überwinden: die schrecklichen Arbeitsbedingungen, die Umweltverschmutzung, die Essstörungen (mit denen einige meiner Freunde kämpfen mussten), den Rassismus, den die Mode vorantreibt, die Gefühle von Selbstverachtung und der ständige Wunsch nach mehr, egal wie viel man shoppen geht.
Zudem bin ich gegen die Vorstellung, dass nur diejenigen, die in den Chefetagen der Modebranche sitzen, über sie schreiben sollten. Modekonzerne verfolgen das Ziel, alle und jeden zu beeinflussen. Wenn wir diese Macht schon über uns ergehen lassen müssen, dann müssen wir zumindest das Recht einfordern, Fragen zu stellen – und dagegen zu protestieren. Die Tatsache, dass ich kein Rädchen im Getriebe des Modebusiness war, gab mir die Freiheit zu schreiben, ohne mir Sorgen um meine zukünftigen Berufsaussichten machen zu müssen. Das ist wichtig, vor allem, wenn man es mit einer Branche zu tun hat, in der es so wenig Kritik gibt. »Ein künstlerisches Umfeld ohne kritisches Feedback ist kein gesundes künstlerisches Umfeld«, so der Modefotograf Nick Knight.13
Ich hätte dieses Buch jedoch niemals schreiben können, wenn ich nur hätte kritisieren wollen. Ich konnte es nur schreiben, weil ich Mode ebenso großartig und spannend wie schrecklich finde und sie mich zur Verzweiflung bringen kann. Modekreationen können inspirieren und umwerfend sein, und die Mode ist eine Kunstform, die unglaublich viel Können und Einsatz abverlangt: In einer Gesellschaft, die von Schriftstellern und Dramatikern erwartet, in ihrem Leben ein oder zwei große Werke zu schreiben, nehmen wir es als gegeben hin, dass ein Modedesigner jedes Jahr eine herausragende Kollektion entwirft.14 Der Gegenpart jedes kritischen Wortes in diesem Buch ist ein wunderschön gearbeitetes Kleidungsstück, das es schafft, seinen Zeitgeist einzufangen. Aber wer hat es gemacht und wieso konnte er oder sie es eigentlich nicht selbst tragen?
Zurzeit sind die Träume und Projektionsflächen, die die Mode bietet, nur für wenige da. Viele Menschen leiden mehr unter Besitzzwangsstörungen, als dass sie ihre Kleidung wirklich genießen, und Mode ist, so wie jede Kunstform, in ein Netz aus Wirtschaft und Wettbewerb verstrickt. Gerade weil ich Mode großartig und schrecklich zugleich finde, schreibe ich dieses Buch, und zwar in der Hoffnung, dass die Mode und die, die sie tragen, eines Tages frei sein werden.
Zu guter Letzt bleibt zu sagen, dass ich aus einer kapitalismuskritischen Perspektive über Mode schreibe, weil es für mich unmöglich wäre, die Probleme, die in diesem Buch behandelt werden, separat zu betrachten. Es ist unmöglich, über die Umweltfolgen der Modeproduktion zu sprechen, ohne gleichzeitig darüber zu schreiben, welche Auswirkungen Fabriken auf die Menschen haben, die dort arbeiten. Darüber zu schreiben, wie Menschen behandelt werden, beinhaltet auch, Rassismus und Körperlichkeit zu thematisieren, und daraus wiederum folgen Entfremdung und Konsum, genauso wie der Einfluss von monopolisiertem Eigentum und Medienunternehmen. Es wäre konstruiert, diese Probleme separat betrachten zu wollen, denn es würde heißen, die grundlegende Rolle zu verkennen, die bei alledem der Kapitalismus spielt. »So etwas wie Kämpfe für Einzelfragen gibt es nicht, denn unsere Leben drehen sich nicht um Einzelfragen«, so sagte einmal die Feministin Audre Lorde.
Die Situation der praktisch rechtlosen Arbeiterinnen und Arbeiter im thailändischen Isan wiederholt sich weltweit als ein historisch relativ neues Phänomen, das aus Kolonialismus und Neoliberalismus hervorgegangen ist.15 Das Wort »Neoliberalismus« bezeichnet ein Wirtschaftsmodell, das in den 1980er-Jahren Margaret Thatcher und Ronald Reagan und in den 1990er-Jahren Bill Clinton und Tony Blair implementiert haben. Seine Merkmale sind die Liberalisierung des Handels, die globale Integration von Kapitalmärkten, Deregulierung, der Rückzug des Staates und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. All das wird als etwas Unausweichliches dargestellt, so, als wären es Naturgesetze, vergleichbar mit der Schwerkraft.16 Neoliberale Wirtschaftsstrategien bewirken Lohndumping und bringen Arbeiter und Unternehmen auf der ganzen Welt dazu, sich in einem »race to the bottom« gegenseitig zu unterbieten. Um den Konsumrückgang auszugleichen, wird intensiv für Privatkredite geworben, was sich insbesondere auch bei der Mode zeigt.
