Das böse Wort - Andreas Krusch - E-Book

Das böse Wort E-Book

Andreas Krusch

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Beschreibung

Sue hat Krebs. Nur eine Kirsche unter der Haut, redet sie sich ein, sträubt sich gegen die Wahrheit. Dann nimmt sie den Kampf auf. Ihre Zuversicht wächst. Eigenartig ist bloß dieser Mann, dem sie in der Klinik immer wieder begegnet. Er scheint im Dunkeln lesen zu können, und außer ihr gibt es offenbar niemand, der ihn kennt. Bis auf die kleine Jennie. Auch sie hat einen unsichtbaren Begleiter …

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»Das böse Wort«

„Das böse Wort“ von Andreas Krusch

Copyright der deutschen Taschenbuch-Ausgabe

© 2001 dtv Verlagsgesellschaft

Copyright der überarbeiteten eBook-Ausgabe

© 2015 Verlag Psychothriller GmbH, www.psychothriller.de

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Design: Ivar Leon Menger

Fotografie: iStockphoto

© Psychothriller GmbH

Der eBook-Verlag für Thriller und Suspense

ISBN 978-3-942261-74-6

www.psychothriller.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung, der Vertonung als Hörbuch oder -spiel, oder der Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, Video oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile, sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen!Ivar Leon Menger

Inhalt

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Nachwort

*

Für Anne,

die gegen diesen Scheißkrebs ankämpfte und verlor

*

Er kam den verschneiten Weg hinauf. Die Dämmerung schickte ihr zartes Rosarot. Es würde ein schöner Tag, dachte er. Ein wichtiger. Er würde einen alten Freund besuchen. Sie hatten sich aus den Augen verloren. Das war nicht gut. Es störte das Gleichgewicht.

Er trat aus dem Park der Klinik. Die Vögel folgten ihm nicht weiter. Schwarz färbten sie die kahlen Äste über dem weißen Schnee und sahen zu den Fenstern. Er sah sie auch, so viele Fenster, so viele Patienten in den Zimmern dahinter. So viel Material für seinen Plan.

Der Tod lächelte und öffnete die Tür zum Treppenhaus der Klinik. Ja, es würde ein schöner Tag ...

1

Etwas stimmte nicht mit dem Himmel. Sie lag auf dem Rücken, ihre Augen spiegelten das verwaschene Hellblau. Keine Wolken da oben, nicht eine. Doch das war es nicht, nein ... Vögel!, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, das war es! Ein Himmel ohne Wolken kam vor, aber ein Himmel ohne Vögel? Angestrengt suchte sie die blaue Weite ab. Ein Himmel ohne Vögel, ein Himmel ohne –

»Er hat einen schönen Namen.«

Was? Wer hat einen schönen Namen? Und wer hat da gesprochen?!

Das Drehen des Kopfes verursachte ihr Schwindel. Das Aufstützen ging mühselig. Sie wischte sich eine braune Strähne aus dem Gesicht, blinzelte gegen die Sonne. Auf dem anderen kleinen Hügel sah sie eine junge Frau. Blass war sie, mager. Und es war gar kein Hügel, auf dem sie saß.

»Er hat einen schönen Namen – dein Krebs.« Die junge Frau rutschte von ihrem Bett am hellen Fenster.

Sie beugte sich über das zweite Bett. »Drei Beruhigungspillen sind zu viel. Hab ich dir doch gesagt. Die Visite hast du jedenfalls verschlafen.«

Krebs? Visite? Sie verstand nicht, wovon diese dünne Person mit den kurzen Haaren sprach. Sie wollte sich wieder dem Himmel widmen, aber die hellblaue Zimmerdecke setzte ihrem Blick eine jähe Grenze.

»Wo bin ich?«

Und wer?, kicherte jemand in ihr. Es fiel ihr ein. »Ich bin ... Sue. Ich bin Sue!« Die Stimme aus ihrem rauen Hals klang wie totes, brechendes Holz. Die junge Frau in dem rosafarbenen Pyjama füllte das Wasserglas auf dem Nachttisch und hielt es ihr hin.

»Ja, du bist Sue. Und der Rest fällt dir auch gleich ein.«

Der Rest.

Sie versank darin. Der Wandspiegel im Bad, das große Handtuch davor. Du steigst aus der warmen Wanne und stellst dich darauf.

Der Spiegel beschlägt, du schaust kaum noch hinein. Mit Vierundvierzig braucht man sich nichts mehr vorzumachen. Routiniert verteilen deine Hände die Creme. Lavendelduft. Du stutzt. Dein Zeigefinger spielt mit einem Knoten. Er sitzt direkt unter der Haut, erbsengroß.Was ist das? Du drückst die Erbse tiefer in das weiche Fleisch deines Oberarmes. Damit sie verschwindet.

Zwei Wochen später hat sich die Erbse in eine Kirsche verwandelt. Und du gehst zum Arzt.

2

Kein besonders großes Zimmer. Der Blick ihrer kastanienbraunen Augen wanderte von dem billigen Kunstdruck zur Sitzecke. Die Morgensonne erhellte den kleinen Tisch. Seine leere Platte glänzte steril. Die beiden Stühle hatten grüne Stoffpolster. Das Holz ihrer Beine passte zu der Stange, die wie ein Geländer an die Längswand des Krankenzimmers geschraubt war. Unter der Decke am Fenster hing ein Fernseher. Sein stummes Bild flackerte auf dem Chrom ihrer Betten.

»Was machen wir hier?«

»Hoffen und warten. Was sonst?«, antwortete die junge Frau im Pyjama. Sie stand noch immer vor Sues Bett.

»Warten aufs Frühstück und hoffen, dass es gut ist?« Sue trank das Glas Wasser aus und gab es ihr zurück.

Die junge Frau lachte. »Da kannst du lange hoffen.«

Mit einem Schnaufen öffnete sich die Zimmertür. Sue sah, wie breit sie bemessen war. Ihr Bett würde locker hindurch passen. Aber wozu? Sie konnte doch laufen.

Der Mann in der Tür blickte streng. »Was gibt’s hier zu lachen, Fiona?!«, begann er laut, und grinste dann, »... an diesem heiligen Ort.«

Sue blickte verunsichert zu der jungen Frau.

Die schüttelte nur den Kopf. »So ist er, unser Pfleger Steve. Spinnt immer ein bisschen.«

»Man muss sich doch auf seine Patienten einstellen.« Sein schelmisches Grinsen wurde noch breiter.

»Ach, verschwinde!« Die junge Frau griff nach dem Kissen auf ihrem Bett.

»Und die neuen, versauten Patientenwitze wollt ihr gar nicht hören?«

Fiona holte Schwung. »Versuch es Ostern noch mal!«

Steve entschloss sich zum Rückzug. »Bis dahin seid ihr doch längst zu Hause«, rief er noch vom Gang.

»Oder tot«, ergänzte Fiona und warf das Kissen.

Sue starrte sie an.

Tot? Ihr Hausarzt hatte doch gesagt ...

»... eine gutartige Geschwulst, ein Lipom!« Dr. Reynold sah sie warmherzig an. »Kommt oft vor in deinem Alter. Ein paar vergrößerte Fettgewebszellen unter der Haut. Harmlos wie eine Kirsche! Ja, nur eine Kirsche.« Er lächelte, wie er immer gelächelt hatte: beruhigend. Er war der Arzt, der sie auf die Welt gebracht hatte, er hatte ihre Kinderkrankheiten kuriert und mit der Zwölfjährigen über ihre Periode gesprochen. Und an Großvaters Sterbebett hatte er sie getröstet.

