Das Brandopfer. Der Fall Finnphon - Heinz-Joachim Simon - E-Book

Das Brandopfer. Der Fall Finnphon E-Book

Heinz-Joachim Simon

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Beschreibung

Ein Huntinger-Roman Ein Buch so spannend wie ein "Film noir" - voller Fieber wie ein Trompetensolo von Miles Davis. Die Auswirkungen der Globalisierung, wenn um ein paar Prozent mehr Gewinn Arbeitsplätze verlagert werden. Die spannende Geschichte eines Mannes, dessen Welt sich auflöst, der seinen Arbeitsplatz und seine Familie verliert und in ein Verbrechen verwickelt wird. Einsam irrt er durch die Städte und sucht den Urheber seines Unglücks. Hauptkommissar Huntinger ist ihm auf der Fährte und hofft, ihn retten zu können. Eine Irrfahrt durch die Rotlichtviertel Deutschlands. Huntinger stellt ihn an einem trüben Tag auf einer regennassen Straße und erlebt eine Überraschung, die ihn an seinem Beruf zweifeln lässt. Ein kompromissloser, harter Roman, passend zu dem, was in Deutschland und unserer globalen Welt passiert. Ein Roman ist nur dann gut, wenn der Leser glaubt dabei zu sein.

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Heinz-Joachim Simon

Das Brandopfer

Der Fall Finnphon Ein Huntinger Krimi

Simon, Heinz-Joachim : Das Brandopfer. Der Fall Finnphon. Ein Huntinger Krimi. Hamburg, acabus Verlag 2018

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-669-8

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-668-1

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

1. Buch

Wenn du dabei wärst …

1.

Bochum, Dienstag, 16. Januar, 11.00 Uhr

Auf dem Kommissariat

„Was haben Sie sich dabei gedacht, Jakob Weiß?“, fragt Kempe .

Kommissar Kempe liegt mehr im Sessel, als dass er sitzt. Streng zurückgekämmte Haare. Dunkle Brille. Tiefe Zufriedenheit spiegelt sich auf seinem jungen Gesicht.

Jakob starrt an die speckig–graue Wand. Könnte mal wieder gestrichen werden, denkt er. Was habe ich mit dem jungen Schnösel zu tun? Sein Anzug hat sicher ein Vermögen gekostet. Davon könnte ich den Blagen glatt zwei Mäntel kaufen.

Kempe raschelt mit dem Papier. Nervöses Geräusch. Nervt. Verdammt, sind wir denn hier auf Guantánamo?

„Warum haben Sie das Haus angesteckt, Jakob Weiß?“, fragt Kempe und knetet dabei die Hände.

Bürohände. Hat nie im Pütt gearbeitet. Der Kerl hat doch keine Ahnung, wie das Leben tickt, Mann. Kannze mir doch nicht erzählen. Mann, hör endlich mit dem Rascheln auf!

„Nun reden Sie doch!“, drängt Kempe. „Glauben Sie nur nicht, dass Sie durch Ihr Schweigen davonkommen. Sie werden auf Jahre hinter Gitter verschwinden!“

Ey, du biss doch völlich fratze, Ker! Du hass doch von nix watt ‘ne Ahnung. Ich hab watt getan, verstehsse, weil die Zeit reif dafür war. Und du Arsch trägst hier deine feinen Klamotten rum und spielst den Obermacker. Dabei nuckelst du noch an den Zitzen von deinem Muttertier, du Sheriff von Nottingham.

Dies alles geschah später. Das Kommissariat ist voller Geschichten davon. Geschichten voller, Liebe, Hass und Verzweiflung. Die ganze Comédie Humaine eben. Und Jakob mittendrin, die Wand anstarrend, deren speckig–graue Farbe ihm wie eine Pissoirwand erschien. Doch Jakob Weiß war in diesen Dingen nicht zu Hause, und im Moment hätte er auch nicht zu sagen gewusst, wo er zu Hause war. Gestern, am Montag, den 15. Januar, 9.00 Uhr, auf der Betriebsversammlung bei Finnphon hätte er es noch gewusst. Das Gerücht machte schon am Vortag die Runde: Wir werden zugemacht. Die Handys werden nun in Rumänien produziert. Geringere Stückkosten. Die arbeiten dort für ’n Appel und ’n Ei.

Kann nicht sein, so andere Stimmen. Unser schönes Werk macht Gewinn. Gerade den größten Gewinn der Firmengeschichte abgeliefert. Bochum ist Finnphonstadt.

Schmucklose Halle mit Transportbändern. Der Betriebsrats–vorsitzende spricht. Hochaufgeschossener Schlacks. Kumpeltyp. Auf einer improvisierten Bühne schüttelt er zornig die Fäuste. Rot entzündete Augen. Ein Zug des Ekels um den Mundwinkel. Er redet. Man versteht ihn nicht.

„Lauter! Lauter!“, verlangt die Menge.

Nun kommt die Bestätigung: Bochum wird zugemacht. Noch drei Monate, dann ist Ladenschluss. Aus. Vorbei. Dreitausend stehen dann auf der Straße. Schweigen. Weit aufgerissene Augen. Noch wird es nicht ausgesprochen: Was wird aus mir? Die Raten fürs Haus? Die monatlichen Abzahlungen fürs Auto? Es gibt keine andere Arbeit im Revier.

„Wir kämpfen!“, schreit der Betriebsrat.

Schüttelt die Fäuste. Seine Augen flattern. Glaubt er noch daran? Na ja, es gibt eine Abfindung. Wie lange reicht die? Für einige gibt es eine Auffanggesellschaft. Für wen? Die Stimmung wird trotzig: Wir haben in der Vergangenheit jede Kröte geschluckt. Wir haben fürs gleiche Geld mehr gearbeitet. Waren alle Versprechungen nur Klarsichtverpackung einer leeren Schachtel? Bochum wird nicht zugemacht. Denn Bochum macht Gewinn. Wie Hohn dröhnen diese leeren Versprechungen in der Hirnschale der gnadenlosen Erinnerung.

Jakob denkt: Da fahr ich nun seit Jahren auf meinem Gabelstapler die Kisten zum Versand. Eine Million Kisten. Stunde für Stunde. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Und nun ist Schluss damit.

„Wir legen aus Protest sofort die Arbeit nieder. Heute ist Schluss!“, schreit der Betriebsratsvorsitzende. „Wir werden kämpfen!“

„Jawoll! Kämpfen! Wir kämpfen!“, schreien alle.