All das geht Hand in Hand mit der Globalisierung – oder, wie es der kanadische Ökonom R. Thomas Naylor formulierte, »ein höflicher Ausdruck dafür, wie große Unternehmen sich an Orten niederlassen, an denen es keine Umweltauflagen und keine lästigen Gewerkschaften gibt«17 – und mit Steuerreformen (»Steuersenkungen für Reiche werden gerechtigkeitshalber durch Sozialhilfekürzungen für Arme kompensiert«). Das Ergebnis ist eine globale Gesellschaft, in der Unterernährung immer noch der Grund für jeden dritten Kindstod ist, und in der sich gleichzeitig die weltweiten Verkäufe von Luxusartikeln auf etwa 150 Milliarden Dollar belaufen. 60 Prozent davon entfallen auf nur 35 Firmen, wobei die meisten davon zu einer Handvoll Großkonzerne gehören.18
Die Verwirrung und Unsicherheit, die der Neoliberalismus und die Finanz- und Wirtschaftskrise mit sich brachten, veranlasste seit 2008 viele Menschen dazu, sich nach alternativen Antworten umzuschauen. Aber bereits 1999, als Demonstranten in Seattle einen Gipfel der Welthandelsorganisation störten, war die kapitalismuskritische Bewegung in den Schlagzeilen gewesen. 2001 waren Massenproteste beim G8-Gipfel in Genua und Gegenveranstaltungen wie die Weltsozialforen in Porto Alegre gefolgt, die sich 2004 in Mumbai wiederholten. Es hatte eine neue globale Friedensbewegung, soziale Massenbewegungen in ganz Lateinamerika und #Occupy gegeben, und das sind nur wenige Beispiele. Der Arabische und Nordafrikanische Frühling 2011 waren zu einem großen Teil Revolten gegen neoliberale Strukturen, und in den letzten Jahren erfassten Streiks und Proteste ganz Europa. In Großbritannien organisierte beispielsweise UK Uncut Besetzungen im Londoner Luxuskaufhaus Fortnum & Mason und in Filialen von Vodafone und Topshop. Die kapitalismuskritische Bewegung ist kraftvoll und dynamisch, aber nicht immer vereint.
Doch dass es nicht das eine antikapitalistische Manifest gibt, heißt nicht, dass nicht auf Alternativen zum Kapitalismus hingearbeitet werden muss. »Antikapitalistisch« bedeutet in diesem Buch die Ablehnung des kapitalistischen Systems als Ganzes, weil der Kapitalismus selbst der Systemfehler ist, der Sweatshops, Kinderarbeit, Umweltzerstörung und Entfremdung möglich macht. Das Problem sind keinesfalls einzelne »böse Unternehmen« oder Politiker (obwohl es sie natürlich gibt), sondern ein schlechtes System, das zerstörerischen Regeln folgt. Die globale Finanzkrise brachte die Schriften des einflussreichsten antikapitalistischen Denkers wieder auf die Bühne. Karl Marx und die Werke derer, die er beeinflusst hat, spielen eine zentrale Rolle in jedem einzelnen Kapitel dieses Buches. Aber was haben Karl Marx und Karl Lagerfeld gemeinsam? Wie hängen der Neoliberalismus oder die Finanzkrisen mit der Modebranche zusammen? Sie alle sind untrennbar miteinander verbunden. Denn obwohl die Mode »das Lieblingskind des Kapitalismus ist«19, hat die globale Finanzkrise die Branche hart getroffen. Nicht nur in Form der 10 Millionen Menschen in China, die auf einen Schlag keine Arbeit mehr hatten. Die Schockwellen der Krise gelangten bis in die obersten Schichten der Modeindustrie, sodass sogar Designer wie Giorgio Armani in Interviews sagten: »Wir alle spüren die Krise. Sie betrifft uns alle. Die Läden kaufen weniger als letztes Jahr, das kann man nicht einfach so ignorieren.«20
Die Modeindustrie lässt Höhen und Tiefen des Kapitalismus in aller Deutlichkeit erkennen: Profitstreben und Ausbeutung, Macht und monopolisiertes Eigentum und, nicht zuletzt, die dringende Notwendigkeit, das System einer Generalüberholung zu unterziehen.
Trotz Instabilität und Ungerechtigkeit wird der Kapitalismus oft verteidigt. Terry Eagleton hat es bei einem Vortrag in London so formuliert: »Wenn etwas zu nah an unserem Auge ist, kann es nicht mehr objektiv betrachtet werden«.21 Genau wie die Redensart besagt, dass Fische nicht wissen, dass sie in Wasser schwimmen, sprachen bis zur globalen Finanzkrise nur wenige Leute über den Kapitalismus als System.22
Ich beabsichtige hier also nicht in erster Linie, ein allgemeingültiges Buch über Mode zu schreiben, sondern vielmehr, das System sichtbar zu machen, in dem sie sich befindet. Dieses Buch ist eine Analyse der systematischen Auswirkungen des Kapitalismus auf die Modeindustrie und, andersherum gesehen, auch eine Analyse der engen Verbindung des Konzepts Mode und der sozialen Prozesse im Kapitalismus. Auf dem Weg durch die Kapitel des Buches werden wir die Scheinwerfer so eingestellt lassen, dass wir einige grundlegende Charakterzüge des Kapitalismus im Detail beleuchten können.
