Der Duft von Glück - Ladina Bordoli - E-Book

Der Duft von Glück E-Book

Ladina Bordoli

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Beschreibung

Die Erfindung der zartschmelzenden Schokolade

Schweiz, 1879: Amelie Ammann arbeitet mit großer Begeisterung in der revolutionären Schokoladenfabrik Cailler. Die Chefin Fanny Peter-Cailler sieht sie bereits als ihre Nachfolgerin. Dann aber lernt Amelie den attraktiven Schokoladenpionier Rodolphe Lindt kennen und verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Für ihn zieht sie nach Bern und wird zu Rodolphes rechter Hand in seiner Fabrik. Es ist eine verrückte Zeit voller Leidenschaft und Erfindergeist. Nach einer Weile jedoch muss sich Amelie eingestehen, dass Rodolphes Liebe in erster Linie der Schokolade gilt. Enttäuscht wendet sie sich von ihm ab und heiratet den charmanten Arzt Wilhelm. Vergessen kann sie Rodolphe Lindt und die Welt der Schokolade allerdings nicht. Und dann trifft sie Rodolphe unverhofft wieder …

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Seitenzahl: 457

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

»Rodolphe …«, flüsterte Amelie und fuhr die Innenfläche seiner Hand nach. »Ich wünsche mir eine Hand wie die deine, nur kleiner. Eine, die wir gemeinsam erschaffen haben. Du und ich.«

Er schwieg. Viel zu lange. Irgendwann murmelte er: »Ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin.«

»Das verstehe ich. Aber weißt du, für ein Kind ist man nie bereit. Es ist ein Abenteuer, das wir nicht planen können, aber gemeinsam erleben dürfen.« Sie machte eine Pause und ließ ihre Worte wirken. »Auch ich habe manchmal Angst davor, glaub mir. Mit dir an meiner Seite aber möchte ich es wagen.« Sie stützte sich auf einen Ellenbogen, um ihn anzusehen. Rodolphe hingegen starrte mit glasigem Blick ins Leere.

»Ich glaube nicht, dass das das Richtige für mich ist, Amelie.«

»Was ist es denn, was du willst?«, fragte sie eine Spur schärfer, denn seine Worte hatten ihr einen schmerzhaften Stich versetzt. »Ewig so weitermachen?« Sie machte eine alles einschließende Handbewegung.

»Vielleicht ja, Amelie. Vielleicht ist es genau das, was ich möchte.« Er wandte sich wieder ab und starrte mit zusammengepressten Lippen an die Decke.

»Für dich ist das alles ganz simpel, oder? In den Tag hineinleben, ohne sich Gedanken machen zu müssen. Nur für mich …« Sie schluckte leer. »Für mich ist es etwas anders, Rodolphe.« Amelie holte tief Luft und erhob sich. Dann sammelte sie ihre Kleidung ein und zog sich an. »Ich habe viel zu verlieren.«

Die Autorin

Ladina Bordoli wurde 1984 in der Schweiz geboren. Sie ist eine ausgebildete Fachfrau für Unternehmensführung, Miteigentümerin einer eigenen Werbetechnik-Firma und arbeitet als Geschäftsführerin im elterlichen Bauunternehmen. Ihre Leidenschaft gilt jedoch dem Schreiben, dem sie sich überwiegend am Wochenende und an den Feiertagen widmet. Sie lebt im Prättigau, einem kleinen Tal in den Schweizer Alpen. Nach dem Erfolg ihrer dreibändigen »Mandelli-Saga« schreibt sie nach »Der Geschmack von Freiheit« mit »Der Duft von Glück« nun die Geschichte der großen Schweizer Chocolatier-Familien weiter.

Ladina Bordoli

Der Duft von Glück

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Originalausgabe 12/2025

Copyright © 2025 by Ladina Bordoli

Copyright © 2025 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Katja Bendels

Umschlaggestaltung: bürosüd, München,

unter Verwendung von © Richard Jenkins und www.buerosued.de

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-30475-1V002

www.heyne.de

Ich hatte einen Traum. Von einer Praline, deren Oberfläche dermaßen luxuriös und seidenglatt war, dass sich das Licht darin spiegelte und die Schokolade in Gold verwandelte. Die feste, bittersüße Schale zerbrach auf der Zunge, und der Kern ergoss sich wie flüssiges Gold in den Mund. Sie war die Königin der Pralinen.

Amelie Sahli, 1906

1

Bern, Dezember 1879

Abgelenkt durch das rhythmische Zischen und Schnauben der Maschinen, marschierte Rodolphe Lindt in seiner neu gegründeten Schokoladenfabrik auf und ab. Rod. Lindt fils prangte seit Anfang des Jahres in geschwungenen Lettern auf der frisch gestrichenen Fassade derselben. Der bittersüße Duft warmer Schokolade erfüllte den Fabrikraum, der kaum größer als ein herkömmliches Zimmer war.

Immer wieder warf Rodolphe einen Blick aus einem der zahlreichen trüben Fenster hinaus in die Wasserwerkgasse. Im Berner Mattequartier herrschte trotz der beißenden Kälte und der Feuchtigkeit, die vom Flussufer aufstieg, reges Treiben. Am Rande der Altstadt und direkt am Aare-Ufer gelegen, hatten viele Industriebetriebe diesen Teil der Stadt als Standort für ihre Produktion gewählt. So zählten eine Hammerschmiede, eine Etuifabrik, eine Furniersägerei, eine Silberschmiede und viele weitere Handwerksbetriebe zu Rodolphes Nachbarn. Droschken und Fuhrwerke ratterten durch die schneebedeckten Gassen, in Wollmäntel und Mützen verpackte Fabrikarbeiter luden Waren aus, während einige schmutzstarre Arbeiterkinder lachend Fangen spielten. Heute schien das blasse Sonnenlicht förmlich auf der Straße und an den Fassaden der umliegenden Häuser zu kleben, als hätte es beschlossen, ausnahmsweise nicht hinter dem Horizont zu verschwinden.

Rodolphe schnalzte mit der Zunge, wandte sich vom Fenster ab und starrte auf die Conchiermaschine, eine muschelförmige Längsreibemaschine, die er im Frühling in Ittingen erstanden und weiterentwickelt hatte. Seit Monaten versuchte er mithilfe seines Vaters, aus der bitteren und sandigen Schokolade etwas Genießbareres zu erschaffen. Bisher hatte Schokolade mit Genuss nämlich rein gar nichts zu tun, fand Rodolphe. Damit sie als Getränk konsumiert werden konnte, musste man sie mit allerhand Gewürzen und Zucker verfeinern. Kein Wunder also, dass Tafelschokolade immer noch auf ihre sättigende Wirkung reduziert und in Apotheken als Arzneimittel verkauft wurde. Mit der eigens dafür konstruierten »Conche« beabsichtigte er, diesen unerfreulichen Umstand zu ändern.

Trotz der Tatsache, dass Rodolphe von der Genialität seiner Erfindung überzeugt war, strafte ihn das Leben seit Gründung der Fabrik mit Misserfolg. Selbst sein Vater, ein gelernter Apotheker mit eigenem Betrieb, wusste keinen Rat. Dennoch trieben ihn sein Instinkt und seine Neugierde stetig weiter. Aufgeben war keine Option, schließlich war er erst vierundzwanzig und hatte noch sein ganzes Leben vor sich.

Endlich legte sich die Dämmerung über Bern, und Rodolphes Taschenuhr bestätigte, dass es an der Zeit war, sich anderen Dingen zuzuwenden. Sein Puls beschleunigte sich, eilig verließ er die Manufaktur. Da er keine Angestellten besaß und sein Vater heute Nachmittag in der Apotheke weilte, war er niemandem eine Erklärung schuldig.

Draußen auf der Straße winkte er sich eine der Droschken herbei und nannte dem Betreiber die Adresse seines Zuhauses an der Schosshalde im Osten von Bern. Dort lebte er zusammen mit seinen Eltern, seinem Bruder August und fünf Schwestern in einem dreistöckigen, würfelförmigen Sandsteinbau mit Mansarddach.

Rodolphe stieg die wenigen Steinstufen hinauf zum Erdgeschoss, das er allein bewohnte; die beiden oberen Etagen waren dem Rest der Familie vorbehalten.

Das Abendessen nahm die Familie für gewöhnlich gemeinsam ein. Heute jedoch ließ Rodolphe durch eine Hausangestellte ausrichten, dass er unter Kopf- und Gliederschmerzen leide und ihm ein belegtes Brot und etwas Suppe in seinen eigenen vier Wänden reiche.