Sue vertraute diesem Arzt. Er hatte sie durch die Täler des Lebens begleitet, so wie ein richtiger Vater.

»Also, mach dir keine Sorgen. Schau mal wieder rein – und wenn es dich stört, machen wir es weg.«

Sie schüttelte ihm die Hand. Sie machte sich keine Sorgen. Doch nicht wegen einer Kirsche.

3

»Das Silverstone Memorial ist die beste Krebsklinik im Land. Schon der Name soll einen Placeboeffekt haben«, erklärte Steve grinsend und schob ihren Rollstuhl aus dem Lift. Er hatte Sue zu einer Führung eingeladen. Ich brauch den Stuhl nicht, ich kann gehen! Der junge Pfleger wusste das, doch es sollte nicht zu sehr nach einem Spaziergang aussehen.

»Aaron Silberstein hatte mit seiner Verlobten 1936 Hitlers Deutschland den Rücken gekehrt«, fuhr er fort. »Seine Eltern versprachen nachzukommen. Und Aaron versprach, die Tradition der Arztfamilie fortzusetzen. Er übernahm hier ein alteingesessenes, aber marodes Hospital, in das niemand mehr investieren wollte.«

»Was wurde aus seinen Eltern?«

Der Rollstuhl stoppte vor einer kleinen Kupfertafel.

»Sie haben Deutschland nicht mehr verlassen. Wurden von den Nazis verhaftet.«

Sie las den kurzen, eingravierten Text.

MEINEN ELTERN † 1939

Steve drehte den Stuhl zur fast menschenleeren Halle. Hinter dem halbrunden Empfang telefonierte eine Krankenschwester, ein junger Mann in blauem Overall reinigte die riesigen Glastüren am Eingang.

»Aber Aaron hielt das gegebene Versprechen. Sein kleines Hospital wuchs zur angesehenen Klinik heran und sein Sohn Joseph zu einem wahren Gott in Weiß. Verdammt!«

Sue zuckte zusammen. »Was ist?«

»Gottes rechte Hand«, flüsterte Steve nur.

Rose hob prüfend den Kopf. Nichts. Sie drehte ihn langsam von links nach rechts. Nichts zu hören. Wunderbar! Endlich hatte jemand kapiert, dass sie dieses permanente Hintergrundgedudel nicht mehr ertragen konnte, und die Musik abgestellt. Wurde auch Zeit. Schließlich lebte sie hier.

Gottes rechte Hand.

Sue beobachtete die große, schlanke Frau, die da mit leicht geneigtem Kopf mitten in der Eingangshalle stand. Der gestärkte weiße Kittel betonte noch die Strenge ihres geflochtenen, kupferroten Zopfes.

»Was macht sie da? Testet sie Gottes rechtes Ohr?«

Steve musste lachen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ja, unsere Rose ist schon ab und an seltsam.«

Die Frau hatte sie entdeckt. Mit schnellen, kurzen Schritten kam sie heran.

»Was machen wir jetzt?« Sue flüsterte es. Sie war plötzlich wieder zwölf und ganz aufgeregt.

»Wir zeigen Demut«, antwortete der Pfleger an ihrer Seite leise.

Rose’ Augen fixierten ihn. Sie glichen dunklem Flaschengrün. »Eine Nachtschicht endet bekanntlich mit dem Ende der Nacht. Jedenfalls auf meinem Planeten. Wie ist das auf Ihrem geregelt, Steve?«

Er wand sich.

»Nun ... ich wollt ja längst abhauen ...«

Die große Frau in dem Kittel schien sich innerlich kurz zu entfernen, murmelte etwas wie: Wollen wir das nicht alle? Dann war sie wieder bei ihnen.

»Also, wieso sind Sie noch hier, junger Mann?«

»Er wollte mich nur zu meinem Zimmer bringen, Schwester! Ich hatte mich verlaufen!«, erklärte Sue.

Ein kurzer, frostiger Blick traf sie. »Ich bin Oberschwester, Mrs. Randon, Oberschwester.«

Steve strahlte. »Ja, verlaufen, so war es!«

»Verlaufen also.«

Eigentlich verrollt, Frau Staatsanwältin. Sue drückte die Zähne fest in ihre Zunge, um nicht loszukichern.

»Wir werden das noch ausführlich besprechen, Steve. Aber jetzt muss ich zu einem Termin.« Oberschwester Rose machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zackig auf den gläsernen Ausgang der Klinik zu.

»Puh, das war knapp.« Er atmete erleichtert aus.

»Woher wusste sie meinen Namen, Steve? Ich bin ihr nie begegnet.«

»Aber Rose wohl Ihnen. Sie wandert nachts oft hier herum, schaut in die Krankenzimmer, studiert die Gesichter der schlafenden Neuankömmlinge.«

»Was? Wieso?«

»Sie wägt die Chancen ab.«

»Chancen? Welche Chancen?«

»Wer gewinnen wird: Prof. Dr. Joseph Silverstone, Herrscher über dieses Reich ... oder der, der über das andere herrscht.«

»Das andere?«

Sue blickte verwirrt zum Krankenpfleger.

Er sah sie nicht an, während er antwortete.

»Das der Toten.«

Nur eine Fußspur. Sie kam aus dem verwilderten Teil des Klinikparks. Der Junge musste dort über die Mauer geklettert sein. Jetzt stand er da unten allein im Schnee bei der alten Holzbank. Die letzte ihrer Art. Mit Einzug des Frühlings würde auch sie der Moderne weichen müssen. Tausende hatten auf ihr gesessen, hatten geweint, gehofft, gebetet. Vielleicht war der Junge deshalb hier. Vielleicht hielt er diese verwitterte Bank für magisch und schrieb nun seinen Genesungswunsch in das eisige Weiß davor.

Professor Silverstone wandte sich vom Fenster und dem Jungen ab und blickte in die dunkelste Ecke seines Büros. Der Gast, der dort Platz genommen hatte, blickte schweigend zurück. Vor ihm auf dem kleinen, flachen Glastisch stand eine unberührte Tasse Kaffee.

»Ich will diese Psychologin hier nicht haben!«, richtete der Professor seine Worte an den Mann.

»Sie ist die Beste ihres Jahrgangs«, kam die Antwort aus dem Halbschatten.

»Ist mir egal! Das Psychozeug verwirrt nur alle!«

»Die Zeiten ändern sich, Joseph. Man akzeptiert inzwischen die positive Rolle von Psychoonkologen.«

»Nicht hier! Wir brauchen so was nicht. Ich bin der beste Chirurg des Landes, der Ruf meiner Klinik ist untadelig!«

»Der Ruf dieser Klinik stammt aus dem letzten Jahrhundert, genau wie ihre medizinischen Geräte.«

»Hier werden immer noch Leben gerettet, verdammt!«

Der Mann in der Sitzecke seufzte leise. »Joseph, wir kämpfen doch für dasselbe, die Klinik. Doch sie genügt den modernen Standards nicht mehr ... Meine Investitionen werden das ändern, so steht es im Vertrag, den Sie unterschrieben haben. Sie erhalten die beste Medizintechnik, die der Markt derzeit bietet.«

»Wozu brauchen wir dann die Psycho-Tante?!«

Der Gast des Professors tippte auf den Vertrag. »Sie werden das eine nicht ohne das andere bekommen.« Er erhob sich von seinem Platz. »Da gibt es keinerlei Spielraum.«

»Keinerlei Spielraum?! Das ist meine Klinik!«, rief Professor Silverstone außer sich.