Die Art und Weise, wie Menschen ihre Umgebung betrachten und was sie dabei sehen, ist immer stark von Ideologien beeinflusst, also von Vorstellungen, Werten und Gefühlen, die reflektieren, wie Menschen ihre Gesellschaft und die Welt um sie herum zu verschiedenen Zeitpunkten wahrnehmen. Nehmen wir als Beispiel das Kleid, das Queen Victoria 1837 bei ihrer Krönungszeremonie trug. Ist es das Symbol des göttlichen Rechts einer Familie, über alle anderen zu herrschen? Steht es für den auf legitime Weise angehäuften Reichtum eines zivilisatorischen Reiches und für eine Hierarchie von Nationen, Ethnien und Klassen, die Ordnung, Handel und eine Blütezeit für die Schneiderkunst mit sich brachte? Oder ist es eine Chiffre für die Zehntausende, die kurze Zeit später in Indien verhungerten, eine Katastrophe, die als Beginn der sogenannten Dritten Welt ausgemacht wurde?23 Repräsentiert es die verarmten Näherinnen, die bei Kerzenlicht arbeiteten und langsam erblindeten? Oder etwa den Frühkapitalismus, der Kunstwerke aus Organza, Perlen und vergoldetem Garn finanzierte, welche nicht demokratisch legitimierte, sondern durch Abstammung vorbestimmte Anführer einer Gesellschaft kleideten?
Die Kontrolle darüber zu haben, welcher dieser Standpunkte gerade der allgemein akzeptierte ist, ist ein mächtiges Werkzeug. Durch die Geschichte hindurch haben kleine Gruppen durch Ideologie ihren Besitz und ihre Macht gesichert, ohne sich täglich mit Waffengewalt verteidigen zu müssen. Die Essenz aller Ideologien ist die Legitimation der Macht.24
Stellen Sie sich kurz vor, wie es ist, durch die Londoner National Gallery zu spazieren. Sie sind umgeben von riesigen Monarchenund Aristokratenporträts. Von dem Ölgemälde über die Goldrahmen bis zu dem Gebäude: Alles strahlt Autorität aus, alles deutet auf das göttliche Recht der Reichen hin, so zu regieren, als wäre es »unvermeidlich« (sagte Brad Pitt in einem Werbespot für Chanel). Die Autorität der Mode funktioniert auf eine sehr ähnliche Weise: Sie ist für den, der sie trägt, wie ein solider Rahmen aus Gold.
Aber auch die Mode selbst benötigt ihren eigenen Goldrahmen. Denn wir sprechen schließlich und trotz allem nur von Stoff, ganz gleich, wie kunstvoll er verarbeitet wurde. Mode ist nicht die Kleidung an sich, sondern das Drumherum. Laufstege, Prestige, Medienhypes und ausgefeilte Geschäfte ergeben zusammen etwas, das nahe zu religiösen Charakter hat.25 Die Ehrfurcht, die man in der National Gallery verspürt, stellt sich auch in Louis-Vuitton-Filialen ein: von den Räumen und Kleidungsstücken geht eine Art selbstgerechte Macht aus. Ideologien stellen sicher, dass diese Machtstrukturen ganz implizit wirken – oder überhaupt nicht wahrgenommen werden.
Mode ist ein Schlüssel für das Verständnis von Ideologien. Sie ist so stark mit Macht und Status verbunden, dass es ausreicht, die Kleidung zu wechseln, um jemandem aus der Unterschicht das Prestige der herrschenden Klasse zu verleihen. Ein Beispiel? Denken Sie an Aschenputtel! Das Einzige, was sich an ihr verändert, ist ihre Kleidung, und plötzlich gestattet man ihr alle Privilegien der herrschenden Klasse. »Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Ritter und jedem anderen Mann – bis auf seine Kleidung«, sagt Robin Hood im Film von Ridley Scott. Im Märchen und im Film hat Kleidung eine ganz klare Rolle: Sie legitimiert Macht und festigt die Vorstellung, dass diejenigen, die gerade ganz oben sind, auch dort bleiben sollten. Aber festigt Mode somit Klassengrenzen? Natürlich. Mode ist ein sehr einfaches Mittel, Macht zu signalisieren und zu reproduzieren.26 Sobald die Massen Zugang zu einem bestimmten Trend haben (oder nahe dran sind), folgt der nächste. So kann man sicher sein, dass man auch weiterhin allen anderen einen Schritt voraus ist.
Als Kunstform spielt Mode auf dem Feld der Ideologie eine komplexe Rolle. Mode kann unterdrücken und befreien, großartig und schrecklich sein, revolutionär und reaktionär. Sie ist von Natur aus widersprüchlich, so wie alles, was Kultur ist, und so wie jede gesellschaftliche Realität.27 Der einzige Grund, warum wir nicht im permanenten Aufstand leben, liegt in der Fähigkeit der dominanten Kultur, die gewaltigen Widersprüche zu glätten und zu verstecken. Dieses Buch thematisiert diese Widersprüche. Wenn Mode Macht widersteht, ist sie selbst eine verlockende Form von Macht.28 Mode ist imstande, den Zeitgeist einzufangen und Gesellschaft und Kunst zusammenzubringen. In seinen Arbeiten beschrieb der marxistische Philosoph Louis Althusser, wie Kunst sich innerhalb von Ideologien bewegt, und gleichzeitig Abstand zu ihnen hält. Er folgerte daraus, dass die Ideologien, die dazu beitragen, dass Kunst überhaupt erst entsteht, durch Kunst wahrgenommen werden können.29 Anders gesagt: Kunst reflektiert nicht nur Ideologie, das Erleben von Kunst – und Mode mit eingeschlossen – ist eine Möglichkeit, die Situation zu erleben, die sie bedingt. Bertolt Brecht beschrieb Kunst als Möglichkeit, das Leben mittels verschiedener Techniken zu spiegeln – wenn sie es überhaupt spiegeln kann. Mode verfremdet, was sie spiegelt. Und was ausgelassen wird, erzählt oft genauso viel wie das, was gesagt wird.30
Wie werde ich vorgehen? Thema des ersten Kapitels ist der monopolisierte Besitz von Modekonzernen, mit einem historischen Abriss zur Entstehung von Massenmode, Exkursen zu den Unsummen, die man mit ihr verdienen kann, sowie zu den Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die traditionellen und neuen Zentren der Mode. Im zweiten Kapitel werde ich den monopolhaften Charakter der Medien beleuchten, die über Mode berichten, und die Auswirkungen, die das auf öffentliche Kulturgüter hat. Dabei kommen auch der Einfluss des Internets auf den Modejournalismus, Modeblogs, die fehlende Kritik in der Branche und das Geheimnis der Trendforschung zur Sprache.
