Das Brauhaus an der Isar: Das Vermächtnis - Julia Freidank - E-Book
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Das Brauhaus an der Isar: Das Vermächtnis E-Book

Julia Freidank

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Beschreibung

Die große Familiensaga um das traditionsreiche Brauhaus Brucknerbräu. In den Schicksalsjahren am Ende des Zweiten Weltkriegs stellt sich für das Familienunternehmen die Frage: Wer führt die Brauerei in die Zukunft? Wer bewahrt das Erbe der Brauereikunst in München und auf dem Oktoberfest? Die siebzehnjährige Lotte ignoriert alle Warnungen ihrer in die USA emigrierten Eltern und arbeitet Ende 1944 für eine Schweizer Hilfsorganisation gegen die Nationalsozialisten. Nach einem dramatischen Flugzeugabsturz im Grenzgebiet schlägt sie sich bis München durch. Dort halten ihre Großeltern Antonia und Melchior allen Wirren zum Trotz das Brucknerbräu am Laufen. Als Lotte lernt, wie eine Brauerei funktioniert, ist ihre Leidenschaft für die Braukunst entfacht. Doch hier gilt sie als "Halbjüdin". Mitten in diesen letzten Kriegsmonaten, während das Flächenbombardement München in eine brennende Hölle verwandelt, verliebt sich die temperamentvolle Lotte in den charmanten und einfühlsamen Wissenschaftler Gero. Aber er arbeitet an einem brisanten Projekt, das ihn und ihre Beziehung belastet. Lotte ist entschlossen, das Erbe ihrer Familie und die Liebe über den Krieg zu retten. Noch ahnt sie nicht, welche Herausforderungen auf sie und das Brauhaus warten, sobald der langersehnte Frieden da ist.

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Seitenzahl: 569

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Julia Freidank

Das Brauhaus an der Isar – Das Vermächtnis

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Die achtzehnjährige Lotte, deren Eltern vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, arbeitet Ende 1944 für eine Schweizer Hilfsorganisation. Nach einem dramatischen Flugzeugabsturz im Grenzgebiet zu Deutschland schlägt sie sich bis München durch. Dort halten ihre Großeltern allen Wirren zum Trotz ihr Brauhaus am Laufen. Die Firma durch den Krieg zu retten bietet Lotte die Herausforderung, nach der sie sich immer gesehnt hat. Doch hier gilt sie als Halbjüdin. Mitten in diesen letzten Kriegsmonaten, während das Flächenbombardement München in eine brennende Hölle verwandelt, verliebt sie sich in den einfühlsamen Wissenschaftler Gero. Doch er arbeitet an einem geheimen, brisanten Projekt. Dazu bringt ausgerechnet der langersehnte Friede das Brucknerbräu an den Rand des Abgrunds – und die temperamentvolle Lotte an einen Punkt, an dem sie die Brauerei entweder retten oder ruinieren wird …

 

Der große Abschluss der packenden Familiensaga um das Münchner Brauhaus Brucknerbräu.

Vita

Julia Freidank ist das Pseudonym einer vielfach veröffentlichten Autorin von Romanen und Sachbüchern. Als gebürtige Münchnerin hat sie die aufregende Geschichte ihrer Heimatstadt immer schon sehr fasziniert. Da München ohne das Brauereiwesen nicht zu denken ist, lag es nahe, irgendwann einmal über ein Münchner Brauhaus zu schreiben. Das Ergebnis ist die mehrbändige große Familiensaga «Das Brauhaus an der Isar».

Dramatis Personae

Lotte Kurowsky, abenteuerlustige Brauereierbin mit lebensbedrohlichem Händchen für Zimmerpflanzen

Gero von Stetten, Physikdoktorand, für den die Worte «es funkt» auch noch eine weniger romantische Bedeutung haben können

Hermine Schulte, landverschicktes Preußenmädchen mit Berliner Schnauze

Harry Moosbauer, bayerisches Urgewächs mit wenig Sympathie für die Preußen

Claus Hoene, Generaldirektor des Brucknerbräu, der Brauereierbinnen für ein lästiges Übel hält

Astrid, seine Frau

Ferdinand Schwabinger, gealterterIsar-Gatsby, der noch immer von der Rückkehr der Monarchie träumt

Blockleiter Sauter, der sich benimmt, als wäre die Monarchie schon wieder da – mit ihm in der Hauptrolle

Leonard Martin, Lottes Jugendfreund mit Lust auf Swing

Ida, Arbeiterin im Brucknerbräu

Carl, Idas Ex-Verlobter

Loni, Frollein mit Anhang

Lewis, GI, interessiert am Frollein mit Anhang

Kathi, Brauereiarbeiterin ohne interessierten GI

Anna, Köchin im Brucknerschlössl mit bemerkenswerter krimineller Energie

AntoniaundMelchior Bruckner, Lottes Großeltern

Claraund René Kurowsky, Lottes Eltern, die am Ende des Buches ein paar graue Haare mehr haben als am Anfang

Herbert, Geros Kollege und begeisterter Leser von allem, was man als Physikstudent eben vor der Erfindung von Star Trek zu lesen bekam

Walther GerlachundWerner Heisenberg, Physikprofessoren mit explosiven Ideen, sowie ihr Mitarbeiter Kurt Diebner

Grete, Lottes Kindheitsfreundin

Dorian Gray der Dritte, Hauskater im Brucknerschlössl und Dandy

Flori, Wachhund mit Sinn fürs Gemütliche, der sich nicht zum Blockwart eignet

Burgl und Wastl, Brauereipferde

Vorbemerkung

Wie überlebt man in einer Diktatur? Im Jahr 1944 liegt Süddeutschland in Trümmern. Das Heulen der Sirenen bestimmt den Alltag. Der Qualm erkaltender Brände weht durch die ausgestorbenen Gassen. Blockwarte überwachen die Einhaltung sinnloser Vorschriften. Das Leben in totalitären Staaten bedeutet, ständig gegängelt zu werden. Selbstverständlichkeiten sind verboten oder gelten gar als Verbrechen: anderer Meinung zu sein, zu reisen, wohin man will. In totalitären Diktaturen ist der Einzelne dem System völlig untergeordnet, bestimmt nicht einmal über den eigenen Körper. Diktaturen führen Krieg gegen die menschliche Natur. Aber die menschliche Natur ist stark. Das Leben ist stark.

Wo die Vordertür schwer bewacht wird, nimmt man eben die Hintertür. Und so begegnete man selbst dem Nationalsozialismus mit Humor – mal mit originellen Witzeleien, mal mit bitterem Sarkasmus. Man wurde kreativ im Austricksen der Bürokratie. Viele arrangierten sich, zu viele. Aber es gab auch Menschen, die im Kleinen mit tausend Nadelstichen zeigten, dass sie sich noch nicht unterworfen hatten. Die jenseits der marschierenden Massen verborgene Nischen fanden, wo sich Kindheit und Jugend nicht um Verbote kümmerten.

Nach dem Ende des Regimes lag Europa in Schutt und Asche. Bettelnde Frauen mit Handkarren, Veteranen und Kriegsversehrte. Schwarz versengte Ruinen, die hohl und mit gesplitterten Fensterhöhlen die Leere im Inneren der Menschen spiegelten, ihre zertrümmerten Träume. Der Krieg hatte den Männern den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Städte, in die sie zurückkehrten, erkannten sie oft kaum wieder – ihre Frauen, ihre Kinder. Die Frauen ihrerseits hatten ihr Leben allein gemeistert und sollten sich nun wieder mit dem Platz am Herd begnügen. Der Wiederaufbau war lang und hart, voller Armut. Aber auch voller Hoffnung.

Hoffnung in einer Welt, von der die wenigsten wussten, wie nahe sie am Abgrund gestanden hatte. Die zunächst verachtete Atomtechnologie sollte den Nationalsozialisten eine «Wunderwaffe» liefern. Wissenschaftler mussten zusehen, wie ihre Forschung zum Werkzeug der Mörder wurde, oft genug mit Unterstützung gewissenloser Kollegen. Der Weg zurück in den Frieden war für sie vielleicht besonders schwer, denn sie trugen auch die Last von Hiroshima auf ihren Schultern. Und entdeckten die Verantwortung der Wissenschaft.

Für die bayerischen Brauereien bedeuteten die Kriegsjahre und die erste Zeit danach einen Überlebenskampf. Brauverbote, Luftangriffe, Arbeiter, die eingezogen wurden und fielen. Es war auch eine Zeit der Schelme, der Hochstapler. Wer nicht erfinderisch war, verlor alles, andere wurden reich.

Das Oktoberfest, das seit Kriegsbeginn nicht stattgefunden hatte, wurde so zum Symbol der wiedergewonnenen Freiheit. Denn wie nichts anderes verfolgen Gewaltherrscher seit jeher die Freude – weil sie sie fürchten wie nichts anderes. Nie sind Menschen freier, als wenn sie glücklich sind und feiern. Und so wurden die behäbig sich drehende Krinoline und der nostalgische Toboggan auf der Wiesn zu Monumenten der Freiheit. Jeder Tanz, jedes Bierzelt, selbst der Duft nach Steckerlfisch und heißem Zucker war ein Triumph über das Regime. Die Geschichte des fast schon totgesagten Oktoberfests, das aus den Trümmern der Nachkriegszeit neu entstand, erinnert daran, wie kostbar Freiheit ist. Dass es ohne Freiheit keine Menschenwürde gibt. Und ohne Menschenwürde keine Menschlichkeit.

Was heute Not täte, wäre ein militanter Humanismus, von der Einsicht erfüllt, daß das Prinzip der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifels sich nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und ohne Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf; von der Einsicht, daß er das Recht nicht nur, sondern auch die Pflicht hat, sich zu wehren.