»Jetzt nicht mehr.«

Der Mann in dem feinen, dunklen Anzug lächelte. »Sie entschuldigen mich, ich muss wieder los, der Bürgermeister wartet ungern. Und danke für den Kaffee.«

Niemand mochte Nadeln. Sue blickte auf die, die in ihrem linken Arm steckte. Sie hatte zwei Plastikflügelchen. Ein kleiner blauer Schmetterling.

»Sie werden sich schnell daran gewöhnen«, sagte die fremde Schwester freundlich. Sie hatte sich wirklich bemüht, ihr die Angst zu nehmen.

Die alte Angst.

»Hab dich nicht so!«

Die Hand ihres Vaters umschloss ihren Arm wie ein Schraubstock. Er zerrte das kleine Mädchen quer durch die Praxis.

»Ich will zu Dr. Reynold«, schluchzte Sue.

Jimmy hatte sie gebissen. Und da niemand wusste, was der Köter sonst noch biss, schien eine Tetanusspritze das Sicherste. Dr. Reynolds Vertretung tastete unsicher auf dem blassen, dünnen Kinderarm herum. Auch ein zweiter Stauschlauch brachte keine Vene hervor.

»Nun jagen Sie sie schon rein!«

Sues Vater wurde ungeduldig und der junge Arzt folgte seiner Empfehlung hastig.

»Wir arbeiten meist mit Flügelkanülen.«

Die Krankenschwester hatte ihr Zeit gelassen, sich zu entspannen. Sie hatte den Arm in eine warme Decke gewickelt, um die Venen zum Schwellen zu bringen. Und sie hatte sie angelächelt, während der Schmetterling landete. Sue hatte seinen Stich kaum gespürt.

»Danke, Schwester.«

»Keine Ursache. Aber nennen Sie mich Paula. Einfach Paula.«

Die Flügelkanüle hatte mehrere Funktionen. Außer der Blutentnahme diente sie dem Anlegen von Kurzzeitinfusionen. Gebannt beobachtete Sue, wie die Kontrastlösung in ihrem Arm verschwand.

Dann ging es zum Kernspintomographen. Sue verstand nicht, was sie in dem Riesenkasten sollte. Es ging doch nur um ihren Arm. »Warum wird das nicht einfach geröntgt?«

So wie damals, als sie vom Baum gefallen war.

Der letzte Apfel des Sommers wartete ganz oben. Die kleine Sue hatte ihn fast, doch Mom rief schrill ihre Angst hinauf: Das ist zu hoch, Kind! Sue erschrak und griff daneben. Ihr Handgelenk war nach dem Sturz angebrochen. Dr. Reynold machte sich mehr Sorgen um das blaue Auge. Ist auch vom Sturz, hatte Sues Vater es erklärt.

Der Arzt an dem Tomographen schien in Eile. Er murmelte etwas von reduzierter Strahlung und medizinischem Fortschritt. Sue wollte mehr über die Strahlung und seine Bleiweste wissen, aber Paula schüttelte leicht den Kopf und half ihr auf die Liege. »Später«, flüsterte die Schwester und fixierte Sues linken Arm. In die rechte Hand legte sie ihr einen kleinen Gummiball. »Falls etwas ist, einfach drücken.«

Was soll denn sein? Sue wurde nervöser. Der Arzt gab dem Techniker ein Zeichen. Die Liege ruckte und begann leise surrend, sie in die Röhre zu schieben. Ein Ofen. Ich bin in einem Ofen! Die Innenwand war direkt vor ihrem Gesicht. Die Bilder aus alten Nazi-Dokumentationen auch. Ihr wurde wärmer. Sie schwitzte. Die wollen mich verbrennen!

»Noch nicht die Luft anhalten. Atmen Sie! Sie müssen weiteratmen – ganz normal!« Die Stimme des Arztes war weit weg. Sue verkrampfte sich. Wenn ich atme, wird meine Lunge zu Grillkohle, Idiot! Der Ofen begann laut zu klicken. Sue presste den Notrufball zusammen.

4

»Haben die es noch mal versucht?« Fiona hatte das angefangene Buch zur Seite gelegt. Sue nickte schweigend.

»Hat es geklappt?«

Sue nickte wieder. Dann schluchzte sie.

»Ich hab mich wie eine Irre aufgeführt, aber es war so verdammt eng da drin ...«

»Vergiss es.«

»Zu eng für mich und diese Angst.« Die Tränen rannen.

»Es ist ja vorbei.«

»Aber die Angst ist nicht vorbei!«, rief Sue erregt. »Diese verdammte Angst!«

Ihre Bettnachbarin schwieg.

»Entschuldige, es hat mich ziemlich fertig gemacht.« Sue wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Ich hatte schon lange nicht mehr solche Angst.«

»Schon gut.« Fiona winkte ab. »Und wie hast du den Tomographen dann geschafft?«

»Ich hab mir vorgestellt, ich bin im Solarium.«

Die junge Frau zog die Augenbrauen hoch. »Und wir auf Kur, was?« Sie fing an zu lachen.

Sue war durcheinander. Gestern noch hatte sie in ihrer kleinen, hübschen Küche gefrühstückt. Die Märzsonne hatte durch die Fenster gewärmt. Sie hatte ihre geliebten Pflanzen gegossen und war dann zu Dr. Reynold gefahren. Keine Sorge, Mädchen. Nur ein paar Untersuchungen, die ich hier nicht machen kann. Er hatte ihr die Überweisung in die Hand gedrückt und ein Taxi gerufen. Und jetzt lag sie in einem engen Zweibettzimmer mit einer Kanüle im Handrücken.

»Wann kann ich wieder nach Hause? Ich fühle mich gut. Ich hab doch nichts!«

»Und die Beule an deinem Arm?«

»Das? Das ist harmlos. Bloß ein Lipom, sagt mein Hausarzt. Harmlos wie eine Kirsche. Ja, nur eine kleine Kirsche unter der Haut, das ist alles.«

»Eine Kirsche, denkst du?« Fiona griff lächelnd nach ihrem Buch. »So hat das hier noch keiner genannt.«

Warum bist du nur Arzt geworden? Immer noch feuchte Hände beim Legen von Infusionen. Und einen trockenen Mund. Ach, reiß dich zusammen, Jeremy Silverstone! Wenigstens bist du auf dieser Seite der Nadel.

»Sie zittern, junger Mann. Mache ich Sie nervös?« Frech funkelten Emmas wache Augen. Die Achtzigjährige mochte den schüchternen, jungen Arzt. Er war das genaue Gegenteil seines Vaters.

Jeremy entfernte den Zulauf aus ihrer Unterarmvene. »Für heute Nacht legen wir eine neue Infusion«, erklärte er. »Die alte Kanüle ist verstopft.«

»Was? Wie darf ich das verstehen?« Sie genoss den Spaß, und er tat es auch.

»Das wissen Sie ganz genau. Das ist nicht unser erstes Date, Emma.«

Er rieb sanft ihre Hand.

»Oh, wird das jetzt etwa das berühmte dritte?«, schmunzelte sie.

Still fuhr er fort, ihren Handrücken zu massieren. Altersflecken leuchteten auf der pergamentenen Haut. Die leichte Massage füllte die Blutgefäße. Er stach die Nadel hinein.

»Autsch!«, protestierte Emma.

»Entschuldigung.« Der Arzt wurde rot. »So wollte ich das nicht.«

Sie winkte ab. »Schon gut, Jungchen. Das ist nicht mein größter Schmerz.«

Er sicherte die Nadel mit Klebeband und schloss den Schlauch der Infusionspumpe an.

»Und was bekomme ich da heute nacht?«, fragte ihn die alte Frau.