Das dritte Kapitel diskutiert die Vorstellung vom Kunden als König und die Behauptung, dass der Konsument Schuld an den Schattenseiten der Mode trage. Ich werde fragen, welche Rolle Klassenunterschiede, Schulden und Kredite, Wirtschaftsflauten, Werbung, Warenfetischismus und Entfremdung hierbei spielen.
Das vierte Kapitel ist die Gegenperspektive dazu – ein Blick auf die Menschen, die Mode machen. Hier werden die verschiedenen Formen untersucht, wie derzeit Mode produziert wird, wie auch die Auswirkungen des Welttextilabkommens und von Wirtschaftskrisen. Ich werde auf historische und aktuelle gewerkschaftliche Kämpfe des Sektors eingehen und Argumentationen für Sweatshops auseinandernehmen, indem ich versuche zu zeigen, wer wirklich von der Ausbeutung profitiert.
Dass die Modeindustrie Menschen schlecht behandelt, hängt unumstößlich damit zusammen, dass sie auch den Planeten schlecht behandelt. Das fünfte Kapitel dreht sich deshalb um die Umwelt. Anhand von Beispielen – Wasserknappheit, Lederproduktion und Chemiekatastrophen – werde ich darstellen, warum im Kapitalismus Umweltzerstörung betrieben wird, und ich werde auch die Defizite der vermeintlichen Lösungen – Konsumveränderungen, Unternehmensverantwortung (CSR) und Technologie – unter die Lupe nehmen.
Das sechste Kapitel analysiert die Verbindungen zwischen der Modeindustrie und Körperbildern, Essstörungen und Frauenrechten. Ich werde die Auswirkungen von Mode auf die Frauen, die als Models arbeiten, und auf die breite Öffentlichkeit untersuchen und den Fragen nachgehen, wieso das verbreitete Schönheitsideal so eingeschränkt ist und wie die digitale Bearbeitung der Realität dazu beiträgt, diese unwirklich zu machen.
Das siebte Kapitel sucht nach einer Antwort auf die Frage, ob Mode rassistisch ist. Zuerst wird der Gedanke untersucht, dass nur an wenigen Orten der Welt Mode gemacht wird, während alle anderen nur »Bekleidung« herstellen. Es wird der Blick der Modeindustrie analysiert, kulturelle Aneignungen werden kritisiert und es wird gefragt, wieso es diese Art von Rassismus und seine besonderen Ausprägungen insbesondere in dieser Zeit von Neoliberalismus und Finanzkrisen gibt.
Das achte bis zehnte Kapitel widme ich den Versuchen, das System zu verändern. Das achte Kapitel handelt vom Widerstand gegen die Modeindustrie. Was passiert, wenn Menschen ihre Kleidung und ihr Erscheinungsbild nutzen, um Mode die Stirn zu bieten? Kann Mode ins Gegenteil verkehrt oder abgelehnt werden? Zählt es schon als Rebellion, sich anders zu kleiden? Ist es möglich, eine Industrie zu schockieren, die es selbst liebt, zu schockieren? Ist es möglich, Vereinnahmung zu vermeiden? Das neunte Kapitel wirft sowohl einen Blick auf geschichtliche als auch auf aktuelle Versuche, die Modeindustrie umzugestalten. Warum ist die Antwort von Büchern über grüne Mode so oft moralisches Kalkül? Können Unternehmen überhaupt grün sein? Sind Gewerkschaften oder Gesetze die Lösung? Gibt es so etwas wie einen gerechten Kapitalismus? Das zehnte Kapitel schließlich analysiert, wie wir uns in einer idealen Gesellschaft kleiden könnten. Wer würde Kleidung designen und produzieren? Wie würde die Modewelt ohne soziale Zuschreibungen von Geschlecht, ohne Konstrukte wie »Rasse« oder Klasse aussehen? Würde sie überhaupt existieren?
