Das antikapitalistische Buch der Mode - Tansy Hoskins - E-Book

Das antikapitalistische Buch der Mode E-Book

Tansy Hoskins

4,8

Beschreibung

Mode macht Spaß. Mode ist politisch. Mode ist das Lieblingskind des Kapitalismus. Tansy E. Hoskins lüftet den Schleier einer mit edlen Modeschauen und aufwändigen Imagekampagnen inszenierten Scheinwelt und zeigt die Realität der Industrie dahinter. Von den Laufstegen in Paris zu den Sweatshops in Bangladesch erzählt sie die Entstehung des Phänomens Massenmode, von Körpern und Kapitalismus, Werbung und Widerstand. Junge Leute, die über Nacht vor Nike-Shops Schlange stehen, um das neueste Paar Sneakers zu ergattern. Frauen, die hungern für size zero. Und das schwarze Loch des Wollens, das nie verschwindet, egal, wie viel man shoppen geht. Erfrischend und nie belehrend kritisiert Tansy Hoskins, was Mode mit uns macht. Schritt für Schritt entwirrt sie die Fäden, aus denen das Business gestrickt ist, und zeigt Wege in eine andere Richtung, für faire Produktion, Umweltschutz und die Emanzipation von gefährlichen Schönheitsidealen. Hoskins will die Mode revolutionieren, gerade weil sie Mode liebt. Influencer, Onlineshopping, Greenwashing – diese grundlegend überarbeitete, aktualisierte und um zwei Drittel erweiterte Neuausgabe greift sämtliche Entwicklungen in der Modeindustrie der letzten Jahre auf.

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Tansy E. Hoskins

Das antikapitalistische Buch der Mode

Vorwort von Andreja Pejić

Aus dem Englischen von Marlene Fleißig und Magdalena Kotzurek

Rotpunktverlag

Der Verlag bedankt sich bei folgenden Institutionen für die Unterstützung dieses Buchs:

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Anti-Capitalist Book of Fashion und basiert auf dem Werk Stitched Up. The Anti-Capitalist Book of Fashion von 2014, beide bei Pluto Press, London, www.plutobooks.com.

Die erste Ausgabe der deutschen Fassung, erschienen 2016 beim Rotpunktverlag, wurde von Magdalena Kotzurek übersetzt. Die ursprüngliche Übersetzung wurde mit einigen Angleichungen in die vorliegende, stark erweiterte deutsche Neuausgabe übernommen.

© 2014, 2022 Tansy E. Hoskins

© 2016, 2023 Rotpunktverlag, Zürich, für die deutschsprachigen Ausgaben

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Andrey Kiselev, 123rf.com

Lektorat: Mirella Mahlstein

Korrektorat: Jürg Fischer

eISBN 978-3-03973-011-7

Überarbeitete und stark erweiterte Neuausgabe 2023

Für meine Eltern, Kay und Gareth, in tiefer Liebe und Zuneigung

Und in liebevollem Gedenken an Neil Faulkner – Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Inhalt

Vorwort von Andreja Pejić

Dank

Einleitung

Geschichten aus Sabhar

Ideologie

Wozu Mode?

Mode besitzen 1

Die neue Mrs. Jones

Den Massenmarkt besitzen

Steuergerechtigkeit

Haute Couture besitzen

Innenansicht aus der Luxuswelt

Designland China

Modemedien 2

Modemagazine

Eine komplementäre Verbindung

Verärgere den Kaiser nicht

Blogg dich an die Spitze

Der Influencer-Markt

Kommerzialisierung der Persönlichkeit

Verhaltensmodifikations-Imperien

Überwachungskapitalismus und die Modemedien

Eine neue Abhängigkeit

Keine Kunst für Algorithmen

Kommunikativer Kapitalismus

Gerechtigkeit für Jeyasre

Die Logik des Kaufens 3

Begehren

Die Zwei-Klassen-Mode

Macht Stil uns erst zu Menschen?

Ist der Kunde König?

Wertschöpfungskette

Ich shoppe, also bin ich

Denkst du, dass ich böse bin?

Shoppe jetzt, bezahle (und leide) später

Gespiegelte Schulden

Fetische, Wunderheiler und Entfremdung

Mode nähen 4

Wie es zur Katastrophe von Rana Plaza kommen konnte

Das Bangladesch-Abkommen

Katastrophales Versagen

Wege der Gewalt

Gewalt à la mode

Gefängnis

Autoritarismus

Heimarbeit

Die Entwicklung der Modeindustrie

Aufstände

Epilog eines Brandes

Unterauftragsvergabe an den Globalen Süden

Ein doppeltes Hoch auf die Sweatshops?

Eine bittere Ernte 5

»Wir stecken ganz schön in der Scheiße«

Kapitalismus tut weh

Berichte aus erster Hand

Entfremdung von der Natur

Freiheit ungleich Shopping

Mode und Körper 6

Körper

Digitale Schönheit

Modeln – ein Sechser im Lotto?

Schöne Körper?

Eine schrumpfende Branche

Warum nur Size Zero?

Ein moderner Zustand

Vom Regen in die Traufe

Mehr als nur ein Trend

Sexualisierte Gewalt

Ableismus

Fatshionista

Ist Mode rassistisch? 7

Black Lives Matter

Ein Sperrgebiet

Karikaturen

Die britische Vogue

Absicht?

»Ain’t I a Beauty Queen?«

Hinter den Kulissen

Inspiration oder Aneignung

Gegen den Ausverkauf von Kulturgütern

Machtverschiebungen

»Antisemitisch, homophob und lächerlich versnobt«

Mode widerstehen 8

Protestmode

Rebellion aus gutem Grund

Echter Widerstand?

Verweigerung und Umkehrung

Punk

Das Women’s Liberation Movement

Der Hidschab

Umkehrung

Frauen in Hosen

Meine eigene Vision von Schönheit

Der Wert des Schocks

Eine Kufija – oder nur ein Geschirrtuch von Topshop?

Vereinnahmung

Mode widerstehen

Mode reformieren 9

Frühe Aktivistinnen

Moralisches Kalkül

Nicht nur den Schrank, sondern die Welt aufräumen

Zurücklehnen und warten?

Regulierung?

Das (RED)-Manifest

Sweatshop Warriors

Gibt es einen gerechten Kapitalismus?

Mode revolutionieren 10

Revolution

Die riesige Lagerhalle des Potenzials: Demokratisieren wir Design!

Revolutionäre Mode

Design und Produktion verbinden

Gesundschrumpfen und demokratisieren

Entkolonialisieren

Antikapitalismus, aber bitte modisch

Wie, sollen wir etwa alle Mao-Anzüge tragen?

Gender, race und Klasse

Unzählige Möglichkeiten

Anmerkungen

Bibliografie

Vorwort

Fast hundert Jahre sind sie alt, die kraftvollen Worte des kommunistischen Revolutionärs Leo Trotzki zum Thema Kunst und seine hellsichtige Zukunftsvision:

[Die Kunst wird] natürlich allgemeiner, reifer und bewusster sowie zur höchsten Form des sich vervollkommnenden Lebensaufbaus auf allen Gebieten […] und [ist] nicht nur ein ›schönes‹ Anhängsel am Rande. Alle Sphären des Lebens: die Bodenbearbeitung, die Planung menschlicher Siedlungen, der Bau von Theatern, die Methoden der gesellschaftlichen Kindererziehung, die Lösung wissenschaftlicher Probleme, die Schaffung eines neuen Stils werden alle und jeden einzelnen zutiefst erfassen. Die Menschen werden sich in ›Parteien‹ teilen: in Fragen über einen neuen gigantischen Kanal, über die Verteilung von Oasen in der Sahara […] Diese Gruppen werden von keinerlei Klassen- oder Kasteneigennutz vergiftet sein. Alle werden in gleichem Maße an Errungenschaften der Gesamtheit interessiert sein. Der Kampf wird stets einen rein ideellen Charakter tragen. Er wird nichts von Profitgier, Gemeinheit, Verrat, Bestechlichkeit und von all dem an sich haben, was das Wesen der ›Konkurrenz‹ in der Klassengesellschaft ausmacht. Aber dadurch wird der Kampf nicht minder packend, dramatisch und leidenschaftlich sein. […] Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.1

Das war Trotzkis Vision für die sowjetische Gesellschaft aus dem Jahr 1924. Wie wir wissen, hat sich diese Vorstellung nicht bewahrheitet. Die Russische Revolution fand global keine Nachahmung, Stalins Doktrin des »Sozialismus in einem Land« setzte sich durch, und der Staat verkam zu einer bürokratischen Diktatur. Der Arbeiterklasse wurde die Macht entzogen, es folgte ein politischer Genozid und die meisten russischen Revolutionsführer wurden schließlich im Zuge der »Großen Säuberung« hingerichtet. Trotzki selbst wurde aus Russland verbannt und 1940 in Mexiko von einem der vielen Schergen Stalins getötet.

Zeitgleich war der Nationalsozialismus in Deutschland erfolgreich auf dem Vormarsch, und ein weiterer Weltkrieg brachte zahllose Tote, unermessliche Zerstörung und einen noch grauenhafteren Genozid. Sei es in Afrika, Asien oder Südamerika – überall scheiterten Bewegungen, die für eine bessere Welt kämpften. 1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst, was einen vollkommenen und endgültigen Verrat an den noch übrigen Errungenschaften der Russischen Revolution bedeutete. Der Kapitalismus hat nicht unbedingt bis heute als am weitesten verbreitete Gesellschaftsordnung überlebt, weil es an revolutionärem Willen oder revolutionären Bewegungen fehlen würde, sondern weil es keine wirklich der Idee verpflichtete revolutionäre Führung gibt. Wir sind noch nicht am Ende der Geschichte angelangt, befinden uns nicht in einer perfekten, hypermodernen New-Age-Cyberwelt oder einer schöngefärbten alternativen Realität, erleben nicht das spirituelle Erwachen eines Dritte-Welle-Feminismus. Wir haben alle Tragödien des vergangenen Jahrhunderts in das unsrige mitgenommen, von einem Weltkrieg bisher einmal abgesehen, aber auch der ist nicht auszuschließen. Wir stehen kurz vor der ökologischen Katastrophe. Auf unserem Planeten verfügen acht Milliardäre über mehr Geld als die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Noch immer gibt es Armut, Hunger, Ignoranz, Depression, Krankheit und Epidemien. Zwar haben wir einen unermesslichen technologischen Wandel erlebt, in vielerlei Hinsicht allerdings auch einen großen kulturellen und intellektuellen Verfall. Meine Generation ist aufgewachsen umgeben von sozialem Rückschritt, nicht von sozialem Fortschritt.