»Eigentlich nur Wasser.«

»Da hab ich aber schon Besseres getrunken!« Sie schloss ihre Augen, um die Erinnerung sehen zu können. Bill hatte eine staubige Flasche auf den Tisch gestellt. Er habe sie zufällig gefunden. Ganz hinten im Keller. Aber Emma wusste es besser. Sie kannteihren Bill. Er hatte die Flasche dort versteckt, nur für diesen Tag. Die ganzen fünfzig Jahre! Besseres könne man einem Wein nicht antun, hatte er dann erklärt und seine Frau geküsst. Es hatte so süß geschmeckt wie am ersten Tag.

Sie seufzte.

»Tut die Hand noch weh?«, fragte Jeremy besorgt.

»Nein. Aber ... Bill fehlt mir so.«

Sie sahen schweigend auf den glitzernden Beutel am Infusionsständer. Die Elektrolytlösung darin tropfte wie Tränen in den Schlauch, der zu Emma führte.

»Es sind nur ein paar Salze und Mineralien drin. Was jeder Körper so braucht«, sagte er leise.

»Mein Körper will das nicht mehr, wissen Sie.«

Er betrachtete sie. »Ihr Körper schon ...«

Emma Lee lächelte warm und drückte seine Hand. Dieser junge Mann verstand sie.

»Ich kann nicht schlafen.« Sue drehte sich auf die Seite. Die Kanüle an ihrem linken Unterarm blieb an der Bettdecke hängen.

»Ach, Mist!« Sie strich die Pflaster wieder glatt.

»Du solltest eine rauchen.« Fiona blickte von ihrem Buch auf. Sie las viel. Auch nachts.

»Wie kommst du darauf, dass ich rauchen würde?«

»Du bist der Typ dafür.«

»Ich habe aufgehört!«

»Das merkt man.« Fiona vertiefte sich wieder in ihr Buch.

Sue setzte sich auf. »Ein toller Tipp übrigens, Miss Oberschlau. Rauchen imKrankenhaus!«

»Es gibt hier ein Raucherzimmer.«

»Ein Raucherzimmer? Hier?!« Sue konnte es nicht glauben. »Aber nicht für Patienten, oder?«

Nachthemd und Bademantel wärmten kaum. Der Korridor war spärlich erhellt. Sue schlich weiter an Türen vorbei. Du wirst nicht finden, was du suchst, ahnte sie. Weil es in solch einer Klinik natürlich kein Raucherzimmer gibt, Mrs. Randon! Fiona hatte ihr einen Bären aufgebunden. Und lass dich draußen nicht erwischen, du wärst ein Festessen für Oberschwester Rose! Ja, ja, sehr witzig.

Hinter dem Stationstresen brannte einsam eine Schreibtischlampe über ein paar Akten. Sue huschte daran vorbei. Ihr Magen kribbelte wie damals, als sie nachts durch das Haus bis zum Schlafzimmer ihrer Eltern geschlichen war, um den verbotenen Geräuschen zu lauschen.

Die Nachtbeleuchtung warf kleine, helle Inseln auf den Boden. Der Rest blieb im Halbdunkel. Warte. Da drüben! Fiona hat dich nicht veräppelt. Ein Raum halb aus Glas. Das Raucherzimmer!

Sie schlich hin.

Die dicken Glaswände ragten in den breiten Mittelgang, vergrößerten einen ehemaligen Lagerraum, dessen vordere Wand man entfernt hatte. Die Dunkelheit in dem gläsernen Kasten gefiel Sue nicht. Muss wohl der Rauch sein. Ihr kleiner Scherz ließ sie grinsen. Mutig drückte sie die Klinke. Ein Stück im Glas öffnete sich. Hallo? Raucht da wer? Sue trat ein.

Das wenige Licht vom Gang musste genügen. Mehr würde nur Rose anlocken. Sue ignorierte den Lichtschalter und setzte sich auf den Stuhl gleich bei der gläsernen Tür. Was nun? Wer bietet dir eine an? Du vielleicht, Cowboy?Das Poster an der Glaswand zeigte einen Reiter in der Prärie. Irgendetwas war über den weiten Himmel geschrieben. Sue konnte es nicht lesen. Die Stuhlreihe neben ihr verlor sich im Dunkeln. Einsam verkümmerte eine Palme in der Ecke gegenüber. Ihr trostloser Plastiktopf war voller Kippen. Sue zählte sie. Erstaunlich, exakt so viele Jahre hatte sie geraucht.

Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren.

Ein Rascheln.

Sie starrte auf die Palme. Ihre Blätter hatten sich nichtbewegt. Da raschelte es wieder. Es kam aus der Dunkelheit in der hinteren Hälfte des Raumes. Und Sue kannte dieses Geräusch. Fiona machte das gleiche beim Lesen – beim Umblättern der Seiten. »Hallo, ist noch jemand hier?«, flüsterte sie und fand sich ziemlich albern. Die Dunkelheit schwieg. Sue erhob sich und machte zwei vorsichtige Schritte darauf zu.

»Bitte nicht. Kommen Sie nicht näher.«

Oh mein Gott, da ist wirklich jemand! Unter ihrem Nachthemd breitete sich ein Frösteln aus.

»Bitte, bleiben Sie dort ... im Licht.«

Es war eine angenehme Stimme, tief, warm, männlich. Sue beruhigte sich. Vielleicht ein erschöpfter Arzt mit einem Stapel Krankenakten? Oder mit einem einschlägigen Magazin. Fast hätte sie losgekichert. Hör auf, reiß dich zusammen! Das ist ein Aufenthaltsraum für Patienten. Und es ist viel zu dunkel zum Lesen.

»Was tun Sie hier?«, fragte sie verunsichert.

»Ich lese die Namen im Buch der Nacht.«

Wie bitte? Das Frösteln kehrte zurück.

Die Dunkelheit vor ihr schien noch dunkler zu werden. Sue hatte genug, sie ging rückwärts bis ihre Finger die glatte Kühle von Glas berührten. Dann fand sie den Türknauf.

»Gute Besserung ... kleine Sue«, wünschte die angenehme Stimme noch.

5

Steve schüttelte ungläubig den Kopf. »Und dieser Typ hat im Dunkeln gelesen, sagen Sie?«

»Und er kannte meinen Namen!«

Sie bog mit dem Pfleger in den nächsten Gang ein. Bei Tag sah hier alles irgendwie anders aus. Doch das Raucherzimmer konnte nicht mehr weit sein.

»Haben Sie gesehen, was er gelesen hat?«

»Er nannte es: Das Buch der Nacht.«

»Klingt spannend, ein Thriller?«

»Keine Ahnung, ich habe es nicht gesehen ... ich habe gehört, dass er gelesen hat.«

»Er las also laut.«

»Nein, aber beim Umblättern raschelten die Seiten«, erklärte Sue leicht irritiert. »Jetzt sehen Sie mich nicht so an, Steve! Ich weiß, dass er gelesen hat!«

»Im Dunkeln.«

»Ja, verdammt! Fragen Sie doch den Cowboy auf dem Poster.«

Der Marlboromann schaute über das weite Land.

»Da, da ist es!« Der Vorbau aus Glas spiegelte ihr aufgeregtes Gesicht. Sie hatte ihren Ausflug gestern Nacht also nicht geträumt! Das Poster hing noch immer an der gläsernen Wand gegenüber der langen Stuhlreihe.

»Ist zu früh«, murmelte Steve. »Keiner da.« Er lief durch das leere Raucherzimmer bis zu dem schmalen Klappfenster in der hinteren massiven Wand. »Huh, ist das frisch. War das Fenster gestern Nacht auch offen?«

»Ich weiß nicht mehr, ich hab kein Fenster gesehen ...«

Rasch verschloss der Krankenpfleger es. »Vielleicht kam die Stimme ja von draußen.«

»Und wer da draußen kennt meinen Namen?«

Steve hob ratlos die Schultern.