THOMAS MANN

– 1 –

Zürich, November 1944

Unter den Reifen knirschte hartgefrorener Schnee, brach krachend in stumpf glänzende Kristalle wie Knochen unter einem Mühlstein. Während das Automobil die Bergstraße hinaufkroch, langsam wie ein vom leichten Wind bewegtes Sandkorn, blickte Lotte zurück. Hingeduckt zwischen Berg und Wasser, umarmte die Stadt das Nordwestende des Zürichsees. Saphirblau zog sich die langgestreckte Zunge ins Tal, ein dunkler, nur hie und da von der Spur eines Dampfers durchzogener glatter Spiegel. Die tiefstehende Sonne warf einen rötlichen Schimmer auf die Felsen, die beinahe die Farbe des Himmels angenommen hatten. Ein langes violettes Wolkenband zerteilte den Himmel, trennte Rosa und Hellblau. Von den Gipfeln bis weit herab lag zartrosa glänzender Schnee. Auf den Matten und Wäldern an den Hängen wurden die Schatten länger. Es hätte idyllisch sein können, wäre ihr Vorhaben nicht so gewagt gewesen.

Das Automobil überquerte die Kuppe, tauchte erneut in den Wald ein, und wie eine Vision versank Zürich hinter ihnen. Lotte sah zu Frau Katzenstein, die neben ihr das große lederbezogene Steuerrad hielt. Ihr ebenmäßiges, wie gemeißeltes Gesicht mit den scharfen blauen Augen war von einem rosigen Schimmer übergossen. Das im Nacken geknotete Haar zeigte noch immer mehr Blond als Grau, obwohl sie schon weit über fünfzig war. Sie bemerkte Lottes Blick, wies aber nur sichtlich angespannt mit dem Kinn nach vorn. Dort öffnete sich jetzt das Glatttal. Die graue Piste des Flughafens Dübendorf mit dem langgestreckten Hauptgebäude und den Hangars war schon von weitem zu erkennen.

Die einmotorige Piper L-4 verschmolz mit der grau bereiften Wiese seitlich der Startbahn, als der Wagen die Ebene erreichte und auf das Rollfeld fuhr. Ihr olivgrün lackierter Körper mit dem hölzernen Propeller vorn war lächerlich niedrig, dachte Lotte, als der Wagen anhielt und sie ausstiegen. Immerhin schützten Scheiben die beiden Sitze unter dem Flügelpaar. Die bei der Air Force liebevoll «Grasshopper» genannte Maschine konnte bis auf 12000 Fuß steigen und über 140 Stundenkilometer erreichen. Trotz der Scheiben und des ungewöhnlich guten Wetters während der letzten Tage würde es kalt werden. Der Abendwind peitschte Lottes schulterlange, seitlich gescheitelte braune Locken, und fröstelnd zog sie den Mantel enger um die Schultern.

«Sie wissen Bescheid», sagte Frau Katzenstein und reichte ihr die schmale Ledertasche. «Im Grenzgebiet ist die SS unterwegs, aber ein Flugzeug können sie nicht überwachen. Ich habe Ihren Eltern versprochen, Sie nicht in Gefahr zu bringen. Sie übergeben die falschen Pässe für die jüdischen Flüchtlinge an unseren Kontakt und kommen sofort zurück. Keine waghalsigen Ausflüge, verstehen wir uns? Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist ein heimlicher Schnappschuss von Ihnen in einer Nazi-Akte.» Sie betrachtete ihre Assistentin und hob die Brauen. «Sie glauben, es sei eine Stärke, immer mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Alles auf eigene Faust zu machen. Aber es gibt nicht nur Küche oder Krieg. Und deshalb: Mehr ist nicht drin für ein junges Ding wie Sie.»

Lotte steckte die Pässe ein und setzte das Barett seitlich auf die Locken. Ihr Mundwinkel zuckte verstohlen. Ehe sie im Oktober nach Europa abgeflogen war, hatte sie genau deswegen einen heftigen Streit mit ihrer Mutter gehabt. Immerhin hatte sie sie gehen lassen. Bei ihrem Vater wäre das viel schwerer durchzusetzen gewesen, aber der war als Kriegsberichterstatter irgendwo im Nirgendwo bei der Air Force. Ältere Leute hatten immer Angst um einen, aber wo war der Unterschied, ob man vor Langeweile starb oder bei so etwas? Sie wusste schon, was sie tat. Sie war abenteuerlustig, aber nicht schwachsinnig.

Der Pilot, ein hagerer Bursche von vielleicht fünfundzwanzig, hatte seine Maschine inspiziert und kam herüber, die Brille auf die Haube hochgeschoben. Er hatte den Ledermantel mit dem Pelzkragen geöffnet, und an seinen weiten Hosen, die in Stiefeln steckten, zerrte der leichte Wind. In seinem Mundwinkel klemmte eine Zigarette, und die hellen Augen musterten kurz das achtzehnjährige Mädchen in weiten Hosen, das sein Passagier sein sollte. «Es zieht zu», meinte er. «Wir sollten los. Wenn die Sonne untergeht, sollten wir oben sein.»

Frau Katzenstein drückte Lotte die Hand. «Alles Gute.»

«Verlassen Sie sich auf mich.» Lotte bemühte sich, ihr Lächeln nicht zu breit ausfallen zu lassen.

Frau Katzenstein sah ihr nach, während sie ins Flugzeug kletterte und sich auf den hinteren der beiden lederbezogenen Sitze fallen ließ. Ihr Gesicht war angespannt. Natürlich fragte sie sich, ob es nicht zu gewagt wäre, ein so junges Mädchen auf diese Mission zu schicken. Dabei war es nur ein Botengang. Die Auftragsmörder der Nazis würden nicht einmal von ihrer Existenz erfahren.

Als die Maschine anrollte und sich langsam, zunächst leicht schwankend in die Luft erhob, überfiel Lotte das vertraute Gefühl von Freiheit. Es war so unglaublich schön, dass sie den Anlass ihres Flugs beinahe vergaß. Die Weite des Horizonts, das Gefühl, nur von der Luft getragen zu werden, war jetzt, nach der vierwöchigen Enge zwischen den Bergen, einfach atemberaubend. Die Piper beschrieb eine Schleife und glitt langsam höher, wie eine Schwalbe im Aufwind. Sie flogen direkt über den Zürichsee und dann nach Osten. Die Sonne fiel von hinten auf die schneebedeckten Gipfel und tauchte sie in feuerrotes Licht. Die Felsen glühten. Federleichte Wolken, dünn wie Gaze, zogen vorbei, und unter ihnen lag die langgestreckte Wasserfläche, deren Saphirblau immer dunkler wurde.

«Waren Sie mal in Deutschland?», fragte der Pilot mit einem Blick über die Schulter. Seine Stimme war vor dem Motorengeräusch nur schwer zu verstehen, und das Funkgerät im Hintergrund knackte und summte. «Sie kommen aus Amerika, hieß es. Aber Ihr Deutsch ist perfekt.»

«Ich bin in München geboren», rief Lotte. «Meine Eltern sind 1933 ausgewandert.»

«Weil Sie Juden sind?»

«Mein Vater. Er war einer der ersten Journalisten, die Berufsverbot bekamen und verhaftet wurden.» Sie war damals erst sechs Jahre alt gewesen, aber der Abend stand ihr noch so klar vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Vermutlich war es der Familie seiner Frau Clara zu verdanken, die eine Brauerei in München besaß, dass René Kurowsky einige Tage später freigekommen war. Kaum zurück, hatte er seine Frau wortlos ins Kontor gezogen. Und als sie wieder herauskamen, hatte Clara ihrer Tochter eröffnet, dass sie für einige Zeit in ein fernes Land ziehen müssten. Anfangs hatten sie alle gehofft, dass es nur für ein paar Jahre wäre. Aber schnell war klar geworden, dass Hitler die einmal errungene Macht nicht freiwillig wieder aufgeben würde.

«War nicht einfach, will ich meinen», bemerkte der Pilot.

«Das ist es nie. Mein Vater hatte immerhin schon vorher ein paar Jahre in New York gearbeitet.» Er war ein Zugvogel, der überall zu Hause war. Aber die Mutter sehnte sich noch immer nach München.

«Haben Sie keinen Verlobten, der Sie vermisst?»

«Nein», erwiderte sie kurz. Männer verstanden das nicht, aber nicht jedes Mädchen war wie Melanie in Vom Winde verweht. Sie brauchte eine Aufgabe, keine Abhängigkeit. Die Energie in ihrem Inneren pulsierte so stark, dass es schmerzte. Manchmal hatte sie das Gefühl, die schiere Lebenskraft könne sie zerreißen. Sie brauchte ein Ventil für diese ungebändigte Kraft, sonst wurde sie noch verrückt. Lotte hatte keine Lust, sich weiter zu unterhalten, und blickte aus dem Fenster, wo der Himmel über den Bergen in feurigen Farben schillerte. Der Pilot hatte bereits die Lichter eingeschaltet. Das gleichmäßige Blitzen an den Flügeln machte sie müde. Der Propeller war nur noch als sausender Schatten zu sehen, und das monotone Summen des Motors lullte sie ein.

«Schlafen Sie ruhig ein bisschen, wenn Sie müde sind», meinte er. «Wird etwa eine Stunde dauern, je nach Wind.»