Seufzend schritt Rodolphe durch die Stube, zündete die Petroleumlampen an und ging in sein Zimmer, wo er sich ein frisches Hemd anzog und Hose und Jackett wechselte. Nebenbei aß er hastig einige Bissen. Anschließend betrachtete er sich kritisch im Spiegel. Die Hosenbeine waren zu kurz und wiesen am Saum Gebrauchsspuren auf. Beim Kittel fehlte ein Knopf, und die Tasche war eingerissen. Zudem spannte die Jacke an den Schultern, und für die Hose brauchte er definitiv keinen Gürtel, damit sie dort blieb, wo sie war. Er fragte sich, ob der Seitenscheitel seiner dunklen Haare wohl erneut mit Pomade fixiert werden musste. Nachdenklich strich er sich den kurzen Schnurrbart glatt. Auch dieser sah heute nicht so aus wie sonst. Ärgerlich, aber möglicherweise gerade passend.

Es war ein verrückter Plan, den er mit Amelie zusammen ausgeheckt hatte. Ein Grinsen zog seine Mundwinkel nach oben, als er sich erinnerte, dass es nicht einmal seine Idee gewesen war, sondern ihre!

Dass sich hinter ihren blauen Katzenaugen womöglich mehr verbarg, als sie preisgab, ahnte er schon seit ihrer ersten Begegnung im Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern. Trotzdem hatte es ihm kurz die Sprache verschlagen, als sie beim letzten ihrer gelegentlichen Sonntagsspaziergänge vorgeschlagen hatte: »Rodolphe … lass uns etwas Verrücktes tun!«

»Verrückt?«, hatte er gefragt und dabei ihr herzförmiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den vollen Lippen und der etwas zu großen Nase gemustert.

»Ganz genau«, hatte sie geantwortet und ihn in ihren haarsträubenden Plan eingeweiht.

Verrückt schien ihm vor allem die Tatsache, dass er sich in diesem Jahr noch mit keinem anderen Mädchen getroffen hatte, sich allein damit begnügte, mit Amelie spazieren zu gehen, und ihr (niemand möge es je erfahren) Briefe schrieb.

Amelie Ammann. Sie war eine Klasse für sich. So sehr sogar, dass Rodolphe sich an diesem Dezemberfreitag, ohne seinen Eltern Bescheid zu geben, aus dem Haus schlich und zu Fuß in der Dunkelheit verschwand. Erst auf halbem Weg zur Innenstadt wagte er es, eine Droschke herbeizuwinken. Der Fuhrmann musterte ihn mit in Falten gelegter Stirn, und plötzlich wurde Rodolphe bewusst, dass sein Aufzug womöglich implizierte, ihm könnte es an Geld mangeln, um die Fahrt zu bezahlen.

»Hier bitte, das sollte reichen.« Er kramte in der Innentasche seines Mantels und beeilte sich, dem Fuhrmann einige Münzen in die Hand zu drücken. Dieser starrte ihn mit fragend hochgezogener Augenbraue an und bedeutete ihm mit einer Geste, Platz zu nehmen.

»Wünscht der Herr, dass ich die Laterne anzünde? Das kostet zehn Rappen extra pro Viertelstunde. Ihre Münzen reichen gerade noch für ein Mal.« Der Fuhrmann drehte sich zu ihm um.

»Nicht nötig, mein Ziel ist nah. Behalten Sie den Rest, und bringen Sie mich bitte zum Mühlenplatz.« Rodolphe setzte sich. Sie hatten vereinbart, dass Amelie dort in ihrer Droschke auf ihn warten würde. Auf keinen Fall sollte sie das Gefährt ohne seine Begleitung verlassen.

Der Mühlenplatz befand sich nur wenige Gehminuten von seiner Fabrik entfernt im Mattequartier. Ihr gemeinsames Ziel, das Fischerstübli, lag einige Meter weiter, in der angrenzenden Gerberngasse. Obwohl Rodolphe die meiste Zeit der Woche in diesem Viertel verbrachte, so gehörten die Freizeitangebote dieser Gegend jedoch nicht zu jenen, die er frequentierte. Hier trafen sich die Fabrikarbeiter, deren Behausungen sich wie Bienenstöcke zwischen die Gebäude der Industriebetriebe quetschten. Besagte Pintenwirtschaft, deren Populärname Dreckiger Löffel lautete, besaß einen zweifelhaften Ruf. Wahrlich, Amelie hatte nicht übertrieben, als sie ihren Vorschlag verrückt genannt hatte …

Als Sohn eines Politikers – sein Vater war Großrat und Gemeinderat der Stadt Bern – war Rodolphe der Klötzlikeller in der Gerechtigkeitsgasse eher ein Begriff. Im Gegensatz zum Fischerstübli war er dort jedoch kein Unbekannter. Das war mit ein Grund, warum er Amelies wahnwitziger Idee, sich in den Schmelztiegel der Fabrikarbeiter zu begeben, zugestimmt hatte.

Nach kurzer Zeit erreichte die Droschke den Mühlenplatz. Rodolphe sah im Schein der umliegenden Gaslaternen den Umriss eines Gefährts, das neben dem Matten-Schulhaus geparkt hatte. Sein Puls beschleunigte sich. Eilig stieg er aus, setzte seine Baskenmütze auf und zog den Wollmantel enger um den Leib. Auch dieser sah aus, als habe er schon bessere Tage erlebt.

Schnee rieselte vom Himmel und funkelte im Licht der Straßenlaternen. Endlich öffnete sich die Tür der zweiten Droschke auf dem Mühlenplatz, und Amelie stieg aus. Sie trug ein dunkles Kleid aus grobem Stoff, eine helle Schürze und einen dicken grauen Wollumhang. Die hochgesteckten dunkelblonden Haare verbarg sie unter einem Glockenhut, wobei sich einige Strähnen aus der Frisur gelöst hatten und ihr Kinn in sanften Wellen umschmeichelten. Ein breites Grinsen entblößte ihre charakteristische Zahnlücke, als sie hastig auf Rodolphe zukam und mit einem übertriebenen Knicks vor ihm stehen blieb.

»Und, wie findest du mich?« Sie drehte sich einmal im Kreis, wobei der Schnee unter ihren Lederstiefeln knirschte.

»Sieht sehr echt aus, würde ich sagen. Erinnert mich an die Frauen, die in den Textilfabriken arbeiten«, lobte Rodolphe ihre Verkleidung.

»Allerdings bin ich heute nicht der Arbeit halber hier …« Sie zwinkerte ihm zu. »Deshalb habe ich mich herausgeputzt und mein bestes Kleid angezogen. Schließlich wird man nicht jeden Tag von einem Herrn ausgeführt.«

»Du siehst bezaubernd aus.« Rodolphe bot ihr seinen Arm. »Das meine ich ernst. Es gibt keine Kleidung auf dieser Welt, die deine Schönheit verbergen könnte.«

»Danke«, erwiderte sie, senkte den Blick und hakte sich bei ihm unter.

Das Fischerstübli war unübersehbar. Selbst wenn die Schrift an der Fassade ausgeblichen war und der Schein der nächstgelegenen Laterne kaum bis dorthin reichte, stach einem das Lokal in die Augen. Vor dem Eingang tummelte sich eine Traube teils angetrunkener Gäste. Lautes Gelächter und Gesang erfüllten die Gerberngasse. Aus den Fenstern der Eingangstür zur Schenke drang mattes Licht auf die Straße, deren schmutzig-grauer Schnee überall mit Fußspuren übersät war.

Als sie eintreten wollten, wurde die Tür ruckartig aufgerissen, und ein bärtiger Mann mittleren Alters torkelte heraus. Ein Schwall warmer Luft, vermischt mit dem Geruch nach Bier, Rauch und menschlichen Ausdünstungen, erfasste sie. Reflexartig zog Rodolphe Amelie zur Seite, damit sie von dem Betrunkenen nicht umgerannt wurde. Ein Blick ins Innere der Pintenwirtschaft bestätigte ihm, was er schon wusste.

»Bist du sicher, dass du da hinein möchtest?«, fragte er daher sicherheitshalber nochmals bei Amelie nach.

Doch die lachte nur, stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und sagte: »Ach Rodolphe, glaubst du, ich sehe so etwas zum ersten Mal? Dann hätte ich wohl kaum vorgeschlagen hierherzukommen. Los, gehen wir rein, ehe wir uns hier noch die Zehen abfrieren. Mir ist kalt.«

Im Gastraum war es so laut, dass sie sich nur mit Gesten verständigen konnten. Rodolphe hielt Amelies Hand deshalb fest umschlossen, um sie in dem Gewühl aus tanzenden, lachenden und grölenden Menschen nicht zu verlieren. Petroleumlampen verströmten ein kaltes Licht, und die Wände waren mit vergilbten Fotografien und Malereien verziert. Eine grimmig dreinblickende Dame mit weißem Haar knallte an einem Ausschanktisch einen gefüllten Bierhumpen nach dem anderen auf den Tresen, während eine deutlich jüngere Ausgabe derselben die Getränke an die Tische brachte. Der Hausherr, ein dickwanstiger Schnauzträger, trieb die beiden Damen mit harschen Worten an. Im hinteren Teil der Schankstube spielte heute Abend ein Mann mit zerschlissenem Frack auf dem Piano.