Man kann anführen, dass es in den Führungsriegen mittlerweile diverser zugeht, dass Minderheiten in den oberen Rängen stärker repräsentiert sind, aber das ist kein wirklicher Fortschritt. Heutzutage haben wir die Tendenz, individuellen beruflichen Aufstieg mit großen sozialen Errungenschaften zu verwechseln. Wenn ein paar Menschen im Lotto gewinnen, selbst wenn es hundert oder tausend mit den verschiedensten Hintergründen, Geschlechtern und Hautfarben sind, kommt das noch keiner realen, spürbaren Verbesserung des Lebensstandards von Millionen und Abermillionen Menschen gleich. Radikale Wohlstandsverteilung könnte trans Menschen das Leben retten, wohingegen eine bloße Veränderung der Sprechweise, der Einstellung oder bei der Besetzung von Film- und Fernsehrollen – oft durch Identitätspolitik mittels Einschüchterung und Angriffen auf die künstlerische Freiheit herbeigeführt – nicht ausreicht.

Und trotzdem, wenn ich Trotzkis Worte lese, erfüllen sie mich mit großer Hoffnung für die Kunst, die Mode und unsere gemeinsame Zukunft. Wir sollten auch nicht außer Acht lassen, dass die Russische Revolution, wenngleich sie nicht die Gesellschaft hervorbrachte, die wir uns wünschen würden, bemerkenswerte Prinzipien sowie Entwicklungen in der Wirtschaftsplanung, Wissenschaft, Kunst und Kultur hervorbrachte.

Bei Dates sind die Männer oft überrascht von meiner politischen Bildung; dasselbe Erstaunen nehme ich auch bei Presseleuten oder im Freundeskreis wahr. Für die meisten Menschen scheinen Modeln und Marxismus zwei vollkommen unterschiedliche Welten zu sein, die sich auch niemals vermischen sollten. Tansy Hoskins leistet bei der Anwendung des Marxismus auf die Mode gute Arbeit. Trotzki wandte ihn auf die Kunst seiner Zeit an. Es mag stimmen, dass sich die Mode ein sehr elitäres, kaltherziges, überpoliertes und unnötig zickiges Image aufgebaut hat, sie vielleicht sogar, wie Tansy schreibt, »das Lieblingskind des Kapitalismus« und eine skrupellose, profitgierige Industrie ist – dennoch bleibt sie eine Kunstform. Schließlich erschaffen Designer:innen etwas. Für mich lässt sich Mode am ehesten mit Architektur vergleichen, weil sich auch da die Gefühle der Technik, Konstruktion und äußeren Ästhetik unterordnen, während sie in der Musik, im Theater, im Film und in der Malerei im Vordergrund stehen. Nichtsdestotrotz können Gefühle, Empathie, ein Verständnis für die jeweilige Zeit und die Geschichte sowie die Liebe für die ganze Menschheit jede Kunstform und jede Person nur besser machen. Im Bauhaus hat man das verstanden. Heute geht es bei der Mode zu sehr um das Kleidungsstück und nicht genug um den Menschen, der es trägt. Der kulturelle Niedergang und das vorherrschende kapitalistische Denken führen dazu, dass es in den meisten kreativen Bereichen an Achtung gegenüber dem Menschen fehlt. Für die Mode gilt das ganz besonders. Daher haben wir auch keine große Kunst, keine großen Kunstschaffenden oder Gelehrten hervorgebracht. Wo ist der Shakespeare unseres Zeitalters? Wo ist der Shakespeare der Mode?

Ein spiritueller New-Age-Freund hat mir einmal gesagt, ich sei keine echte Marxistin, weil ich bei Walmart einkaufe. Es war vermutlich als Witz gemeint; trotzdem deutet diese Denkweise darauf hin, dass es in der Mittelklasse eine ganze Schicht »radikaler« Menschen gibt. Sie alle eint ein progressives Konsumdenken. Das antikapitalistische Buch der Mode zeigt deutlich, dass das Problem über eine einzige, zwei oder gar ein Dutzend Firmen hinausgeht. Progressives Konsumdenken ist schön und gut, wenn man die Arbeiterklasse oder Ärmere mit weitaus weniger Kaufkraft nicht belehrt oder verurteilt. Echten strukturellen Wandel kann es jedoch nur geben, wenn das gesamte System organisiert und fortlaufend angegriffen wird. Ein solcher Angriff ist nur mit der Kraft einer informierten, von sozialistischen Zielen durchdrungenen Arbeiterklasse möglich. Kreativität ist ungemein wichtig, um ein Bewusstsein für etwas zu schaffen und es zu schärfen.

Ich zog wegen der Coronapandemie nach New Mexico und suchte mir einen Teilzeitjob als Kellnerin. In Amerika bin ich als Food Runner eine Hilfskraft ganz unten in der Restauranthierarchie. Das mag manche Menschen schockieren. Sie verstehen aber nicht, dass Kleidung an Millionäre zu verkaufen einen nicht unbedingt selbst reich macht. Die Leute glauben, dass Models zur absoluten Elite gehören. Irrtum! Nur weil reiche Männer mit uns schlafen wollen, werden wir nicht automatisch Teil ihrer Klasse. Gut, unmöglich ist es nicht, aber da muss frau schon einiges an schmutziger, degradierender Arbeit investieren, was mich nie wirklich interessiert hat; ich habe höchstens mit dem Gedanken gespielt. Allerdings gibt es zahlreiche Models, die aus sehr armen und schwierigen Verhältnissen stammen, und tatsächlich holt uns die Branche aus unserem Umfeld heraus. Für manche kann Modeln die Chance sein, der Armut zu entkommen – auch wenn Kendall Jenner dafür kein gutes Beispiel sein mag. Letztlich führt es meist zu einem Leben in der oberen Mittelklasse, und nur ein sehr kleiner Prozentsatz schafft es in die Elite.

Ich selbst erhielt zwar unheimlich viel Medienaufmerksamkeit, aber nicht viel Geld, da ich immer als zu künstlerisch galt. Manche Models sind eher geeignet für Fashion-Magazin- oder Haute-Couture-Aufträge, andere eher für kommerziellere Jobs. Die kommerziellen Kunden wehrten sich mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung von einem transgender Supermodel. Doch ich bin wohl schon immer gegen den Strom geschwommen, habe die Hand gebissen, die mich gefüttert hat – schlecht für meinen Kontostand. Prominente waren nicht gerade dafür bekannt, geschlechtsangleichende Operationen publik zu machen, bis ich auf den Plan trat. Mir hat mal eine etwas rückständige Person auf Instagram geschrieben: »Du hast alles kaputt gemacht, jetzt kann ich nicht mal mehr ein Model von Victoria’s Secret anschauen, ohne zu denken, dass sie vielleicht ein Mann ist!!« Dann verklag mich eben – viel Geld wirst du damit nicht machen. Die Karriere eines Models ist bekanntermaßen kurz. Es ist relativ einfach, das angesagteste Gesicht überhaupt zu werden; schwierig ist es, so etwas aufrechtzuerhalten. Ich war nie die erste Wahl der Modeelite, aber sie war auch nicht unbedingt meine. Ich denke, dass der Eindruck, den ich hinterlassen habe, ausreicht, um irgendwann ein Comeback zu starten; aber ich mache mir keine allzu großen Hoffnungen.

Ohne jeglichen Glamour stand ich eines Abends bei der Arbeit im Küchenbereich und las auf dem Handy das Neuste zu Omicron nach, als es im Restaurant geschäftig wurde. Da kam meine Managerin und schnauzte mich an: »Steck das Handy weg, Andreja!« Ich tat, wie mir geheißen, dachte mir aber: »Du besitzgeile fiese Alte, wir riskieren hier alle unser Leben, damit dein Restaurant offenbleiben kann! Ich reiß mir hier den Arsch auf, wie wär’s mit ein bisschen Achtung?« Sie weiß wahrscheinlich nicht, dass ich irgendwie berühmt bin, also behandelte sie mich wie alle anderen Angestellten. Darum frage ich, wo bleibt die Achtung für eine ganze Klasse Menschen, die unsere Gesellschaft tagtäglich am Laufen hält? Ohne diese Klasse gäbe es keine Intellektuellen, keine Restaurants, keine moderne Technologie und auch keinen Elon Musk. Bitte hört auf, die Arbeiterschaft wie Hunde zu behandeln – schlimmer noch, als ewige Opfer –, und fangt an, sie als das zu betrachten, was sie sind, eine mächtige, revolutionäre Kraft. Macht Kunst, entwickelt eine Ästhetik und Moral, die die Menschen dazu inspiriert, nach mehr zu streben und für ein besseres Leben für alle zu kämpfen. Aufklären und inspirieren oder sich verdünnisieren. Ehrlich gesagt ist meine Managerin gar nicht so schlimm, manchmal ist sie ganz nett, und sie arbeitet sehr viel mehr als Herr Musk.

Es ist wichtig, dass alle, besonders die Kreativen, verstehen, dass nicht die Menschen das Problem oder die Hauptursache für alle sozialen Missstände sind. Das System ist das Problem. Je größer mein Hass auf den Kapitalismus, umso größer wird meine Liebe für die Menschheit. Denn es ist doch so: Wenn wir in der Lage sind, Menschen zum Mond zu schicken, die ganze Welt mit dem berüchtigten Internet zu verbinden und Roboter zu bauen, dürfte es doch auch möglich sein herauszufinden, wie wir in einem besseren sozioökonomischen System als dem jetzigen leben könnten. Wir können in einer befreiten, sozialistischen, nicht zugrunde gehenden, hochkünstlerischen Welt leben, in der schöne Mode nicht nur einigen wenigen vorbehalten ist. Wo die Mode die Menschheit liebt und die Menschheit die Mode. Es ist an der Zeit, das Establishment infrage zu stellen, an der Zeit, dem Teufel, der Prada trägt, den Rücken zu kehren und auch der Idee, dass alle gern so opportunistisch wären wie dieser Teufel.