Lotte hatte eigentlich nicht vorgehabt, dem Rat zu folgen, aber irgendwie musste sie doch eingenickt sein. Das gleichmäßige Summen war in ihrem Unterbewusstsein, wie auf dem Flug vor wenigen Wochen, als sie über den Atlantik gekommen war. Sie dachte an ihre Familie, die Freunde, die sie in New York zurückgelassen hatte. Sie fehlten ihr, aber etwas hatte sie nach Europa gezogen. Vielleicht das Gefühl, dass ihr Leben hier gewaltsam unterbrochen worden war. Dass etwas zu Ende gebracht werden musste. Zugvögel kehrten jeden Sommer zurück. Bei ihr hatte es elf Jahre gedauert. Elf Jahre, in denen sich die ganze Welt verändert hatte. Sie erinnerte sich an die Schwalben unter den Dachsparren des Brucknerschlössls. An das Zwitschern jedes Jahr, wenn die Jungen schlüpften. An die pfeilschnellen Körper, die über den Boden oder hoch im Himmel schwerelos schwebten wie …

Sie erwachte von einem gewaltigen Stoß in die Seite. Es war dunkel, und um das Flugzeug herum sausten dichte weiße Schleier. Eisige Zugluft drang durch die Ritzen, und fröstelnd zog sie den Mantel enger.

«Ein Gewitter!», rief der Pilot. «Hier oben pfeift es ganz schön. Sind Sie angeschnallt?»

Lotte kontrollierte den Gurt und bejahte. «Ist es schlimm?»

Sie hörte ein Lachen. «Wird schon. Solange uns der Wind nicht über den Bodensee treibt, jedenfalls.»

«Kann das passieren?»

Ein Knacken, dann ein weiterer Stoß in die Seite der Maschine. «Möglich ist alles. So, Schätzchen, und jetzt halten Sie besser den Mund und lenken mich nicht mehr ab.»

Beunruhigt blickte Lotte hinaus in die vorbeijagenden Wolkenfetzen. Eigentlich hätten sie längst den Bodensee vor sich sehen müssen, aber die Wolken waren zu dicht und hingen zu tief, als dass der Pilot hätte noch mehr sinken können. Sie presste das Gesicht an die Scheibe. Eisige Tropfen peitschten von außen gegen den Rumpf und gefroren auf dem Glas. Jetzt schlugen auch Hagelkörner auf.

Die Maschine sackte so plötzlich nach unten, dass sie nicht einmal Zeit zum Schreien hatte. Ein Druck auf den Ohren, ein flaues Gefühl im Magen und dann ein neuer Stoß. Die Piper taumelte, der Motor verschluckte sich. Dann surrte er wieder.

«Bloß ein Luftloch», hörte sie den Piloten. «Das warme Wetter der letzten Tage hat Stürme aufziehen lassen. Da vorn wird es ungemütlich.»

Da vorn erst?, dachte Lotte. In diesem Moment flogen sie in die schwarzen Wolken. Lotte wurde nach rechts und links gegen die Wände des Rumpfs gestoßen. Es fühlte sich an, als ob jemand die kleine Maschine von beiden Seiten boxen würde. Immer wieder sackten sie nach unten weg.

«Ich muss tiefer runter, hier sehe ich nichts. Legen Sie vorsichtshalber den Fallschirm an!», hörte sie die Stimme des Piloten.

Hastig griff sie unter ihren Sitz, wo der Rucksack verstaut war. Sie schnallte ihn um, und fahrig suchten ihre Hände nach der Schließe. In diesem Moment packte eine neue Bö die Piper und ließ sie fast senkrecht mit der Nase nach vorne abwärts stürzen. Drei, vier Umdrehungen rissen sie in die Gurte, und sie hatte das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wo oben und unten war. Sie hörte den Piloten fluchen. Dann stieß etwas hart ihre Seite. Die Maschine machte einen Satz, und sie fiel wieder in den Sitz.

Lotte atmete auf. Und im selben Moment tauchte ein gleißendes Licht den Himmel um sie herum in blendendes Weiß. Ein Blitz kann uns nichts anhaben, versicherte sie sich selbst. Es ist wie im Automobil. Ein Faraday’scher Käfig. Alles wird an der Außenwand abgeleitet.

Das Taumeln der Piper belehrte sie allerdings, dass das nur die Theorie war.

«Müssen wir abspringen?», schrie sie. Aus dem Funkgerät surrte und pfiff es wie verrückt, sie konnte kaum noch etwas hören. Sie beugte sich nach vorn und brüllte dem Piloten die Frage ins Ohr.

Er schüttelte den Kopf. «Zu tief!»

Lotte starrte ihn an.

«Die Instrumente sind ausgefallen!», schrie er. «Ich muss landen.»

Ihr Blick irrte durch das Cockpit. Die Zeiger vor ihm drehten sich wild oder waren wie eingefroren. Lotte ließ sich auf den Sitz zurücksinken. Ihre Hände zitterten. Sie atmete tief durch, versuchte sich zu konzentrieren. Die Berge wichen hier schon zurück. Mit etwas Glück würde er eine Wiese finden, wo er aufsetzen konnte. Sie hatten die Wolkendecke nach unten durchbrochen, und endlich konnte sie etwas erkennen.

Eine dunkle, glänzende Fläche. Wasser.

«Wir sind über dem See!», schrie sie. Er schien die Maschine wieder hochziehen zu wollen, denn eine Sekunde lang hob sich die Nase, und sie spürte, wie der Motor aufheulte. Dann ließ es nach. Offenbar hatte er sich entschieden, doch zu wassern. Lotte wollte ihn anschreien, in diesem Augenblick gab es einen Schlag, und sie wurde zur Seite gegen den Rumpf geschleudert.

Die Piper raste über den See. Der Aufprall bei dieser Geschwindigkeit hatte die Wasseroberfläche steinhart werden lassen. Ein eisiger Schwall übergoss Lotte. Das Heck muss beim Aufschlagen abgebrochen sein!, schoss es ihr durch den Kopf. Dann wurde alles dunkel.

 

Kälte und Nässe. Das Erste, was sie spürte. Nasse Kleider, die wie schwere Lumpen an ihr hingen. Schwer und eisig kalt. Warum spürte sie das? Warum war kein Wasser in ihren Lungen, das sie erstickte?

Lotte schrak hoch. Sie konnte nur wenige Sekunden bewusstlos gewesen sein, die Lichter der Maschine flackerten noch und erloschen dann. Keuchend blickte sie sich um. Die seitlichen Fenster waren unbeschädigt, nur vorn, auf der Seite des Piloten, waren sie geborsten. Sie lag halb im Wasser, noch immer angeschnallt. Keuchend riss sie sich los. Der Rucksack mit dem Fallschirm hatte sich irgendwo verhakt, hektisch zerrte sie daran, versuchte, ihn abzuwerfen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie frei war. Ihre Schulter schmerzte, stöhnend zog sie die Arme aus den Gurten und beugte sich nach vorn.

Der Pilot lag mit unnatürlich zur Seite verdrehtem Kopf auf dem Sitz, das Gesicht unter Wasser. Überall Glassplitter, Blut. Mit wild schlagendem Herzen drehte Lotte sich um. Wenn sie auf dem Wasser lagen, würde das Flugzeug binnen Minuten sinken. Für den Piloten konnte sie nichts mehr tun. Sie musste hier heraus. Aber vorher musste sie jeden Hinweis auf sich selbst vernichten. Mit eiskalten Fingern tastete sie in dem groben Stoff der Uniform, die er unter dem Ledermantel trug, und fand die Papiere: den Eigentümer des Flugzeugs, sogar einen Ausweis auf den Namen Reto Bucher, wohnhaft in Zürich. Sie warf alles ins Wasser. Das Flugzeug war ein amerikanisches Modell. Wenn es keinen Ausweis gab, würde man denken, dass ein Aufklärer im Unwetter abgestürzt sei.

Lottes Verstand arbeitete vollkommen klar. Vielleicht sogar klarer als sonst, während sie am ganzen Körper zitterte, so sehr, dass sie kaum die Hände ruhig halten konnte. Sie rüttelte an der Tür, irgendwie gelang es ihr, das Cockpit zu öffnen. Das Unwetter tobte noch immer. Kalter Regen schlug ihr ins Gesicht, es donnerte. Im Licht eines Blitzes sah sie, wo sie sich befand.

Die Maschine war im Uferschilf zum Stehen gekommen und lag schief im Flachwasser. Das Fahrgestell war vermutlich abgebrochen, der eine Flügel hatte sich in den Schlamm gebohrt. Wellen rollten an den Strand. Hinter ihr erstreckte sich die dunkle Fläche des aufgewühlten Sees, vorn hob sich der Boden zu einer bewachsenen Anhöhe – Obstbäume vermutlich. Der starke Rückenwind hatte die Piper weit aufs Wasser hinaus und über den See getrieben. Wenn er sich nicht gedreht hatte, musste dies die Nordseite sein.

Die deutsche Seite.

Lotte atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Das völlig durchnässte Haar klebte ihr im Gesicht, und Schneeregen peitschte ihre Haut. Sie stieß die Tür ganz auf und sprang hinunter ins Wasser. Es war eiskalt und reichte ihr bis über die Knie.

Trotz der Kälte warf Lotte den Militärmantel ab und zurück ins Cockpit. Hastig überlegte sie, ob noch etwas an ihr auf ihre Identität hinweisen konnte. Sie hatte ein paar Franken bei sich, aber sie wegzuwerfen wagte sie nicht. Besser, ausländisches Geld zu haben als gar keines. Die falschen Pässe steckte sie unter die Bluse. Es war gefährlich, sie zu behalten, aber das Risiko musste sie eingehen.

Sie erreichte das Ufer, wo das seichte Wasser zu gefrieren begann, und ließ sich zu Boden fallen. Das Unwetter zog bereits weiter, und zitternd duckte sie sich unter einen der Apfelbäume. Das Schilf hatte ihre Arme und Hände aufgeschnitten, aber das spürte sie kaum, so kalt war ihr. Sie blickte zurück zu dem Wrack, das von der Dünung hin und her gewiegt wurde. Bei der Notwasserung war das Heck abgeschlagen worden wie Sperrholz. Der Aufprall musste das Genick des Piloten gebrochen haben. Es war ein Wunder, dass sie noch lebte.