Die Gaststube war zum Bersten voll, weshalb es Rodolphe nur mit Mühe gelang, für sich und Amelie einen freien Sitzplatz am Ende einer Holzbank zu ergattern. Er bestellte für sie beide Bier, wie es hier üblich war. Für viele der Fabrikarbeiter ersetzte der nahrhafte Gerstensaft gar die Mahlzeit.

Rodolphe beobachtete Amelie, wie sie dem Geschehen mit einem Glitzern in den Augen und einem feinen Lächeln auf den Lippen zusah. Hin und wieder nahm sie einen Schluck ihres Getränks und strich mit dem Finger über das beschlagene Glas.

Er hätte sich gerne mit ihr unterhalten und dabei die Bewegung ihrer Lippen beobachtet. Bei dem vorherrschenden Getöse blieb ihm allerdings nur die schweigsame Zwiesprache ihrer gelegentlichen Blicke. Blicke, die sie nie unterbrach, bevor er es nicht tat.

Zu später Stunde fühlten sich dann einige der Anwesenden dazu berufen, ihre Gesangskünste oder andere Fertigkeiten zu präsentieren. Ein junger Mann führte Zaubertricks vor. Amelie klatschte begeistert, grinste Rodolphe an und streifte ihn mit einer flüchtigen Geste an der Hand. Er hielt die Luft an, unfähig, sich zu bewegen. Seine Finger prickelten. Rodolphe vermochte nicht zu erraten, ob die Berührung dem Zufall geschuldet war oder nicht.

Nachdem der Zauberkünstler einige Münzen eingesammelt und das Lokal verlassen hatte, wurde es noch lauter im Fischerstübli. Jemand hatte sein Akkordeon mitgebracht und spielte eine lebhafte Melodie. Ein Weiterer stimmte mit seiner Fidel ein. Sofort sprangen einige der Gäste begeistert von ihren Bänken auf, kletterten auf die Tische und tanzten.

Rodolphe sah Amelie an. War jetzt der Moment gekommen, nach Hause zu gehen? Bevor er sich dazu jedoch nähere Gedanken machen konnte, raffte sie ihre Röcke, stieg auf den Tisch und hielt ihm mit einem auffordernden Lächeln die Hand hin. Den Kopf leicht schief gelegt, rief sie: »Los, tanzen wir!«

Rodolphe zögerte und sah sich um. Schließlich kletterte er zu ihr auf die Tischplatte. So nah war er ihr noch nie gekommen. Ihre Nasen berührten sich beinahe, und er konnte ihren warmen Atem auf seinem Gesicht spüren. Einen Moment rang er mit sich. Für gewöhnlich überlegte er nicht lange, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, einem Mädchen näherzukommen. Schließlich warf er die letzten Bedenken über Bord; seit wann verhielt er sich eigentlich so widernatürlich? Beherzt schlang er seine Arme um ihre Taille und zog sie näher zu sich heran. Dazu kam, dass sie beide vom Tisch heruntergefallen wären, wenn er nicht reagiert hätte. Außerdem bestätigte ihm ein Blick in die Runde der anderen Gäste, dass sich hier niemand um Züchtigkeit scherte.

Ihren Körper und dessen weiche Rundungen so nahe an seinem zu spüren, ließ Rodolphes Herz schneller schlagen. Wärme erfüllte seine Mitte und benebelte sein ohnehin vom Bier träge gewordenes Hirn. Ihre glänzenden vollen Lippen tanzten vor seinen Augen auf und ab, doch er kämpfte den Drang nieder, sie in aller Öffentlichkeit zu küssen. Bei jeder anderen hätte er das gewagt, bei Amelie jedoch hielt ihn etwas zurück. Als stünde ihm der Zwiespalt seiner Gedanken ins Antlitz geschrieben, fixierte sie ihn. Ein geheimnisvolles Lächeln schimmerte auf ihren Lippen, während sie sich zum Takt der Musik bewegten. Ihr Gesicht näherte sich seinem, bis er ihren Atem auf seinen Lippen spüren konnte. Sie sah ihn an, ihr Augenausdruck eine stumme Aufforderung. Rodolphe schloss die Augen, als er sie küsste. Endlich küsste.

Gegen ein Uhr in der Früh beschlossen sie, sich auf den Heimweg zu begeben. Arm in Arm verließen sie das Fischerstübli und traten auf die schneebedeckte Gasse davor. Ein blasser Sichelmond hing am Himmel und wurde von einigen Wolken umschmeichelt.

»Arbeitest du morgen in deiner Fabrik?«, erkundigte sich Amelie, die sich einige Tage freigenommen hatte, um ihre Eltern hier in der Stadt zu besuchen, wie sie ihm vor drei Wochen bei ihrem letzten Sonntagsspaziergang mitgeteilt hatte. Derzeit wohnte Amelie nicht in Bern, sondern arbeitete in Vevey, in der Schokoladenfabrik Peter-Cailler et Compagnie. Dass sie sich im Frühling im Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern im Kirchenfeld nahe seinem Wohnort über den Weg gelaufen waren, grenzte daher an ein Wunder. Ebenso wie ihre gemeinsame Passion für Schokolade.

Rodolphe nickte. »Grundsätzlich ja, meine Forschung lässt mich nicht ruhen. Trotzdem werde ich morgen etwas später anfangen.« Er zwinkerte ihr zu. Natürlich hatte er ihr nicht im Detail erzählt, woran er arbeitete. Die aufkeimende Leidenschaft zwischen ihnen durfte ihn nicht blind für das Offensichtliche machen. Sie beide waren letzten Endes nicht nur Liebende, sondern ebenso Konkurrenten auf dem Schokoladenmarkt. Amelies Arbeitgeber in der Westschweiz waren schließlich keine Geringeren als Fanny und Daniel Peter-Cailler, ihres Zeichens Tochter und Schwiegersohn des berühmten Schokoladenpioniers François-Louis Cailler. Bekanntermaßen hatte das Pionierehepaar die erste Milchschokolade auf den Markt gebracht und zu diesem Zweck ein Verfahren erfunden, das in der gesamten Schweiz Geschichte geschrieben hatte.

»Hm … das ist schade«, unterbrach Amelie seine Gedanken. Erstaunt sah er auf und suchte ihren Blick. Er hatte soeben den Arm hochgehoben, um eine Droschke herzuwinken, ließ ihn aber wieder fallen.

»Ich meine …« Sie rang nach Worten, sah zu Boden und scharrte mit den Stiefeln über den Schnee. Schließlich schaute sie ihm mit festem Blick in die Augen. »Meine Eltern sind in Montreux und besuchen die Verwandten meiner Mutter«, platzte es aus ihr heraus. Einige Sekunden herrschte Stille. Rodolphe musste das Gehörte zuerst verarbeiten. Sein Puls beschleunigte sich. »Elsa, unsere Hausangestellte, nutzt diese Gelegenheit, um ihrer Schwester auf dem Land einen Besuch abzustatten«, fuhr Amelie fort und sah ihm dabei tief in die Augen. Er erkannte es, wenn er es sah: Verlangen.

»Sagtest du nicht, dass du dieses Wochenende absichtlich nach Bern kommst, um deine Eltern zu besuchen?« Er musterte ihre Gesichtszüge. Leider war es zu dunkel und zu kalt, als dass er hätte erkennen können, ob eine leichte Röte ihren Hals hinauf in die Wangen kroch.

Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte. »Vielleicht kam mein Brief nicht rechtzeitig an, und sie hatten den Besuch in Montreux schon länger geplant?« Sie zuckte die Schultern. »Genau weiß ich es nicht. Jedenfalls … bin ich allein.« Schweigend sah sie ihn an.

Er schluckte leer. Sie spielte mit dem Feuer. Wusste sie, was sie tat?

»Fürchtest du dich im Haus?«, fragte er zögerlich und musterte sie.

»Möglicherweise tue ich das, ja. Wie gesagt, Elsa ist ebenfalls weg.« Ihre Finger berührten flüchtig seine Hand. »Bitte«, flüsterte sie. Oder hatte er sich das nur eingebildet?

»Dann begleite ich dich.« Rodolphe winkte endlich eine Droschke herbei. Er half Amelie beim Einsteigen und folgte ihr dann ins Innere des Gefährts.