Andreja Pejić

Andreja Pejić, 1991 im ehemaligen Jugoslawien geboren und 2000 nach Australien ausgewandert, ist Aktivistin, renommiertes Model und Schauspielerin. Als erste trans Frau, die die internationalen Laufstege eroberte, ist sie eine Vorreiterin in der Modebranche. Sie trägt dazu bei, dass sich die Wahrnehmung von trans Menschen in der Öffentlichkeit verändert.

Dank

Ein Buch zu schreiben, ist ein sozialer Prozess. Ich stehe weiterhin in der Schuld all derjenigen, die bereits in der Danksagung des Antikapitalistischen Buchs der Mode von 2014 erwähnt sind, sowie der Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen, Revolutionär:innen und allen anderen, die seither meine Arbeit unterstützt haben. Das Gerippe des ersten Buchs bleibt bestehen, und folgende Menschen haben dabei geholfen, dass dieser aktuellen Version neue Muskeln und Sehnen, neues Fleisch und neue Haut wachsen.

Für das Vorwort darf ich mich bei der brillanten Revolutionärin Andreja Pejić bedanken; sie war meine erste und einzige Wahl dafür. Für ihre Gutherzigkeit, Kameradschaftlichkeit, überragende Arbeit und ihr inspirierendes Dasein möchte ich mich bei Nandita Shivakumar, Mayisha Begum, Asad Rehman, Ruth Ogier, Jody Furlong, Kirsty Fife, Amneet Johal, Bryn Hoskins, Janet Cheng, Laura Harvey, Bel Jacobs, Alice Wilby, Tegan Papasergi, Florent Bidios, Richard Kaby, Juan Mayorga, Dil Afrose Jahan und Nidia Melissa Bautista bedanken. Ein besonderes Dankeschön gilt Riley Kucheran, der mit mir an Teilen dieses Texts gearbeitet und mich intellektuell gepuscht hat, bis zur dunklen, winterlichen Ziellinie. Meine Liebe und Verbundenheit gelten Tom B. P. Sanderson – es lässt sich nicht in Worte fassen, wie viel ich dir verdanke.

In dieser Zeit habe ich auch meinen Freund, Genossen und Mentor, den marxistischen Historiker, Archäologen und Autor Neil Faulkner, verloren. Neil verdanke ich die Entschlossenheit, beim Verfassen des Vorgängerbuchs mein Bestes zu geben. Einmal schrieb er mir: »Das Einzige, was es sich zu tun lohnt, ist, für einen Systemumsturz zu kämpfen, und dafür ist die eigene Menschlichkeit zentral.« Du fehlst uns, Neil.

Danke an Pluto Press – an meinen Starverleger und Freund David Castle, an Emily Orford, Chris Browne, Kieran O’Connor, Robert Webb, Melanie Patrick, James Kelly, Sophie O’Reirdan und Patrick Hughes. Danke Dan Harding und Dave Stanford für das Lektorat und Babette Radclyffe-Thomas für die Hinweise zu China. Ich möchte mich auch bei Andrew Gordon, David Evans und dem gesamten Team bei David Higham Associates bedanken. Überhaupt ist es großartig, dass sich auf der ganzen Welt weiter Menschen für unabhängige, radikale Veröffentlichungen einsetzten.

Als ich dieses Buch während der Coronapandemie schrieb, musste ich krankheitsbedingt sechs Wochen pausieren. Mir ist bewusst, dass es mit Dank nicht getan ist; dennoch bin ich dem Personal des National Health Service und den im Gesundheitswesen und öffentlichen Dienst Tätigen auf der ganzen Welt äußerst dankbar. Diejenigen, die in der Bekleidungsindustrie arbeiten, sind immer noch stärkstens von der kapitalistischen Ausbeutung betroffen und daher traf auch die Pandemie sie besonders hart. Ich hoffe, mit diesem Buch etwas zur Dokumentation der Ungerechtigkeit in der Modeindustrie beizutragen, aufzuzeigen, welche Gewalt notwendig ist, um diese Ungerechtigkeit aufrechtzuerhalten, und auch, dass es weiterhin Widerstand gibt.

Vor uns liegt eine Herausforderung, die die Pandemie wie ein Kinderspiel aussehen lässt. Wir alle, jede und jeder Einzelne von uns, müssen uns dem Widerstand anschließen. Wir dürfen keine Klimakatastrophe im Namen des Kapitalismus zulassen. John Berger hat mir einmal einen Ratschlag in Form eines Stichworts gegeben, das ich hier wiederholen möchte: Mut. Die Bewegung für den Wandel erwartet Sie! Schließen Sie sich uns an!

Ich weiß nicht, wann das Wort Mode entstand, aber es war ein übler Tag. Tausende Jahre kamen die Menschen mit dem aus, was man Stil nannte, und vielleicht kehren wir in weiteren tausend Jahren dahin zurück.2

Elizabeth Hawes, 1937

Wegschauen ist ein ebenso politischer Akt wie Hinschauen.3

Arundhati Roy

Ein Grund sind wohl die mageren Vorteile, die Unterdrückung manchmal mit sich bringt und mit denen wir gelegentlich uns abzufinden bereit sind. Am effizientesten ist der Unterdrücker, der seine Untergebenen dazu überredet, seine Macht zu lieben, zu begehren und sich mit ihr zu identifizieren. Jede Praxis politischer Emanzipation umfasst daher die komplizierteste Form der Befreiung. Die Kehrseite der Geschichte ist ebenso wichtig. Wenn es einer solchen Herrschaft über einen längeren Zeitraum nicht gelingt, ihren Opfern ausreichende Befriedigung zu verschaffen, dann werden diese gewiss zu guter Letzt rebellieren. Wenn es vernünftig ist, sich angesichts gefährlich und undurchsichtig erscheinender politischer Alternativen mit einer zweifelhaften Mischung aus Misere und belanglosem Vergnügen zufriedenzugeben, dann ist es ebenso vernünftig, zu rebellieren, wenn die Misere eindeutig die Befriedigung überwiegt und es wahrscheinlich ist, dass man mit einer solchen Aktion mehr gewinnt als verliert.4

Terry Eagleton

Einleitung

Geschichten aus Sabhar

Die Albträume rauben Moushumi den Schlaf. Und selbst an sonnigen Tagen holen sie die dunklen Erinnerungen ein. Die junge, hübsche Moushumi mit dem goldenen Nasenring arbeitete damals erst seit zwei Monaten im siebten Stock; sie verdiente Geld, um ihre Familie zu unterstützen. Jetzt sitzt sie mit gebeugten Schultern, der Andeutung einer Stirnfalte und gequältem Blick zu Hause. Ihr kleiner Sohn bleibt immer in ihrer Nähe; er versteht nicht, warum seine Mutter nicht mehr lächelt. Auch Arisa, eine erfahrene Näherin Anfang vierzig, war dort, vier Stockwerke unter Moushumi. Sie war aus Rangpur in den Süden gezogen, um ihre Familie aus der finanziellen Not zu befreien. Ihre drei Kinder trauern um sie und sagen, dass sie niemals in einer Textilfabrik arbeiten werden. Eine Frau namens Rekha berichtet von ihrer ebenfalls getöteten Nichte Dulari, einer klugen Achtzehnjährigen, die mit der Aushilfstätigkeit im Textilbereich ihre Ausbildung bezahlen wollte, um dann einen Bürojob bekommen zu können. Neben Rekha lässt der sechsjährige Shamim das Hosenbein seines Vaters nicht los. Nachdem seine Mutter Jaheda bei dem Einsturz umgekommen war, zog seine zehnjährige Schwester zur Großmutter ins Dorf, aber Shamim ist zu verstört und weicht seinem Vater nicht von der Seite, aus Angst, ihn auch noch zu verlieren.

Am Rande von Dhaka, in der Industriestadt Sabhar, lag der achtstöckige Fabrikkomplex Rana Plaza, in dem fünf Bekleidungsfabriken untergebracht waren. Der überfüllte, schlecht gebaute Komplex wurde zum Symbol globaler Ungleichheit, als er am 24. April 2013 in sich zusammenstürzte. Seine überlasteten Stützen knickten ein und gaben unter dem Gewicht zu vieler Stockwerke, zu vieler Maschinen und Stoffballen und zu vieler Menschen auf engem Raum nach. Der als tödlichster unbeabsichtigter Gebäudeeinsturz der heutigen Zeit geltende Vorfall wurde von Gewerkschaften weltweit als industrieller Massenmord bezeichnet. Man geht von 1138 Toten aus. Tausende Weitere waren unter den Trümmern gefangen; einige von ihnen mussten sich selbst Gliedmaßen amputieren, um befreit werden zu können. Derweil enthüllten die Fernsehberichte über die vielen Toten und die furchtbaren Verletzungen der Überlebenden dem Rest der Welt eine erschreckende Wahrheit: Hier läuft etwas so verkehrt, dass Objekte wertvoller sind als Menschenleben und ihre Würde.

Als Tagelöhner die Trümmer mithilfe von Körben auf dem Kopf wegschafften, kam das ganze Ausmaß einer außer Kontrolle geratenen Industrie ans Licht. Illegal errichtete Gebäude brechen unter dem Gewicht von Mensch und Maschine zusammen, während Modefirmen Milliardengewinne machen. Millionen verarmter Frauen arbeiten in unserer modernen Welt sechs Tage die Woche an Maschinen oder bügeln als Textilqualitätsprüferinnen Hemden und schneiden lose Fäden ab, während sich Milliardäre Luxusjachten leisten.