»Kommen Sie nicht rein, Sue?«

»Nein.« Sie lehnte an der Glastür. Irgendetwas war da drinnen immer noch dunkel, trotz des Morgenlichts, das durch das kleine Fenster den Cowboy auf dem Poster berührte. Sie betrachtete ihn. Quer über ihm am Himmel stand mit Filzstift geschrieben: EINER VON UNS!

»Das ist der Typ aus der Werbung. Ist hier gestorben. Lungenkrebs«, erklärte Steve und fischte ein paar Kippen aus dem Topf der Plastikpalme. »Aber er hat kein Buch in der Hand, hatte er nie, nur Zigaretten«, grinste er.

»Er hat auch nicht gelesen!«, antwortete Sue gereizt. »Da ganz hinten in der Ecke unter dem Fenster hat der Mann gestern Nacht gesessen!«

»Da hinten?« Der junge Pfleger runzelte die Stirn. »Das war immer Eddies Platz. Aber Ed ist letzte Woche verstorben.«

»Nein, verdammt! Ich will ihn nicht sprechen!«

Stur starrte sie geradeaus.

»Aber er ist doch Ihr Vater. Er möchte Sie sicher besuchen.« Die Krankenschwester in der halbgeöffneten Tür hielt ihr das Handy hin.

Fionas Blick bohrte sich tiefer in die Wand gegenüber ihrem Bett. »Ich habe nicht umsonst das Telefon aus diesem Zimmer entfernen lassen!«

»Wollen Sie denn gar keinen Besuch?«

»Seinen jedenfalls nicht!«

»Sie hatten auch nie anderen Besuch ... die Leute hier fragen sich schon –«

»Zum Teufel, wen interessiert es, was die Leute denken! Ist sonst noch was?!«

Die eingeschüchterte Schwester, kaum älter als Fiona, wand sich. Sie blickte auf das Handy in ihrer Hand.

»Aber was soll ich ihm denn sagen ...?«

»Sagen Sie meinem Vater, die vielen Untersuchungen seien sehr anstrengend und Ruhe deshalb absolut vorrangig. Den Standardspruch eben!«, fauchte es ihr entgegen.

Die Schwester nickte schnell und verließ das Zimmer. Fiona starrte wieder auf die Wand. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Verdammt«, flüsterte sie.

Professor Silverstone kochte vor Wut. Zwanzig nach acht! Kommt einfach zu spät! Die will dich provozieren! Er lief vor den großen Fenstern seines Büros auf und ab. Die Schönheit des klaren Wintermorgens über dem Park der Klinik erreichte ihn nicht.

Nicht mit mir, Miss Psychoonkologin! Erzürnt blickte er auf das Foto an der Personalakte auf seinem Tisch. Er sprach direkt in das hübsche, ovale Gesicht der jungen, blonden Frau. »Mein Vater hat diese Klinik gegründet, Miss Patt, nach seinen Regeln machte ich sie zur besten des Landes, und mein Sohn wird sie nach diesen Regeln weiterführen. Keine dahergelaufene Uni-Absolventin mit ein paar guten Noten wird diese Tradition in Gefahr bringen – schon gar nicht, wenn sie zu spät zu ihrem Vorstellungstermin kommt!«

Er setzte sich in den schweren, ledernen Schreibtischsessel und zwang sich zur Ruhe. Unpünktlichkeit ... eigentlich ein guter Auftakt, dachte er bei sich und lächelte nun. Ein paar mehr solcher Verfehlungen und er wäre die neue Kollegin schnell wieder los. Beherzt griff er sich ihre Akte. »Mal sehen, was wir da noch so finden, liebe June ...«

Steve hatte sie sehr früh am Morgen abgeholt und nach ihrem gemeinsamen Ausflug in das Raucherzimmer weiter zum Untersuchungstrakt gebracht. Dort hatte er sie dann mit einer Schwester allein gelassen.

»Was ist das?« Sue blickte skeptisch in den Becher.

»Frühstück. Austrinken!«, befahl die Schwester schroff. Sie war ziemlich dick und ziemlich blass. Wie der Wal aus der berühmten Geschichte.

»Wo ist denn Schwester Paula? Sie hatte mich hier letztes Mal betreut. Eine sehr freundliche Frau«, betonte Sue.

»Austrinken!«

»Nein.«

Sie ließ sich nichts mehr befehlen. Seit der Scheidung von Dean war damit Schluss. »Ich trinke das erst, wenn ich weiß, was es ist«, sagte sie entschieden.

»Warum glauben hier eigentlich alle, wir wollten sie vergiften?!« Moby Dick war genervt. Sue roch lächelnd an dem Becher.

»Es ist Röntgenkontrastmittel. Wasserlöslich und geruchlos. Es verbessert die Darstellung unterschiedlicher Gewebearten im Körper. Die Dichte und Strahlendurchlässigkeit der menschlichen Organe wird ...«

Der monotone Vortrag des Wals rauschte an ihr vorbei. Seufzend schluckte Sue den Brei ohne abzusetzen und stellte den leeren Becher zurück, der sofort wieder gefüllt wurde.

»Die Rechnung bitte, ich bin satt«, erklärte Sue.

Die Krankenschwester sah sie zum ersten Mal an. »Satt vielleicht, aber lange nicht fertig.« Sie grinste. Die Kanne in ihrer fleischigen Hand war noch halbvoll.

Diesmal war das MRT-Gerät größer. Sue atmete erleichtert aus. Es gab genug Luft und Licht in der Röhre.

»Machen Sie sich keine Sorgen – wir machen uns auch keine!«, scherzte der Techniker. Schwester Moby Dick referierte nun über Thorax und Abdomen, während der Mann vor seinem Gerät herumstolzierte. »Wir finden alles und jeden ab ein bis zwei Zentimetern!«

Sue hatte nicht wirklich verstanden, was er eigentlich suchte. Sie wollte es auch gar nicht, der Liter Kontrastmittelbrei hatte sie schläfrig gemacht und sie hatte genug damit zu tun, den Anweisungen zu folgen:

Luft anhalten – ausatmen – länger anhalten ...

Nach dreißig Minuten fand sie sich auf einem Stuhl im Gang wieder. Steve sollte sie von dort abholen.

Aber der Pfleger kam nicht. Sie wurde unruhig. Sie musste aufs Klo, und sie musste endlich etwas essen. Etwas Festes! Der kalte Flur war menschenleer. Nur ab und zu huschte eine Krankenschwester von einer Tür zur anderen. Es kommt gleich jemand, hatte ihr eine im Vorbeiflug zugerufen. Das war vor einer Viertelstunde gewesen. Sue stand auf. Sie war kein Kind mehr. Niemand musste sie zu ihrem Zimmer bringen, sie konnte das allein!

6

Mist! Und gleich am ersten Tag! Sie blickte auf die große Uhr im Foyer der Klinik. Die Zeiger bestätigten das stumme Geschrei ihrer Armbanduhr. Kommst zu spät! Kommst zu spät! Kommst zu spät! Sie hämmerte auf die Knöpfe für die Lifte. Endlich kam einer. Sie hetzte hinein. Aber wo musste sie eigentlich hin? Verdammt! Die blonde, junge Frau stürzte wieder aus der Kabine.

»Wo finde ich Professor Silverstones Büro? June Patt. Ich habe einen Termin!«, rief sie in die Halle. Hinter dem Empfang zeigten fünf Finger in die Höhe.