Münte hat recht. Heuschrecken sind dat. Hamm die Kohle eingesackt und zischen jetzt ab. Corinna wird ganz schön fratzich werden, denkt Jakob.

Da ertönt ein Ruf wie Donnerhall:

„Zur Hauptverwaltung! Der Vorstand soll Rede und Antwort stehen! Der Kerl soll Farbe bekennen!“

Alles drängt zum Ausgang, weg vom Schweiß– und Angstgeruch. Frische Luft trocknet die Stirn. Da ist er, der blaue Glaspalast. Funkelnagelneu. Darauf wollen die nun verzichten! Hinein in die Eingangshalle. Der Name Finnphon steht in großen Lettern an der Wand. Traditionsname. Erinnert an Schnee, Mitternachtssonne, Eisschollen, Finnmesser. Sind doch gute Menschen dort oben im Norden. Was machen die hier mit uns?

„Wir sind Finnphon!“, skandiert die Menge.

Geklaut. Aber gut geklaut. Stimmt doch. Jakob schreit mit. Wir haben gute Arbeit geleistet. Jawoll! Gute Arbeit. Jahr für Jahr. Wir sind Finnphon.

Ein Anzugträger kommt. Hinter ihm wieseln andere Anzugträger. Der Firmensprecher. Glattes rundes Gesicht. Lächelt gequält. Winkt beschwichtigend. Es wird still. Salbungsvolle Worte.

Globalisierung. Realität. Konkurrenzfähigkeit. Den Tatsachen ins Gesicht sehen. Abfindung. Auffanggesellschaft.

Murren. Wer wird unterkommen? Teile und herrsche, das alte Lied. Geldeinsacker. Unser Geld. Die Menge drängt nach vorn. Das Mikrofon fällt um. Irgendwo splittert Glas.

„Kein Vandalismus!“, schreit der Betriebsrat.

Wir sind doch zivilisiert. Gute Bundesbürger. Keine Anarchisten.

„Wir wollen Sleskoe!“, erschallt der Ruf nach dem großen Vorsitzenden.

Der Firmensprecher breitet ergeben die Arme aus. Der Ruf wird lauter. Der Firmensprecher dreht sich um und sagt etwas. Die Menge drängt vorwärts. Jemand springt auf die Empfangstheke und skandiert:

„Sleskoe! Wir wollen Sleskoe hören!“

Alle machen mit. Da kommt er. Schmales hohes Gesicht. Graue Augen wie Eisschollen. Grauer Anzug. Bestes Flanell. Winkt beschwichtigend. Es wird wieder still. Redet nun. Wieder das Gleiche: Globalisierung, Konkurrenzkampf. Realität. Tatsachen ins Gesicht sehen. Abfindung. Auffanggesellschaft. Die gleiche Soße. Man hätte schon vor Jahren … Aber man stand zu Bochum. Redet nicht von den Subventionen. Redet von der Realität. Unwiderruflich das Aus.

„Ihr habt Geld vom Staat bekommen, um die Arbeitsplätze zu erhalten!“, schreit der Betriebsrat.

Sleskoe gibt dies zu. Wiederholt die Leier: Nur deswegen habe man nicht schon vor Jahren Bochum zugemacht. So ist das nun einmal. Realität. Tatsachen ins Auge sehen. Worte, wieder nur Worte. Der Zorn schlägt hoch. Fäuste werden geschwungen. Jemand wirft mit seinem Frühstücksbrot. Es folgen Pappbecher. Kaffee beschmutzt das weiße Hemd des Vorsitzenden. Der Ruf nach dem Werkschutz folgt. Blaue Uniformträger umringen Sleskoe, decken ihn ab. Sleskoe taumelt davon. Die Menge schickt ihm Wir sind Finnphon! hinterher.

Und nun? Ratlosigkeit. Wir streiken. Das ist es nun. Die Menge drängt aus der Empfangshalle. Jakob geht zu seinem Arbeitsplatz zurück, zu seiner Halle. Der Gabelstapler steht wie eine verloren gegangene Schubkarre vor der Wand aus Paletten.

Krüger kommt. Die Hände im Blaumann versenkt. Rotes Gesicht. Breitschultrig. Untersetzt. Ehrliche Haut.

„Na, Jakob, nun sind wir im Arsch.“

„Kannze laut sagen.“

Hau mir eins in die Fresse, damit ich weiß, dass ich wach bin. Kerl, wie soll ich die Raten bezahlen? Fürs Haus vor allem. Zu groß gebaut. Aber die Blagen sollten doch jedes ‘ne eigene Bude haben. Und dann noch der Opel Vectra. Auch auf Pump. Was noch? Richtig, der Flachbildfernseher. Corinna wollte ihn unbedingt. Alles auf Pump.

„Wo willsse im Revier denn noch Arbeit finden?“, fragt Jakob Weiß, ohne eine Antwort zu erhalten. „Mit zweiundfuffzig bisse zu jung zum Sterben und zu alt für die Personaler. Dat packen wir nich mehr.“

„Wird schon weitergehen. Irgendwie“, sagt Krüger, glaubt aber auch nicht dran, wie sein Gesicht verrät.

„Hömma, watt machen die mit uns?“, fragt Jakob.

„Die kacken uns weg! So sieht dat aus.“

„Die Linke hat recht: Die Kapitalisten verscheißern uns.“

„Dat sach ich dir! Doch rumjankern hilft nichts.“

Jennecke kommt hinzu und mit ihm ein Pulk von Männern.

„Nach Hause gehen ist doch dämlich. Wir besetzen die Produktionsanlage“, bellt er.

Ein Gesicht wie ein Gebirge. Zerfurcht. Ein richtiger Kerl. Kumpel schon seit Jahren. Waren gemeinsam im Pütt.

„Was soll das bringen?“, fragt Jakob.

„Widerstand. Wir zeigen’s denen. Lassen uns nichts gefallen.“

Hat schon recht, der Jennecke.

Jakob zuckt mit den Schultern. Natürlich macht er mit.

„Schön, Klaus. Besetzen wir den Laden.“

„Wir sind Finnphon, jawoll!“, schreit Atze Krüger und reißt die Fäuste hoch. Alle fallen in den Ruf ein. Vorwärtsdrängen. Auf zur Montagehalle. Jemand singt die Internationale. Wie kommt der nur drauf? Kennt nur die erste Zeile. Jakob erinnert sich: November 1918. Hat er im Fernsehen gesehen. Die haben was riskiert. Wurden von den eigenen Leuten verraten. Von Ebert, Noske, dem Bluthund und seiner Bande. Lange her. Selbst Degenhardt singt nicht mehr. Lebt der überhaupt noch?