Es konnten 29 weltweit vertretene Marken ermittelt werden, die Bestellungen in mindestens einer der Bekleidungsfabriken im Rana-Plaza-Gebäude aufgegeben hatten. Darunter waren Primark, Matalan, Benetton, Mango, C&A, Walmart, The Children’s Place und KiK.1 Primark gab später zu, zwei Sicherheitsinspektionen des Rana Plaza durchgeführt und ihm eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt zu haben. Dass es sich bei dem Gebäude um eine Todesfalle handelte, war vor Ort allgemein bekannt. Am Tag vor dem Einsturz hatte man große Risse am Gebäude festgestellt, und die Angestellten schätzten die Gefahr als zu groß ein, um die Arbeit aufzunehmen. An jenem Morgen im April diskutierten sie auf dem Hof vor dem Gebäude mit dem Management – nicht einen Fuß wollten sie hineinsetzen. Aus ihrer Weigerung entwickelte sich ein Streit und schließlich ein Ultimatum: Wer nicht hineingehe und arbeite, würde ein Monatsgehalt verlieren. Ein Monat ohne Lohn bedeutet für eine bangladeschische Textilarbeiterin Hunger und Wohnungsverlust – zu bitter, um in Betracht gezogen zu werden. Dieser Moment auf dem Vorplatz darf nie vergessen werden, da in ihm eine weitere immerwährende Wahrheit steckt: Die Modeindustrie misst der Kleidung, die sie verkauft, mehr Wert zu als dem Leben der Menschen, die sie herstellen.

Rana Plaza ist eine Katastrophe, die denjenigen gehört, die an jenem Tag starben. Den Müttern, die nie die Leichen ihrer Töchter fanden, den kleinen Kindern, die in der Zeit danach zu Schatten ihres verbliebenen Elternteils wurden. Den Rettungskräften, Rikschafahrern und Studierenden, die herbeieilten, um Menschen aus den Trümmern zu holen. Den Fabrikangestellten, deren Gliedmaßen zerquetscht und abgetrennt wurden, und denjenigen, deren Narben nicht sichtbar sind, bis man ihnen in die Augen schaut. Unabhängig davon, woher man kommt oder wer man ist, gibt es zwei Dinge, die alle verstehen können und gegen die man etwas tun kann: Rana Plaza war kein Unfall, und die Bedingungen, die den Tod von 1138 Menschen verursachten, haben sich bis heute nicht geändert.

Ich habe einen Großteil der ersten Version dieses Buchs schon 2012 geschrieben und es fertiggestellt, bevor es zu dem Einsturz kam. Doch schon damals war Bangladesch der zweitgrößte Textilproduzent weltweit, der jedes Jahr Milliarden von Kleidungsstücken lieferte und internationale Modelabel mit extrem niedrigen Löhnen lockte, mit fehlenden Sozialleistungen und schlechten Gesundheits- und Sicherheitsstandards. Vor Rana Plaza hatte es bereits eine Reihe von Katastrophen in der bangladeschischen Textilindustrie gegeben, am schlimmsten war der Brand in der Tazreen-Kleiderfabrik sechs Monate zuvor, bei dem 112 Menschen ums Leben kamen. Doch danach ging auch schon alles weiter wie gehabt.

Bangladeschische Aktivist:innen und Arbeitsrechtler:innen hatten das Grauen von Rana Plaza lange vorhergesehen. Deswegen ist und bleibt dieses Buch, obwohl ich die erste Fassung von 2014 vor dem Rana-Plaza-Unglück geschrieben hatte, in gewisser Hinsicht immer auch ein Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie konnte es zu dem Einsturz kommen? Dabei geht es nicht nur um die Frage der Gebäudesicherheit in Bangladesch, auch nicht allein um das Problem der Fast Fashion oder um einzelne schlechte Unternehmen oder böse Milliardäre. In diesem Buch geht es um die Modeindustrie, aber es ist gleichermaßen ein Buch über den Kapitalismus, ein brutales, ungleiches Wirtschaftssystem, in dessen verdorbener Grausamkeit Gewalt und Zerstörung steckt. Mode und Kapitalismus sind so eng miteinander verflochten, dass es ohne die kapitalistische Ausbeutung des Globalen Südens, von Frauen und Arbeitsmigrant:innen und ohne rassistische koloniale Handelspraktiken gar keine Modeindustrie gäbe. Man kann Mode erst verstehen, wenn man den Kapitalismus verstanden hat.

Rana Plaza war kein Unfall, und Rana Plaza ist auch nicht Geschichte. Es hätte der Wendepunkt sein sollen, der die Modeindustrie für immer verändert. Doch auf die Coronapandemie reagierten die Modefirmen ähnlich wie damals auf die Katastrophe in Sabhar. So wie bei Rana Plaza sehen wir auch im Jahr 2021, dass Kleidung noch immer höher gewichtet wird als ein Menschenleben. All die hübschen, von überbezahlten Nachhaltigkeitsbeauftragten verfassten Greenwashing-Broschüren haben nichts verändert. Multinationale Unternehmen begegneten der Pandemie, indem sie Tausende kleine Fabriken mit Stornierungen oder dem Einbehalten von Zahlungen in die Knie zwangen. In der gesamten Branche – in Guatemala, Honduras, Indien, Indonesien, Kambodscha und Myanmar – sind im Textilgewerbe tätige Menschen krank geworden und gestorben, während sie Hoodies, Leggings, Jeans, T-Shirts und BHs nähten. Tatsächlich wurde die Frage einer indischen Textilarbeiterin an mich herangetragen: »Warum muss ich dabei sterben, Kleider für Ausländer zu machen?« Noch Jahre nach Rana Plaza existiert die Erwartungshaltung weiter, dass das Risiko – sei es in der Weltwirtschaft oder in den Fabriken – von den ärmsten Menschen der Welt getragen werden soll. Wie schon bei Rana Plaza sind diejenigen, die dazu bestimmt wurden, diese unerträgliche Unsicherheit während der Coronapandemie zu ertragen, diejenigen, deren Leben für weniger Wert als der Profit befunden wurde, in überwältigender Mehrheit Frauen aus den ärmsten Teilen des Globalen Südens. Und wie bei Rana Plaza sind sie mit demselben Ultimatum konfrontiert: in einer Todesfalle arbeiten oder verhungern. Bevor diese Krise überhaupt vorüber ist, droht uns schon die nächste globale Katastrophe: der Klimawandel, dem wir, wenn wir nichts tun, genauso Milliarden Menschen im Globalen Süden opfern werden. Wir müssen gemeinsam handeln, und zwar schnell, um unseren Planeten zurückzugewinnen und kategorisch diesem ungleichen, unwürdigen, gescheiterten System ein für alle Mal ein Ende zu machen.

Die Definition, was Mode überhaupt ist, ist unscharf.2 Der Begriff »Mode« kann sehr weit gefasst werden, und man könnte auch diesem Buch den Vorwurf machen, dass es zu dieser Unschärfe beiträgt, denn die Firmen, die in diesem Buch thematisiert werden, reichen von Chanel über Walmart und Louboutin bis hin zu H&M und Tesco. Ich habe nicht zwei Bücher – eines über Designermode und eines über die Modeketten – geschrieben, sondern eines, in dem beide Aspekte gemeinsam vorkommen. Denn die Grenzen zwischen Designermode und Fast Fashion verschwimmen derzeit immer stärker. Die britischen Modeketten River Island, Topshop und Whistles waren auf der London Fashion Week, die US-Marke J. Crew auf der New York Fashion Week vertreten und H&M mit einer Modeschau im Pariser Musée Rodin im Rahmen der Paris Fashion Week.

Versace, Giambattista Valli, Stella McCartney, Lanvin und Maison Martin Margiela – sie alle haben Kollektionen für H&M entworfen. Isaac Mizrahi, Marc Jacobs, Phillip Lim und Prabal Gurung waren als Designer für den US-amerikanischen Discountriesen Target tätig und Jean Paul Gaultier und Karl Lagerfeld als Kreativdirektoren von Coca-Cola. Berühmte Modehäuser nehmen mehr Geld durch Parfums und Badeöle ein als durch den Verkauf von Kleidern, die 50’000 US-Dollar kosten.3 Massenproduzierte Sonnenbrillen, It-Bags, Boxershorts, Kosmetika, Designer-T-Shirts und Jeans, auf deren Label das Wort »Couture« aufgedruckt ist, machen den Großteil der Einnahmen in der Designermodebranche aus. Wieso sollte man also nur über die Umweltverschmutzung sprechen, die Fast-Fashion-Unternehmen in Ländern wie China verursachen, wenn gleich in der Fabrik nebenan It-Bags produziert werden?4 Wieso nur die problematischen Vorstellungen zu Körper und Hautfarbe auf den Laufstegen in Paris und Mailand zum Thema machen, wenn Modeketten die gleiche exklusive Ästhetik nachahmen? Wieso so tun, als gäbe es übermäßigen Konsum nur bei den billigsten Marken?

Mode ist immer ein soziales Produkt. Alle Materialien und alles Können, aus denen großartige Arbeiten entstehen, sind zuvor gesellschaftlich produziert worden. So wie der beste Pianist einen Flügel braucht, den zuvor jemand gebaut hat, brauchen auch die talentiertesten Designerinnen Stifte, Papier und Materialien, die jemand produziert hat, eine Reihe von Fertigkeiten, die sie von Lehrkräften gelernt haben, eine Tradition, um ihr zu folgen oder gegen sie zu rebellieren, und nicht zuletzt die immense Unterstützung von Designteams, Verwaltungsangestellten, Finanzierungsträgern und häufig auch Haushaltspersonal.5 Allein die vielen Gerichtsprozesse, die wegen Urheberrechtsverletzungen gegen Marken wie Zara geführt werden, zeigen, wie stark sich Fast Fashion von der Haute Couture inspirieren lässt. Doch die Haute Couture hängt ihrerseits auch wieder von den Ketten ab, weil über diese ihre Ideen und ihr Brand erst auf die Straße gelangen und bekannt werden (und auch die Haute Couture begeht Ideenklau am laufenden Band).6 Die gesellschaftliche Produktion von Mode zu ignorieren, heißt, sie zu verklären.