Als Rodolphe am Montag in den frühen Morgenstunden vor seinem Elternhaus aus der Droschke stieg, trug er immer noch den abgewetzten Anzug vom Freitag. Müde schleppte er sich die Steinstufen hinauf zu seiner Wohnetage und öffnete die Haustür. Mattes Licht empfing ihn. Viel geschlafen hatten sie nicht, dafür …

»Rodolphe, Gott sei Dank!« Sein Vater trat unvermittelt aus dem Schatten im Vorraum und umarmte ihn stürmisch. Etwas, das er nie tat und das eher in den Zuständigkeitsbereich seiner Mutter gehörte. »Deine Mama und ich haben uns furchtbare Sorgen gemacht!«, stieß er hervor, schob Rodolphe ein wenig von sich und musterte ihn mit zunehmender Verwirrung. »Wie siehst du denn aus? Ist dir etwas zugestoßen?« Besorgnis färbte seine Stimme. Und ohne Rodolphes Antwort abzuwarten, fuhr er atemlos fort: »Deiner Mutter ging es dermaßen schlecht, dass sie einen Baldriantee nehmen musste, damit sie endlich einige Stunden schlafen kann.« Was erklärte, warum sie nicht Teil des nächtlichen Empfangskomitees war.

Der Umstand, dass Rodolphe noch immer beharrlich schwieg, bewirkte eine Wandlung im Befinden seines Vaters. Die zum Ausdruck gebrachte Sorge verblasste allmählich. Seine Augen verengten sich, und er legte die Stirn in Falten. Mit eindringlichem Blick fixierte er ihn. »Wo in Dreiteufelsnamen warst du?« Ein schneidender Tonfall unterstrich den Stimmungswechsel.

»Unterwegs, Papa. Ein Mann in meinem Alter muss seinen Eltern keine Rechenschaft über sein Tun ablegen.« Rodolphe wollte sich an seinem Vater vorbeizwängen. Dieser packte ihn allerdings am Arm. Die Augen hinter seiner feinen Goldbrille blitzten verärgert auf, und sein graumelierter Bart zitterte, als er zwischen zusammengepressten Lippen hervorstieß: »Solange du unter meinem Dach wohnst und an meinem Tisch isst, ist es sehr wohl mein Recht zu erfahren, wo du dich herumtreibst. Nicht zuletzt deshalb, weil ich aufgrund meiner politischen Ämter in der Öffentlichkeit stehe.« Er kramte in der Hosentasche nach einem Stofftaschentuch und tupfte sich einige Schweißperlen von der kahlen Schädeldecke.

»Wir haben im Klötzlikeller nach dir gefragt, erstaunlicherweise hat dich jedoch keine der Damen gesehen.« Es war nicht das erste Mal, dass sein Vater ihn für seinen Lebenswandel tadelte – und ihm nachspionierte wie einem Schuljungen! »Wenn du nicht dort warst, wo hast du dich denn dann herumgetrieben? Zwei Tage und fast drei Nächte lang!« Die Empörung färbte Papas Wangen rot. »Du warst am Samstag nicht einmal bei der Arbeit.«

Das war in der Tat noch nie vorgekommen, da stimmte ihm Rodolphe insgeheim zu. Die Umstände waren dieses Mal allerdings außerordentlich gewesen.

»Es tut mir leid, das wird nicht mehr vorkommen, Vater.« Er wandte sich ab, um in seine Wohnung zu gehen. Kurz vor der Tür zu seinen Räumlichkeiten blieb er jedoch nochmals stehen und drehte sich um. »Dennoch möchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass dies meine Fabrik ist, Vater. Es obliegt meiner Verantwortung und Einschätzung, ob ich samstags arbeite … oder nicht.«

Sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue. »Ach ja?« Langsam kam er näher. »Dann bist du dir sicher auch bewusst, dass die Conchiermaschine seit Freitagabend eingeschaltet war? Durchgehend?« Er ließ seine Worte ein wenig wirken, sprach aber weiter, bevor Rodolphe aus seiner Schockstarre erwachen und etwas erwidern konnte. Eiseskälte griff nach seinem Herz, als er begriff, was sein Vater da soeben gesagt hatte.

»Als pflichtbewusster und versierter Chocolatier weißt du, dass man eine Conche nie aus den Augen lassen darf!«, donnerte sein Vater weiter.

Natürlich wusste Rodolphe das.

Besagte Apparatur bestand aus einem flachen, länglichen Granitbecken, über das sich Granitwalzen vor- und zurückbewegten. Durch die dabei entstehende Reibung wurde die Masse im Behälter auf 76 °C bis 78 °C erwärmt und dadurch flüssig. Während des Prozesses schlugen die Walzen gegen die Ränder des Beckens, sodass die Schokoladenessenz über die Rollen zurück in den Hauptteil des Mechanismus schwappte und die Restfeuchtigkeit dabei allmählich verdunstete.

Er schluckte leer, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Es war stets eine Person vonnöten, die die klebrige Masse an den richtigen Stellen entfernte und so ein Aushärten verhinderte.

»Gut«, fasste Papa sein Schweigen als Zustimmung auf. »Dann kannst du dem Herrn danken, dass dein alter Vater am Samstag und am Sonntag arbeiten ging, obwohl es nicht meine Fabrik ist.«

»Warum hast du die Maschine nicht einfach abgestellt?«, fragte Rodolphe lapidar, weil ihm nichts Besseres einfiel. Wie hatte das passieren können? Wo war er denn die ganze Zeit mit seinen Gedanken gewesen? Nun, er hatte eine ungefähre Vorstellung davon, aber das durfte er seinem alten Herrn natürlich auf gar keinen Fall mitteilen.

Papa gestikulierte mit den Händen und erwiderte: »Ich ahnte ja nicht, was du vorhattest, nahm an, das sei ein neues Experiment, die längere Conchierzeit. Wer bin ich, dir in dein Werk zu pfuschen? Ein Wutanfall deinerseits wäre mir gewiss gewesen, Sohn.« Er holte tief Luft und musterte Rodolphe eindringlich. »Dann war das also gar keine Absicht?«

Rodolphe schüttelte den Kopf.

Papa seufzte und strich sich mit den Händen über die Glatze. »Eigentlich sollte ich dich für deine Dummheit und Liederlichkeit ohrfeigen, mein Sohn, aber …« Er brach ab.

»Aber was?«, hakte Rodolphe nach.

»Die Schokoladenmasse war noch nie so perfekt, Rodolphe. Mattglänzend und flüssig. Sie lässt sich ganz leicht in eine Form gießen. Diese Schokolade ist einzigartig im Aroma und zergeht auf der Zunge.« Unerwartet glitzerten Tränen in Papas Augen, die Wut darin war verflogen. »Geh jetzt ein paar Stunden schlafen, Rodolphe, und dann komm in die Fabrik und sieh dir an, was du erschaffen hast.« Er griff nach seiner Hand und drückte sie. »Du hast einen Grand Cru gekeltert, mein Sohn.«

2

Amelie stieg am Bahnhof Bern aus der Bahn und stellte ihren Koffer ab. Maman und Papa erwarteten sie bereits. Sie winkten und eilten herbei, um sie zu begrüßen.

»Amelie, chérie!« Maman strich ihr liebevoll über die Wange und drückte sie minutenlang an sich; so lange, dass es schon unangenehm war.

Papa zwirbelte seinen Schnurrbart zwischen Daumen und Zeigefinger und richtete seine runde Goldbrille. »Willkommen zuhause, Kind«, murmelte er, blinzelte das Glitzern in den Augen hastig weg und griff dann nach ihrem Koffer.

Während sie den Bahnsteig hinter sich ließen, schweiften Amelies Gedanken zurück in die Vergangenheit. Beinahe vier Jahre war es her, seit sie ihre Heimatstadt im März 1877 verlassen hatte und in die Romandie, die französische Schweiz, aufgebrochen war, um Chocolatière zu werden. Daniel und seine Frau Fanny hatten sie bei sich in der Schokoladenfabrik Peter-Cailler et Compagnie eingestellt. Ihre gemeinsame Leidenschaft für Schokolade verband sie vom ersten Moment an auf eine besondere Art und Weise. Alsbald hatte sie dieser Umstand, gepaart mit Amelies Engagement, zu Gefährten auf Augenhöhe gemacht. Mehr noch: Fanny und Daniel vertrauten Amelie und behandelten sie zunehmend wie eine eigene Tochter. Es schien, als stünde einer glorreichen Zukunft und der Erfüllung ihres Traums nichts mehr im Weg.

Doch dann brach das Jahr 1879 an, und mit ihm kam Veränderung.

Im Frühling dieses Jahres war Amelie dem jungen Rodolphe Lindt im Lebensmittelladen ihrer Eltern begegnet. Selbst heute noch fand Amelie keine Worte für das, was in diesem Moment passiert war, als Rodolphe und sie sich zur Begrüßung angesehen hatten. In der Romandie nannten sie es le coup de foudre – Liebe auf den ersten Blick.

Bei jedem ihrer darauffolgenden Treffen waren die Gefühle intensiver und die Verbundenheit deutlicher geworden. Irgendwann hatte Amelie es nicht mehr ausgehalten und ihrer Mentorin Fanny unter Tränen gebeichtet, dass sie sich verliebt hatte. Erwartungsgemäß mahnte sie die ältere Freundin zur Vorsicht, zeigte aber auch Verständnis. Amelie erinnerte sich gut an Fannys weise Ratschläge, mit denen es ihr gelungen war, Amelie den Schatten von der Seele zu vertreiben. Vevey, die Familie Peter-Cailler und die Schokoladenfabrik blieben Amelies Zuhause.