Der Betriebsratsvorsitzende hält sie auf.

„Kinder, macht keinen Scheiß! Wir verhandeln noch immer mit denen. Rüttgers wird nach Finnland fliegen. Der steht hinter uns. Auch Merkel. Haben denen schließlich viel Geld in den Hintern geblasen.“

Jemand lacht hämisch.

„Die haben doch nur Angst. Die wollen Ruhe in der Bude!“, murrt Jennecke.

„Nein. Die stehen zu uns“, hält der Betriebsratsvorsitzende dagegen. „Die werden mit Finnphon Tacheles reden, glaubt mir. Also geht jetzt nach Hause. Keine Besetzung. Ihr schadet sonst nur der Sache. Keine Fraktionsbildung, Leute!“

Jennecke sieht Jakob an.

„Was meinsse?“

Jakob denkt: Strohhalm. Sicher: was bringt Besetzung? Liefert denen doch nur einen weiteren Grund: Deutschland ist nicht nur teurer, sondern auch zu unsicher für Investitionen. So werden sie reden.

Er zuckt mit den Schultern.

„Meinswegen: Geben wir denen da oben ‘ne Schanze. Finnphon freut sich doch nur, wenn wir Randale machen.“

„Richtig!“, ruft der Betriebsratsvorsitzende und schlägt Jakob anerkennend auf die Schulter. „Bringt gar nichts. Gibt ihnen nur recht, dass sie sich für Rumänien entschieden haben. Jedenfalls einstweilen, verstehsse? Also: Geht nach Hause, Leute. Wir legen bis zum Wochenende die Arbeit nieder, und nächste Woche sieht vielleicht alles ganz anders aus.“

Was soll anders aussehen, fragt sich Jakob. Dann bleiben noch einmal elf Wochen. Elf Wochen Gabelstapler fahren. Dann ist endgültig Schluss. Wo keine Paletten mehr stehen, brauchsse auch keinen Gabelstaplerfahrer.

Die Reihen lichten sich.

„Sie laufen uns weg“, stellt Jennecke betrübt fest. „Leute, lasst uns doch noch mal drüber reden.“

Doch sie wollen nicht drüber reden. Sie gehen. Geduckt und mit niedergeschlagenen Augen. Kleingekriegt. Keine Kämpfer wie Jennecke. Atze, Jakob und Jennecke folgen ihnen. Raus aus dem funkelnagelneuen Werk. Bochums Stolz.

Die Wachen beobachten sie mit kalkbleichen Gesichtern. Denen geht auch der Arsch auf Grundeis. Eine riesige Wolke von Angst liegt über dem Gelände. Der Bus kommt. Alles drängt hinein. Die Blicke irren aneinander vorbei.

„Samstag ist Derby. Karte hab ich schon. Gehste auch hin?“, fragt Atze Krüger.

Jakob nickt.

„Klar. Noch nie verpasst. Diesmal sind die Dortmunder dran.“

„Die hauen wir weg!“, sagt Atze.

Atze ist Schalkefan, wenn Schalke gegen Dortmund spielt, ansonsten ist er Bochumfan. Jakob ist auch Dortmundfan, wenn Schalke gegen Dortmund spielt. Nur wenn Schalke gegen Bochum spielt, trägt er schon mal den Bochum–Schal.

„Meinsse?“

„Jau. Zu Zeiten von Stan Libuda und Lothar Emmerich, Mann, da wär ich auch Dortmundfan. Aber guck dir doch diese zusammengewürfelte Gurkentruppe an! Guck dir doch diese Schmachttolle aus Paraguay an, diesen Nelson Valdez. Der schießt ja mit Schrotkörnern. Bei dem Streuverlust darfsse dich nicht wundern, dass da keine Kugel mal ins Schwatte trifft. Und dieser Kunstschütze aus der Schweiz, dieser Alexander Frei, der trifft ja nur, wenn man ihm vor dem Tor einen roten Teppich legt. Der denkt ja, der wär bei den Wilhelm–Tell–Festspielen. Diesmal werden wir Deutscher Meister, Mann.“

„Wer iss wir?“

„Schalke, du Pflaume. Mann, Kerl, schließ mal endlich ‘n Pakt mit der Realität: Dortmund hat null Schanze.“

„Nicht in hundert Jahren. Seit ihr Grasnarbenepileptiker den Assauer rausgeekelt habt, laufen bei euch doch nur Weicheier rum. Kuck dir doch den Kurányi an, wenn dem sein Seelenklempner krank ist, trifft der doch noch nich mal ins Seitenaus.“

„Was du immer mit dem Assauer hast. Schalke gewinnt, das ist Fakt. Kuck dir doch die Tabelle an. Oder bist du Legastheniker? Mann, wir stehen auf Platz zwei. Vor den Scheißlederhosen. Aber die zählen ja nicht, die sind ja alle gekauft. Da im Süden iss ja alles Mafia. Mann, hömmir auf mit euren Bananenträgern, die da ständig auffe Palme krabbeln und rumjanken.“

Der Bus hält vor dem Bahnhof. Sie nicken sich zu. Steigen aus. Eine einzige Baustelle. Schon immer. Sie gehen auf die andere Straßenseite, gehen an der Hopfendolde vorbei. Dafür ist später immer noch Zeit. Gehen zum Dr.–Ruess–Platz. Feine Ecke. Restaurant Die Uhle. Jakob war dort einmal mit Corinna, hat ihr gefallen. Sie wenden sich der Einkaufspassage zu. Jetzt Fußgängerzone. Überall Schnäppchen, Preisattraktionen und Billigevents. Alles wird verramscht. Wir hassen teuer löst Geiz ist geil ab. Billige Fetzen flattern an den Ständern vor den Läden. Die ganze Straße ein einziger Billigmarkt. Irgendwer spielt das Lied vom lieben Augustin. Ein Blinder mit Akkordeon. Jawoll, alles ist hin. Das ganze Land geht zum Teufel. Kauft den Ramsch! Man hat uns dazu erzogen.