»Im Fünften? Danke!« Sie drehte sich zurück zum Fahrstuhl. Er war schon weg.

Kommst zu spät.

Die Erinnerung riss sie mit sich.

Duftender Rasen. Ihr Vater hatte ihn noch am Nachmittag gemäht. Dann war er mit Mom in die Stadt gefahren. Endlich mal wieder ins Kino!, hatten sich beide gefreut. Und du passt auf den Kleinen auf! Das hatte June getan, bis auf diese fünf Minuten. Louisa musste ja unbedingt von ihrem neuen Schwarm erzählen. Als June den Hörer auflegte, hatte ihr vierjähriger Bruder den Swimmingpool erreicht.

»Möchten Sie mit?«

Sie blinzelte irritiert. »Bitte was?«

Die Frau an der offenen Tür zum zweiten Lift wiederholte ihre Frage. June starrte nur auf den Trainingsanzug der Fremden. Er hatte dasselbe Türkis wie das Wasser des Pools.

»Ich weiß, ich weiß, ist nicht wirklich meine Farbe. Ein Geschenk meines Ex-Mannes.« Die Frau rollte mit den Augen, dann fragte sie freundlich: »Sind Sie auch Patientin hier?«

»Äh, nein, ich ... ich hab heute meinen ersten Tag, ich arbeite hier.«

»Oh, gratuliere. Die Klinik hat ja einen tollen Ruf.«

June nickte abwesend. Hinter der Frau im Trainingsanzug füllte Wasser die Fahrstuhlkabine bis zur Decke. Ein kleiner, regloser Körper schwamm darin.

»Stimmt was nicht?«

»Nein, nein. Alles in Ordnung, wirklich«, log June lächelnd. Ich bin nur einmal zu spät gekommen, wissen Sie. Und muss nun für immer dafür bezahlen.

»Ich bin Sue. Und ich kann sicher bald wieder nach Hause«, sagte die Frau vor ihr.

Sie schluckte die bittere Erinnerung an ihren kleinen Bruder hinunter und drückte die ihr angebotene Hand. »Freut mich, Sue. Ich bin June Patt, die neue Psychologin.«

Der Professor wartete ab, bis es erneut klopfte. »Kommen Sie herein«, sagte er schließlich.

Sie betrat das Büro. Sie sah es ihm an. Dem brauchst du gar nicht mit deiner leeren Autobatterie zu kommen. Sag nur das Nötigste. »June Patt ist mein Name. Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung.«

»Dreiundzwanzig Minuten.«

Und wie viele Sekunden? Sie verkniff sich die Frage.

»In dreiundzwanzig Minuten kann ich ein Leben retten. Wie lange braucht eine Psychologin?« Joseph Silverstone blickte die hübsche Frau vor seinem Schreibtisch kühl an.

»Leider länger«, antwortete sie. Ihr schmales Gesicht mit der feinen Haut war gerötet vom Laufen durch die langen Gänge. Ihre klaren, hellgrünen Augen hielten seinem prüfenden Blick stand.

»Sie wissen, was ich von Ihrem Berufsstand halte?«

June nickte. »Man hat mich informiert.«

»Gut. Dann können wir uns weitere Höflichkeiten sparen.« Er schlug ihre Akte auf. »Makellos. Dr. June Patts Lebenslauf verzeichnet keinen einzigen Ausrutscher.«

»Soll ich mich dafür auch entschuldigen?«, murmelte sie. Etwas in ihr begann zu kochen.

Der Professor blätterte weiter durch die Seiten. »Nur beste Noten ... Examen mit summa cum laude ... alle Theorie perfekt gelernt.«

»Ich dachte, das erwartet man hier.«

Er schnaubte verächtlich. »Miss Patt, Sie haben verdammtes Glück, dass der wichtigste Investor dieser Klinik auf Ihre hübsche Nase steht. Ich hätte Sie nämlich nie eingestellt. Ich will mit Menschen zusammenarbeiten, nicht mit seelenlosen Lernmaschinen!«

June platzte der Kragen. »Soweit ich hörte, haben Sie noch nie mit jemandem zusammengearbeitet! Und wissen Sie auch, warum – Ihr Gottkomplex verhindert es!«

Er erhob sich. Lächelnd. »Meine Zeit ist zu knapp für Ihre naiven Analysen. Oberschwester Rose wird Ihnen die Klinikregeln erläutern. Guten Tag.«

Zufrieden verließ er sein Büro.

Sie blieb allein vor dem Schreibtisch zurück. Na bravo, June. Toll gemacht. Ein Glanzstück der Verhaltenspsychologie. Er provoziert und du steigst voll darauf ein. Sie seufzte. 1:0 für Silverstone.

Sue war einmal falsch abgebogen, jetzt hatte sie den richtigen Flur erwischt. Erleichtert lief sie auf sein Ende zu. Im nächsten Gang bin ich zuhaus, im nächsten Gang kenn ich mich aus! Das Skelett stand an der Ecke. Es sprach mit einer Schwester. Beide lachten und die Schwester nahm einen Apfel vom Servierwagen. Das Skelett schüttelte langsam den Kopf. Eine gelblichweiße Klaue kam unter seinem dunklen Bademantel hervor und zeigte auf einen hohen Metallständer in der Nähe. Er hatte Räder und Sue erkannte, dass von den durchsichtigen Beuteln am oberen Ende Schläuche unter den Bademantel führten. Dann entdeckte das Skelett sie. Seine tief im Schädel liegenden Augen starrten.

Großer Gott. Sue sah rasch zu Boden und begann zu laufen. Ihre Turnschuhe quietschten auf dem blitzenden Linoleum. Schnell war sie an den beiden vorbei. Das Stirnrunzeln der Krankenschwester nahm sie nicht wahr, aber seinenBlick. Er brannte in ihrem Nacken.

»Ich hab ein wandelndes Skelett gesehen!« Sie warf die Tür des Patientenzimmers hinter sich zu.

»Mann oder Frau?«, fragte es hinter dem Buch.

»So viel war nicht mehr dran. Aber es trug eine Kappe vom FBI.«

»Ach, das war bloß Ken, unser Sport-Ass.« Fiona blätterte die Buchseite um.

Sue lehnte mit dem Rücken gegen die Tür. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch. So zu rennen war sie wirklich nicht mehr gewohnt. »Was ... ich meine ... was hat Ken?«

»Was wir hier alle haben.«

»Ihr alle?«

»Wir alle!«, betonte Sues Bettnachbarin.

Nein. Das ist nur ein schlechter Traum. Wach auf, Sue.

»Ja, auch du hast es ... das böse Wort.«

Wach auf, Sue! Wach auf!

»Und es heißt: Krebs ... K – R – E – B – S«, buchstabierte Fiona.

Sue wachte auf.

Krebs.

Die heiße Welle der Verzweiflung füllte ihre Lunge. »Nein! Nein! Nein!« Ihre Fäuste trommelten es an der Tür.

»Hey, ist ja gut. Hast du etwa geglaubt, die Beule sei nur eine Oberarmschwangerschaft?«

Sue schlug weiter gegen die Tür.

Fiona legte ihr Buch beiseite. »Du hast es wirklich nicht gewusst ...« Sie stieg aus ihrem Bett.

Bloß vergrößerte Fettgewebszellen. So harmlos wie eine Kirsche. »Ich wollte es nicht wissen!«, heulte Sue. Sie rutschte an der Tür herunter, saß zitternd auf dem Zimmerboden. »Ich will mit einem Arzt sprechen. Ich will sofort mit einem Arzt sprechen!«

Fiona setzte sich neben sie. »Deren Zeit ist knapp bemessen. Und ohne ihre Untersuchungsergebnisse sind die sowieso hilflos.«

Es klopfte.