Doch dem Dezemberabend im Fischerstübli folgten weitere Treffen mit dem Lindt-Sprössling. Heimlich und entgegen jeder Sitte liebten sie sich stundenlang. Mal bei ihr, mal bei ihm, und manchmal – weil es nicht anders ging – an Orten, die ihresgleichen gar nicht betreten sollten. Ende 1880 war Amelies Zuneigung für Rodolphe dermaßen groß, dass sie aufhörte, gegen ihr Schicksal anzukämpfen. Dazu kam, dass er ihre Hilfe brauchte, selbst wenn er es nicht zugab.

»Lass mich gehen …«, flehte sie ihre Mentorin Fanny an einem düsteren Sonntagnachmittag im Dezember an und wischte sich die Tränen von der Wange. »Denke nicht schlecht von mir, bitte.«

Ihre ältere Freundin, die ebenfalls weinte, hatte sie wortlos in die Arme geschlossen. Und auch wenn Fanny nichts sagte, so spürte Amelie doch, dass sie ihr das Herz gebrochen hatte. Oft genug hatte sie in den Augen ihrer Förderin den Stolz einer Mutter aufleuchten sehen. Doch seit diesem Dezembernachmittag war ihr Blick getrübt. Das letzte Bild, das sich Amelie zeigte, als die Bahn Vevey verließ, war Fanny am Bahnsteig. Die Hand zum Gruß erhoben, die Gesichtszüge vom Schmerz verzerrt und doch mit einem tapferen Lächeln geschmückt. Amelie fühlte sich wie eine Verräterin.

»Ich werde euer Betriebsgeheimnis für mich behalten«, hatte sie ihren Arbeitgebern versprochen und dabei auf die Bibel, ihre Eltern und ihren vor vier Jahren an Cholera gestorbenen Bruder Josef geschworen.

Doch Fanny hatte bloß leise gelacht. »Rodolphe braucht unsere Schöpfung nicht, er hat die Schokoladenwelt durch die Erfindung der Schmelzschokolade selbst revolutioniert.«

»Du hast also eine Anstellung beim jungen Lindt?«, durchbrach Papa jetzt das bleierne Schweigen und winkte einer Droschke. Schneeflocken tanzten in der untergehenden Wintersonne, und bauchige Wolken zogen auf. Während er auf Amelies Antwort wartete, betrachtete er die vorbeifahrenden Postkutschen und das geschäftige Treiben der Menschen in Bahnhofsnähe.

Amelie hatte ihre Eltern bereits in einem Brief über ihre neuen Lebenspläne informiert. Sie hatte ihnen berichtet, dass sie das Heimweh geplagt und sie deshalb nach einer Gelegenheit gesucht habe, ihren Traumberuf auch in Bern auszuleben. Zufälligerweise habe sich diese durch Rodolphes Erfindung 1879 ergeben.

Natürlich verschwieg sie dabei, warum ihr dieses Vorhaben so mühelos gelungen war. Um sein Betriebsgeheimnis unter Verschluss zu halten, hatte Rodolphe nämlich bis heute davon abgesehen, Hilfsarbeiter einzustellen. Amelie war die einzige Person, die versiert und vertraut genug war, um ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen.

»Lindt suchte jemanden mit Erfahrung in der Schokoladenherstellung, der ihm dabei hilft, die Fabrik zu führen«, erklärte Amelie und nannte Rodolphe bewusst unpersönlich beim Nachnamen. »Zudem ist er oft geschäftlich unterwegs und braucht daher einen Mitarbeiter, der die Produktion während seiner Abwesenheit selbstständig weiterführen kann. Von seinem Vater kann er das nicht verlangen, und seine Geschwister haben keinerlei Ahnung von der Materie.«

»Da hat er aber Glück, dass er dich für sich gewinnen konnte. Ich hoffe, er bezahlt dir einen anständigen Lohn.« Papa bedeutete ihr mit ernster Miene, einzusteigen und sich neben ihre Mutter zu setzen, die schon in der Droschke Platz genommen hatte.

Als sie ihr Haus im Kirchenfeld erreichten, war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden. Sie stiegen aus und warteten, während ihr Vater den Fuhrmann im fahlen Schein der Straßenlaterne bezahlte.

Amelie holte tief Luft. Da stand sie nun erneut vor dem zweistöckigen Landsitz mit dem charakteristischen Walmdach, den grünen Fensterläden und dem Lattenzaun, der das Grundstück von der Straße abgrenzte. Damals, vor fast vier Jahren, war sie sich sicher gewesen, ihr Zuhause für immer hinter sich zu lassen und das größte Abenteuer ihres Lebens zu starten. Die Welt lag ihr gefühlt mit unbegrenzten Möglichkeiten zu Füßen. Doch nun schloss sich der Kreis, und Vevey verblasste zur Erinnerung. Wortlos folgte sie ihren Eltern durch das niedrige schmiedeeiserne Tor und über den schneebedeckten Gehweg mit den Steinplatten zum Eingang.

Drinnen empfing sie wohlige Wärme. Elsa, ihre Hausangestellte, hatte in dem Kamin im Salon und dem Esszimmer ein Feuer entfacht und vermutlich die gusseisernen Zimmeröfen beheizt, sodass sie nicht in der klammen Kälte schlafen mussten. Anders als bei Rodolphe zuhause war ihr Heim noch nicht lange an die städtische Gasleitung angeschlossen worden. Die Lindts hatten zu den ersten in der Stadt gehört, denen dieser neue Komfort zuteilgeworden war. Trotzdem gehörte auch Amelies Familie zu jenen privilegierten Bürgern, die von der modernen Beleuchtung profitierten.

Papa stellte Amelies Koffer ab, half Maman aus ihrem Mantel und legte den Hut ab. In diesem Moment grummelte ihr Magen, und alle drehten sich zu ihr um.

Mit einem warmen Lächeln sagte ihr Vater: »Keine Sorge, Elsa hat uns zur Feier des Tages etwas Wunderbares zubereitet: unsere vielgerühmte Berner Platte.«

Beim Gedanken an das traditionelle Gericht lief Amelie das Wasser im Mund zusammen. Im Welschland, wie man die französische Schweiz auch nannte, hatte man zwar ähnliche Speisen aufgetischt, dennoch schmeckte die heimische Version unvergleichlich und natürlich besser. An Markttagen fand man das Mahl überall angepriesen, meist in blumigen Worten wie: »Berner Platte mit der Unterlage von Gemüse oder Sauerkraut und dem lieblich duftenden Deckel aus den edelsten Teilen des rasendurchwühlenden Schweins, vom Schnörlein und den Öhrlein weg über Hohrücken und Säufuss bis hinaus zur äußersten Spitze des Schwänzleins.«

Doch bevor sie sich ins Esszimmer begab, wollte sich Amelie kurz in ihrem Mädchenzimmer in der ersten Etage einrichten, sich umziehen und frisch machen. Unaufgefordert trug ihr Vater ihren Koffer die Treppe nach oben und setzte ihn in ihrem Zimmer neben der Tür ab. Überrascht starrte Amelie das Bett an und drehte sich dann zu Papa um. Dieser zuckte lächelnd die Schultern.

»Das entspricht der neuesten Mode. Metallgestelle sind leichter sauber zu halten, und das Ungeziefer findet nicht mehr so schnell ein wohliges Zuhause wie in deinem alten Holzbett mit dem strohgefüllten Sack.« Er kam näher. »Gefällt es dir? Es ist ein Geschenk von Maman und mir zu deiner Rückkehr. Solltest du einmal heiraten …« Er machte eine Pause und räusperte sich, »… kannst du es natürlich mitnehmen.«

»Das wäre doch nicht nötig gewesen!« Amelie umarmte ihren Vater innig. »Danke!« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Na ja, wir können uns noch nicht jeden Fortschritt, den die Stadt zu bieten hat, gleich als Erste leisten, aber wir sind auch nicht so unvermögend, dass wir im Mittelalter stehen bleiben müssen«, sagte er zwinkernd und richtete den Hosenbund. »Als Nächstes steht der Anschluss einer Hochdruckleitung auf der Liste. Dann hätten wir im gesamten Haus fließendes Wasser. Unvorstellbar, aber doch schon weit verbreitet in Bern.« Unschlüssig blieb er noch einige Sekunden stehen, wandte sich schließlich ab und schloss die Tür hinter sich. Amelie hörte seine Schritte auf den knarzenden Treppenstufen.

»Fließendes Wasser«, sinnierte sie, als sie an ihren Waschtisch trat und aus dem Krug, den Elsa bereitgestellt hatte, etwas Wasser eingoss. Bei den Lindts gab es das bereits. Ein feines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, und Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus, als sie an Rodolphe dachte. Sie entkleidete sich und wusch sich den Schweiß und den Schmutz der langen Reise vom Leib. Dabei schweiften ihre Gedanken ständig zu ihrem Liebsten und seinen Berührungen. Ab jetzt stand ihrem Glück nichts mehr im Weg.