Die Sonne versteckt sich nun hinter einer Wolke. Sieht jetzt alles noch trostloser aus. Frauen drängen sich vor den Kleiderständern. Warum kauft ihr das? Ist doch nur Ramsch für eine Saison. Was ist schiefgelaufen?, fragt sich Jakob. Irgendwas ist doch schiefgelaufen, verdammt. Wann fing es an? Du hattest mal gute Arbeit. Geh in den Bergbau, Junge, der bietet sichere Arbeit, hat der in der Berufsberatung gesagt. Kohle braucht man immer. Zwanzig Jahre im Pütt: Staublunge. Aber nicht so schlimm. Hat schließlich jeder. Staublunge: Statussymbol des Bergmanns. Eines Tages blieben die Förderräder stehen. Stillstand. Industrieruinenmuseum von außen zu besehen. Unter Tage über Tage geschlossen. Industrieruinenmuseum in schöner Landschaft: das grüne Bochum. Grönemeyer stöhnt: Bochum!. Kult! Ein Jahr arbeitslos. Dann der Job bei Finnphon. Leichte Arbeit. Keine Maloche. Gutes Geld verdient. Viele Überstunden. Dann von Inge geschieden und die Corinna geheiratet. Zehn Jahre jünger und scharf wie eine Rasierklinge. Die Blagen ließen nicht lange auf sich warten. Dann das Haus gebaut. Nun war man jemand. Noch zehn Jahre und es ist abbezahlt. Doch nun würde er es verlieren. Ohne Moos nichts los.

Es fängt an zu regnen. Schneeregen. Da bleibt nichts liegen. Der Asphalt glänzt feucht. Ab wann lief es schief? Als man überall tönte, dass der Kapitalismus gesiegt hatte? Als Kohl den Ossis blühende Landschaften versprach? Und plötzlich kam das verfluchte Wort über uns: Globalisierung. Muss für jede Schweinerei herhalten. Die Welt ist ein Dorf. Du kannst in Indien oder China für ’n Appel und ’n Ei produzieren. Du musst nur Leute rausschmeißen, und schon steigen die Aktienkurse. Bereichert euch! Jau, so ist die Welt. Gibt immer mehr Milliardäre. Aber nicht hier auf der Einkaufsstraße mit den Kleiderständern vor den Läden. Ramschcity. Und wir werden bald auch verramscht.

Sie halten vor einem Videoladen.

„Siehsse was Neues?“, fragt Atze.

„Nee. Alles nur Actionramsch. Versteh gar nicht, dass die Kids da so scharf drauf sind. Verblöden doch darüber.“

„Vielleicht haben se auch ’nen Schimanski“, sagt Jennecke.

„Jau, das waren noch Krimis“, stimmt Jakob zu. „Der fuhr wenigstens nicht ständig mit ‘nem dicken Mercedes durch die Gegend. Hatte wenigstens auch Herz, der Kerl. Ne mächtige Schnauze, aber Herz. Aber die Kids wollen ja nur Action. Autos, die durch die Luft fliegen und mächtig Schrott streuen. Da find ich Rammeln besser als Rammen.“

„Die ham sicher auch den neuen James Bond“, mutmaßt Jennecke.

„Hm. Nichts gegen den Craig. Ein harter Brocken. Aber der Connery war mir der Liebste. Der Moore ging ja auch noch. Aber die anderen waren Weicheier.“

„Der Moore war mir zu geschniegelt“, mosert Atze.

„Gehen wir rein“, schlägt Jennecke vor. „Draußen werden wir nur nass.“

Sie drängen rein. Endlose Reihen von DVDs. Überall Plakate von Actionfilmen. Hart, härter am härtesten. Selbst der gute alte Rambo kam dagegen nicht an.

„Die haben auch geile Pornos!“, stellt Atze fest.

„Ach, hör doch auf. Ist doch immer dasselbe: Rein und raus und Riesenprügel“, brummt Jennecke.

„In der Woche vier, schadet weder dir noch ihr!“, witzelt Atze. „Mensch, hier ist was Geiles mit Pamela Anderson. Die hat vielleicht ein paar Ballons.“

„Du alte Sau, das ist doch nicht die Anderson“, wehrt Jennecke ab. „Die sehen doch nur so aus. Dicke Titten, straffer Arsch, blonde Haare und gespritzter Schmollmund. Immer das Gleiche!“, ereifert er sich.

„Schaut mal, die haben auch Belmondo“, sagt Jakob und hält eine DVD hoch. „Angst über der Stadt. Den nehm ich.“

„Angst über der Stadt? Da kommsse aber nicht auf andere Gedanken“, sagt Jennecke.

„Belmondo ist noch ein Kerl. Macht alle Stunts selbst. Alles mit Augenzwinkern. Nimmt sich und die ganze Schose nicht ernst.“

„Ach, Jakob, der hat doch längst aufgehört zu filmen. Ist doch schon ein alter Sack. Aber sein erster Film, der war wirklich klasse!“

„Welchen meinsse denn?“, fragt Atze und lässt einen Porno in seiner Jackentasche verschwinden.

„Außer Atem natürlich. Wie er da von der Schickse verraten wird und die Straße entlangtaumelt und hinknallt und dann Du Miststück! flüstert, das war großes Kino. Mächtig großes Kino“, sagt Jennecke.

„Damals waren Outlaws noch romantisch“, meint Jakob.

„Outlaws? Wo hasse das denn her?“, fragt Jennecke.

„Klar: Outlaws, Desperados, kennt man doch aus den Western!“, erklärt Atze.

Sie gehen zur Kasse und Jakob bezahlt für den Belmondo.

„Es hat aufgehört zu schneien“, stellt Jennecke fest.

Sie gehen auf den Ausgang zu. Die Verkäuferin sieht ihnen zögernd nach und zuckt dann mit den Schultern. Sie passieren ungehindert die Schranke.

„Du hast geklaut!“, sagt Jakob draußen ärgerlich zu Atze.

„Tja, und warum auch nicht? Was ist das, was sie heute mit uns gemacht haben? Die haben das ganze Geld, was wir ihnen erarbeitet haben, nach Finnland geschafft und bauen damit nun im Draculaland ein neues Werk auf.“

„Stimmt schon“, gibt Jakob zu, alle klauen sie, Du sollst nicht stehlen! ist ein Witz für Dumme. Und alle machen mit. Alle klauen und werden beklaut.

Es war Mittagszeit. Der Himmel war bedeckt. In den Läden wurden die Lampen angemacht. Das Licht fiel in Streifen auf den Bürgersteig.

„Trinken wir einen?“, fragt Jennecke.

„Jau!“, stimmt Jakob zu.