Steves Stimme war von draußen zu hören.

»Kann man hier nicht mal in Ruhe einen Nervenzusammenbruch bekommen?!«, rief Fiona. Die Tür blieb zu. »Na also.« Sie lächelte Sue an, und schluchzend versuchte auch Sue ein Lächeln.

7

Der Untersuchungstrakt erstreckte sich über das ganze Stockwerk. Steve ging neben ihr.

»Bin ich zu schnell?«, fragte er.

Sue schüttelte den Kopf. Sie hatte einen Rollstuhl abgelehnt und darauf bestanden, selbst zu gehen.

»Tut mir leid, dass ich Sie gestern nicht abholen konnte. Ein Notfall in Zimmer Zwei.«

»Was ist passiert?«

»Hat sich erledigt.«

Sie fragte nicht nach. Es hat sich erledigt. Seit gestern wusste sie, warum sie hier war.

»Muss ich auch sterben?«

»Moment mal!« Ihr Pfleger blieb stehen. »Wie kommen Sie denn auf so was?«

»Ich hab diesen dürren Patienten gesehen und ... und Fiona meint, wir alle hätten das, wir würden alle so enden!« Sie begann zu weinen.

»Dieses Miststück. Hören Sie, Sue, Fiona hat eine Menge Probleme und weiß nicht, wohin damit. Manchmal schlägt sie dann über die Stränge. Lassen Sie sich davon nicht runterziehen.«

»Aber ich habe es doch!« Sie hob ihm ihren Arm entgegen. Die Schwellung schmerzte leicht.

»Noch weiß niemand, was Sie haben. Vielleicht fahren Sie schon morgen wieder heim.«

»Glauben Sie?«

Er lächelte. »Wir sind da«, sagte er nur.

Das Ärztezimmer. Drei aneinander geschobene weiße Tische nahmen seine Mitte ein. Auf ihnen stapelten sich Akten. Noch mehr Akten füllten die Wandregale. Nur bei den Fenstern gab es eine letzte freie Ecke. Eine Kaffeemaschine verteidigte sie zischend.

»Kommen Sie doch herein«, sagte jemand.

Steve hatte an die offene Tür geklopft und Sue dann allein gelassen. »Ich hole Sie ab. Diesmal bestimmt!«, hatte er sich im Laufen von ihr verabschiedet.

Sie trat in das Ärztezimmer.

Hinter einem Haufen Röntgenbilder erhob sich ein schlanker Mann. »Wenn Sie wollen, können wir die Tür zumachen.«

Sie nickte.

»Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Dr. Silverstone. Aber nennen Sie mich Jeremy, bitte«, stellte sich der Mann vor und hielt Sue seine Hand hin.

Sie starrte ihn an. »Sind Sie ...«

»Nein, nein. Nur sein Sohn«, unterbrach er lächelnd. »Keine Angst.«

Angst. Seit gestern spürte Sue sie wachsen. Seit Fionas Spruch. Sie nahm seine Hand. Er drückte kaum zu.

»Wollen wir uns setzen, Mrs. Randon?«

Er lächelte wieder und nahm ihr gegenüber Platz.

»Weshalb bin ich hier?!«, platzte es aus ihr heraus.

»Sie wissen es nicht?«

»Nein!«, antwortete sie heftig. Sie konnte sein Stirnrunzeln sehen. »Mein Hausarzt sprach von harmlosen Fettgewebszellen, von einem ... ach, irgendwas mit L!«

»Lipom.« Er hatte einen Hefter zu sich gezogen und blätterte darin herum.

Sue wurde blass. Nun sagt er dir, dass du sterben musst.

Jeremy sah sie an. »Für ein Lipom wächst es zu schnell.«

Oh, danke, Doktor. Und wann ist es so weit?

»Aber für eine Diagnose ist es zu früh. Das einzige, was ich bisher sehen kann, ist ein Schatten auf Ihrer Lunge ...« Er hob die Aufnahme gegen das helle Fenster, »... sieht nach einer alten Vernarbung aus, wohl eine ausgeheilte Lungenentzündung«, fuhr Jeremy fort. »Ihr Hausarzt erwähnte so etwas.«

Sie nickte.

Das Wasser trommelte klatschend auf ihre Stirn. Es war eiskalt. Eine Viertelstunde stand sie schon in dem Loch unter der maroden Regenrinne. Die Neunjährige war vollkommen durchnässt. Ihr Vater meinte, es sei gut für sie, es würde die Widerspenstigkeit herauswaschen.

»Ihr Blutbild ist unauffällig. Es gibt zwar einige Abweichungen ...« Er überflog die Tabellen und schüttelte dann leicht den Kopf, »... aber da ist nichts Alarmierendes.« Er sah sie aufmunternd an.

Sie blickte ernst zurück.»Was ist ein Sarkom?« Außer einem schönen Namen.

»Eine bösartige Bindegewebsgeschwulst. Wie kommen Sie darauf?«

»Meine Zimmernachbarin hat es erwähnt.«

»In welchem Zusammenhang?«

In meinem. Sue schwieg.

»Ach, Sie werden hier noch vieles aufschnappen. Lassen Sie sich davon nicht verrückt machen. Wir müssen die weiteren Untersuchungen abwarten. Glauben Sie mir, es ist wirklich zu früh, um sich Sorgen zu machen.«

Das Gespräch mit dem jungen Silverstone hatte sie beruhigt. Auch weil er nicht einen Blick auf die Beule an ihrem Oberarm geworfen hatte. Ob er keine Kirschen mag? Hör auf! Schluss damit! Sue wollte nicht mehr daran denken.

»Er hatte noch keine Diagnose für mich«, sagte sie.

Steve nickte. »Kein Wunder, bei dem Durcheinander hier.« Er drückte auf den Aufzugknopf.

»Was denn für ein Durcheinander?«

»Abriss, Umbau, Neubau, und dann wieder von vorn. Und was kommt am Ende raus? Zu teuer, zu groß, zu viel Hightech. Nur für mehr Personal ist nie Geld da!«

»Seit wann gibt es die Klinik?«

»Oh, ihre Anfänge sind uralt. Mitte neunzehntes Jahrhundert. Der Vater des Professors übernahm dann alles 1937. Seitdem kam viel Neues dazu. Zuletzt dieser Riesenglaspalast hier. Von den alten Pavillons wird nichts bleiben. Ich hab sie gemocht. Ich glaube, der Professor auch. Manchmal spaziert er noch zu den Resten hinten im Park und –«

Die Glocke des Fahrstuhls unterbrach Steve.

»Hereinspaziert! Hereinspaziert! Beste Laune wird garantiert!«, rief es aus dem Lift. Sue erblickte einen Mann in einem zerknitterten Arztkittel. Sein Namensschild war verkehrt herum befestigt. Aus seinem rundlichen Gesicht leuchtete eine dicke, rote Clownsnase.

»Hi, Robert«, grüßte ihr Pfleger den Mann, »was machen die Kinder?«

»Tanzen mir auf der Nase herum.«

»Ah, deshalb die Schwellung«, lachte Steve.

»Schluss jetzt mit Smalltalk, nehmen Sie Haltung an, Kliniksoldat, und stellen Sie mir endlich Ihre faszinierende Begleiterin vor!«

Sue spürte das Blut in ihre Wangen steigen.