Als sie sich wieder halbwegs wie ein normaler Mensch fühlte und der Duft der Rosenseife sie umhüllte, ging sie nach unten. Das würzige Aroma warmer Speisen drang aus dem Esszimmer in den Flur.

Der Tisch im Speisezimmer war mit einem weißen Tischtuch, verziertem Porzellangeschirr, Kristallgläsern und silbernen Kerzenständern gedeckt. Im Kamin aus dunklem Marmor flackerte und knackte ein Feuer. Ihre Rückkehr gab eindeutig Anlass zum Feiern. Da niemand im Raum war, schlenderte Amelie ein wenig herum. Über dem Kamin hing nebst den bisherigen zwei ein neues Gemälde. Es zeigte eine weitläufige Landschaft mit einem angrenzenden Wald. Nichts Spektakuläres, aber ihrer Mutter gefielen solche Darstellungen. Ebenso wie die weinroten Samtvorhänge, die von den Sitzpolstern der Holzstühle aufgegriffen wurden. Was die Einrichtung anbelangte, hatte ihr Vater kaum Mitspracherecht. Amelie leider auch nicht, sonst hätte sie das penetrante Rot längst durch etwas Frischeres wie Grün oder Senfgelb ersetzt oder sich gar mal an einem Muster versucht.

Endlich schwang die Tür ins Esszimmer auf, und Elsa erschien mit einer großen Platte. Die geringfügig ältere Frau hatte sich seit Amelies Abwesenheit kaum verändert. Amelie hatte das magere, blasse Geschöpf mit den mausbraunen Haaren und der Hakennase stets für ihre Freundlichkeit und Tüchtigkeit bewundert.

Papa, der ihr die Tür aufgehalten hatte, wartete, bis Maman eingetreten war, und bedeutete dann allen, sich zu setzen. Die Hausangestellte begann sofort damit, ihre Teller zu füllen, und schenkte ihnen danach Wasser und Wein ein. Mit einer Verbeugung entfernte sie sich und schloss die Tür.

Eine Weile sprach niemand ein Wort. Erst als der größte Hunger gestillt war, begann ihre Mutter: »Nun erzähl mal. Wie bist du denn zu deiner Anstellung beim jungen Lindt gekommen?« Sie warf Papa einen kurzen Blick zu, ehe sie sich Amelie erneut mit einem aufmunternden Lächeln zuwandte. »Ich habe nie eine Annonce in der Tageszeitung oder einen Anschlag gesehen?«

Amelie zuckte die Schultern. »Na ja, ich habe ihn einfach angeschrieben und mein Glück versucht. Die meisten Fabrikbesitzer sind ständig auf der Suche nach Arbeitern. Fanny und Daniel haben mir zudem ein Empfehlungsschreiben erstellt, das ich meiner Bewerbung beilegen konnte.« Hastig trank sie einen Schluck Wein. »Natürlich waren sie untröstlich über meinen Entscheid, in die Heimat zurückzukehren, aber sie hatten auch Verständnis für das Heimweh.« Sie nahm eine Gabel voll Sauerkraut mit Fleisch.

Ihre Eltern wechselten erneut einen Blick. Auch sie gönnten sich einen Schluck Wein.

»Und er wollte dich vorher nie treffen, um dich kennenzulernen oder arbeiten zu sehen?«, hakte Papa nach. Als Geschäftsmann war ihm der Prozess einer Neuanstellung nicht gänzlich unbekannt. Er selbst bevorzugte es, die jeweiligen Kandidaten eine Woche bei sich im Geschäft mitwirken zu lassen, damit er sah, ob sie sich für die Stelle eigneten.

»Ich denke, das Empfehlungsschreiben der Peter-Caillers hat ihn überzeugt. Zudem habe ich ein Ganzkörperfoto mitgesendet. So viele gut ausgebildete Leute gibt es in diesem Markt nicht. Die meisten, die nicht bloß Fabrikarbeiter sind, haben ihre eigene Firma und gehören daher zur Konkurrenz.« Insgeheim war Amelie stolz, dass ihr dieses Argument so rasch eingefallen war.

Mamans Kleid raschelte, als sie die Sitzposition auf ihrem Stuhl wechselte. »Hast du dich denn im Vorfeld ausführlich über deinen neuen Arbeitgeber informiert? Immerhin bist du, wie du selbst betonst, keine Fabrikarbeiterin, die ums Überleben kämpft und um jede Arbeit froh sein muss.« Sie machte eine Pause, in der sie Amelie von der Seite her ansah. Da sie im Begriff war, noch mehr zu sagen, schwieg Amelie und wartete.

»Du weißt, dass du jederzeit bei uns im Lebensmittelgeschäft einsteigen kannst. Du wärst uns eine wertvolle Stütze.« Da war es wieder, das leidige Thema rund um die Zukunft des Familienbetriebs. Eigentlich war ihr Bruder Josef als Nachfolger vorgesehen gewesen. Als er jedoch im Winter 1876/1877 wie viele – darunter auch Rodolphes Schwester Fanny – der Cholera zum Opfer gefallen war, hatte man automatisch erwartet, dass Amelie die Lücke füllen würde. Nicht zuletzt deshalb, weil sie ein Talent fürs Backen und eine große Leidenschaft für Schokolade besaß. Mit ihrer heimlichen Abreise nach Vevey hatte sie ihre Eltern daher sehr verletzt. Erwartungsgemäß hegten sie nun, nach ihrer Rückkehr in die Heimat, erneut Hoffnung.

»Natürlich würden wir dir auch Freiheiten lassen. Du könntest den Laden nach deinen Wünschen umgestalten und dich beispielsweise auf Schokolade oder Backwaren spezialisieren«, ergänzte Papa Mamans Ausführungen und sah sie erwartungsvoll an.

Amelie schluckte leer und rang nach einer Erklärung, die plausibel klang. »Es … ist aber nicht dasselbe, Schokolade zu verkaufen oder bei deren Entstehung mitzuwirken. Peter-Cailler gehört ebenso wie Lindt zu den Pionieren auf diesem Gebiet. Es ist für mich eine einmalige Gelegenheit, ein Teil ihrer Unternehmen sein zu dürfen. Nicht jeder – eine Frau schon gar nicht – hat die Chance, in die Betriebsgeheimnisse der Schokoladenpioniere eingeweiht zu werden. Ist das nicht verrückt, dass ausgerechnet ich ein solches Glückskind bin?« Sie unterstrich ihre Worte mit einem aufmunternden Lächeln, das ihr jedoch nicht so recht gelingen wollte.

Ihre Eltern sahen sich lange an, ehe Maman ihre Hand fasste und sagte: »Genau das denken wir auch, Amelie …« Sie schwieg einen Moment und lächelte dann. Ein wenig verkrampft, wie Amelie auffiel. »Wir haben uns daher gefragt, ob Rodolphe Lindts Interesse an dir wirklich in deinen Fähigkeiten begründet ist, oder …« Sie ließ Amelies Hand los und sah Papa hilfesuchend an.

»Was deine Mutter sagen möchte, ist, dass wir uns fragen, ob Lindt dich womöglich vor allem deshalb eingestellt hat, weil ihm dein Foto beim Bewerbungsschreiben gefallen hat, und nicht, weil du eine Chocolatière bist.« Papa faltete die Stoffserviette neben seinem Teller umständlich zusammen und legte sie wieder hin. Dann sah er Amelie an und wartete.

Zu ihrem Entsetzen bemerkte sie, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. Der hochgeschlossene Kragen ihres Kleids fühlte sich viel zu eng an. Doch ihr Vater deutete ihre Reaktion offenbar anders.

»Es tut mir leid, wenn wir dich mit dem Thema in Bedrängnis bringen, und ich verstehe, dass dir das unangenehm ist, Amelie. Junge Frauen in deinem Alter haben zu wenig Lebenserfahrung, um die wahren Absichten gleichaltriger Herren einschätzen zu können. Wir möchten dich bloß beschützen. Und über den jungen Lindt … hört man so einiges«, beendete er seinen Vortrag.

Amelies Hände zitterten, weshalb sie sie unter dem Tisch verbarg, selbst wenn ihr jetzt ein Schluck Wein ganz lieb gewesen wäre. Ihre Eltern sollten nicht merken, wie sehr sie das Thema aufwühlte.

»Tatsächlich? Was denn so?«, fragte sie deshalb.

»Na ja …«, begann ihr Vater und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Er gilt gemeinhin als verwöhnter Sprössling gutsituierter Eltern. Sein Vater ist ein einflussreicher Politiker hier in der Stadt, das gewährt seinem Sohn gewisse Privilegien. Dazu kommt … dass man ihn oft in den Gaststätten von Bern antrifft.«

»Wie viele andere auch«, bemerkte Amelie eine Spur zu hastig.