Dafür war jetzt die richtige Zeit. Zu Hause wurde er nicht erwartet. Corinna würde noch früh genug erfahren, was passiert war. Mann, die würde Zoff machen. Ganz bestimmt. Es war gut, sich dafür zu stärken.

2.

Montag, 15. Januar, 12.00 Uhr – An der Trinkhalle

„Tach zusammen! Hab schon gehört. Ein Elend ist das!“, sagt Mutter Schuricke und schiebt ihnen unaufgefordert das Union zu.

„Einen Kurzen vorher?“

„Jau!“, sagt Atze.

Jennecke nickt.

Jakob denkt: Wie bring ich es Corinna bei? Sie flippt ohnehin bei jeder Kleinigkeit aus, und nun das. Mit Hartz IV bin ich das Haus bald los. Und den Vectra kann ich auch abgeben. Vielleicht können wir wenigstens den Fernseher behalten. Ein bisschen Freude muss der Mensch ja haben.

Sie schieben den Verschluss der Bierflasche hoch, und es macht plopp. Die Bierflaschen stoßen gegeneinander. Sie nicken sich zu. Ernst. Bedeutungsvoll. Sie trinken und räuspern sich. Dann den Kurzen hinterher.

„Halleluja!“, sagt Atze.

„Wirsse jetzt noch fromm, Atze?“, fragt Jennecke.

„Könnte man glatt noch werden. Hasse nicht kapiert? Das war heute unsere Beerdigung.“

„Ich sach ja: Wir hätten doch die Hallen besetzen sollen.“

„Hasse nich gehört? Das wär nach hinten losgegangen.“

„Ist es wirklich aus?“, fragt die Schuricke.

„Glaub schon“, brummt Jakob.

„Dann hasse wenigstens Zeit fürn Jakobsweg“, sagt Mutter Schuricke.

„Was’n das?“, fragt Atze.

„Mannomann, das weisse nich?“, fragt Jennecke entgeistert. „Man kann ja schon ganz schön dumm sein, aber das grenzt schon wirklich an Gehirnmissbrauch. Der Hape ist doch darauf rumgelatscht und hat darüber ‘n Tagebuch geschrieben und damit ‚ne Menge Kohle gemacht. Weisse nich?“

„Der Kerl, der auf Beatrix gemacht hat?“

„Genau!“

„Cleveres Kerlchen.“

„Tja, die machen Millionen, und wir sind im Arsch!“, stöhnt Jennecke.

„Belämmer uns nicht!“, brummt Atze. „Ich kannz nich mehr hören!“

„Man muss den Tatsachen ins Augen sehen“, kontert Jennecke.

„Werden schwere Zeiten!“, stimmt die Schuricke zu. „Das geht auch an mir nich vorbei. Das Geld für leckere Pilschen wird knapp werden.“

„Ach was!“, widerspricht Jennecke. „Wenn die Not am höchsten, ist der Durst am größten.“

„Gib mir mal ’n Underberg. Mir ist die ganze Sache auf den Magen geschlagen“, sagt Atze.

„Seit wann bisse denn auf Underberg?“, wundert sich Jennecke.

„Hilft dem Vatter aufs Fahrrad!“, sagt Atze.

Mutter Schuricke reicht ihm die mit braunem Papier umwickelte kleine Flasche. Atze schraubt sie auf, trinkt und räuspert sich.

„Ah, tut das gut! Das Zeug wirkt sofort! Ein wahres Lebenselixier! Sind Wunderkräuter drin. Weiß ich von einem, der bei Underberg gearbeitet hat. Die Underbergs haben das Rezept von einer Waldfee.“

„Nun hör dir das an!“, schnaubt Jakob.

„Ja doch! Das Rezept wird seit Generationen vererbt. Immer weiter auf die nächste. Seit Jahrhunderten. Iss ‘n großes Familiengeheimnis. Wird in einem alten Keller aufbewahrt. Wenn das mit dem Erben klar ist, geht Vattern mit dem Erben inn Keller runter und schließt die eisenbeschlagene Truhe auf und verklickert dem das Geheimnis, verstehsse? So geht das.“

„Hör mit dem Bohei auf!“, wehrt Jakob ab.

„Ehrlich. So läuft das bei denen. Auf jeden Fall ist das Zeug gut.“

„Er hat schon recht!“, steht ihm Mutter Schuricke bei. „Von all den Magenbittern ist Underberg der beste. Hilft immer über den Berg.“

„Gib mir lieber noch ’n Union“, sagt Jennecke.

„Mir auch“, melden sich die andern.

Jakobs Blick wandert zu der Kastanie neben der Trinkhalle. Er stutzt und wischt sich über den Mund.

„Guckt mal! Da liegt ein toter Vogel.“

„Wassen Vogel?“, fragt Krüger.

„ Da unterm Baum.“

„Tatsächlich!“, staunt Jennecke, geht mit der Bierflasche in der Hand zum Baum und stößt den Vogel mit dem Schuh an.

„Ein Habicht oder so was. Iss schon am Verwesen.“

Sie schauen traurig den Vogel an. Jakob zieht fröstelnd die Schultern hoch. Er mag Greifvögel. Sieht sie gern kreisen. Sind mutig und stark und stolz – wie Könige, denkt er. Nur dass sie auch hinter den Tauben her sind, gefällt ihm nicht. Der Vogel gehört nicht hierher. Nicht hier in die Stadt, und schon gar nicht hat er hier tot herumzuliegen. Er hat am Himmel zu kreisen und ein König zu sein. Der tote Vogel erinnert ihn an seine eigene Lage.

Auch mit dem Fliegen war es nun vorbei. Vorbei mit Urlaub in Torremolinos. Eigentlich konnte sich Corinna nicht beschweren. Hatten immer Urlaub gemacht. Nicht etwa zelten. Das war früher. Er denkt an die Urlaube in Jesolo. Die Blagen waren damals noch kleine Würmer. Er hat das Zelt vor Augen. Mit dem ersten Opel waren sie damals runtergefahren. Jau, da war Corinna noch richtig rattich gewesen. Wund hat man sich gebumst. Eine gute Zeit. Später war es dann Torremolinos gewesen. Ach nein, zuerst Lloret de Mar. Damals war dort der Schnaps noch billig. Man bekam Osborne und Carlos III für ein paar Peseten. Nein, Corinna konnte sich nicht beschweren. Aber sie tat es. Dauernd mosert sie rum, dass die und die nicht arbeiten muss und sie sich in der Reinigung abschuftet und schwere Pakete hebt. Für nicht einmal sechshundert Euro. Münte hat recht mit dem Mindestlohn. Ein feiner Kerl, der Münte. Nun ja, ist ja auch Sauerländer. Sauerländer sind in Ordnung. Wissen, was zählt. Kennen sich aus, wie die Leute denken.