Ich stimme dem Aktivisten und Ökonomen Michael Albert zu, der schrieb, dass »unsere negativen und kritischen Nachrichten nicht Wut und Aktivismus erzeugen, sondern sich als Beweise auftürmen, dass der Feind außer Reichweite ist«31. Obwohl es entscheidend ist, die Machenschaften der Modeindustrie zu enthüllen, hoffe ich, dass ich nicht in die Falle getappt bin, die Michael Albert meinte. Somit enden die drei letzten Kapitel mit Verbesserungsvorschlägen für die Zukunft. Ich möchte hier wieder betonen, dass die Modeindustrie als Teil des Kapitalismus gesehen werden muss. Der Kapitalismus ist kein Naturzustand, sondern ein wirtschaftliches System mit einer Geschichte: Was entsteht, das kann auch enden, um es noch einmal mit den Worten Terry Eagletons zu sagen. Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beitragen kann, den Kapitalismus wieder in den Fokus zu rücken, anstatt so nah dran zu sein, dass man ihn gar nicht mehr sieht. Mein Ziel ist, mit diesem Buch einen Faden aus dem kapitalistischen System herauszulösen, um am Beispiel der Mode zu zeigen, was hinter der Kleidung steckt, die wir tagtäglich tragen. Hoffentlich werdet ihr, als Leserinnen oder Leser, am Ende des Buches weiter an diesem Faden ziehen wollen, bis sich dieses System irgendwann auflöst und wir daraus etwas Neues und Schönes entwerfen können.
Linkenholt ist ein beschauliches Dorf in der südenglischen Grafschaft Hampshire. Gänseblümchen wachsen am Wegrand, auf den gepflegten Rasenflächen stolzieren Truthähne herum und der winzige Dorfladen wird von einem Zimmer im Erdgeschoss eines Wohnhauses heraus betrieben. Der Bus kommt nur auf Bestellung, der Schmied arbeitet manchmal tagelang, ohne einen anderen Menschen zu Gesicht zu bekommen, und man erzählt sich immer noch die Geschichte der zwei Schwestern, die eines Abends mit ihren Fahrrädern den Hügel hinunter zu einem Tanz fuhren und dort zwei Brüder trafen, die später ihre Ehemänner wurden. Die beiden Damen sind inzwischen um die achtzig Jahre alt.
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Linkenholt und die etwa 800 Hektar Land in der Umgebung des Dorfes wurden 2009 zum Verkauf freigegeben. Es war ein außergewöhnliches Ereignis, das international Aufsehen erregte – komplette englische Dörfer sind schließlich nicht oft auf dem Markt zu haben. Inmitten der Finanzkrise belief sich die Kaufsumme auf etwa 36 Millionen Euro, was deutlich unter dem tatsächlichen Wert liegt. Das Schicksal der Region und ihrer Bewohner gelangte durch dieses Geschäft in die Hände eines einzigen Mannes: Stefan Persson. Sie lernten ihn schon einen Tag nach Unterzeichnung des Kaufvertrags kennen, als der neue »Gutsherr« ein Spanferkel ausgab, jedermann die Hand schüttelte und, alles in allem, einen guten Eindruck machte. Seit diesem Tag hat man ihn allerdings nie wieder gesehen. Weder lebt er in der Nähe, noch kommt er vorbei, um auf seinen Ländereien Fasane zu schießen. Die nächstgelegene Verbindung zu den Reichtümern dieser ominösen Gestalt liegt in der kleinen Stadt Newbury, die etwa 17 Kilometer entfernt ist. Es handelt sich um ein großes Geschäft mit Glasfront und rotem Logo, wo man Leggins, günstige Jeans, Kapuzenpullover, aber auch paillettenbesetzte Kleider kaufen kann. Es ist immer voll, genauso wie die anderen 2500 Filialen der Modekette, die inzwischen den ganzen Planeten umspannt.
Stefan Persson ist mit dem Unternehmen, das er von seinem Vater geerbt hat, zum achtreichsten Menschen der Welt geworden. Die Rede ist von H&M.
Auf der Website des Wirtschaftsmagazins Forbes gibt es eine Rangliste von »Milliardären in Echtzeit«. Sie aktualisiert sich alle fünf Minuten und berechnet ausgehend vom aktuellen Börsenkurs, wer von den Milliardären auf dieser Erde gerade noch reicher geworden ist. Es macht relativ schnell süchtig, sie immer wieder aufzurufen und als ich beim Schreiben das letzte Mal nachschaute, belief sich Perssons Vermögen auf 23 Milliarden Dollar. Keiner, mit dem ich in Linkenholt gesprochen habe, kauft bei H&M ein. Aber es war ihnen allen klar, dass sie ihre Miete an einen Menschen überweisen, der zu den reichsten der Welt gehört. Linkenholt habe er wohl mit dem Geld gekauft, das er gerade in seiner Hosentasche dabeigehabt hatte, sagten sie und lachten. Trockener Humor heißt nicht, dass irgendjemand schlecht von Persson gesprochen hätte, ganz im Gegenteil. Der Konsens im Dorf war eher Dankbarkeit darüber, dass er das Leben im Dorf so beließ, wie es immer gewesen war, jedenfalls bisher.
Es ist dennoch etwas paradox, dass Persson dieses Dorf besitzt. Also, dass ein Mann, der sich mit Fast-Fashion eine goldene Nase verdient hat, gleichzeitig hilft, romantisches Dorfleben in England zu bewahren. Die Fabriken seines Unternehmens stehen in Ländern von Tunesien bis China, und die Kleider, die dort gefertigt werden, sind Massenprodukte. Sie verschmutzen die Umwelt, verschwenden kostbares Trinkwasser und landwirtschaftliche Ressourcen, und durch die Produktionsbedingungen kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen.1
Auf den ersten Blick besteht keinerlei Zusammenhang zwischen diesen weltweiten Geschehnissen und dem friedlichen Linkenholt, aber der Eindruck täuscht. Sie alle sind Teil der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die ermöglicht, dass sich enorme Vermögen in den Händen einer einzelnen Person konzentrieren. Derartige Konzentrationen von Reichtum und Macht ziehen sich wie ein roter Faden durch die Welt der Mode. Die Gewinne aus dem Geschäft mit Kreativität und Schönheit fließen wieder und wieder in die Taschen milliardenschwerer Aktionäre. Aber wie um alles in der Welt konnten es eigentlich so viele, die ihr Geld mit T-Shirts und Haarspangen verdienen, unter die Top 20 der Forbes-Milliardäre schaffen?