– 2 –

Irgendwann hatte sie eine Scheune gefunden, wo sie zwischen den Heubergen vor Erschöpfung eingenickt sein musste. Als sie aufschreckte, suchte maunzend eine Katze das Weite, die offenbar auf ihren Füßen geschlafen hatte. Es war noch dunkel, und sie fror erbärmlich. Stöhnend raffte sie sich auf. Wenn sie nicht bald ins Warme kam, würde sie noch ernsthaft krank werden. Dieses Europa war ein Eiskeller, so kalt hatte sie es gar nicht in Erinnerung. Sie musste sich bewegen.

Ihre Kleider, vor allem die durchnässte Hose, hatte sie ausgezogen und sich splitternackt ins Heu verkrochen. Besser nichts am Leib, als sich in dem nassen Zeug eine Lungenentzündung zu holen. Auch jetzt fühlten sich Hosen und Bluse immer noch klamm und kalt an. Hunger bohrte in ihren Eingeweiden, und ihr ganzer Körper schien nur aus Prellungen zu bestehen. Geronnenes Blut klebte auf ihrer Stirn, ihre Ellbogen waren aufgeschürft und brannten höllisch. Sie brauchte dringend trockene Kleider, etwas zu essen. Und einen Fischer, der keine Fragen stellte und sie zurück auf die Schweizer Seite brachte. Die Entschlossenheit, nicht gleich bei ihrem ersten Auftrag zu versagen, machte, dass ihr ein wenig wärmer wurde.

Als sie das Scheunentor aufzog, verriet ein schmaler, blauer Streifen am Horizont, dass der Morgen nicht mehr weit sein konnte. Das Wrack lag immer noch schräg im Uferwasser. Das Wetter hatte sich beruhigt, und der Bodensee schimmerte wie flüssiges Blei in der fahlen Morgendämmerung. Schafe weideten das bereifte Gras und bewegten sich langsam, hin und wieder blökend, unter den Obstbäumen. Sie blickte sich um. Vielleicht konnte sie am Ufer entlang nach Osten gehen und ein Dorf suchen. In einiger Entfernung waren Türme zu erkennen, vielleicht lag dort ein größerer Ort. Sie musste hier weg, ehe jemand das Flugzeug bemerkte und sie damit in Verbindung brachte. Sonderbar, dass ihr Verstand so ruhig arbeitete. Sie hatte erwartet, dass sie vor Angst völlig von Sinnen sein würde. Stattdessen durchflutete sie ein sonderbares Hochgefühl. Es wurde heller, und der silbrige Morgennebel hob sich. Wärmend fielen die ersten Sonnenstrahlen über den See, funkelten auf den Wellen und ließen die Berge am anderen Ufer bläulich aus dem Dunst schimmern. Es liegt daran, dass ich überlebt habe, dachte sie und beobachtete sich selbst wie von außen. Mein Körper kämpft noch, und mein Kopf hat noch keine Zeit gehabt, sich vorzustellen, was hätte passieren können. Der Schock wird kommen, wenn ich in Sicherheit bin.

Das konnte noch ein paar Tage dauern.

Sie entschied sich, in Richtung der Türme zu gehen. Der Weg war anstrengend, die Hügel rückten hier dicht ans Wasser heran und zwangen sie, immer wieder bergauf und bergab zu steigen. Auch gut, dachte Lotte, so bleibe ich wenigstens warm.

 

Es war tatsächlich die deutsche Seite des Sees. Ein paar Kilometer weiter fand sie ein Dorf, eine hingewürfelte Ansammlung pittoresker Häuser mit ausladenden, geranienbewachsenen Balkonen aus uraltem Holz, die waghalsig aus schiefen Mauern hervorragten. Katzen streunten über die morgendlich ruhigen Straßen, und ein Junge trieb eine kleine Gänseherde zur Weide. Lotte hatte sich eine Geschichte zurechtgelegt: eine Schweizer Fischerstochter, die vom Unwetter abgetrieben worden war, als sie versucht hatte, die elterlichen Reusen zu retten. Zwar sprach sie kein Schwyzerdütsch, aber das taten die Schweizer auch nicht, wenn sie sich mit Deutschen unterhielten. Doch obwohl jedes zweite Haus ein Fischerhaus war, war niemand bereit, sie überzusetzen.

«Das ist doch verboten», hörte sie jedes Mal hinter der nur einen Spaltbreit geöffneten Tür.

«Aber ich habe nichts dabei, nicht einmal meinen Pass», erwiderte sie.

«Schon. Aber es ist verboten. Verbote zu ignorieren ist Verrat. Ich bin doch kein Volksschädling.»

Du meine Güte!, dachte Lotte, als die vierte Tür wieder zuschlug. Und aus diesem Land komme ich? Zu Hause in New York war sie das deutsche Mädchen gewesen, und als der Krieg ausgebrochen war, hatte man sie deswegen sogar ab und zu schief angesehen. In der Schule hatte sie es irgendwann aufgegeben zu erklären, wie man «Lotte» aussprach, und war zur englischen Form «Charlotte» übergegangen. Vielleicht hatte sie gehofft, ihrer Kindheit nahe zu sein, als sie vor vier Wochen nach Europa geflogen war. Aber das hier war kein verlorenes Paradies. Das war ein fremdes Land im Krieg, mit Menschen voll Misstrauen und Hass. Hatte sie die Nachrichten in den USA nicht ernst genommen? Gehofft, dass es so schlimm schon nicht sein würde? Das hier war kein Märchen mehr. Nun war es wirklich – eine brutale, gefährliche Wirklichkeit, die sie das Leben kosten konnte.

Es blieb ihr nichts übrig, als in Richtung Lindau zu laufen. Sie stellte fest, dass ihr Schweizer Geld gern genommen wurde, so kam sie immerhin zu einem einfachen Frühstück in einem Gasthof, ein windschiefes Haus, dessen oberes Stockwerk ganz aus Holz gezimmert war, gleich gegenüber einer Kirche mit Zwiebeltürmchen.

«Aus der Schweiz rübergetrieben?», fragte die Kellnerin misstrauisch, während Lotte zitternd näher an den Kachelofen rückte. Die Wärme tat so gut, dass es ihr Tränen in die Augen trieb. «Nicht vom Kamelbuckel oder so?»

«Kamelbuckel?», fragte Lotte und schloss die steifen Hände hastig um die Tasse, die vor sie hingestellt wurde. Sie hatte Kaffee bestellt, aber das hier roch eher wie gemahlene Eicheln. Gab es keinen Kaffee, oder hätte sie dazusagen müssen, dass sie Bohnenkaffee wollte? Egal, Hauptsache heiß.

«Das Lager», die Kellnerin räusperte sich. Langsam musterte sie den Dreck und das Blut in Lottes Gesicht, die schmutzigen, viel zu leichten Kleider. «Fremdarbeiter. So Gesindel.»

Das musste eines der Lager für Zwangsarbeiter sein, fuhr es Lotte durch den Kopf. Vor lauter Erleichterung, endlich im Warmen zu sein, hatte sie gar nicht mehr daran gedacht, was passieren konnte, wenn man sie für eine flüchtige Ausländerin hielt. Ihre Hände klammerten sich unmerklich fester um den Kaffee, und gierig nahm sie einen Schluck. Es schmeckte scheußlich, aber es würde sie wärmen. «Das hören Sie doch», erwiderte sie und war einmal mehr froh, dass ihre Eltern auch in New York immer Deutsch mit ihnen gesprochen hatten. Bloß nichts erkennen lassen. Sie blickte sich um und betrachtete die präparierten Fische, die überall an den Wänden präsentiert wurden. Mit ungläubig aufgerissenen Mäulern glotzten sie einander an.

«Sind Sie sicher, dass Sie Zug fahren wollen?», fragte die Kellnerin. «Die bombardieren die Bahnstrecken.»

Was bleibt mir übrig?, fragte sich Lotte. Sie hatte sogar einen Moment überlegt, einfach ein Boot zu stehlen. Aber das Risiko war zu groß – als Tochter eines Juden, der bis zum Kriegseintritt der USA jede Woche in seiner New Yorker Zeitung über die Nazis geschrieben hatte, musste sie jeden Kontakt mit den Behörden vermeiden. Vielleicht konnte sie einen Zug nehmen und sich dann während der Kontrolle irgendwo verstecken. Lindau war offenbar von den Jagdfliegern bisher verschont worden, jedenfalls hatte sie kaum Ruinen gesehen. Vermutlich konzentrierten sich die Alliierten auf bedeutendere Städte.

 

Als sie am Bahnhof stand, war sie sich nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee gewesen war. Außerhalb der kleinen Bahnhofshalle ragten die Türme der Altstadt hinter den Häuserreihen auf. Eine schmale Fußgängerbrücke aus Stahl führte über die wenigen Gleise. Auf dem Bahnsteig und unter dem überdachten Vorbau des Bahnhofsgebäudes herrschte ein hektisches Durcheinander. Die Regionalzüge quollen förmlich über von Menschen. Frauen, Kinder, alte Leute, Krüppel. Viele trugen Mäntel, die aussahen, als wären sie mehr als zehn Jahre alt. Frauen in selbstgenähten Kostümen, Mädchen mit Zöpfen, Jungen in Lederhosen. Es war beklemmend voll, und die Luft roch nach tausend ungewaschenen Kleidern. Schwarzer Dampf waberte über die Bahnsteige, Männer in taillierten wadenlangen Mänteln und Uniformen brüllten Passanten an, hin und wieder hörte man die Schläge unzähliger Uhren, die Gongs und Durchsagen. Es sah aus, als wäre halb Deutschland hierher in den Süden gereist.

Lotte suchte sich eine Passantin, eine Frau mit zwei Kindern, und fragte sie nach dem nächsten Zug in die Schweiz.

Die Frage schien die Frau zu überraschen. Abfällig musterte sie Lottes dunkle Locken. «Man kann nicht einfach ins Ausland reisen.»