„Noch ’nen Kurzen?“, fragt Mutter Schuricke.

Die Männer sehen sich an.

Jennecke nickt.

„Für das dritte Bein“, sagt Atze.

Mutter Schuricke schenkt ein. Sie stürzen den Schnaps runter, schütteln sich und löschen das Brennen im Magen mit Bier. Eine gemütliche Stimmung kommt auf.

War ‘ne gute Zeit, als Mister Tausend Volt Gilbert Becaud Et maintenant sang, denkt Jakob. Er sieht sich in Lloret de Mar an der Bar stehen, und der Sänger, ein schmalhüftiger Zigeuner mit langen schwarzen Haaren, versucht sich als Becaud. Er sieht Juanita neben sich. Ihr Knie berührt sein Bein. Schwarze lange Haare, dunkle Augen. Mächtig viel Holz vor der Tür. Aber Corinna war dabei. Also lief nichts. Mensch, jung müsste man noch einmal sein. Mit fuffzig ist alles schwerer. Die Rente noch nicht in Sicht, und trotzdem wird man ausgemustert. Dabei kann er sich noch sehen lassen. Die zehn Jahre Altersunterschied waren nie aufgefallen. Siehst ein bisschen aus wie Schimanski, hatte die Alte von Jennecke mal zu ihm gesagt. Na ja, die hatte immer übertrieben. Schließlich hatte Schimanski keinen Bauch.

„Klimawandel!“, sagt Jennecke plötzlich.

„Wass meinsse?“, fragt Atze.

„Klar doch. Der Klimawandel macht uns alle fertig. Der Vogel iss deswegen auch über die Wupper. Ich sach: Wir gehn alle kaputt!“

„Wir?“, fragt Atze erstaunt.

„Wir! Ja watt denn?“, dröhnt Jennecke. „Unn ich sach euch: Wenn die Chinesen alle ein Auto haben, dann gute Nacht, Marie. Das Eis wird wie Butter in der Pfanne schmelzen. Der Meeresspiegel wird um einen Meter steigen. Dann geht die Nordsee bis nach Hamburg, Leute, und dann wird halb Niedersachsen absaufen!“

„Stimmt!“, bestätigt Mutter Schuricke. „Ständig brechen riesige Eumel von den Eisbergen ab. Hab ich im Fernsehen gesehen. Allet iss am Kippen.“

„Und das alles, weil die Chinesen ein Auto haben wollen?“, fragt Krüger.

„Ja!“, donnert Jenecke. „Kannze mir glauben!“

„Diese Chinesen“, staunt Atze. „Man müsste denen das glatt verbieten.“

„Was uns zusteht, musse denen doch auch zustehen. Du hass doch selbst ‘ne Karre, du Eumel.“

„Allet iss am Kippen“, wiederholt Mutter Schuricke. „Die schöne Mutter Erde wird noch ersticken.“

„Haben Jahrtausende gut auf ihr gelebt, und nun machen wir unseren eigenen Planeten platt!“, klagt Jennecke an.

„Ich hab gelesen, dass die Rinder beim Furzen zu viel Gase ablassen. Datt soll an der Erderwärmung mehr Schuld haben als datt Zeug aussem Auspuff“, sagt Jakob. „Pass auf, hinterher dürfen wa noch nicht ma Fleisch essen.“

„Iss auch ungesund“, meint Jennecke.

Die trübsinnige Stimmung droht sie zu überwältigen, und Jakob bestellt schnell eine neue Runde.

„Man müsste eine Weltregierung schaffen, die wirklich das Sagen hat und auf unsere Erde aufpasst“, sagt er nachdenklich.

„Hör auf, du träumst!“, motzt Jennecke.

„Tja, wir müssten alternative Energien entwickeln“, fährt Jakob fort, als hätte er ihn überhört. „Mit den Windrädern allein wird das nichts.“

„Vielleicht hat Angie doch recht, dass man auf die Atomkraftwerke nicht verzichten sollte“, wirft Mutter Schuricke ein.

„Nee. Willsse denn Tschernobyl zurück?“, fragt Jennecke entgeistert.

„Nee. Das auch wieder nich!“

„Na siehsse!“, trumpft Jennecke auf. „Jedenfalls iss der Vogel schon mal mausetot. Und bald sind wir dran.“

Sie trinken eine Weile schweigend.

„Seht mal, wer da kommt!“, sagt Krüger.

Wolkenstein eilt über die Straße. Wie immer baumelt eine schwarze Ledertasche an seiner Seite. Wolkenstein ist stadtbekannt. Der rasende Reporter vom Stadtanzeiger. Wo was los ist, ist auch Wolkenstein, den alle nur Wolly nennen. Ein Schnellredner und Zyniker vor dem Herrn. Die langen grauen Haare hinten zum Zopf zusammengebunden gibt er den letzten Achtundsechziger. Trotz seiner Neugier, seiner Spottlust und Häme mögen ihn die Kumpels. Aber es bleibt eine Distanz. Schließlich ist er ein Studierter. Trau niemand mit Abitur. Die wollen nur hoch hinaus. Wer sich nicht die Finger schmutzig macht, gehört nicht zu ihnen. Trotzdem haben sie das Gefühl, dass Wolly meistens ganz in Ordnung ist.

Leutselig die Hand schwenkend tritt er an die Trinkhalle.

„Tachchen, Leute!“

Typ langer Lulatsch. Der Anzug schlottert förmlich um seinen Körper.

„‘N Union“, sagt er zur Schuricke und wendet sich den Kumpels zu.

Seine Visage scheint heute Trauer zu tragen.

„Finnphon hat euch ganz schön gefickt.“

„Kannze laut sagen“, bestätigt Jennecke.

„Und? Was wollt ihr dagegen tun?“

„Was sollen wir schon dagegen tun können?“, fragt Krüger genervt und starrt missmutig die Straße runter. Es regnet immer noch. Der Asphalt glänzt vor Nässe. Doch das Dach der Trinkhalle schützt sie.