Dieses Buch analysiert und entmystifiziert die Modeindustrie und ihre Ideologie, anstatt weiter an ihrem sorgfältig gepflegten Mantel der Exklusivität zu nähen. So bekommt die Designermode keinen besonderen Sockel, und die Definition von Mode, mit der ich arbeite, ist einfach und praktikabel: sich verändernde Kleidungsstile und Erscheinungsbilder, denen Gruppen von Menschen folgen.7 Mir ist bewusst, dass schon allein so eine Definition Kontroversen auslösen kann, die einige für prokrustisch8 halten (nach der griechischen Sage von Prokrustes, der den Menschen die Beine abhackte, um sie auf die gewünschte Größe zu stutzen). Mode, so wird gemeinhin angenommen, ist ein rein europäisches Konzept, im 15. Jahrhundert im französischen Burgund, der sogenannten »Wiege der Mode«, entstanden und untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden.9 Diese historische Einordnung stelle ich nicht infrage und finde es dennoch problematisch, wie auf diese Weise Mode historisch zu einem Privileg wohlhabender und weißer Menschen wird. Es ist eine weitverbreitete Einstellung, dass all diejenigen, die nicht dazu gehören, keine »richtige« Mode machen. Was aus Paris, Mailand, London oder New York kommt, ist demnach Mode, aber alles andere sind nur Kleider oder noch einfacher: Bekleidung. Der überwiegende Teil der Weltbevölkerung verbleibt aus dieser Perspektive »ohne Mode«, was leicht die Assoziation »ohne Geschichte« hervorruft.10 Julius Nyerere, der erste Präsident der Republik Tansania, sagte einmal: »Von den Verbrechen des Kolonialismus war kein einziges so schlimm wie der Versuch, uns weiszumachen, wir hätten keine eigene Kultur oder dass alles, was wir hatten, wertlos sei.« Eine solche rassistische Haltung entmenschlicht den Globalen Süden und legitimiert die Ausbeutung der dort lebenden Menschen. »Das letzte Bedürfnis des Imperialismus sind keine Rohstoffe, auch nicht die Ausbeutung von Arbeitern oder die Kontrolle über Märkte. Es ist eine Menschheit, die einfach nichts zählt«11, so schrieb der marxistische Kunstkritiker John Berger Ende der 1960er Jahre.

»Globaler Süden« ist ein relativ neuer Begriff, der die Ausdrücke »Dritte Welt« oder »unterentwickelte Länder« ablöst. Er ist politisch und hängt mit der Globalisierung und den damit einhergehenden Problemen zusammen. Laut dem Anthropologen Thomas Hylland Eriksen repräsentiert der Globale Süden die Länder, die »den Kräften des globalen Neoliberalismus unterworfen« sind, in Abgrenzung zu jenen Ländern, die diesen Neoliberalismus anderen aufzwingen. Profitiert ein Land von der globalisierten, neoliberalen, kapitalistischen Wirtschaft, zählt man es zum Globalen Norden, leidet es unter diesem System, zum Globalen Süden. Doch natürlich macht die Ungleichheit nicht vor Grenzen halt – auch in Indien findet man Milliardäre und mächtige Eliten, und selbst in Großbritannien, Deutschland oder der Schweiz gibt es Lebensmitteltafeln. »Globaler Süden« sollte daher eher als Konzept denn als Linien auf der Landkarte betrachtet werden.12

Mode als etwas Westliches zu definieren, ist bestürzend weltfremd, wenn man sich einmal anschaut, wo Mode heutzutage designt und produziert wird. In so unterschiedlichen Ländern wie China, Kolumbien, Indien und Nigeria gibt es eine florierende Textilbranche, während Sparmaßnahmen und der Neoliberalismus die europäischen Löhne so weit gedrückt haben, dass Konzerne nun um die Aufmerksamkeit der chinesischen Konsument:innen kämpfen. Diese stellen heute den drittgrößten Markt für Luxusgüter und dürften voraussichtlich in den nächsten Jahren alle anderen überholen.13 Aus all diesen Gründen habe ich mich für eine bewusst offene und inklusive, realitätsnahe und nicht abgehobene Definition entschieden, die die Modeindustrie nicht schöner macht, als sie ist.

Die Realität ist weit davon entfernt, schön zu sein. Das erste Mal, dass ich der Realität der Bekleidungsproduktion Auge in Auge gegenüberstand, war 2008 auf einer Recherchereise in Dharavi, dem berüchtigten Armenviertel der indischen Großstadt Mumbai. Dharavi ist mit über einer Million Einwohnern eine Stadt für sich. Stellenweise stehen die Häuser so eng beieinander, dass ihre Dächer die dazwischenliegenden Gassen komplett überdecken, und die Straßen sind gesäumt von vielen kleinen Werkstätten. Viele Betriebe sind gleichzeitig Arbeitsort und Wohnstätte für ganze Familien, und die Räume platzen aus allen Nähten. Dort nähen auch Kinder, und es ist so dunkel, dass sie sich dabei die Augen verderben. Einmal wollten wir uns mit ein paar Kindern unterhalten, die an einer Webmaschine arbeiteten, und mussten dafür auf eine wackelige Leiter steigen. Andere Kinder saßen auf dem harten Holzboden und bestickten elegante Schals mit Perlen. »Die kleinsten Finger für die kleinsten Perlen«, sagte unser Guide und schüttelte traurig den Kopf.14

Als wir etwas später um eine Ecke bogen, traf mich der Geruch der in der Hitze zum Trocknen aufgehängten Ziegenhäute scharf in der Kehle und ich musste würgen, sehr zur Belustigung der Gerber. Von den Häuten tropfte es auf den staubigen Boden, während in den Werkstätten rund um den Hof Taschen genäht und Lederbänder zu Gürteln und Schmuck geflochten wurden. »Produzieren Sie auch für internationale Kunden?«, fragte ich einen der Werkstattbesitzer. Er lachte, sagte »natürlich«, und zeigte auf mich, »zum Beispiel für Sie«. Er deutete auf den Gürtel, den ich mir am Abend zuvor gekauft hatte. Geflochtenes Leder, mit blauer und goldener Farbe besprüht, und zwar von Menschen, die, wie ich nun wusste, ohne Schutzkleidung oder Mundschutz arbeiten.

Seitdem habe ich zu Textil-, Bekleidungs- und Schuhfabriken recherchiert und manche davon rund um die Welt besucht, von Bangladesch über Mazedonien bis hin zu den Topshop-Lagerhäusern im britischen Solihull. Ich habe Vorsitzende von Bekleidungsgewerkschaften in Myanmar interviewt, die für ihren Protest Gefängnisstrafen absitzen mussten, habe mich mit Überlebenden von Fabrikbränden getroffen und auch mit kriminalisierten Arbeitsrechtsaktivist:innen, und ich habe multinationale Lieferketten und Menschenrechtsverstöße in der Modeindustrie angeprangert. Ich habe verfolgt, wie die Situation immer autoritärer und gefährlicher wurde, wie sich CEOs in Drachen verwandelten, die wie im Märchen über Berge von Gold wachen, und habe gesehen, wie die Erde erzitterte vor dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.

Dieses Buch wird daher die Modeindustrie nicht verklären, denn ich vertrete die Position, dass Modekreationen, die zwar Zeichen der Zeit oder Produkte des gesellschaftlichen Bewusstseins sein können, an erster Stelle eines sind: Industrieprodukte. Ein Damenkleid ist nicht nur ein Symbol, es ist auch eine von einem Unternehmen produzierte Ware, die einen Gewinn erwirtschaften soll, meist auf Kosten der Umwelt. Designerinnen und Designer sind Arbeitskräfte, und sie stellen ihr Können in den Dienst eines Unternehmens, das damit Profit erzielt und ihnen ein Einkommen verschafft. So ist es, ganz egal wie extravagant ihre Arbeit im Einzelnen sein mag.15 Die Pariser Fashion Week ist in diesem Sinne wenig mehr als eine ziemlich teure Verkaufsmasche.16 Die Modeindustrie als das zu analysieren, was sie ist – eine Industriebranche – soll dafür sorgen, dass sich auch die Diskussion in diesem Buch in materiellen Gefilden bewegt. Denn der Kampf jener Frauen und Männer, die sich gegen ihre Ausbeutung und Unterdrückung auflehnen, hat rein gar nichts Akademisches an sich.

Als ich anfing, die Modeindustrie zu kritisieren, fragte mich jemand, woher ich mir eigentlich das Recht nehme, über eine Branche zu schreiben, in der ich selbst nie gearbeitet habe (mal abgesehen von den unvermeidlichen Aushilfsjobs in einigen Kleidergeschäften). Meine Antwort war: Ich musste es einfach tun. Denn ich hatte noch kein Buch gefunden, das diesen allgegenwärtigen Teil meines Lebens in ausreichender Weise beschrieben hätte. Es gab bislang kein Buch über Mode, das alles thematisiert hätte, von dem ich mir wünsche, wir könnten es überwinden: die schrecklichen Arbeitsbedingungen, die Umweltverschmutzung, die Essstörungen (mit denen einige meiner Freund:innen kämpfen mussten), den Rassismus, den die Mode vorantreibt, Selbstzweifel und der unersättliche Wunsch nach mehr, egal wie viel man shoppen geht. Zudem bin ich gegen die Vorstellung, dass nur diejenigen, die in den Chefetagen der Modebranche sitzen, über sie schreiben sollten. Modekonzerne versuchen, alle und jeden zu beeinflussen – man muss auf ihre Ideen reagieren und sie gegebenenfalls ablehnen. Wenn wir diese Macht schon über uns ergehen lassen müssen, sollten wir uns zumindest das Recht nehmen, sie infrage zu stellen17 – und gegen sie zu protestieren. Die Tatsache, dass ich kein Rädchen im Getriebe des Modebusiness war, gab mir die Freiheit zu schreiben, ohne mir Sorgen um meine Berufsaussichten machen zu müssen. Das ist wichtig, vor allem, wenn man es mit einer Branche zu tun hat, in der es so wenig Kritik gibt. »Ein künstlerisches Umfeld ohne kritisches Feedback ist kein gesundes künstlerisches Umfeld«, so der Modefotograf Nick Knight.18

Nachdem ich nun mehr als zehn Jahre lang über Mode geschrieben habe, bin ich überzeugter denn je davon, dass es unabhängiges, kritisches, links orientiertes Denken und Handeln braucht. Ich habe dieses Buch jedoch nicht geschrieben, um nur zu kritisieren. Ich konnte Das antikapitalistische Buch der Mode nur schreiben, weil ich Mode tatsächlich ebenso großartig und spannend wie schrecklich und zum Verzweifeln finde. Modekreationen können inspirieren und umwerfend sein, und die Mode ist eine Kunstform, die unglaublich viel Können und Einsatz verlangt: »In einer Gesellschaft, die von Schriftstellern und Dramatikern erwartet, in ihrem Leben ein oder zwei große Werke zu schreiben, nehmen wir es als gegeben hin, dass ein Modedesigner jedes Jahr eine herausragende Kollektion entwirft.«19 Für jedes kritische Wort in diesem Buch existiert ein wunderschön handgefertigtes Kleidungsstück, das es schafft, seinen Zeitgeist einzufangen. Aber wer hat es gemacht und wieso konnte er oder sie es eigentlich nicht selbst tragen?