«Oh», Lotte lächelte und wiederholte ihre Geschichte: «Ich bin Schweizerin. Das Wetter hat mich über den See getrieben.»

«Ohne Ausweis?» Ein misstrauischer Blick. «Da kann ich nichts machen.» Sie ging weiter, und als eines der Kinder sie etwas fragte, hörte Lotte noch, wie sie zischte: «Wahrscheinlich eine vom Kamelbuckel. Schädling!»

Nervös presste Lotte die Lippen aufeinander. Das übertraf noch ihre Befürchtungen. Auf den beiden Gleisen des Bahnsteigs hatten gerade zwei Züge fast gleichzeitig gehalten. Das rhythmische Keuchen der Dampfantriebe, das Pfeifen und Krachen der aufklappenden Türen war ohrenbetäubend. Sie las die Anzeigetafel.

München–Zürich.

Erleichtert hastete sie in Richtung des Zugs. Da sah sie den Uniformierten.

«Raus da, verdammtes Judenpack!», brüllte er und trieb eine Familie aus dem Zug. Auf seinem Ärmel war das Zeichen der SS deutlich zu erkennen. Mehrere Kinder in karierten Mänteln blickten zu ihm auf, die Mutter hielt ängstlich den Hut fest. «Juden haben in einem Zug nichts verloren. Das tät euch so passen, euch verdrücken in die Schweiz!»

Mit wild schlagendem Herzen drehte sich Lotte um und tat, als würde sie das Kursbuch studieren, das an einer Tafel ausgehängt war. Immer wieder rempelten sie Reisende an, einer traf sie besonders schmerzhaft mit einem hölzernen, mit Schweinsleder bespannten Koffer. Es trieb ihr die Tränen in die Augen, und mit zusammengepressten Lippen hielt sie die Hand auf den schmerzenden Schenkel. Offenbar kontrollierte die SS die Züge.

Lottes Fassung brach in sich zusammen. Ihre Lippen bebten, und wären die Uniformierten nicht gewesen, wäre sie in Tränen ausgebrochen. Sie wusste, dass man Juden in Lager deportierte, und wenn sie herausfanden, wer ihr Vater war, würden sie sie sicher dorthin bringen. Was dort geschah, darüber gab es die schlimmsten Vermutungen. Zwangsarbeit. Gewalt. Menschenversuche. Massenmorde. Sie zitterte am ganzen Körper.

Zwei Uniformierte kamen auf sie zu.

Lotte erstarrte förmlich. Stand wie das Kaninchen vor der Schlange. Sie wollte sich bewegen, wusste, dass sie Aufmerksamkeit erregte, wenn sie so stehen blieb und die Männer anstarrte. Aber sie schaffte es nicht.

Auf einmal pfiff neben ihr die Lokomotive. Schwarzer Rauch waberte um sie herum, die Kolben begannen zu rattern. Langsam. Dann schneller. Ein neues langgezogenes Pfeifen, und der Zug auf dem Gleis gegenüber setzte sich in Bewegung. Lottes Blick fiel auf die schmale Tafel neben der Tür, die sich gerade schloss.

Lindau–München.

Der letzte Wagen fuhr langsam an ihr vorbei. Entschlossen griff sie das Geländer an der Plattform und schwang sich hinauf.

– 3 –

Als sie am Abend vor dem Brucknerschlössl stand, zitterten Lottes Beine vor Erschöpfung. Sie war so taubgefroren, dass sie kaum noch etwas spürte.

Auf der ganzen Fahrt hierher war ihr alles so fremd gewesen. Zuerst im Zug, dann unter dem Schild «München – Hauptstadt der Bewegung» am Bahnhof. Auf dem Trittbrett der Straßenbahn, ständig bereit abzuspringen, wenn der Kontrolleur käme. Der Novemberwind hatte ihr durchs Haar geweht und war eisig in den Kragen ihrer noch immer klammen Bluse gedrungen. Ihre Hände waren längst rau und über den Knöcheln rot vor Kälte. Obwohl sie mehrmals nach dem Weg hatte fragen müssen, hatte niemand ihrem abgerissenen Äußeren Beachtung geschenkt – vermutlich kamen immer wieder Menschen an, deren Habe beim Bombardement von Bahnlinien verloren gegangen war. Vom Trittbrett aus hatte sie fassungslos betrachtet, was an ihr vorbeizog. Zerstörte Häuser, so viele, dass manche Straßenzüge kaum noch zu erkennen waren. Zugefrorene Löschwasserbecken, auf denen Kinder spielten. Hakenkreuzfahnen hingen aus geborstenen Fenstern oder lagen im Dreck. Veteranen, Kinder in Lumpen, Frauen mit abgetragenen Kopftüchern, die die Trümmer nach Brauchbarem durchwühlten. Und die allgegenwärtigen SS-Männer. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Längst zitterte sie nicht mehr vor Kälte, sondern war nur noch apathisch. Sie wusste nicht einmal, ob das Haus ihrer Großeltern noch stand. Als sie die richtige Straße fand und das Türmchen an der Ecke erkannte, dachte sie, es könne sich in Nebel auflösen, einfach verschwinden. Doch jetzt, als sie vor dem schmiedeeisernen Tor der Gründerzeitvilla stand, die alle das Brucknerschlössl nannten, waren die Erinnerungen wieder da.

Die Mutter in ihrem schmal geschnittenen zartgrünen Kleid, mit dem kurzen, hellbraunen Haar. Sie hatte den Garten so geliebt. Im Sommer hatte sie sich ihre Arbeit aus dem Kontor der Brauerei oft mit hinaus auf die Terrasse genommen. Hin und wieder hatte sie Lotte zugewinkt, wenn die sich hinter den blühenden Rosen versteckte, während ihr vier Jahre jüngerer Bruder Ernst auf unsicheren Beinchen durchs Gras tapste. Der Vater, wenn er aus dem Automobil sprang und Lotte ihm entgegenrannte. Wie er sie lachend auffing, durch die Luft schwenkte und Flugzeuggeräusche dazu machte. Schon damals hatten sie ab und zu am Wochenende kleine Rundflüge gemacht. Seit er sich im Großen Krieg hatte zum Piloten ausbilden lassen, war er süchtig danach.

Absurd, dachte Lotte. Nur wenige hundert Meter weiter war alles zerstört, und hier auf dem Anwesen wirkte es, als gäbe es keinen Krieg. Das Haus war kaum verändert: umrankt von Rosen und Clematis, mit dem gekiesten Vorplatz und dem Türmchen auf dem Erker. Als sie die Klingel betätigte, fragte sie sich, ob die Großeltern überhaupt noch hier lebten. Seit dem Kriegseintritt der USA gab es keine direkte Verbindung mehr, nur sporadisch waren über Bekannte in der Schweiz Briefe eingetroffen.

Eine Frau im Dienstbotenkostüm öffnete die Tür. Ordentlich zum Dutt gewundenes hellbraunes Haar und wasserblaue Augen. Sie musste jetzt etwa fünfunddreißig sein. «Ja bitte?»

Lottes Lippen zitterten. «Anna?», fragte sie.

Überrascht blickte ihr ehemaliges Kindermädchen sie an. Sie runzelte die Stirn, als überlege sie, wer die fremde junge Frau sein konnte, die so abgerissen aussah.

Lotte schaffte es kaum noch, die Sätze zu sagen, die sie endlich ins Warme bringen würden, an einen Tisch und in ein Bett mit sauberen Laken. Und endlich zu Menschen, vor denen sie keine Angst haben musste.

«Sind meine Großeltern zu Hause – Antonia und Melchior Bruckner? Ich bin Lotte», sagte sie.

***

Als sie eintrat, erinnerte sich Lotte schlagartig an den Geruch des Hauses. Das dunkle Holz der repräsentativen Treppe, die von der Halle nach oben führte und immer mit demselben stark riechenden Wachs gebohnert wurde. Wenn man hinaufging und am Wäscheschrank am oberen Ende vorbeiging, hing ein leichter Duft nach Lavendelsäckchen in der Luft, der die Motten fernhielt. Weiter hinten, wo die Bibliothek im Erkerzimmer lag, duftete es nach Leder und Feuer. Sie erinnerte sich an den großen Schrank im Schlafzimmer ihrer Eltern, an den bemalten Paravent, hinter dem sie sich so oft versteckt hatte. Die lederne Fliegerjacke ihres Vaters hatte dort gehangen, weil Clara nicht wollte, dass ihre Kleider nach Qualm und Motorenöl rochen. Und schließlich ihr eigenes Bett mit dem Deckchen, auf das irgendjemand kleine rosa Röschen gestickt hatte, das leichte Muffeln nach ihrer eigenen Spucke, weil sie hin und wieder noch immer heimlich daran nuckelte.

«Ihr müsst Mama benachrichtigen», sagte Lotte, als ihre Großeltern sie in der Stube in warme Decken gepackt, mit einer heißen Milch auf das Sofa am Ofen gesetzt und Anna in die Küche geschickt hatten. Die Tasse brannte auf ihren kältetauben Fingern wie glühendes Metall, und die Erschöpfung hüllte sie ein wie ein Nebel. «Sie wird sich furchtbare Sorgen machen. Vermutlich hat sie die Nachricht von dem Absturz schon bekommen. Sie ist schon verzweifelt genug, weil wir seit Wochen nichts von Papa gehört haben.»

«Ich kann versuchen, in die Schweiz zu drahten», meinte Antonia Bruckner. «Von dort aus muss es jemand weiterschicken. Wärm dich auf und iss etwas. Danach lege ich dir ein paar Kleider von mir heraus.»