„Mann, wollt ihr euch das gefallen lassen?“, fragt Wolly und wischt sich mit dem schmutzigen Taschentuch das feuchte Gesicht ab. „Ihr müsst denen einheizen! Auf die Barrikaden gehen, Randale machen! Ihr müsst denen zeigen, dass fünf Finger eine Faust sind. So wie wir es in den Sechzigern gemacht haben. Was anderes verstehen die da oben nicht. Überall gehen Jobs verloren. Deutschland geht vor die Hunde, und die Reichen werden immer reicher. Mannomann, was seid ihr für Schlappschwänze! Euch haben sie gründlich enteiert!“

„Du redest Scheiße!“, bellt Krüger.

„Was können wir denn groß tun?“, wehrt sich Jennecke. „Wir wollten ja das Werk besetzen und so. Aber der Betriebsrat hat uns zurückgepfiffen. Wir würden damit nur die Verhandlungen stören.“

„Ach, die Gewerkschaft hat auch keine Cojones. Die sollte mal einen Generalstreik ausrufen. Erst wenn alle Räder im Land stillstehen, werden die da oben endlich kapieren, dass sie nicht so mit den Menschen umspringen können.“

„Cojones, wassen datt?“, fragt Krüger.

„Du hast gut reden“, brummt Jennecke ablehnend. „Du hast ’nen sicheren Job und kriegst ’ne Menge Kohle. Gerade du willst uns sagen, was wir zu tun haben?“

Wolkenstein nimmt einen Schluck Bier. Wie die anderen hat er das Bierglas abgelehnt und trinkt aus der Flasche. Ihre Mienen lassen ihn spüren, dass er keiner von ihnen ist. Sie lassen sich zwar seine Reden gefallen, aber seine Meinung zählt nicht. Doch auch er ist im Schraubstock. Er braucht eine Story, braucht mehr als die Erklärungen der Finnphon–Pressestelle oder die der Gewerkschaft. Wozu bezahle ich Sie eigentlich?, ist der ständige Vorwurf des Chefredakteurs. Jeder hat jemanden, der ihm im Nacken sitzt.

„Ihr müsst etwas machen, was wirklich für Aufsehen sorgt. Etwas, was die Menschen aus den Sesseln hochspringen lässt. Ihr müsst für Bilder sorgen, die auch ins Fernsehen kommen. Bilder, die klarmachen, was Finnphon hier anrichtet. Bilder, die an dem Finnphon–Image kratzen. Wer will schon ein Handy, das mit der Not der Menschen bezahlt wird? Das ist eure Chance! Sorgt für etwas, was in die Medien kommt!“

„Wass soll’n das sein?“, fragt Jennecke.

„Was weiß ich. Ihr müsst schon selbst draufkommen.“

„Du kannz auch nur reden!“, klagt Atze.

„Biss auch ein Waldi!“, setzt Jennecke verächtlich hinzu.

„Und glaubsse wirklich, dass bei Randale die Arschlöcher da oben einen Rückzieher machen?“, fragt Jakob.

„Glaub ich. Garantieren kann ich es natürlich nicht.“

„Natürlich nich!“, echot Jennecke spöttisch.

„Na, ihr wisst jedenfalls, dass ich auf eurer Seite bin“, sagt Wolkenstein, trinkt das Bier aus und rülpst.

„Ich muss weiter. Dann tschüss miteinander!“

Er hebt grüßend die Hand und läuft in den Schneeregen.

„Bürohengst!“, ätzt Atze hinterher. „Hat sicher ’n tolles Apartment und ‘n rattenscharfes Weib, das es ihm tüchtig besorgt …“

„Und die einen stehn im Dunkeln und die anderen stehn im Licht und die einen sieht man immer und die anderen sieht man nicht!“, zitiert Jennecke.

Er kennt seinen Brecht. War schließlich oft genug auf Gewerkschaftslehrgängen.

„Was willsse denn damit sagen?“, fragt Atze.

„Dreigroschenoper“, antwortet Jennecke stolz. „Kennt doch jeder. Hasse schon mal was von Mecki Messer gehört?“

„Klar doch. Issen Lied von Louis Armstrong.“

„Mannomann!“, stöhnt Jennecke.

„Noch ’ne Runde? So jung kommt ihr nicht mehr zusammen!“ animiert Mutter Schuricke.

„Nee. Lass man. Wir hamm schon einiges intus“, wehrt Jakob ab. „Wenn ich besoffen nach Haus komme, gibt’s Zoff. Wird ohnehin schlimm genug. Sowieso keine Ahnung, wie ich der datt beibringen soll.“

„Das wird ein Janken geben“, stimmt Atze zu.

„Scheißweiber!“, sagt Jennecke.

Jakob weiß, dass Jenneckes Alte mit einem jungen Kerl durchgebrannt ist. Seitdem ist Jennecke auf Frauen nicht gut zu sprechen. War ja auch ein steiler Zahn. Klar, dass er so eine nicht halten kann, wenn sich für die ‘ne günstigere Gelegenheit ergibt, denkt Jakob. Wenn Corinna was gefunden hätte, wär sie sicher auch auf und davon. Ob sie ihm treu war? Es gab da nebenan so einen feinen Pinkel. Arzneimittelvertreter. Immer tipptopp angezogen. Oh ja, er hat gemerkt, wie sie sich ansehen. Corinna hat sich gut gehalten. Ist ja auch zehn Jahre jünger als er. Er hatte sie nebenan bei Edeka kennengelernt. War dort Kassiererin. Hatte ihm gleich gefallen. Blond, schwindelerregend lange Beine und ordentlich Holz vor der Hütte. Konnte selbst jetzt noch gut einen Mini tragen. Damals war er noch auffen Pütt gegangen. Hatte sich erst geziert, das Biest. Obwohl er immer picobello schick in Schale zu Edeka gegangen war. So als Blickfänger. Aber dann hatte er sie doch rumgekriegt. Im ersten Astra war es passiert. Mann, war die dann abgegangen. Wo hatten sie nicht überall gefickt. Nun, das hatte sich in letzter Zeit mächtig gegeben. Jetzt musste er ganz schön rummachen, ehe sie ihn ranließ. Aber wenn sie den Kerl von nebenan sah, streckte sie ganz schön die Brust raus. Was anfangen würde der sicher gern mit ihr, doch zwei fremde Blagen lädt sich der feine Pinkel bestimmt nicht auf.

Es hat zu regnen aufgehört.

„Gehn wir?“, fragt Jennecke.

Sie zahlen.

„Kinder, es wird schon wieder. Irgendwie“, sagt Mutter Schuricke.

Sie nicken. Gehen die Straße runter. An der Kirche des Heiligen Franziskus vorbei. Die Kirchturmuhr schlägt die volle Stunde.