Geschichte wird so gelehrt, als habe es nur Monarchen und Generäle gegeben und als würden auch nur sie zählen. Selbst heute, in dieser extrem ungleichen Welt, wird uns eingebläut, dass es die royalen Familien, CEOs und Stars seien, die den Wohlstand generieren, und dass es ohne sie nicht gehe. In der Modeindustrie zeigt sich das an dem überholten Mythos, wonach Schönheit und gestalterische Kreativität nur einer kleinen Clique vorbehalten sei. Hier fällt mir der Anfang von Bertolt Brechts Gedicht »Fragen eines lesenden Arbeiters« ein, mit dem sich dieser Mythos gut hinterfragen lässt:

Wer baute das siebentorige Theben? /

In den Büchern stehen die Namen von Königen. /

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?20

Das Gedicht erinnert daran, dass jede Art von Produktion stets ein gesellschaftliches Unterfangen ist, dass Wohlstand und Schönheit immer aus der menschlichen Arbeit und der Natur heraus entstehen und dass unbekannte Handwerksleute es weitaus mehr verdienen, dass wir uns an sie erinnern und sie respektieren, als jede Berühmtheit. Außerdem ruft es uns ins Gedächtnis, dass wir CEOs und Monarchen nicht brauchen – wir verfügen bereits über das nötige Wissen, die Macht und die Ressourcen, um aus unserer Gesellschaft eine gleichberechtigte und nachhaltige zu machen, in der wir alle versorgt sind. Zurzeit jedoch sind die Träume und Projektionsflächen, die die Mode bietet, nur für wenige zugänglich. Wir leiden mehr unter einer »Besitzzwangsstörung«21, als dass wir uns an unserer Kleidung erfreuen. Und Mode ist, wie jede Kunstform, in ein Netz aus Kommerz und Wettbewerb verstrickt. Gerade weil ich Mode großartig und schrecklich zugleich finde, schreibe ich dieses Buch, und zwar in der Hoffnung, dass die Mode und die, die sie tragen, eines Tages frei sein werden.

Zu guter Letzt bleibt zu sagen, dass ich aus einer kapitalismuskritischen Perspektive über Mode schreibe, weil es für mich unmöglich wäre, die Probleme, die in diesem Buch behandelt werden, separat zu betrachten. Es ist unmöglich, über die Umweltfolgen der Modeproduktion zu sprechen, ohne gleichzeitig darüber zu schreiben, welche Auswirkungen Fabriken auf die Menschen haben, die dort arbeiten. Darüber zu schreiben, wie Menschen behandelt werden, beinhaltet auch, Rassismus und Körperlichkeit zu thematisieren, was wiederum eine Diskussion über Entfremdung und Konsum erfordert, genauso wie über den Einfluss der monopolisierten Eigentumsverhältnisse in der Modeindustrie und deren Medienunternehmen. Es wäre konstruiert, diese Probleme separat betrachten zu wollen, denn das hieße, die fundamentale Rolle zu verkennen, die der Kapitalismus bei alledem spielt. »So etwas wie Kämpfe für Einzelfragen gibt es nicht, denn unsere Leben drehen sich nicht um Einzelfragen«22, so sagte einmal die Feministin Audre Lorde.

Die Situation der ausgebeuteten Arbeiter:innen im bangladeschischen Sabhar wiederholt sich weltweit als ein historisch relativ neues Phänomen, das aus Kolonialismus und Neoliberalismus hervorgegangen ist. Neoliberalismus bezeichnet ein Wirtschaftsmodell, das in den 1980er Jahren von Margaret Thatcher und Ronald Reagan und in den 1990er Jahren von Bill Clinton und Tony Blair verfochten wurde. Seine Merkmale sind die Liberalisierung des Handels, die globale Integration von Kapitalmärkten, Deregulierung, der Rückzug des Staates und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. All das wird als etwas Unausweichliches dargestellt, als folgte es Naturgesetzen, vergleichbar mit der Schwerkraft.23 Neoliberale Wirtschaftsstrategien bewirken Lohndumping und bringen Beschäftigte und Unternehmen auf der ganzen Welt dazu, sich in einem race to the bottom gegenseitig zu unterbieten. Um den Konsumrückgang auszugleichen, wird intensiv für Privatkredite geworben, was sich insbesondere auch bei der Mode zeigt.

Neoliberalismus und Globalisierung gehen Hand in Hand. Das Schlagwort »Globalisierung« kam 1893 auf und bezeichnet einen der schnellsten und bedenklichsten sozialen und wirtschaftlichen Wandel der Menschheitsgeschichte. Es ist ein nützlicher Begriff, um den Prozess der rasanten industriellen Eroberung zu beschreiben, die von Technologien – vom Modem über die Ölraffinerie bis zum Düsenflieger – angestoßen wurde. Als Folge dieses unausgewogenen Systems leben wir heute in einer globalen Gesellschaft, in der Mangelernährung zum Tod von jährlich 3,1 Millionen Kindern unter fünf Jahren beiträgt, während 2019 gleichzeitig insgesamt 281 Milliarden Euro für Luxusartikel ausgegeben wurden.24

Die Finanzkrise von 2008 war das Ergebnis neoliberaler Strategien, welche die deregulierten Finanzdienstleistungen in Europa und den USA gegenüber dem verarbeitenden Gewerbe privilegierten. Das führte dazu, dass sich durch eine systematische Ausweitung der Hypothekenvergabe an Schuldner mit geringer Bonität eine Immobilienblase bildete. Als diese dann platzte, gab es Bankenrettungsprogramme – erzwungene Wohlstandstransfers von Arm zu Reich – von historischem Ausmaß.

Die Verwirrung und Unsicherheit, die der Neoliberalismus, die Finanzkrisen, der Rassismus sowie nun auch die Coronapandemie mit sich brachten, veranlasst viele Menschen dazu, sich nach alternativen Antworten umzuschauen. Der Antikapitalismus als Bewegung kam 1999 in die Schlagzeilen, als Demonstrant:innen in Seattle einen Gipfel der Welthandelsorganisation störten. 2001 folgten Massenproteste beim G8-Gipfel in Genua und das globalisierungskritische Weltsozialforum in Porto Alegre, das sich 2004 in Mumbai wiederholte. Es gab eine neue globale Friedensbewegung und soziale Massenbewegungen in ganz Lateinamerika. 2011 kam es zu Occupy Wall Street, und beim Arabischen und Nordafrikanischen Frühling im selben Jahr handelte es sich zu einem großen Teil um Revolten gegen neoliberale Strukturen. Aktuellere Beispiele, die den globalen Geist des Antikapitalismus für sich entdeckt haben, sind Black Lives Matter und die aufkeimende Umweltbewegung. Außerdem leben feministische Proteste und Bewegungen für die Abschaffung von Gefängnissen sowie für Tierrechte wieder auf. Die kapitalismuskritische Bewegung ist kraftvoll und dynamisch, aber nicht immer vereint.

Doch dass es nicht das eine antikapitalistische Manifest gibt, heißt nicht, dass nicht auf Alternativen zum Kapitalismus hingearbeitet werden muss. »Antikapitalistisch« bedeutet in diesem Buch die Ablehnung des kapitalistischen Systems als Ganzes, weil der Kapitalismus selbst der Systemfehler ist, der Sweatshops, Kinderarbeit, Umweltzerstörung und Entfremdung hervorruft. Das Problem sind nicht bloß einzelne schlechte Unternehmen oder schlechte Politiker:innen (obwohl es sie natürlich gibt), sondern ein schlechtes System, das zerstörerischen Regeln folgt. Die wiederkehrende Krise brachte die Schriften des einflussreichsten antikapitalistischen Denkers wieder auf die Bühne. Karl Marx und die Werke derer, die er beeinflusst hat, spielen eine zentrale Rolle in jedem einzelnen Kapitel dieses Buchs.

Aber was hat Karl Marx mit Karl Lagerfeld zu tun? Wie hängen der Neoliberalismus oder die Wirtschaftskrisen mit der Modebranche zusammen? Sie alle sind so untrennbar miteinander verbunden, dass man das Eine nicht ohne das Andere verstehen kann. Obwohl die Mode »das Lieblingskind des Kapitalismus«25 ist, wird die Branche von Krisen hart getroffen. Durch die Finanzkrise von 2008 verloren zehn Millionen Menschen in China auf einen Schlag ihre Arbeit, und die Schockwellen gelangten bis in die obersten Schichten der Modeindustrie. Der prekäre Zustand der Branche verleitete den CEO einer Modefirma zu der Aussage: »Es ist, als säße ich ganz entspannt beim Galadinner, während direkt unter mir ein Vulkan brodelt.«26 Auch die Coronapandemie führte zur Schließung von Läden und bedeutete für manch bekannte Marke das Aus, während der Markt für Luxusartikel um 23 Prozent einbrach.27 Viel wichtiger ist jedoch, dass der unverantwortliche Umgang der Industrie mit den Folgen der Pandemie großes Leid, Hunger und den finanziellen Ruin für Millionen von Textilarbeiter:innen bedeutete. Die Modeindustrie lässt die Eigenheiten des Kapitalismus in aller Deutlichkeit erkennen: Profitstreben und Ausbeutung; die Macht, über die Produktionsmittel der Gesellschaft zu verfügen; und schließlich seine Folge, die dringende Notwendigkeit, das System einer Generalüberholung zu unterziehen.