»In Damengesellschaft«, ergänzte Papa und sah sie eindringlich an. »Was der wahre Grund ist, weshalb wir uns etwas sorgen.«

»Rodolphe Lindt ist ein Bonvivant, chérie …«, fügte Maman hinzu und sah sie mit in Falten gelegter Stirn an. »Vielleicht möchtest du dir die Sache mit der Anstellung nochmals überlegen?«

Amelie schüttelte vehement den Kopf. »Das geht nicht. Ich habe mich bereits verpflichtet, wir haben einen mündlichen Arbeitsvertrag. Zudem arbeitet sein Vater ebenfalls gelegentlich in der Fabrik. Was soll mir da schon passieren?« Nun, da sie sich etwas beruhigt hatte, nahm sie ein Stück Karotte von ihrem Teller und aß endlich weiter. Ihre Eltern wandten sich gleichfalls wieder dem Abendessen zu.

Nach dem Nachtessen begaben sich ihr Vater und ihre Mutter in den Salon, wo Maman ein Buch las und Papa in Ruhe das Tagesgeschehen in DerBund, dem Berner Tagesblatt, verfolgte. Amelie überlegte kurz, ob sie ihnen Gesellschaft leisten sollte, entschied sich dann aber dagegen.

»Ich bin müde und lege mich jetzt schlafen«, erklärte sie, im Türrahmen stehend. »Ich wünsche euch eine gute Nacht.«

Als habe sie auf dieses Stichwort gewartet, legte Maman das Buch, das sie eben erst aus dem Regal geholt hatte, auf die Sofalehne und erhob sich. Sie trat zu Amelie in den Flur und schloss mit einer fließenden Bewegung die Salontür hinter sich.

»Hast du alles, was du brauchst? Möchtest du einen Tee mit auf dein Zimmer nehmen? Ich kann Elsa …«

»Danke, Maman, aber ich bin nicht mehr durstig«, unterbrach sie Amelie, auch wenn das unhöflich war.

»Na dann …« Ihre Mutter lächelte und umarmte sie. Länger als nötig. »Schlaf gut, chérie. Eine Sache noch.« Sie räusperte sich und sah sich im Flur um. »Du fragtest beim Abendessen, was dir denn schon passieren könne.« Sie machte eine kurze Pause, trat einen Schritt näher und senkte die Stimme. »Sehr viel. Du hast viel zu verlieren. Das ist das Schicksal von uns Frauen. Wir haben noch immer viel zu verlieren.«

Die Mahnung erinnerte Amelie an das Gespräch mit Fanny im Dezember 1879.

»Mach dir deshalb keine Sorgen, Maman. Ich weiß, was ich tue.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging die Treppe nach oben in die erste Etage.

3

Johann Rudolf Lindt kontrollierte einige Schokoladentafeln, die er aus der Form genommen hatte. Fasziniert fuhr er mit dem Zeigefinger über die glatte, perfekt geformte Oberfläche. Dabei schweiften seine Gedanken – nicht zum ersten Mal – zu seinem Sohn Rodolphe, der im hinteren Teil des Raums an der Conche stand.

Dieser hatte ihn zu Beginn des Jahres vor vollendete Tatsachen gestellt und ihn über die Einstellung einer jungen Frau informiert, als wäre die Meinung seines Vaters gar nicht von Belang. Selbst Johanns Wutanfall hatte Rodolphe nur ein versöhnliches Lächeln und Kopfschütteln abgerungen. Der Junge war bei seinem Entscheid geblieben. Immerhin hatte er seinen väterlichen Rat in einem Punkt befolgt und die junge Chocolatière eine von ihrem Familienadvokaten aufgesetzte Verschwiegenheitsklausel unterzeichnen lassen. Durch dieses Mittel gelang es immerhin, das Risiko zu minimieren, wenn auch nie komplett auszuschließen. Möglicherweise sah sich Johann eines Tages genötigt, nebst dem Rechtsweg weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Torheit seines Sohnes auszumerzen. Er war lange genug ein geschätztes Mitglied der lokalen und regionalen Politik, um zu wissen, dass das Recht und alles, was damit einherging, formbar war …

Zum wiederholten Mal fragte er sich, warum sein Ältester nicht wie August, sein Zweitjüngster, sein konnte. Trotz seiner vierzehn Jahre zeichnete sich dieser bereits durch ein hohes Maß an Pflichtbewusstsein und Moral aus. Kürzlich hatte er ihm und seiner Frau Eugenia sogar feierlich eröffnet, dass er in Johanns Fußstapfen treten und Apotheker lernen wolle. Er würde den Familienbetrieb in der Marktgasse übernehmen. Etwas, das Johann sich von Rodolphe stets gewünscht hatte. Stattdessen jedoch hatte sich dieser für ein hochgradig instabiles Betätigungsfeld wie die Schokoladenbranche entschieden, von der man nicht einmal wusste, ob sie überhaupt Bestand hatte oder bloß eine Modeerscheinung war. Den Visionär mimend, träumte er sich durch den Tag und ließ sich keines Besseren belehren. Deshalb hatten sich Eugenia und er auch darauf geeinigt, dass er seinen Sohn an manchen Tagen in der Woche in der Fabrik unterstützte, während sie, ihre fünf Töchter und August in der Apotheke nach dem Rechten sahen. Erneut wallte Verärgerung in Johann auf, allerdings nicht nur deshalb.

Vorsichtig beobachtete er, wie sich die Sirene, wie er sie insgeheim nannte, über einen Arbeitstisch beugte und irgendetwas auf ein Blatt Papier kritzelte. Dabei schnupperte sie an einigen Zutaten, die sie in kleinen Tonschalen vor sich aufgestellt hatte. Johann entging nicht, wie die Augen seines Sohnes, der vorgab, sich auf die Conchiermasse zu konzentrieren, immer wieder zu dem wohlgeformten Hinterteil seiner Angestellten schweiften. Man brauchte kein Sterndeuter zu sein, um zu erkennen, was hier vor sich ging. Johann verstand nicht, was an dieser Frau mit der ordinären Zahnlücke so faszinierend war. Sie entstammte zwar einem soliden Haushalt, doch gäbe es für seinen Sohn weiß Gott bessere Partien als die Tochter eines Lebensmittel- und Kolonialwarenhändlers. Da wäre die elfenhafte Isabella, das Töchterchen des Stadtpräsidenten mit den schwarzglänzenden Locken und den großen dunklen Augen wahrlich die präsentablere Variante. Diesen Umstand hatte er schon oft mit seiner Frau Eugenia diskutiert, die seine Einschätzung teilte.

Abgesehen jedoch von ihrem unerfreulichen Einfluss auf Rodolphe, besaß Amelie unverkennbar Erfahrung auf dem Gebiet der Schokoladenherstellung und hatte in den vergangenen sieben Monaten großen Fleiß bewiesen. Zudem war sie im Besitz des Betriebsgeheimnisses der Peter-Caillers, auch wenn sie sich beharrlich weigerte, dieses preiszugeben. Mit etwas Nachdruck ließ sich diese infantil-weibliche Sturheit bestimmt bearbeiten, da war sich Johann sicher. Pragmatisch gesehen waren dies insgesamt also Umstände, die er für seine Zwecke nutzen konnte. Zumindest bis sich eine bessere Lösung etabliert hatte.

Wie gelang es nun, Feuer zu legen und gleichzeitig einen Waldbrand zu vermeiden? Mit dieser kniffligen Frage hatten sich seine Gemahlin Eugenia und er seit Anfang des Jahres fast täglich beschäftigt. Kein Wunder, schrumpfte sein Weinbestand in dieser Zeit erheblich. Gottlob kam ihnen beiden aber letzten Endes eine wunderbare Idee …

Im weiteren Verlauf des Tages öffnete Johann Kisten mit Rohstoffen, kontrollierte den Inhalt, sah abwechslungsweise mit seinem Sohn nach der Conche und besprach zusammen mit ihm neue Rezepte. Als seine Taschenuhr nach elf Stunden das Ende des Arbeitstages anzeigte und die Sirene ihre Schürze auszog und an den Haken neben der Eingangstür hängte, bereitete sich Johann innerlich auf seinen Einsatz vor. Er putzte seinen Arbeitstisch und staubte Regale ab, was er sonst bevorzugt Amelie überließ. Heute jedoch besaß er alle Zeit der Welt. Sein Sohn warf der jungen Frau einen langen Blick zu, und diese lächelte. Mehrmals sahen sie zu Johann herüber, was dieser geflissentlich ignorierte.

»Na, dann wünsche ich den Herrschaften einen angenehmen Abend«, verabschiedete sich Amelie endlich und verließ die Fabrik. Sofort eilte Rodolphe herbei und nahm seinem Vater den Putzlappen aus der Hand.