»Sir, gerne, Sir!« Steve salutierte vor dem Clown. »Darf ich vorstellen: Mrs. Sue Randon, Sir!«

»Sehr erfreut, Mrs. Randon. Ich bin Dr. Roswell ... Sie sehen aus wie eine Mischung aus Maureen O’Hara und Vivien Leigh, wissen Sie das?«

Er beugte sich zum Handkuss. Seine rote Gumminase drückte auf ihre Finger. Sprachlos starrte Sue darauf. Ihr Gesicht musste inzwischen dieselbe Farbe haben.

Der Arzt richtete sich wieder auf. »Und wo drückt uns der Schuh, liebe Sue?«

Sie suchte nach Worten. Dieser Mann mit den leicht ergrauten Schläfen hatte sie vollkommen durcheinander gebracht.

»Ich ... ich habe eine Kirsche gefunden«, stammelte sie.

»Eine Kirsche, verstehe.« Seine schönen, braunen Augen verloren ihr Lächeln.

Der Lift hielt. Sue war erleichtert. Schnell stieg sie mit Steve aus. Der Arzt mit der Clownsnase blieb allein zurück. »Weitermachen, weiterlachen, immer weiter«, flüsterte er ihnen zu, während sich die Fahrstuhltüren schlossen.

Komm schon, komm schon! Rose drückte erneut den Liftknopf. Ihr Blick wanderte durch die Halle. Da waren sie. Mit Tüten und Taschen. Voller Gefühle. Angehörige! Die Oberschwester hasste sie. Nein, Hass war es nicht. Sie war es einfach nur leid. Die Fragen, die Gesichter, die Tränen. Rose hatte schon lange keine mehr übrig. Sie spielte jetzt öfter mit einem Gedanken: Loslassen und ein neues Leben beginnen! Doch das war leichter gedacht als getan.

»Oberschwester! Was für ein Vergnügen!« Dr. Roswell stand mit ausgebreiteten Armen mitten im Lift. Seine Gumminase leuchtete sie an. Schnell stieg sie ein. »Nun machen Sie schon zu!«, fauchte sie.

Sein Schlüssel für die Türautomatik steckte. »Vielleicht will noch jemand mit?«, fragte er spitz. Einige Besucher hatten den Fahrstuhl fast erreicht.

»Das denke ich nicht!« Die Oberschwester griff nach dem Schlüssel und drehte ihn um. Die Empfangshalle verschwand. »Sollen die doch die anderen Lifte nehmen.«

»Rose, Rose ...« Dr. Roswell schüttelte den Kopf. »Sie sollten die ganze Sache hier an den Nagel hängen.«

»Bevor ich mit solch einer lächerlichen Nase im Gesicht ende, meinen Sie?«

»Die würde wunderbar zu Ihrem Haar passen. Tragen Sie es eigentlich auch mal offen, oder wurden Sie mit diesem strengen Zopf geboren?«

»Kümmern Sie sich um Ihre Patienten, statt um meine Frisur!«, zischte sie.

»Das tue ich.«

»Indem Sie im Lift spazieren fahren?«

»Ist meine Privattherapie.«

»Suchen Sie sich lieber eine richtige.«

Der Arzt seufzte. Er blickte die Oberschwester über den breiten Spiegel des Fahrstuhls an. »Sie tragen Ihren Namen wirklich zu Recht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie stechen, wenn man Ihnen zu nahe kommt.«

»Und Sie verstecken sich hinter Clownsnasen, Robert.«

Dr. Roswell nickte traurig.

»Sehen Sie uns an, Rose, da im Spiegel, zwei einst tapfere Ritter, die tagaus tagein um jedes Leben kämpften. Doch ihre weiße Rüstung war nur aus dünner Baumwolle. Sie ließ einfach zu viel durch.«

Fiona war nicht da. Sue genoss den Moment des Alleinseins in dem stillen Krankenzimmer. Die letzten Tage hatten ein ziemliches Chaos in ihr hinterlassen. Ein wenig Ruhe und Entspannung konnte sie gut gebrauchen. Sie wusch sich die Hände in der Nasszelle. Dann ging sie an den beiden gemachten Betten vorbei zum Fenster und öffnete es weit.

Die Luft roch noch nach Schnee, aber die Sonne hatte schon viel an Kraft gewonnen. Sue genoss die intensive Wärme. Bald würde es Frühling sein. Und bald die Kirschen blühen ... Ach, hör endlich auf damit! Sie zog sich einen Stuhl ans Fenster und setzte sich.

»Ist das herrlich«, seufzte sie leise und vergaß allmählich Zeit und Raum. Die Sonne drang durch ihre geschlossenen Lider, füllte ihren Körper mit wärmendem Orange, vertrieb all die dunklen Gedanken. Sie schreckte hoch. Beinahe wäre sie hier eingenickt. »Ein Sonnenbrand fehlt uns jetzt gerade noch, Mrs. Randon!«, ermahnte sie sich. Aber besser als so bleich wie das Skelett neulich wäre er schon, kicherte es irgendwo tief in ihr.

Ken. Das war sein Name. Sue schauderte. Er hatte ihr Angst gemacht, gestern im Gang. Sie schloss das Fenster. Der Blick des Skeletts unter der FBI-Kappe ging ihr nicht aus dem Sinn. Kens Blick. Er hatte ihr hinterher gestarrt. Ihr Nacken hatte gebrannt unter seinen Augen. Sie atmete schneller. Jetzt brannte er wieder.Mach dich nicht verrückt. Ihre Finger strichen über die heiße Haut hinten am Hals, strichen über ... Oh Gott. Sue ertastete die kleine Beule unter dem Haaransatz. Und bald die Kirschen blühen.

8

»Nimm die lieber ab. Die ist albern!« Jennie zeigte auf seine rote Clownsnase. Dann drehte sie sich wieder zum Fenster. »Der Schnee taut aber schnell«, staunte sie.

»Ja, wir haben fast April. Es wird Frühling«, sagte Dr. Roswell und ging auf ihren Rollstuhl zu.

»Frühling ist gut. Dann braucht der Junge im Park nicht mehr zu frieren«, freute sich das Mädchen und stemmte sich hoch. Die Kleine reckte ihren Kopf, so weit es ging. Ihre dünnen Ärmchen zitterten. Er ordnete ihre Schläuche unter den Infusionsbeuteln und hob sie aus dem Stuhl.

»Danke, Robby.« Jetzt sah sie den ganzen Park.

Wie leicht sie geworden ist, dachte er und schaute mit ihr hinunter. Hinter den kahlen Alleebäumen lagen die alten Gebäude. Kleine Backsteinpavillons in einem Halbkreis. Der Ursprung dieser Klinik, ihre Geschichte. Noch war sie ein Teil des Parks. Doch mehr und mehr davon verschwand. Das hundertjährige Schwesternwohnheim war gerade erst abgerissen worden. Geschichte. Das Neue verschlang sie.

»Da, der Junge sitzt wieder allein auf der alten Bank«, flüsterte Jennie.

Dr. Roswell lächelte. Er kannte ihren kleinen Freund aus dem Park. Gleich nach der Einlieferung hatte sie sich mit ihm angefreundet. Nur sehen konnte man ihn nicht. Keiner tat das, außer Jennie.

Weil er euch nicht sehen will, hatte sie erklärt, und Dr. Roswell hatte genickt. Das war die eine Möglichkeit. Der Tumor in ihrem Kopf war die andere.

Sue verschwieg die Entdeckung an ihrem Nacken. Sie beschloss, dass es gar keine gegeben hatte. Wenn es etwas zu finden gab, war das Aufgabe der Ärzte. Sie konnte ja nicht wegen jedem Pickel nach der Schwester schreien. Außerdem hatte der junge Arzt es doch gesagt: Es ist noch zu früh für eine Diagnose.