Trotz seiner Labilität und Ungerechtigkeit wird der Kapitalismus oft verteidigt, denn »wenn etwas zu nah an unserem Auge ist, kann es nicht mehr objektiv betrachtet werden«.28 Genau wie die Redensart besagt, dass Fische nicht wissen, dass sie in Wasser schwimmen29, sprachen bis zur globalen Finanzkrise von 2008 nur wenige Leute über den Kapitalismus als System. Unser Leben war eben einfach unser Leben, wir nahmen es nicht wie ein Leben im Kapitalismus wahr. Ich beabsichtige hier also nicht in erster Linie, ein Standardwerk über Mode zu schreiben, sondern vielmehr, das System sichtbar zu machen, in dem sie sich befindet. Dieses Buch ist eine Analyse der systemischen Auswirkungen des Kapitalismus auf die Modeindustrie und, andersherum gesehen, auch eine Analyse der engen Verbindung des Konzepts Mode und der sozialen Prozesse im Kapitalismus. Im Laufe der Kapitel des Buchs werden wir die Scheinwerfer so eingestellt lassen, dass wir einige grundlegende Charakterzüge des Kapitalismus im Detail beleuchten können.

Ideologie

Um die Welt, in der wir leben, zu verstehen, müssen wir sie uns anschauen. Die Art und Weise, wie Menschen ihre Umgebung betrachten und was sie dabei sehen, ist immer stark von Ideologie beeinflusst, also von Vorstellungen, Werten und Gefühlen, die reflektieren, wie Menschen ihre Gesellschaft und die Welt um sie herum zu verschiedenen Zeitpunkten wahrnehmen.30

Nehmen wir als Beispiel das Kleid, das Queen Victoria 1837 bei ihrer Krönungszeremonie trug. Ist es das Symbol des göttlichen Rechts einer Familie, über alle anderen zu herrschen? Steht es für den auf legitime Weise angehäuften Reichtum eines zivilisatorischen Reiches und für eine Hierarchie von Nationen, Ethnien und Klassen, die Ordnung, Handel und eine Blütezeit für die Schneiderkunst mit sich brachte? Oder verkörpert es die Abermillionen Menschen in Indien, die während des »spätviktorianischen Holocausts« verhungerten, der für die Ungleichheit zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden verantwortlich ist?31 Repräsentiert es die verarmten Näherinnen, die bei Kerzenlicht arbeiteten und dabei langsam erblindeten? Oder etwa den Frühkapitalismus, der Kunstwerke aus Organza, Perlen und vergoldetem Garn finanzierte, die nicht demokratisch legitimierte, sondern durch Abstammung vorbestimmte, rassistische Anführer einer Gesellschaft kleideten? Die Kontrolle darüber, welcher dieser Standpunkte gerade der allgemein akzeptierte sein soll, ist ein mächtiges Werkzeug. Durch die Geschichte hindurch haben sich kleine Gruppen durch Ideologie ihren Besitz und ihre Macht gesichert, ohne sich täglich mit Waffengewalt verteidigen zu müssen.32 Die Essenz aller Ideologien ist es, die Macht der herrschenden sozialen Klasse legitimieren zu können.33 Stellen Sie sich kurz vor, durch die Londoner National Gallery zu spazieren. Sie sind umgeben von riesigen Monarchen- und Aristokratenporträts. Von den Ölgemälden über die Goldrahmen bis zu dem Gebäude – alles strahlt Autorität aus, alles deutet auf das göttliche Recht der Reichen hin, so zu regieren, als wäre es unvermeidlich.

Die Autorität der Mode funktioniert auf eine ähnliche Weise: Sie ist für diejenigen, die sie tragen, wie ein solider Rahmen aus Gold. Auch die Mode selbst benötigt einen Goldrahmen. Denn wir sprechen letztlich und trotz allem nur von Stoff, ganz gleich, wie kunstvoll er verarbeitet wurde. Mode ist nicht einfach die Kleidung an sich, sondern das Drumherum. Laufstege, Prestige, Medienhypes und raffinierte Geschäfte ergeben zusammen etwas, das nahezu religiösen Charakter hat.34 Die Ehrfurcht, die man in der National Gallery verspürt, stellt sich auch in Modemuseen und Louis-Vuitton- oder Chanel-Filialen ein. Von den Räumen und Kleidungsstücken geht eine Art selbstgerechte Macht aus – Chanel, und nur Chanel allein, könne so etwas Wunderbares herstellen, also gehört Chanel an die Spitze. Ideologien stellen sicher, dass diese Machtstrukturen ganz implizit wirken oder überhaupt nicht wahrgenommen werden.35

Mode ist ein Schlüssel für das Verständnis von Ideologien. Sie ist so stark mit Macht und Status verbunden, dass es ausreicht, die Kleidung zu wechseln, um jemandem das Prestige der herrschenden Klasse zu verleihen. In zahlreichen Filmen – Der Prinz und der Bettelknabe, Aladdin, Pretty Woman, Manhattan Love Story, Ritter aus Leidenschaft, Der Graf von Monte Christo, Aschenputtel oder Ridley Scotts Robin Hood – sehen wir, was passiert, wenn die Kleidung der Armen mit denen der Reichen getauscht wird: Das Einzige, was sich an der Hauptfigur verändert, ist ihre Kleidung, und plötzlich gesteht man ihr alle Privilegien der herrschenden Klasse zu. »Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Ritter und jedem anderen Mann – bis auf seine Kleidung«, sagt Russell Crowe als Robin Hood. Die Rolle von Kleidung wird in all diesen Filmen deutlich: Sie legitimiert Macht und festigt die Vorstellung, dass diejenigen, die gerade ganz oben sind, auch dort bleiben sollen. Festigt Mode somit Klassengrenzen? In jedem Fall ist Mode ein einfaches Mittel für Reiche, ihre Macht zu signalisieren und zu reproduzieren.36 Sobald die Massen Zugang zu einem bestimmten Trend haben (oder nahe daran sind), wechselt die herrschende Klasse zum nächsten und bleibt so weiterhin allen anderen einen Schritt voraus.

Als Kunstform spielt Mode auf dem Feld der Ideologie eine komplexe Rolle. Mode kann unterdrücken und befreien, großartig und schrecklich sein, revolutionär und reaktionär. Sie ist von Natur aus widersprüchlich, so wie alles, was Kultur ist, und so wie jede gesellschaftliche Realität.37 Der einzige Grund, warum wir nicht im permanenten Aufstand leben, liegt in der Fähigkeit der dominanten Kultur, die gewaltigen Widersprüche zu glätten und zu verbergen. Das antikapitalistische Buch der Mode thematisiert diese Widersprüche. Mode kann also inspirieren und uns von einer besseren Zukunft träumen lassen, aber eben auch sehr repressiv sein. Wenn Mode der Macht widersteht, ist sie selbst eine überzeugende Form von Macht.38 Mode ist imstande, den Zeitgeist einzufangen und Gesellschaft und Kunst zusammenzubringen. Mode bewegt sich also innerhalb von Ideologien und hält gleichzeitig Abstand zu ihnen. Kunst ist damit ein Medium, durch das die Ideologien, die zur Entstehung von Kunst beitragen, wahrgenommen werden können.39 Anders gesagt, Kunst reflektiert Ideologie nicht bloß. Das Erleben von Kunst – Mode eingeschlossen – ist eine Möglichkeit, die Situation zu erleben, welche die Kunst darstellt. Das bedeutet nicht, dass Mode eine bestimmte Zeit wahrheitsgetreu wiedergibt. Bertolt Brecht schreibt, dass Kunst – wenn sie das Leben denn widerspiegelt – dies mit speziellen Spiegeln tut. Mode verfremdet, was sie spiegelt. Und was ausgelassen wird, erzählt oft genauso viel wie das, was gezeigt wird.40 Wenn wir Ideologien verstehen, können wir sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart besser verstehen – und dieses Verständnis ist notwendig zur Befreiung.41

Wozu Mode?

Ich möchte Sie einladen, beim Lesen dieses Buchs zwei Hauptfragen im Hinterkopf zu behalten. Erstens: In was für einer Gesellschaft möchten Sie leben? In einer wie der aktuellen, in der manche verhungern, während andere so viel Geld scheffeln, dass sie es niemals ausgeben könnten? In einer Welt, in der sich die Warnsignale häufen und die von Bränden, Wirbelstürmen und Überflutungen heimgesucht wird? Sind in Ihrer Vorstellung ganze Arten ausgestorben? Werden Wälder dem Erdboden gleichgemacht? Ist das Leben durch Vorurteile wie Rassismus und Homophobie eingeschränkt? Hängt der Zugang zu medizinischer Versorgung, Wohnraum, Bildung, Freizeitaktivitäten und weiteren Möglichkeiten vom Zugang zu Wohlstand ab? Sind die schlechtesten Menschen an der Macht?

Wenn das nicht Ihre ideale Gesellschaft ist, wie würden Sie sie zum Besseren verändern? Vielleicht sähe sie ein bisschen anders aus, etwa mit kostenlosem Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem. Vielleicht wäre die Gesellschaft aber auch eine ganz andere, in der es keine Millionäre, geschweige denn Milliardäre gibt. Vielleicht ist es dann eine, in der Menschen nur so viel arbeiten, wie es für die Gemeinschaft notwendig ist, und den Rest der Zeit würden sie malen, gärtnern, schreiben, Musik machen und die Welt auf Windschiffen bereisen. Eine Gesellschaft, in der die Produktionsmittel – von Solaranlagen bis zu Hanffeldern – Kollektiveigentum sind und alles so durchdacht organisiert ist, dass es im Einklang mit der Natur steht. Eine Welt, in der es keine Waffen, keinen Fleischkonsum, keine fossilen Brennstoffindustrien und keine industriellen Gefängniskomplexe gibt; in der Rassismus, Kolonialismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie, Ableismus und dergleichen bekämpft und verbannt wurden. Eine Welt, in der Literatur, Kunst, Musik und Theater so weitverbreitet und wunderbar sind wie nie zuvor.