An sich ist massengefertigte Mode ein neues Phänomen, denn Kleider waren lange ausschließlich ein Zeitvertreib für Reiche. Der Rest der Gesellschaft beschränkte sich jahrhundertelang gezwungenermaßen auf das absolute Minimum. Friedrich Engels, Mitverfasser des Kommunistischen Manifests, schrieb 1844 Folgendes über das Elend, das er in den britischen Armenvierteln erlebt hatte: »Bei einer sehr, sehr großen Anzahl [...] sind die Kleider wahre Lumpen, die oft gar nicht mehr flickfähig sind oder bei denen man vor lauter Flicken die ursprüngliche Farbe gar nicht mehr erkennt. [...] Sie tragen wie Thomas Carlyle sagt, ›einen Anzug von Fetzen‹.«2
Mit der Industriellen Revolution kam die maschinelle Verarbeitung von Rohstoffen, darunter auch Baumwolle. Kleidung wurde trotzdem meist noch in privaten Werkstätten produziert, wo die Löhne sehr niedrig und die Arbeitsbedingungen unsicher und unhygienisch waren. Unfälle waren an der Tagesordnung und endeten oft tödlich. Um 1900 beschäftigte die Textilindustrie in Großbritannien 1,25 Millionen Menschen. Damit war sie der zweitgrößte Arbeitgeber für Frauen und der fünftgrößte für Männer.3
Einer der ersten Pioniere, die die Textilproduktion aus privaten Werkstätten in große, zu diesem Zweck gebaute Fabriken verlagerten, war der nicht gerade mittellose jüdische Geschäftsmann Meshe David Osinsky, der 1900 vor dem Antisemitismus im russischen Kaiserreich nach Leeds geflohen war. Seine Karriere begann er als Hausierer, der Schnürsenkel verkaufte. Schon kurze Zeit später eröffnete er jedoch unter dem Namen Montague Burton seinen eigenen Laden, wo man für die sehr erschwingliche Summe von 11 Shilling und 9 Pence einen Anzug erwerben konnte. 1909 war Burton stolzer Besitzer von vier Geschäften und einer Fabrik, den Progress Mills in Leeds, und als fünf Jahre später der Erste Weltkrieg ausbrach, waren es bereits vierzehn Geschäfte geworden. Die Hersteller von Männerbekleidung hatten sich damals nach und nach auf die Massenproduktion einiger weniger Modelle und Farben spezialisiert, die allmählich zur Uniform des arbeitenden Mannes wurden.4 Zu dieser Entwicklung kam eine Nachfrage nach tatsächlichen Uniformen, als 5,5 Millionen Männer an die Front berufen wurden. Auch Frauen wurden für den Kriegseinsatz uniformiert. Bei der Sektion für Frauen des britischen Landwirtschafts- und Fischereirates konnten Arbeiterinnen aus der Landwirtschaft günstige Kleidung bekommen, zum Beispiel Latzhosen. 1918 bekamen die vier Millionen Kriegsveteranen bei ihrer Entlassung aus den britischen Streitkräften wahlweise einen Anzug (den sogenannten »demob. suit«) oder eine Bekleidungsbeihilfe. All dies führte dazu, dass Burtons Unternehmen um 1925 die größte Textilfabrik Europas besaß. Was Frauen betraf, so konnten sich in den 1920er-Jahren berufstätige Frauen, wenn sie ein wenig sparten, Kleider aus den Warenhäusern leisten, die meisten nähten jedoch weiterhin selbst. Besonders beliebt waren von Paris inspirierte Schnittmuster aus Modejournalen, wie beispielsweise dem seinerzeit den Ton angebenden Magazin Mabs Fashion, die mit günstigen Stoffen umgesetzt werden konnten.
Mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre gab es auf einmal zwei Millionen Arbeitslose. In Großbritannien schlugen sich die Armen ohne Mäntel und mit löchrigen Schuhen durch. Es war normal, nur eine Garnitur Kleider zu besitzen. »Wie erstaunlich, dass im Zeitalter der Elektrizität, des Chroms, der Transatlantikflüge und der Radiostationen die Armen überall auf der Welt weiterhin so leben wie Bauern im 18. Jahrhundert«, schrieb dazu 1933 der Journalist H. V. Morton.5 Gleichzeitig befand sich Hollywood in seinem einflussreichen Goldenen Zeitalter. »Nicht wenige Fabrikarbeiterinnen tun so, als wären sie Schauspielerinnen«, mokierte sich beispielsweise J. B. Priestley, Schriftsteller und damaliger Medienstar, über die von Hollywood inspirierten Moden unter den etwas wohlhabenderen Städtern.6
Um 1939 besaß Montague Burton 595 Geschäfte, fünf davon lagen sogar auf der Londoner Einkaufsmeile Oxford Street. Die Nachfrage nach Uniformen stieg im Zweiten Weltkrieg noch weiter an, doch gleichzeitig war der Krieg Gift für das Geschäft: Es gab Rationierungen, Fabrikarbeiter wurden an die Front geschickt und der Gesamtkonsum von Kleidung verringerte sich.