Lotte musste lächeln. Sie hatte ihre Großmutter nie anders als nach der neuesten Mode gekleidet gesehen. Selbst heute, mit gut fünfundsechzig und mitten im Krieg, trug sie ein dunkelrotes Damenkostüm, das ihre noch immer schlanke Figur zur Geltung brachte. Nur die bandagierten Beine verrieten, dass sie beim Gehen nicht mehr so schnell war wie früher. Während andere alte Frauen sich einen einfachen Dutt wanden, lugte ihr grau gesträhntes dunkles Haar unter einem Turban hervor. Dekorativ – und interessant, denn es war gut geschnitten, und soweit Lotte wusste, hatte Goebbels schon vor einem Jahr den Verzicht auf Friseurbesuche gefordert.

Anna brachte gebratene Semmelknödel und etwas Wurst – das Schnellste, was sie vermutlich aus den Resten im Haus hatte zaubern können. Lotte wollte aufstehen, aber Melchior drückte ihr den Teller einfach auf dem Sofa in die Hand.

«Was ist passiert?»

Der Geruch des Essens drang durch den Nebel der Taubheit und erinnerte Lotte, wie hungrig sie war. Der Duft der in Schmalz angebratenen Knödel war so vertraut. Anna hatte ihr auch eine Flasche Saftschorle gebracht, die das Brucknerbräu produzierte, und durstig leerte sie sie beinahe in einem Zug. Allmählich dunkelte es. Während das Dienstmädchen ging, um die Fensterläden am Haus zu schließen, erzählte Lotte, was passiert war.

«Gib mir die Pässe, man darf sie auf keinen Fall hier finden. Ihr könnt sie ohnehin nicht mehr verwenden. Als Erstes müssen wir uns um deine Sicherheit kümmern», sagte Antonia gepresst. Lotte zögerte, aber sie war zu erschöpft, um etwas einzuwenden. Sie zog den Umschlag mit den falschen Pässen aus ihrer Bluse und reichte sie ihr. Antonia stand ächzend auf und warf sie ins Feuer. Ehe Lotte protestieren konnte, schnitt sie ihr das Wort ab: «Wir müssen alles vermeiden, was Aufsehen erregen könnte. Die Kinder aus Ehen mit Juden können zur Zwangsarbeit verschickt oder interniert werden. Ich dachte damals, nach dem Großen Krieg könnte es nicht schlimmer werden. Das war falsch.»

Lotte dachte wieder an die SS-Männer auf dem Lindauer Bahnhof. «Ich habe gesehen, wie sie eine jüdische Familie aus einem Zug gezerrt haben.» Sie legte den Kopf in die Hände. «Die werden sie umbringen!»

Melchior und Antonia sahen sich an. Dann meinte Antonia gedämpft: «Sag so etwas nicht laut. Sie würden dich verhaften. Angeblich ist das alles nur Feindpropaganda.»

Immerhin wissen sie, dass Juden umzubringen ein Verbrechen ist, dachte Lotte sarkastisch. So voller Angst hatte sie ihre Großeltern nicht in Erinnerung. Laut sagte sie: «Was hat euch bloß in diesem Drecksstaat gehalten?»

«Wir wollten nicht, dass die Brauerei in die Hände dieser Wahnsinnigen fällt», erwiderte Melchior. Selbst mit knapp siebzig hatte er noch die kühle, ironische Ausstrahlung, die schon so manchen hatte glauben lassen, er sei der Teufel persönlich oder zumindest ziemlich nah mit ihm verwandt. «Und du solltest froh sein, dass wir geblieben sind und du einen Zufluchtsort hattest. Wäre es nämlich anders, wärst du vermutlich schon verhaftet. Hast du überhaupt eine Ahnung, was dir allein auf dem Weg hierher hätte zustoßen können?»

Lotte blieb die Antwort im Hals stecken. Gestern noch hatte sie geglaubt, dieses Land zu kennen, aber ein einziger Tag hatte sie eines Besseren belehrt. «Es tut mir leid», erwiderte sie müde. «Ich wollte euch nicht kränken.»

«Hier hat sich alles verändert, aber wir sind noch immer eine Familie», sagte Antonia ernst. «Und wir werden nicht zulassen, dass Hitler und seine Nazis einen Keil zwischen uns treiben. In Ordnung?»

Müde erwiderte Lotte das Lächeln. «In Ordnung.» Sie schob das letzte Stück Brot in den Mund. «Könnt ihr mir nicht helfen, zurück über die Grenze zu kommen?»

Ihre Großeltern wechselten einen erneuten Blick. Dann meinte Melchior: «Das ist zu gefährlich. Niemand darf mehr ins Ausland reisen, nur mit Sondergenehmigung. Viele Juden versuchen zu fliehen, und du hast ja gesehen, dass die SS die Züge kontrolliert. Der Krieg ist längst verloren, also versuchen sie, auf diesem Feld noch Stärke zu demonstrieren.»

Ist das ein Land oder eine Todeszelle?, dachte Lotte. Zuerst hat man uns nur vertrieben und uns alles verboten, was das Leben lebenswert macht. Jetzt hält man uns fest, um uns besser ermorden zu können.

Antonia schien zu spüren, was in ihr vorging. Sie nahm ihre Enkelin in die Arme. «Nun ruh dich erst einmal aus. Ich lasse dir das Gästezimmer herrichten. Es wird alles gut.»

Sie erhob sich. Auch Melchior legte Lotte die Hand auf die Schulter. Als er aufstand, waren seine Bewegungen schwerfällig, und er ging am Stock. Im Hinausgehen sagte er leise etwas zu seiner Frau.

Lotte ließ sich seufzend zurücksinken. Sie wickelte sich in die Kamelhaardecke, die Anna vorhin gebracht hatte. Hier hatte sich nichts verändert: der alte Esstisch aus dunklem Holz, der vermutlich schon seit den Zeiten ihrer Urgroßmutter hier stand, die Stühle mit ihren hohen, gedrechselten Lehnen. Die Bilder an der Wand – ein kleiner Hund, und das Jugendporträt ihrer Großmutter, mit langen dunkelbraunen Locken, gehalten von einem Samtband, in einem locker fallenden weißen Reformkleid mit Rüschen. Auf der Konsole stand eines von Großonkel Vinzenz, der gleich zu Anfang des Kriegs gefallen war. Und daneben die Fotografie, auf der Lotte als kleines Kind auf dem Oktoberfest zu sehen war, noch vor der Geburt ihres Bruders. Clara mit ihrem in eine Wasserwelle gelegten kurzen Haar und Topfhut. Lotte erinnerte sich an den federleichten, zartblauen Crêpe-de-Chine-Stoff des Kleides, in dem immer ein leichter Duft des Veilchenparfüms ihrer Mutter gehangen hatte. Neben ihr René in einem sportlichen Anzug. Das schwarze Haar unter dem Panamahut zerzaust vom Karussell, das er vor der Aufnahme mit seiner kleinen Tochter gefahren war. Das Haar hatte sie von ihm, dachte Lotte, als sie sich selbst betrachtete: ein pausbäckiges Kind auf dem Arm ihrer Mutter, dessen dunkle Locken unter dem Hütchen hervorquollen, in einem kurzen Sommerkleidchen. «Mei, ham Sie a schöns Deandl», hatten die Leute beim Spazierengehen hin und wieder zu ihrer Mutter gesagt. «Da is der Vater bestimmt a Jud.»

Im Hintergrund auf der Fotografie war die Bronzestatue der Bavaria zu sehen, die auf dem Hügel oberhalb der Theresienwiese stand.

Lotte schloss die Augen. Bilder in den Paramount News, die ihre Eltern immer noch Wochenschau nannten, flimmerten vor ihren Augen. Naziaufmärsche vor der Bavaria. Uniformen mit Armbinden. Hakenkreuzfahnen, brüllende Massen, hochgereckte Arme.

Maschinenmenschen.

Auf einmal hasste sie diese Bavaria, Sinnbild dieses Landes, das sie verstoßen und verraten hatte. Sie hasste sie so sehr, dass ihr von dem bloßen Anblick übel wurde. Es war wie ein unüberwindlicher breiter Strom, der sie auf immer und ewig von diesem Land trennen würde. Wie der Sambatyon – der Sabbatfluss in der jüdischen Mythologie, der Gischt sprühend und kochend durch sein felsiges Bett raste, bereit, jeden an den Felsen zerschellen zu lassen, der ihn herauszufordern wagte. Nur am Sabbat beruhigte sich der Zorn des tosenden Wassers und erlaubte die Überquerung – genau an dem Tag, an dem es gläubigen Juden untersagt war. Dem Tag, der mit dem Anzünden der Kerzen begann. Aber hier gab es kein Licht. Keinen Funken.

Lotte nahm die Fotografie und drehte sie um.

– 4 –

Als sie am nächsten Morgen von der Sonne aufwachte, die ihr ins Gesicht schien, dachte Lotte, sie träume. Als würden die toten, blattlosen Rosenzweige vor dem Fenster sich wieder unter der Last der flammendroten Blüten biegen, die Schwalben unter den Dachsparren zwitschern. Aber was sie wirklich an der Realität zweifeln ließ, war der Geruch der Eichendielen. Er ließ sie einen Moment lang wieder sechs Jahre alt sein. Für einen Augenblick war es, als könnte gleich die Tür aufgehen und ihre Mutter hereinkommen, in ihren leicht verschwitzten Knickerbockerhosen, die sie oft morgens zum Turnen trug. Lottes Blick wanderte nach oben, wo über dem Bett ein Stich von München hing. Am Fenster stand ein Sessel mit geschwungenen Lehnen, daneben ein schmaler Schrank. Elf Jahre war sie nicht hier gewesen. Hatte sie es herausgefordert, hier zu stranden, weil sie das Unvollendete nicht ertrug? Das war ein anderes Land.