»Wir machen Feierabend, Papa. Überhaupt, was soll das denn? Überlass das Putzen doch bitte der Angestellten. Du weißt, dass Amelie das einmal in der Woche macht, am Samstag zum Ende der Arbeitswoche«, wies ihn sein Sohn zurecht. Sein Mund war ein schmaler Strich, und er schob dabei die Augenbrauen zusammen.

»Ach, entschuldige, ich war in Gedanken«, gestand Johann, was tatsächlich stimmte. »Hast du kurz Zeit für mich?«

Rodolphe strich sich zuerst über seinen Schnurrbart und anschließend über die Haare. Dabei zuckte sein Blick zum Fenster und wieder zurück. Er verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere.

»Bist du in Eile?« Johann musterte seinen Sohn und verschränkte die Arme vor der Brust. Dieser schüttelte bloß den Kopf, sah allerdings schon wieder aus dem Fenster.

»Gut, es gibt da nämlich etwas Geschäftliches, das ich gerne mit dir besprechen möchte. Es ist wichtig und duldet keinen Aufschub. Wollen wir uns setzen?« Er zeigte auf zwei Stühle, die an der Wand standen und normalerweise als Ablage für Hüte, Papiere oder anderen Kleinkram dienten.

Als sie sich gegenübersaßen und Rodolphe, mit dem Fuß wippend, darauf wartete, dass Johann etwas sagte, lehnte sich dieser gemütlich in seinem Stuhl zurück und fuhr fort: »Ich erwähne das nicht zum ersten Mal. Mit der Herstellung der Schmelzschokolade ist dir weit mehr gelungen als bloß ein Produkt, das sich leicht in die Form füllen lässt.« Damit sprach er die Tatsache an, dass alle anderen nach wie vor gezwungen waren, die Tafelschokolade mit viel Muskelkraft anzufertigen. »Du hast ein Verfahren erschaffen, das aus der Schokolade ein Genussmittel erster Güte macht.«

Mischte man nämlich Kakaobutter (ein Geheimtipp!), Kakaomasse, Zucker und Milchpulver auf herkömmliche Weise im klassischen Mélangeur, entstand eine krümelige, fast mehlige Schokoladentextur. Der mechanische Vorgang des Conchierens dagegen entzog der Schokoladenmasse nicht nur Feuchtigkeit, sondern auch Säuren und unerwünschte Aromastoffe. Dadurch veränderte sich der Geschmack der Kakaobohnen maßgeblich. Er wurde veredelt. Wie Johann als Weinliebhaber stets zu sagen pflegte: Sein Sohn hatte einen Gran Cru gekeltert.

»Ja, Papa, das haben wir in der Tat schon oft diskutiert. Ich dachte, diese Unterredung sei wichtig?« Rodolphe seufzte und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Setz dich wieder. Das war bloß die Einleitung.« Johann wies auf den Stuhl.

»Die ich schon hundert Mal gehört habe«, schnaubte sein Sohn und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Die du schon hundert Mal gehört hast, genau«, echote Johann und bedachte Rodolphe mit einem strengen Blick. Diese Ungeduld war ein Wesenszug, den sein Sohn nicht von ihm, sondern von seiner Gattin geerbt hatte. »Wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir deine Erfindung vermehrt unter die Leute bringen.«

»Papa, ich verkaufe die Schokolade doch beispielsweise an die Zuckerbäckerei von Johann Jakob Tobler in der Länggasse. Worauf willst du denn hinaus?« Rodolphe strich sich die Hände an der Hose ab und wippte mit dem Fuß auf und ab. »In der Schweiz existiert derzeit kein Gesetz, das Erfindungen wie die meine schützt. Solange dieser Umstand vorherrscht, können wir unsere Produktion nicht steigern, weil es aus Geheimhaltungsgründen zu riskant ist, Hilfsarbeiter einzustellen.«

»Dafür finden wir zum gegebenen Zeitpunkt eine passende Lösung. Zudem hast du doch jetzt dieses Mädchen eingestellt und vertraust ihr, oder?«

»Ja natürlich!«, ereiferte sich sein Sohn. Dem Glitzern in seinen Augen nach zu urteilen, hatte Johann mit dieser Bemerkung ins Schwarze getroffen und war sich Rodolphes Aufmerksamkeit nun gewiss. Nicht nötig zu erwähnen, dass sich eine solche Vertrauensperson jederzeit durch eine neue ersetzen ließ. Zum Beispiel durch eine Dunkelhaarige mit ebenso geschickten Händen und gleichermaßen untadeligem Lebenslauf. Aber alles zu seiner Zeit …

»Na siehst du. Ich finde, sie ist ausnehmend tüchtig und noch nicht ansatzweise ausgelastet. Zudem könnten deine Mutter und Schwestern ebenfalls in der Fabrik mithelfen und Fräulein Ammann unter die Arme greifen, sollte dies vonnöten sein. Ich brauche sie nicht alle in der Apotheke. Daher sehe ich nicht ein, weshalb wir unser Licht aufgrund eines nicht existierenden Gesetzes dauerhaft unter den Scheffel stellen sollten.« Er lächelte und faltete die Hände vor der Brust. »Nachdem wir das nun geklärt hätten, würde ich dir gerne den eigentlichen Grund unserer Unterredung erläutern.«

Rodolphe machte eine einladende Geste. Vermutlich hatte er zwischenzeitlich eingesehen, dass aus seinem Tête-à-Tête mit der Sirene nichts mehr werden würde. Die ständigen ruhelosen Blicke aus dem Fenster hatten endlich ein Ende gefunden, wie Johann zufrieden feststellte.

»Kürzlich habe ich mich auf eine Zigarre und ein Glas Branntwein mit deinem ehemaligen Lehrmeister Amédée getroffen«, leitete er seine Ausführungen ein. »Das Gespräch führte uns zu einer Sprachschule in Neuenburg, die Amédée und seine Söhne mit Nussschokolade aus eigener Produktion beliefern.«

Johann wusste, dass ihm Rodolphe bei der Erwähnung seines Mentors Gehör schenken würde. Charles Amédée Kohler junior, einem Freund der Familie, hatte sein Sohn nämlich nicht nur eine gute Ausbildung zu verdanken, sondern auch den Impuls zur Gründung einer eigenen Schokoladenfabrik. Aufgrund seines hohen Alters hatte sich Amédée jedoch früher als geplant aus dem neuen Abenteuer zurückgezogen.

Johann räusperte sich. »Jedenfalls äußerte er spontan die Idee, den Kindern derselben auch unsere Schokolade anzubieten. Selbstverständlich würde er ein gutes Wort für uns einlegen.« Johann wartete und gab seinem Sohn einen Moment Zeit, die Information zu verarbeiten. Dann fuhr er fort: »Laut Amédée handelt es sich bei den Kindern vorwiegend um den Nachwuchs gutbetuchter Familien aus Deutschland.«

Rodolphe schwieg.

»Findest du es keine gute Idee?«, hakte Johann nach. »Das wäre eine formidable Gelegenheit, deine Erfindung über die Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen.«

»Und wo ist der Haken?«, fragte sein Sohn und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Ist nicht Philippe Suchards Schokoladenfabrik in einem Vorort von Neuenburg? Immerhin gilt er als Erfinder des Mélangeurs.«

Johann zuckte die Schultern und lachte. »Es gibt keinen Haken. Suchard kommt uns nicht in die Quere, weil er stehen geblieben ist. Sein traditioneller Schokoladenmixer ist längst überholt. Du, mein Sohn, hast die Chocolat Fin erfunden, er nicht. Zudem ist er Freimaurer, das stößt manchen sauer auf.« Er machte eine kurze Pause und atmete tief ein. Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, beugte er sich ein wenig nach vorne. »Der einzige Aufwand, den du betreiben müsstest, wäre, hin und wieder in die Westschweiz zu reisen und deine Schokolade abzuliefern. Allerdings, so sagte ich auch zu Amédée, dürfte das jetzt, so du Fräulein Ammann in deiner Fabrik hast, eigentlich kein Problem sein.« Er unterstrich seine Worte mit einem Lächeln und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie kann die Fabrikation auch ohne dein Beisein weiterführen.«

Rodolphe musterte ihn lange, ehe er antwortete. »Ein Versuch ist es wert. Wenn du meinst, dass wir die zusätzlichen Bestellungen mit unserer Produktion abdecken können, warum nicht.« Er erhob sich und machte Anstalten, die Fabrik zu verlassen. »Sind wir dann fertig?« Sein Blick schweifte nach draußen. Das Sonnenlicht hatte einen goldenen Glanz angenommen, und die Schatten der umliegenden Häuser bedeckten die Wasserwerkgasse, in der die Fabrikkinder kreischend herumrannten und spielten.

Johann seufzte und nickte. Was das weibliche Geschlecht anbelangte, war sein Sohn stets voller Eigeninitiative.  

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