Bereits 1917 hatten sich verschlechternde Lebensstandards und die Kunde von der russischen Oktoberrevolution für eine Welle des Aufruhrs und der Unruhen gesorgt, und der Zweite Weltkrieg sorgte erneut für Angst vor einem Aufstand. Als Großbritanniens Nachbarländer nach und nach von der Wehrmacht besetzt wurden, mussten zwangsläufig gesellschaftspolitische Zugeständnisse gemacht werden, um die Briten zum Kampf für ihr Land zu gewinnen. »Wenn von uns keine Reformen kommen, kommt von ihnen die Revolution«, so formulierte es damals Quintin Hogg von den Konservativen. Eine solche Maßnahme war das Regierungsprogramm namens »Utility«, das qualitativ hochwertige Kleidung für alle erschwinglich machte. Die von Neville Chamberlain geführte Regierung der Jahre 1937 bis 1940 hoffte, »Utility« würde seinen Teil dazu beitragen, dass die Stimmung nicht kippte. Chamberlain, eigentlich ein Verfechter des freien Marktes, ordnete somit Rohstoffkontrollen an. Bis zum Mai 1940 war die Regierung alleiniger Importeur von 90 Prozent aller Rohstoffe geworden, darunter auch Wolle.
Die durch »Utility« eingeführten Maßnahmen setzten Mindeststandards für die Produktion, legten aber auch Obergrenzen für den Materialverbrauch und Maximalwerte für Rocklängen, Ärmelweiten, Hosenaufschläge und Gummibänder fest.7 Mehrmals betonte das britische Handelsministerium, es beabsichtige nicht, ein »Modediktator« zu sein, sondern trage vielmehr für die bestmögliche Nutzung der vorhandenen Ressourcen Sorge. Die britische Vogue segnete »Utility« ab und schrieb, es sei ein Weg, sich »diesen Zeiten gemäß« zu kleiden.8
1945 endete der Krieg, aber die schweren Zeiten und die Rationierungen zogen sich über das Kriegsende hinaus. Die britische Textilindustrie, und mit ihr auch Montague Burton, erhielt noch über das Kriegsende hinaus Subventionen durch das »Utility«-Programm. 1952 wurde die zentrale Planung der Textilproduktion abgeschafft, Preis- und Qualitätskontrollen hingegen nicht. Journalisten schrieben über »Utility«, die britischen Arbeiter sähen gut gekleidet aus. Einer von ihnen meinte, Mode sei »zum ersten Mal in der Geschichte« etwas, das »vom Proletariat und nicht von den Privilegierten« gemacht wurde.9
Große Veränderungen waren im Gange. Traditionell war Paris das Modezentrum der Welt gewesen. Dort wurden Trends kreiert und nach und nach in andere Länder geschickt. Im Krieg verlor die französische Hauptstadt kurzzeitig diese Führungsposition in Sachen Schneiderkunst. Der Plan der Nationalsozialisten, die Pariser Modeindustrie nach Berlin oder Wien zu holen, ging nicht auf; stattdessen zerstörten sie nahezu den ganzen Prêt-à-porter-Sektor, der zu einem großen Teil jüdisch gewesen war. Für die Hersteller in New York waren die Einbrüche in den französischen Exporten die Chance, sich als alternatives Zentrum der Modeschöpfung zu präsentieren. Denn für einen Großteil des Sektors war die kriegsbedingte Flaute in Design und Konsum desaströs gewesen. Wie sollte man Geld mit Moden verdienen, die nicht so schnell aus der Mode kommen? Wie als Reicher seinen Status zur Schau stellen, wenn Vorstellungen von Gleichheit dazu ansetzten, Exklusivität und Luxus über Bord zu fegen?