Wie Ihre ideale Gesellschaft aussieht, hängt ganz von Ihnen ab. Sie können sich hier alles ausmalen. Wenn Sie zu einer Antwort gekommen sind, schließt sich die zweite Frage an: Wozu ist in einer solchen Gesellschaft die Mode da? Zum Spaß oder um den Körper zu schützen und zu stärken? Dient sie als kreatives Ventil? Ist sie dazu da, Kultur und Geschichte zu repräsentieren, zu verführen oder zurückzuweisen? Soll sie Unterschiede zur Geltung bringen und würdigen oder gar unsere Stimmung oder die Mondphasen darstellen? Soll sie Freude machen?

Mit diesem Gedankenexperiment sollen die Fragen, die typischerweise zum Thema Mode gestellt werden, neu formuliert und die Mode als Ausdruck tiefer liegender gesellschaftlicher Themen hervorgehoben werden.42 Dass die Modeindustrie so ist, wie sie ist, liegt am Kapitalismus. Derzeit ist sie dazu da, einem kleinen Klüngel von Menschen Milliarden zu bescheren, ein System der Unterjochung aufrechtzuerhalten, Bevölkerungsgruppen zu beschränken und zu kontrollieren und von Ungleichheit und Krisen abzulenken. Der Kapitalismus hat die Mode gebrochen, sodass sie jetzt als Vorwand der Reichen herhalten muss, um die Armen auszubeuten. Egal, wie Ihr Bild von der idealen Gesellschaft aussehen mag, ich bezweifle, dass Sie dabei diesen Zweck von Bekleidung im Kopf hatten. Und darum haben wir ein hartes Stück Arbeit vor uns.

Wie gehe ich im Antikapitalistischen Buch der Mode vor? Thema des ersten Kapitels ist der monopolisierte Besitz von Modekonzernen, mit einem historischen Abriss zur Entstehung von Massenmode und Exkursen zu den Unsummen, die man mit ihr verdienen kann. Im zweiten Kapitel beleuchte ich den Monopolcharakter der Modemedien – sowohl im Print- als auch im Digitalbereich – und thematisiere die Welt des Überwachungskapitalismus und der sozialen Medien.

Das dritte Kapitel diskutiert die Vorstellung vom Kunden als König und die Behauptung, dass die Konsument:innen Schuld an den Schattenseiten der Mode tragen. Ich frage, welche Rolle Klassenunterschiede, Schulden und Kredite, Werbung, Warenfetischismus und Entfremdung hierbei spielen. Das vierte Kapitel ist die Kehrseite davon: Es untersucht die Modeproduktion und die Gewalt, den Sexismus und den Rassismus, die das Fabriksystem am Laufen halten. Ich gehe auf historische und aktuelle gewerkschaftliche Kämpfe des Sektors ein und nehme Argumentationen für Sweatshops auseinander, indem ich versuche zu zeigen, wer wirklich von der Ausbeutung profitiert. Dass die Modeindustrie Menschen schlecht behandelt, hängt unumstößlich damit zusammen, dass sie auch den Planeten schlecht behandelt. Im fünften Kapitel stelle ich dar, warum Umweltzerstörung untrennbar mit Kapitalismus und Kolonialismus verknüpft ist und wie wir einen Ausweg aus diesem Dilemma finden können.

Das sechste Kapitel analysiert die Verbindungen zwischen der Modeindustrie und Körperbildern, Essstörungen und Frauenrechten. Ich untersuche die Auswirkungen von Mode auf die Frauen, die als Models arbeiten, und auf die breite Öffentlichkeit und gehe den Fragen nach, wieso das gängige Schönheitsideal so eingeschränkt ist und wie die Möglichkeiten der digitalen Bearbeitung die Realität schlechtmachen. Das siebte Kapitel sucht nach einer Antwort auf die Frage, ob Mode rassistisch ist. Es behandelt die Repräsentation von People of Colour (PoC) in der Branche, kritisiert die Praktik der kulturellen Aneignung, setzt sich mit der Frage auseinander, wieso es solchen Rassismus gibt und welches seine besonderen Ausprägungen in unserer Zeit des Neoliberalismus und der Finanzkrisen sind.

Kapitel acht bis zehn widme ich den Versuchen, das System zu verändern. Das achte Kapitel handelt vom Widerstand gegen die Modeindustrie. Was passiert, wenn Menschen ihre Kleidung und ihr Erscheinungsbild nutzen, um Mode die Stirn zu bieten? Kann Mode ins Gegenteil verkehrt oder abgelehnt werden? Zählt es schon als Rebellion, sich anders zu kleiden? Ist es möglich, eine Industrie zu schockieren, die es selbst liebt, zu schockieren? Kann man Vereinnahmung entgehen? Das neunte Kapitel wirft einen Blick sowohl auf geschichtliche als auch auf aktuelle Bemühungen, die Modeindustrie umzugestalten. Warum ist die Antwort von Büchern über grüne Mode so oft moralisches Kalkül? Können Unternehmen überhaupt grün sein? Sind Gewerkschaften oder Gesetze die Lösung? Gibt es so etwas wie einen gerechten Kapitalismus? Das zehnte Kapitel schließlich analysiert, wie wir uns in einer idealen Gesellschaft kleiden könnten. Wer würde Kleidung designen und produzieren? Wie würde die Modewelt ohne soziale Zuschreibungen von Geschlecht, ohne Konstrukte wie race (»Rasse«) oder Klasse aussehen? Würde sie überhaupt existieren?

Ich stimme dem Aktivisten und Ökonomen Michael Albert zu, der schrieb, dass »unsere negativen und kritischen Botschaften nicht Wut und Aktivismus erzeugen, sondern lediglich noch mehr Beweise dafür anhäufen, dass der Feind außer Reichweite ist«.43 Obwohl es entscheidend ist, die Machenschaften der Modeindustrie zu enthüllen, hoffe ich, dass ich nicht in die Falle getappt bin, die Michael Albert meinte. Somit enden die drei letzten Kapitel mit Verbesserungsvorschlägen für die Zukunft. Ich möchte hier noch einmal betonen, dass die Modeindustrie als Teil des Kapitalismus gesehen werden muss. Der Kapitalismus ist kein Naturzustand, sondern ein wirtschaftliches System mit einer Geschichte, und was angefangen hat, kann auch wieder enden.44 Wie Ursula Le Guin es ausdrückte: »Wir leben im Kapitalismus und glauben, seiner Macht nicht entkommen zu können – andererseits war das damals auch mit dem göttlichen Recht der Könige so. Gegen jede von Menschen ausgeübte Macht können Menschen sich wehren und sie verändern.«45 Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beitragen kann, den Kapitalismus wieder in den Fokus zu rücken, damit er eben nicht mehr zu nah an unserem Auge ist für eine objektive Betrachtung. Mein Ziel ist, mit diesem Buch einen Faden aus dem kapitalistischen System herauszulösen und zu zeigen, was hinter der Kleidung steckt, die wir tagtäglich tragen. Hoffentlich werden Sie am Ende des Buchs weiter an diesem Faden ziehen wollen, bis sich dieses ganze System irgendwann entwirrt und wir daraus etwas Neues und Schönes entwerfen können.

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Mode besitzen

Linkenholt ist ein beschauliches Dorf in der südenglischen Grafschaft Hampshire. Gänseblümchen wachsen am Wegrand, auf den gepflegten Rasenflächen stolzieren Truthähne umher und der winzige Dorfladen wird aus einem Zimmer im Erdgeschoss eines Wohnhauses heraus betrieben. Der Bus kommt nur auf Bestellung, der Schmied arbeitet manchmal tagelang, ohne einen anderen Menschen zu Gesicht zu bekommen, und man erzählt sich immer noch die Geschichte der zwei Schwestern, die eines Abends mit ihren Fahrrädern den Hügel hinunter zu einem Tanz fuhren und dort zwei Brüder trafen, die später ihre Ehemänner wurden. Die beiden Damen sind inzwischen um die achtzig Jahre alt.

Linkenholt und die etwa 800 Hektar Land in der Umgebung des Dorfes wurden 2009 zum Verkauf angeboten. Es war ein außergewöhnliches Ereignis, das international Aufsehen erregte – komplette englische Dörfer sind schließlich nicht oft auf dem Markt zu haben. Inmitten der Finanzkrise belief sich die Kaufsumme auf etwa 25 Millionen Britische Pfund, was deutlich unter dem tatsächlichen Wert lag. Das Schicksal der Region und der Ortsansässigen gelangte durch dieses Geschäft in die Hände eines einzigen Mannes: Stefan Persson. Sie lernten ihn schon einen Tag nach Unterzeichnung des Kaufvertrags kennen, als der neue »Gutsherr« ein Spanferkel spendierte, allen die Hand schüttelte und alles in allem einen guten Eindruck machte. Seit diesem Tag hat man ihn allerdings nie wieder gesehen. Weder lebt er in der Nähe, noch kommt er vorbei, um auf seinen Ländereien Fasane zu schießen. Die nächstgelegene Verbindung zu den Reichtümern dieser ominösen Gestalt liegt in der siebzehn Kilometer entfernten Kleinstadt Newbury. Es handelt sich um ein großes Geschäft mit Glasfront und rotem Logo, wo man Leggins, günstige Jeans, Kapuzenpullover und paillettenbesetzte Kleider kaufen kann. Es ist immer voll, genauso wie die anderen rund 4500 Filialen der günstigen Modekette, die inzwischen den ganzen Planeten umspannt. Die Rede ist von H&M, dem schwedischen Textilhandelsunternehmen, das Stefan Persson von seinem Vater geerbt hatte. Auch nach seinem Rücktritt als Aufsichtstratsvorsitzender im Mai 2020, ein Posten, den er 22 Jahre innehatte, bleibt er die reichste Person Schwedens. Auf der Website des Wirtschaftsmagazins Forbes