„Mittagszeit. Ich hab Hunger. Gehen wir zu McDonalds“, schlägt Atze vor.

Viel Jungvolk im Laden. Sie bestellen Big Mac und Cola und setzen sich.

„Schmeckt wie Pappe“, murrt Atze.

„Du wolltest doch hierher“, brummt Jennecke. „Musse Ketchup drauf tun, dann schmecksse nichs mehr.“

Sie essen lustlos. Die Wirkung des Alkohols lässt nach. In drei Monaten wären sie ohne Arbeit. Hier läuft wenigstens der Laden. Alle Plätze sind besetzt. Bei McDonalds ist immer was los. Mac, Ketchup, Cola. American Way of Life. Auch Amerika ist auf den Hund gekommen. Mit James Dean hat es damals angefangen, denkt Jakob. Dann kam Elvis und sein Jailhouse Rock. Amerika, das waren Straßenkreuzer, John Wayne und Marlboro. Das Land der Freiheit. Total abgewirtschaftet. Das kommt davon, wenn man J.R. Ewing zum Bush–Häuptling macht. Dabei hat der Kerl sich die erste Präsidentschaft ergaunert. Nun, auch das Öl wird langsam zur Neige gehen. Hoffentlich wird es dann nicht zu kalt.

„Das wär’s wohl“, sagt Atze und wischt sich den fettigen Mund ab. „Schauderhafter Fraß!“

„Die haben jetzt auch Fisch“, sagt Jakob mechanisch, mit den Gedanken ganz woanders.

Er schaut sich die andern Gäste an. Sie tragen das Zeug, was auf den Ständern vor den Läden hängt. T–Shirts mit albernen Sprüchen. Die Kinder sehen übergewichtig aus.

„Was meint ihr zu dem Quatsch, den Wolly von sich gegeben hat?“, fragt Jennecke.

„Alles Blödsinn!“, wehrt Krüger ab.

„Ich fand das gar nicht so doof. Wir müssen die Welt aufrütteln!“, gibt Jakob dem Journalisten recht.

„Glaubsse vielleicht, datt dann die Welt sich um Bochum kümmert?“, fragt Atze skeptisch. „Eher wird Schröder noch mal Bundeskanzler.“

„Wenn es wenigstens die Macker bei Finnphon aus ihren verfurzten Gesäßschalen hochschrecken würde, datt wär schon was. Vielleicht kriegense dann Schiss und machen alles rückgängig.“

„Ja? Und womit willsse se hochschrecken?“, fragt Atze.

„Weiß nicht“, gibt Jakob zu. „Was Unerhörtes müsste datt sein.“

„Mach keinen Scheiß!“, warnt Atze.

„Ich doch nicht. Nee, wenn ich Scheiße baue, packt Corinna die Koffer.“

„Weiber!“, schnaubt Jennecke. „Wenn man sie braucht, dann spielen se nich mit.“

„Was willse machen? Letztendlich bestimmen die Weiber den Lauf der Welt“, tönt Atze.

„Du hass den Nagel auf den Kopf getroffen. War schon seit dem Trojanischen Krieg so“, sagt Jennecke.

„Watt für’n Krieg?“

„Ohne Weiber lebt’s sich ruhiger“, mirakelt Jennecke.

„Iss aber verdammt langweilig“, korrigiert Jakob.

Sie stehen auf und gehen hinaus.

„Da läuft der Herr sei mit euch“, sagt Jennecke und deutet auf den schwarz gekleideten Mann, der ihnen lächelnd entgegen kommt.

„Der hat uns gerade noch gefehlt“, sagt Krüger.

Pfarrer Wiebel kommt mit rudernden Armen auf sie zu. Sein Silberhaar glänzt feucht. Sein Lächeln verschwindet und macht einer sorgenvollen Miene Platz. Jennecke brummt etwas Unverständliches. Er mag keine Kirchenmänner.

„Hab von eurem Unglück gehört. Das ist ja furchtbar. Dreitausend werden auf der Straße stehen. Absolut unakzeptabel, was Finnphon mit euch macht.“

Er macht eine Geste, als wolle er sie umarmen. Sie sind seine Schäfchen. Er kennt sie alle. Er kennt sie fast von Kindesbeinen an.

„Tja, und kein Gott greift ein“, sagt Jennecke feindselig.

„Weiß Ihre liebe Frau es schon?“, wendet sich Wiebel an Jakob.

Im Gegensatz zu Jennecke ist Jakob ein Kirchgänger. Corinna schleppt ihn jeden Sonntag zum Gottesdienst. Sie war in den letzten Jahren fromm geworden. Geht Freitag immer zum Frauenkreis. Weiß Gott, was die Weiber dort tun. Am Samstagnachmittag besucht sie Kranke und Alte. Nun ja, dagegen ist nichts einzuwenden. Man muss seinen Mitmenschen helfen. Sieht er auch ein. Wenn nur dieses ewige Gesinge in der Kirche nicht wäre. Nichts gegen Jesus. War ein guter Mann. War einer von ihnen. Muss von der Zimmermannsarbeit derbe Fäuste gehabt haben. Aber er würde nie kapieren, warum Gott wollte, dass er sich kreuzigen ließ. Was war damit gewonnen? Und jetzt kreuzigen sie uns, dachte er verbittert. Die da oben finden immer einen Grund, uns abzuservieren.

„Nein“, sagt Jakob. „War noch nicht zu Hause.“

„Man darf die Hoffnung nicht aufgeben“, sagt Wiebel, die Hände vor dem Bauch gefaltet.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, assistiert Atze.

Auch Atzes Frau ist eine eifrige Kirchgängerin. Aber er geht nicht mit. Schließlich tagt am Sonntagvormittag der Taubenzüchterverein. Tauben sind seine Leidenschaft, genau so wie sein Wildwestspleen. Damit hat er genug am Hals: Im Sommer treffen sie sich mit Gleichgesinnten aus dem ganzen Revier auf einer Wiese zwischen Bochum und Herne und spielen Wildwest, haben sogar richtige Tipis und ein Fort. Unser John Wayne, nennen ihn die Kollegen bei Finnphon.

„Der Herr wird uns beistehen“, sagt Wiebel salbungsvoll. „Ich werde für euch beten.“

„Na, dann brauchen wir uns ja keine Sorgen mehr machen“, höhnt Jennecke.

Wiebel schüttelt mitleidig den Kopf.