Über zwei Jahrhunderte zuvor hatte Jean-Baptiste Colbert, ein Berater des »Sonnenkönigs« Louis XIV. die wirtschaftliche Bedeutung der Pariser Modeindustrie folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Für Paris ist Mode in etwa das Gleiche wie die Goldminen Perus für Spanien.« Fest dazu entschlossen, die eigene Goldmine am Laufen zu halten, organisierte 1945 der Pariser Modeverband Chambre Syndicale de la Couture Parisienne eine Tournee der neusten Pariser Modekreationen mit dem Titel »Le Théâtre de la Mode« durch die Großstädte Kopenhagen, Barcelona, London und New York. Um in den kriegsverwüsteten Städten keinen Anstoß zu erregen, wurden die luxuriösen Designs als eine Form des Widerstands verkauft. Herrliche Kleidungsstücke, genäht von »halb erfrorenen Händen in einer ausgehungerten Stadt«.10
Ein Mann verkörperte wie kein zweiter die Pariser Anstrengungen, sich die Position ganz vorn an der Spitze zurückzuerobern: Christian Dior. Er hatte während des Krieges Kleider für die Frauen von Nazioffizieren und französischen Kollaborateuren entworfen11 und setzte sich nach Kriegsende dafür ein, dass feste Hierarchien wieder ihren Platz in der Mode fanden. Im Februar 1947 präsentierte er eine Kollektion, die von den Medien der »New Look« getauft wurde. Dior selbst beschrieb ihn so: »Wir kamen aus einer Zeit der Kriege und Uniformen, einer Zeit der weiblichen Soldaten, die wie Boxer gebaut waren. Ich entwarf weibliche Blumen, zarte Schultern, wohlgeformte Dekolletés, Taillen, so dünn wie Lianen, und Röcke, so ausladend wie Blüten.«12 Was der New Look im Prinzip tat, war Bewegungsfreiheit und Körperkraft durch eine ultrakonservative Vision von Weiblichkeit zu ersetzen, die, um das Ganze auf die Spitze zu treiben, auch noch durch Korsetts ergänzt wurde. Der Look passte zur politischen Agenda, Frauen zurück zu Heim und Herd zu schicken. Die große Betonung der Hüften konnte zudem als modischer Hinweis darauf gelesen werden, dass Frauen nach der vorherrschenden Meinung dazu da waren, Kinder zu gebären. Als nach Kriegsende 1,25 Millionen Frauen zeitgleich aus der Industriearbeit ausschieden, war das eine eindeutige Botschaft: Frauen hatten keine Arbeitskleidung mehr zu tragen.13
Dutzende Bücher und Artikel sind darüber geschrieben worden, dass Frauen damals genau so etwas wollten und dass sie es doch letzten Endes selbst gewesen seien, die sich auf der ganzen Welt für und nicht gegen den New Look entschieden.14 Dies zu behaupten, heißt aber auch, das politische Klima jener Zeit und die Macht des Systems zu verkennen. Wie es in der Modebranche üblich ist, bekam der Stil große Rückendeckung durch ein ausgefeiltes Mediennetzwerk, unter anderem durch Magazine wie Vogue und Harper’s Bazaar, Mademoiselle, Seventeen und Women’s Wear Daily. Es wurde eine spezielle Werbung in Zeitungen geschaltet, Modehäuser verschickten kostenlose Musteroutfits an Journalisten, die einflussreiche Frauen in diesen Kleidern fotografieren ließen, Kaufhäuser und Geschäfte bewarben den Stil und ermutigten ihre Kundinnen dazu, sich noch einmal komplett neu einzukleiden – auch im Nachkriegsdeutschland.15
Die finanzielle Rückendeckung für den New Look bekam Dior von Marcel Boussac, dem damals reichsten und einflussreichsten Unternehmer Frankreichs. Bekannt als »König der Baumwolle«, sponserte er den Designer mit bis dato beispiellosen 60 Millionen Francs. Aber Vorsicht. Es war kein Zufall, dass für einen Rock im Stil des New Look um die 14 Meter Stoff benötigt wurden – eine riesige Menge, verglichen mit den Ressourcen sparenden Modellen der frühen 1940er-Jahre. Boussac war überzeugt, dass die materialreichen Röcke des New Look nicht nur die Pariser Modeindustrie, sondern auch den Textilhandel beleben würden.16
Nach einem Jahrzehnt von Tod und Entbehrungen war der Wunsch, nicht mehr wie Aschenputtel, sondern wie Cinderella auszusehen, wirklich real. Dennoch war der New Look unter denen, die kein Essen, keine Arbeit und keine Wohnung hatten, nicht besonders beliebt. »40 000 Francs für ein Kleid und keine Milch für unsere Kinder!« war ein Slogan, der aufkam, als Diors Kreationen in den französischen Geschäften reüssierten.17 Die Kritik richtete sich nicht nur gegen die Unmengen an luxuriösen und teuren Stoffen, die die Röcke verschlangen, sondern auch gegen die auffälligen, prunkvollen Accessoires, die vor Augen führten, wer sich das leisten konnte und wer eben nicht. Während man in Nordamerika Proteste gegen den New Look organisierte, verlangten Menschen in Großbritannien sogar von der Labourregierung, ein Gesetz gegen die langen und verschwenderischen Röcke zu erlassen. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich versuchen sollte, mir richtig viele Kleidercoupons zu erschnorren und so an Geld zu kommen, oder ob ich mich einfach damit abfinden sollte, schäbig auszusehen«, so sagte es 1947 eine Frau aus der Arbeiterklasse.18
In Großbritannien existierten der New Look und die unter »Utility« produzierte Kleidung mehrere Jahre parallel nebeneinander, wobei der Pariser Stil wegen andauernder Rationierungen Einschränkungen in Kauf nehmen musste. Nach Kriegsende setzten sich Einzelhändler und Hersteller für die Abschaffung des Regierungsprogramms ein, während Gewerkschaften für seine Weiterführung kämpften. Die Meinungsverschiedenheiten darüber, ob es einen allgemeinen Anspruch auf günstige und gute Kleidung geben sollte, machten deutlich, dass sich das Bündnis, das es in den Kriegsjahren zwischen Regierung, Wirtschaft und Arbeiterschaft gegeben hatte, aufzulösen begann. Die Gesellschaft war wieder dabei, sich zu polarisieren. Salopp gesagt, stand die Frage Utility vs. New Look damals auch für einen politischen Scheideweg: Zu wessen Vorteil sollte eine Gesellschaft funktionieren?
George Orwell hatte 1937 in Der Weg nach Wigan Pier beschrieben, wie die Massenproduktion von Kleidern dazu beitrug, oberflächliche Klassenunterschiede zu verwischen.19