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Vertrauen ist in diesen Zeiten ein Wert, der stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Im Ukrainekrieg wird gerade Vertrauen zwischen Ländern verspielt. Mit zivilisatorisch noch überhaupt nicht absehbaren Folgen. Die Corona-Pandemie hat zwischenmenschlich Gräben zwischen Geimpften und den Impfnaiven geschaffen. Kein Wunder, dass sich das Kursbuch 210 auf die Spuren von Vertrauensverlust und Vertrauenskrise begibt. Armin Nassehi beschäftigt sich in seinem Beitrag mit einer dunklen Seite des Vertrauens: Wer nicht genau hinsieht und den Dingen vertraut, wie sie immer erschienen, wird schlicht blind.
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Seitenzahl: 23
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Inhalt
Armin NassehiDas blinde KornDie dunkle Seite des Vertrauens und was das mit der NATO zu tun hat
Der Autor
Impressum
Armin NassehiDas blinde KornDie dunkle Seite des Vertrauens und was das mit der NATO zu tun hat
Ohne einen Vertrauensvorschuss in die Welt wäre menschliches und vielleicht auch tierisches Leben kaum möglich. Fast alles, was wir tun, rechnet mit Voraussetzungen, die wir nicht nur nicht herstellen können, sondern auch nachgerade unbesehen voraussetzen müssen. Was die phänomenologische Tradition Lebenswelt nennt, ist die Welt, die insofern vorausgesetzt ist, als es die Welt ist, in der wir »immer schon« leben. Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, spricht von einer »natürlichen Einstellung« 1, sein Schüler, der Soziologe Alfred Schütz, vom »unbefragten Boden« 2, auf dem wir uns bewegen. Die Figur des Immer-schon ist eine sehr schöne Denkfigur. Sie meint kein historisches Immer-schon, auch nicht, dass sich die Welt nicht verändert. Es meint, dass es keine Perspektiven außerhalb unserer eigenen Perspektiven gibt. Selbst die immer wieder verlangte und so notwendige Form der Perspektivenüberschreitung, der Perspektivenübernahme und der Selbstkritik durch Reflexion kann die eigene Perspektive nicht verlassen – allenfalls verschieben. Eigene Perspektiven bleiben eigene Perspektiven. Man kann nicht mit dem eigenen Wahrnehmungsapparat am eigenen Wahrnehmungsapparat vorbeisehen, um zu prüfen, ob die Welt da draußen wirklich so ist, wie sie uns erscheint, und man kann die eigenen sozialen Erfahrungen zwar transzendieren, negieren, infrage stellen, ablehnen und neu interpretieren, andere Unterscheidungen darauf anwenden oder sich therapeutisch auf andere Beschreibungen einlassen, aber all das geschieht unhintergehbar auf dem Boden und mit dem Horizont dessen, was »immer schon« gilt, nämlich die Perspektivität der eigenen Perspektive.
Das mag sich anhören wie eine allzu abstrakte Beschreibung, aber es findet sich empirisch überall. Man denke nur an Assoziationsketten, die sich in unserem Bewusstsein bei entsprechenden Reizen wiederholen, oder man denke an Sprechweisen, Begriffe und Sagbarkeiten, die das Leben biografisch durchziehen. Und es gilt sogar für größere kulturelle, religiöse, politische oder sonstige kollektive Zusammenhänge. All dies erzeugt Bestätigungen von Vorherigem – und die Abweichung von Vorherigem ist eben nicht nur Abweichung, sondern eben Abweichung von Vorherigem. Dass Konvertiten besonders streng werden können, liegt womöglich an einer Überkompensation und besonderem Anpassungsdruck.3