So lange hatte sie davon geträumt, und jetzt, da sie endlich am Ziel war, dachte sie nur daran, wie sie es wieder nach Hause schaffen könnte. Anfangs hatten sie an der Lower East Side gewohnt. Ein lebhaftes, farbenprächtiges Viertel, ein Sammelbecken, in dem sich Auswanderer aus aller Welt trafen. Seeleute, Kriminelle, Hochstapler. Wo zum chinesischen Neujahr Drachen ihre Mäuler aufrissen, während ein paar Straßen weiter deutsche und irische Brauereien Malzgeruch verbreiteten. Als die Mutter mit ihrer kleinen Brauerei Fuß gefasst und der Vater eine besser bezahlte Stelle als Journalist gefunden hatte, hatten sie ein Haus an der Upper West Side gekauft, im quirligen Künstlerviertel: mit Blick auf die Wolkenkratzer von Lower Manhattan und einem eigenen Garten. Mit Debbie von nebenan hatte sie sich sofort verstanden, und bis heute saßen sie oft auf der Mauer zwischen den Anwesen. An der Ecke wohnte Leonard, der ihr ihre erste Cola spendiert hatte. Lottes Zimmer ging nach Süden hinaus. Sie liebte die eintönigen Hornsignale der Schiffe und abends beim Einschlafen die funkelnden Lichter von Manhattan. In New York war es jetzt mitten in der Nacht. Ob die Mutter schon von ihrem Absturz erfahren hatte?

Lotte stieg aus dem Bett. Neben der Tür stand eine gepackte Tasche – Antonia hatte ihr erklärt, dass es Vorschrift war, für den Fall eines längeren Fliegerangriffs. Deshalb auch die Eimer mit Wasser und Sand auf jedem Stockwerk, die ihr gestern Abend sofort aufgefallen waren. Es fühlte sich sonderbar an, dem Krieg auf einmal so nahe zu sein, den sie bisher nur aus den Kinonachrichten gekannt hatte.

Anna hatte ihr ein paar warme Strümpfe hingelegt, eine Bluse und einen wollenen Rock mit passender Jacke. Die Sachen waren ein wenig zu weit, aber für den Moment würde es gehen. Es war absurd, ausgerechnet München mit kindlicher Geborgenheit zu verbinden, dachte Lotte, während sie sich anzog. Die Stadt, die Hitler überhaupt erst seinen Aufstieg ermöglicht hatte. Gar nicht weit von hier, im Bürgerbräukeller in der Au, war er groß geworden. Jetzt fiel ihr auf einmal wieder ein, dass ihre Eltern schon damals bestimmte Orte gemieden hatten. Wie ihr Vater mit ihr die Straßenseite gewechselt hatte, wenn ihnen eine Gruppe junger Männer mit Hakenkreuzbinden entgegenkam.

Melchior saß schon beim Frühstück, als Lotte den Salon betrat. Unwillkürlich blieb sie in der Tür stehen. Als Kind hatte sie sich von ihm immer ein wenig eingeschüchtert gefühlt. Auf dem Sofa lag eine schwarz-weiße Katze, die sich jetzt reckte und dehnte und dann heruntersprang. Neugierig kam sie herüber, beschnüffelte Lotte und strich an ihren Beinen vorbei.

«Das ist Dorian Gray. Dorian Gray der Dritte, um genau zu sein. Gut geschlafen?» Melchior blickte auf, und Lotte musste lächeln. Sie war keine sechs Jahre mehr.

«Na ja. Ich habe einen Flugzeugabsturz und eine Nacht in einer Scheune hinter mir. Die SS hätte mich beinahe erwischt, und ich warte darauf, eine Lungenentzündung zu bekommen. Dafür geht es mir ganz gut.» Sie setzte sich zu ihm und schenkte sich aus der Jugendstilkanne ein. Es war der gleiche seltsam riechende Kaffeeersatz wie in Lindau. Wenn selbst ihre Großeltern, die alles gegen Bier eintauschen konnten, keinen Bohnenkaffee hatten, gab es wohl tatsächlich keinen mehr.

«Das Mundwerk hast du von deiner Mutter und den Leichtsinn von deinem Vater.» Melchior verzog das Gesicht zu einem angedeuteten Lächeln und schob ihr den Brotkorb über den Tisch. «Am liebsten würde ich dich auf dem Dachboden verstecken, bis der Krieg vorbei ist. Aber wenn du nur halbwegs die Tochter deiner Eltern bist, kann ich mir den Versuch sparen. Außerdem können nach dem Schornsteinfegergesetz jederzeit Keller und Dachböden kontrolliert werden.»

Lotte verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. «Der Staat kann jederzeit in eure Häuser, einfach so?» Für was hielt dieser Hitler sich eigentlich?

«Offiziell wegen des Brandschutzes. In Wirklichkeit, um versteckte Juden aufzuspüren. Deshalb habe ich mit einem Bekannten gesprochen. Für die Behörden bist du ein ‹Mischling ersten Grades›. Es gibt die Möglichkeit, dich als ‹deutschblütig› anerkennen zu lassen. Doch das wird nur selten genehmigt. Mit deinem Vater liegen deine Chancen, sofern es mit rechten Dingen zugeht, bei null. Also brauchen wir einflussreiche Freunde.»

Lotte hatte unwillkürlich nach Toast und Erdnussbutter gesucht. Stattdessen holte sie sich eine Semmel aus dem silbernen Brotkorb und begann sie aufzuschneiden. Die offensichtliche Anspannung ihres Großvaters kam ihr doch etwas übertrieben vor. «Der Krieg ist doch eigentlich entschieden. Im Oktober sind die Alliierten in Aachen einmarschiert, und der Rest wird früher oder später auch aufgeben.»

Melchiors noch immer wache blaue Augen blickten sie über den Rand der Zeitung hinweg an. «Schon, aber wann Hitler das einsieht, steht auf einem völlig anderen Blatt. Das Regime stirbt, doch in seinem Todeskampf zieht es alles um sich mit in den Abgrund. Menschen werden wegen Lappalien exekutiert. Es ist eine Frage von Monaten, vielleicht Wochen. Doch selbst eine Woche kann verteufelt lang sein, wenn man Angst haben muss, in ein KZ verschleppt zu werden.»

Die Semmel duftete, und die Marmelade war aus Holunderblüten gemacht. Das Rezept von früher, dachte Lotte. Sie erinnerte sich, wie im Frühling, wenn Anna sie einkochte, das ganze Haus nach Holunder und heißem Zucker roch. «Ich bin eure Enkelin. Die werden mich schon nicht gleich verschleppen.»

Ihr Großvater hob nur vielsagend die Brauen. «Mein Neffe Erich ist eingezogen worden», überlegte er laut. «Das hilft uns, denn Verwandte von Soldaten werden eher verschont. Andererseits hegen einige Nazis einen innigen Hass gegen deinen Vater. Besser, du nennst dich ab jetzt Bruckner.»

«Ich soll meinen Vater verleugnen?»

Klirrend stellte Melchior seine Tasse ab. «Du sollst überleben!», erwiderte er scharf. Seine Lippen bebten kaum merklich und verrieten, dass er nicht so zuversichtlich war, wie er tat.

Lotte ließ ihre Holundersemmel sinken. Wieder wurde ihr bewusst, wie wenig sie sich über ihre Lage im Klaren war. «Kann ich nicht doch über die Grenze? Irgendwo in den Bergen?»

Melchior zögerte. «Nein, das kann ich nicht verantworten», sagte er dann. «Sie kontrollieren alles, und wenn sie dich erwischen, bist du so gut wie tot. Wir brauchen Papiere für dich, bevor die Gestapo mit ihren Spitzeln den Braten riecht. Mit etwas Glück können wir sie so lange an der Nase herumführen, bis der Krieg vorbei ist. Ferdinand Schwabinger ist mit aller Welt bekannt.»

«Schwabinger? Der, den Mama immer den ‹Isar-Gatsby› nennt?»

«Einer der reichsten Männer der Stadt, noch immer.»

Lotte seufzte und begann wieder zu essen. «Dann soll ich hier herumsitzen und warten, bis der Krieg vorbei ist? Ich bin eigentlich nach Europa gekommen, weil ich eine Aufgabe wollte.»

Melchior erhob sich ächzend und griff nach seinem Gehstock, der neben ihm lehnte. «Na, dann bist du hier am richtigen Ort. Du willst eine Aufgabe? Bleib am Leben!» Er wollte hinaus, blieb aber in der Tür noch einmal stehen. «Ach, und sei so mitfühlend, Liebes, lass dir von Anna ein Bad herrichten. Du hast es nötig.»

 

Auch wenn sie sich an die Direktheit ihres Großvaters erst wieder würde gewöhnen müssen – leider hatte er recht. Als Lotte die schmerzenden Glieder im warmen Wasser ausstreckte, genoss sie es doch mehr, als sie erwartet hatte. Sie tauchte den Kopf unter Wasser und ließ es langsam durchs Haar strömen. Zementkacheln in bunten Farben und mit exzentrischen Mustern bedeckten Wände und Boden und harmonierten mit den geschwungenen Formen der kupfernen Wasserhähne. Auf dem dunklen Buffetschrank standen Parfümflakons, Puderdosen und Cremes. Melchiors Rasierschaum mit dem großen Pinsel, eine Flasche Eau de Cologne und eine Haarbürste mit Schildplattrücken. Erst als Lotte allmählich kalt wurde, stieg sie widerwillig aus der Wanne.

Anna hatte ihr mehrere dicke Handtücher herausgelegt und eines von Antonias Damenkostümen. Die Kleider waren aus der Mode, und um das Dekolleté herum hatte sie Luft. Wenigstens der Rock saß halbwegs, aber wohl fühlte sie sich darin nicht.

«Hm», meinte Antonia mit einem kritischen Blick über ihre Lorgnette, als Lotte zu ihr ins Kontor kam, um sich darin zu zeigen. «Nein. Auf gar keinen Fall.» Sie legte die Brille und ihre Papiere ab und erhob sich. «Wir fahren gleich zur Schneiderin. Sie ist nicht in Giesing, da sind wir vor Tratsch sicher. Und du brauchst angemessene Kleidung.»

Obwohl sie sich sichtlich bemühte, konnte auch sie ihre Anspannung nicht verbergen.

Frau Grieshammer hatte einen Salon in der Innenstadt, der früher sicher sehr elegant gewesen war. Jetzt befand er sich im Rückgebäude einer Ruine. Die großen Fenster waren verstaubt, und im Inneren sah es auch aus, als wäre die letzte Kundschaft noch zur Kaiserzeit hier gewesen: ein paar elegante, etwas angestaubte Sessel im historistischen Stil. Paravents und eine in die Jahre gekommene Schneiderpuppe vervollständigten das wenige Mobiliar. Antonia und die Schneiderin schienen sich gut zu kennen, denn obwohl die Großmutter keine Kleiderkarte mehr besaß, war Frau Grieshammer bereit, Lotte gegen Bier und Bares auszustatten. Es fand sich ein schlichtes, doch immerhin modisch tailliertes Kostüm mit Schulterpolstern und weitem Rock. Außerdem nahm die Schneiderin Lottes Maße, um ein paar ältere Sachen von Antonia umzunähen. Lotte betrachtete die karge Auswahl und dachte an ihre Schneiderin in New York, die allein für Blusen einen ganzen Schrank voller Stoffe hatte. Absurderweise fiel ihr plötzlich das Cover einer der letzten Ausgaben der Vogue ein: ein zartgraues Kostüm mit Puffärmeln und einem passenden Fuchspelz und Turbantuch.

«Kann ich nicht meine Hosen wiederhaben?», fragte Lotte, als Frau Grieshammer, den Mund voller Stecknadeln, mit einem Band ihren Brustumfang und dann die Länge ihrer Beine vermaß. «Mama und ich gehen immer in Hosen. Marlene Dietrich lässt sich sogar darin fotografieren.»

Die Schneiderin warf ihr einen entsetzten Blick zu, und Antonia räusperte sich. Lotte fiel siedend heiß ein, dass Marlene Dietrich für die amerikanischen Truppen an der Front sang und sie in den Lazaretten besuchte.

«Anna wäscht deine Kleider», erwiderte die Großmutter endlich, «aber da, wo wir hinmüssen, ziehst du dich besser konservativ an.»

 

Ferdinand Schwabinger empfing sie schon am nächsten Vormittag. Lotte wusste nicht viel über den Mann, den ihre Mutter den «Isar-Gatsby» nannte – nur dass er wie sein literarisches Vorbild vor Geld ungeklärter Herkunft nur so stank. Als sie jedoch auf den gekiesten Vorplatz der eleganten Bogenhausener Villa fuhren, verstand Lotte, warum ihre Großmutter auf konservative Garderobe Wert gelegt hatte. Das Haus war weit eher ein Palast – und erinnerte in seinen barocken Formen von außen an Schloss Linderhof. Auch wenn es nicht so weitläufig war wie die Herrenhäuser an der Gold Coast von Long Island: Ganz in Weiß und mit einer breiten Freitreppe und Säulen, hatte es wirklich etwas von einem Märchenschloss.

Ein livrierter Diener führte sie in den Vorraum, und drinnen kam ihnen der Hausherr über die breite Marmortreppe herab entgegen. Schwabinger war ein attraktiver älterer Herr mit straff gescheiteltem blondem, schon stark ergrauendem Haar. Er trug einen Trachtenanzug, was angesichts seines Auftretens unfreiwillig komisch wirkte. Anders als viele andere Männer, die sich der Maskerade mit dem lächerlichen Hitlerbärtchen unterwarfen, war er glatt rasiert. An seiner Seite kläfften zwei winzige Malteserhündchen.

«Fräulein Kur… Lotte!», rief er begeistert und breitete die Arme aus, als wären sie alte Freunde, die sich eine Ewigkeit nicht gesehen hatten. «Lassen Sie sich ansehen! Entzückend! Ganz die Mama, nur in Dunkel.» Er küsste ihr die Hand.

Verlegen blickte Lotte zu ihrer Großmutter, doch schon überschüttete er auch diese mit Freudenbekundungen, während die Hündchen kläffend um alle herumsprangen.

Schwabinger bat sie in einen Erker, der von dem großen, sichtlich seit Jahren ungenutzten Ballsaal im Erdgeschoss abzweigte. Die wenigen Ottomanen an den Wänden waren mit Tüchern bedeckt, als sei der Besitzer verreist, nur ein paar Möbelfüße mit Löwenmotiv blitzten darunter hervor. Im Vorbeigehen warf Lotte einen Blick an die Decke, wo Malereien den skandalumwitterten König Ludwig II. zeigten. Auf der Jagd in den Bergen, vor den Schlössern Neuschwanstein und Linderhof und schließlich, tragikumschattet, vor dem Hintergrund des Würmsees in der untergehenden Sonne. Unwillkürlich stahl sich ein amüsiertes Lächeln auf ihre Lippen. Der Isar-Gatsby war offenbar nicht nur empfänglich für den Glanz des Geldes, sondern auch für den der Monarchie.

Im Erker öffnete sich ein großes Fenster zum Garten hin. In den imposanten Vasen auf Säulen standen vermutlich sonst Blumen. Doch seit auch Italien Hitler die Gefolgschaft aufgekündigt hatte, kam wohl kein Nachschub mehr von der Riviera. Dahinter hingen weitere Königsporträts, anklagende Zeugen einer durch den Krieg unterbrochenen Untertanentreue.

Der Diener brachte Tee, mit königlichem Zeremoniell. Eine Weile beschränkte sich Antonia auf das übliche Geplänkel, während Lotte auf und ab ging und die Bilder und die Uhr mit den Leuchtziffern auf dem Kaminsims betrachtete. «Ist das eine Radiumuhr?», fragte sie überrascht.

Schwabinger blickte von seiner teuren China-Porzellantasse auf und bejahte huldvoll.

«Ist radioaktive Strahlung nicht schädlich? In den USA wurde vor gut drei Jahren ein Grenzwert von 0,1 Mikrocurie festgelegt.»

«Ach, Papperlapapp», winkte er ab. «Glauben Sie nicht jedes Gerücht, Fräulein Kurowsky.»

Ob die Arbeiterinnen der Uhrenfabriken mit ihren vom Radium entstellten Kiefern und ihrer Leukämie das auch so sahen? Offenbar steckte dieser sonderbare Kauz in mehr als einer Hinsicht noch in den Zeiten der Monarchie fest.

«Meine Enkelin führt, seit sie hier ist, den Nachnamen Bruckner», erklärte Antonia und nutzte geschickt die Gelegenheit zum Themenwechsel. Langsam setzte sie ihre Tasse ab, und zu ihrer sichtlichen Zufriedenheit blickte Schwabinger beim Klicken des Porzellans auf dem barocken Intarsientisch auf. «Sie können sich vorstellen, dass der Name ihres Vaters sie in Gefahr bringen könnte. Aber ein Ausweis verbrennt heutzutage so schnell, und auf dem neuen könnte doch genauso gut Bruckner stehen, nicht wahr? Dann müssten wir uns über ihre Deutschblütigkeit nicht den Kopf zerbrechen.» Sie warf ihrer Enkelin einen Blick zu, der unmissverständlich klarmachte, dass sie ab jetzt besser den Mund hielt. Lotte schnitt eine Grimasse, gehorchte aber.

Schwabinger nickte verständnisvoll. Er griff nach der Silberzange, ließ einen Zuckerwürfel in die Tasse gleiten und rührte um. «Sie brauchen einflussreiche Freunde, liebes Kind.»

«Wir hatten gehofft, Sie würden vielleicht so einen einflussreichen Freund … kennen», meinte Antonia und lehnte sich anmutig in den Sessel zurück. «Nun, wie dem auch sei, der eigentliche Grund, warum wir hier sind, ist, dass wir darüber nachdenken, ein Etikett unseres Saisonbiers etwas … nun, nostalgischer zu gestalten. Der erlaubte Alkoholgehalt wird fast schon von Monat zu Monat dünner, da sollte es wenigstens hübsch aussehen. Wir dachten an Neuschwanstein als Motiv – oder so etwas. Sie gelten bei diesem Thema als Fachmann.»

Lotte blieb die Luft weg. War das ein Bestechungsversuch?

Schwabingers Augen begannen zu glänzen. «Liebste Frau Bruckner, das wäre ganz hinreißend!», schwärmte er und rückte etwas näher. «Liebend gern. Ganz wunderhübsch würde sich da doch das Jugendporträt des Königs machen.»

«Ludwigs II.?» Antonia lächelte scheinheilig. «Das wäre in der Tat ganz hinreißend. Allerdings fürchte ich, ein König auf dem Etikett könnte als Provokation gegen die Regierung verstanden werden.»

Schwabinger zischelte etwas, das verdächtig nach «Saupreißen!» klang.

Antonia lächelte ungerührt weiter. «Vielleicht möchten Sie ja dieser Tage einmal vorbeikommen. Dann hätten wir mehr Ruhe. Ich habe einige Motive von Schlössern und dergleichen, die ich Ihnen gern zeigen würde. – Ach, nur nebenbei, wie denken Sie über Lottes Problem?»

Lotte begann diese gerissene alte Verführerin zu bewundern, die Schwabingers offensichtliche monarchistische Schwäche eiskalt ausnutzte, um seinen Widerstandsgeist gegen das Regime anzustacheln. Schon hatte sie ihn an der Angel. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und blickte verstohlen zu seinen Königsporträts. Vermutlich war er Münchner genug, um zu wissen, dass es kein königliches Bieretikett ohne Gegenleistung geben würde. Schwabinger kämpfte nur einen kurzen Moment mit sich. Halb zog sie ihn, halb sank er hin, dachte Lotte sarkastisch. Dann war er überzeugt.